Auszüge aus dem Roman (pdf)
Auszüge aus dem Roman (pdf)
Auszüge aus dem Roman (pdf)
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>Auszüge</strong> <strong>aus</strong>:<br />
Wird Feuer <strong>aus</strong>brechen?<br />
von Hans-Martin Große-Oetringh<strong>aus</strong><br />
Faszinierend ... Es gibt noch Abenteuer. So heißt es in der südafrikanischen<br />
Touristenwerbung. Südafrika: Ein einziges Abenteuer! Auch für Shanti, Tiba, Nora,<br />
Albert und Ben ist das Leben in Südafrika ein einziges Abenteuer; aber nicht so, wie die<br />
Touristenwerbung es meint. Sie sind schwarz, das ist ihr Abenteuer.<br />
Die meisten Bewohner Südafrikas sind Schwarze. Es sind mehr als zwei Drittel. Die<br />
zweitgrößte Bevölkerungsgruppe bilden die Weißen, die nicht einmal ein Fünftel aller<br />
Bewohner <strong>aus</strong>machen. Schließlich leben auch noch Mischlinge und Inder in Südafrika.<br />
Die Politik, die versucht, diese vier Rassen voneinander zu trennen, heißt auf Afrikaans:<br />
Apartheid. Stellt man sich die vier Bevölkerungsgruppen auf einer Stufenleiter vor,<br />
stehen die Weißen immer oben, die Schwarzen immer unten. Eine solche Politik<br />
bedeutet für die Weißen wirtschaftliche Vorteile, politische Rechte und einen<br />
Wohlstand, der zu den höchsten der Welt zählt. Für die Nichtweißen, das heißt für die<br />
Schwarzen, Mischlinge und Inder, bedeutet Apartheid aber nichts anderes als<br />
wirtschaftliche Ausbeutung, politische Unterdrückung, Rechtlosigkeit und Armut. Für sie<br />
ist Südafrika wirklich ein einziges Abenteuer. Aber ein gr<strong>aus</strong>ames.<br />
Soweto, nach den Anfangsbuchstaben South Western Township benannt, ist das größte<br />
Schwarzen-Ghetto Südafrikas. Es liegt vor den Toren Johannesburgs. Über 1,5 Millionen<br />
Menschen leben hier. Sie hassen es, hier zu leben, oder besser: zu schlafen; denn Soweto<br />
ist eigentlich wie ein Schlafsaal, in den die in Johannesburg arbeitenden Afrikaner<br />
nachts unterkriechen. Soweto wirkt endlos, so weit das Auge reicht ducken sich kleine<br />
Baracken an staubigen Straßen, viele ohne elektrisches Licht, ohne Kanalisation. Sie<br />
sind mit gewelltem Eternit und Blech gedeckt, und die Farbe ihrer Ziegel ist von <strong>dem</strong><br />
gleichen schmutzigen Rot-braun wie die nackte Erde, die sie umgibt. Über Soweto<br />
hängen Elend und Trostlosigkeit. Soweto ist auf kaum einer Landkarte verzeichnet,<br />
obwohl es die fünftgrößte Stadt auf <strong>dem</strong> gesamten afrikanischen Kontinent ist.<br />
In den Sekundarschulen Sowetos war damals Englisch Unterrichtssprache. Mitte Mai<br />
1976 aber wollte die weiße Regierung den Unterricht in einigen Fächern statt wie bisher<br />
in Englisch nun in Afrikaans abhalten. Diese Verordnung wurde von den Schülern als<br />
eine schwere Her<strong>aus</strong>forderung empfunden. Denn Afrikaans, eine vom Holländischen<br />
abgeleitete Sprache, die ein Teil der Weißen spricht, bedeutete für die Schwarzen ein<br />
äußeres Zeichen der Unterdrückung. Es war die Sprache der ihnen verhassten Polizei<br />
und Passbehörde. Darum bestreikten t<strong>aus</strong>ende schwarzer Schüler <strong>aus</strong> Soweto ihre<br />
Schulen. Als sie am 16. Juni 1976 gegen den Afrikaans-Erlass <strong>dem</strong>onstrierten, eröffnete<br />
die Polizei das Feuer. So begannen die Unruhen, die sich dann auch auf Johannesburg<br />
und andere Städte <strong>aus</strong>breiteten. Im Verlauf der Unruhen mussten über T<strong>aus</strong>end<br />
Afrikaner ihr Leben lassen.
2<br />
Einer der anführenden Schüler war Tsietsi Mashinini. Er wurde als Held von Soweto<br />
nicht nur in Soweto, sondern auch bei uns bekannt. Sein Name ging durch die Presse.<br />
Zahllose andere blieben unbekannt. Ihr Name verwittert bereits auf einem der trostlosen<br />
Holzkreuze auf <strong>dem</strong> Friedhof Doornkop. Ihr Name taucht in einer überfüllten<br />
Flüchtlingsliste in einem kleinen Büro im Nachbarstaat Botswana auf. Ihr Name wurde<br />
durch eine Gefangenennummer ersetzt. Ihr Name steht in einem Klassenbuch, mit <strong>dem</strong><br />
sich wiederholenden Vermerk fehlt und mit Zensuren, die wenig Hoffnung für die<br />
Abschlussprüfung geben.<br />
Tiba ist 16 Jahre alt und geht in die 3. Klasse der Junior-Sekundarschule. Seine<br />
Schwester Shanti ist zwei Jahre jünger. Sie ist mit ihrer 15-jährigen Freundin Nora in der<br />
ersten Klasse. Albert ist ebenfalls 15. Er besucht die 2. Klasse. Ben schließlich, ist schon<br />
18 und sitzt neben Tiba in der Abschlussklasse.<br />
Für alle fünf ist 1976 ein entscheidendes Jahr. Es prägt nicht nur sie und ihre<br />
Entwicklung, sondern auch die Geschichte Südafrikas: Es ist das Jahr, in <strong>dem</strong> das Feuer<br />
<strong>aus</strong>bricht.<br />
14. Mai<br />
Siegs Blankes, Europeans only, Nur für Weiße, Net Nieblankes, Non-Europeans only,<br />
Nur für Nichtweiße. Mrs. Maguma eilt jeden Abend durch dieses Gewirr der<br />
Verbotsschilder. Toiletten, Aufzüge, Schalter, Parkbänke, Treppen, Telefonzellen,<br />
Bahnsteige: Alles ist nach der Hautfarbe getrennt. Mrs. Maguma schafft es gerade, sich<br />
in einen der überfüllten Züge zu quetschen, der sie von Johannesburg zurück nach<br />
Soweto bringen soll. Den ganzen Tag hat sie bei der weißen Familie Vandom den<br />
H<strong>aus</strong>halt geführt. Jetzt in Soweto muss sie die eigene Familie versorgen.<br />
Orlando-West: Mrs. Maguma zwängt sich <strong>aus</strong> der Abteiltür. Der Strom der<br />
Aussteigenden schiebt sie auf die Straße. Als sie um die Ecke zu ihrem Häuschen<br />
einbiegt, läuft ihr schon Laloo entgegen. Er springt bellend an ihr hoch. Dem Hund<br />
folgen auch Bennie, Moses, Mzoli und Girja; und schließlich stehen auch Tiba, Shanti<br />
und Mr. Maguma in der Tür. Mr. Maguma ist schon seit 17:30 Uhr von der Arbeit<br />
zurück. Für 39 Rand in der Woche, das waren zu der Zeit etwa 60 Euro, arbeitet er in<br />
einer Fabrik in Johannesburg.<br />
Mrs. Maguma lässt sich erschöpft auf einen Schemel fallen: »Die Madame lässt mich nie<br />
rechtzeitig gehen.«<br />
Wie lange hat Mrs. Maguma Soweto nicht mehr bei Tag gesehen? Im Morgengrauen<br />
r<strong>aus</strong>, nachts erst wieder zurück. Außer samstags. Und das alles für 20 Rand, also etwa 60<br />
Mark im Monat. Manchmal denkt sie, sie schafft es nicht mehr.
3<br />
Ihr Mann gießt ihr eine Tasse Tee ein: «Komm, trink erst mal. Für die Vandoms musst<br />
du den ganzen Tag Zeit haben; für uns bleibt keine Zeit übrig.«Aber wir brauchen das<br />
Geld. Wenn das Schulgeld für die Kinder nicht war, dann könnte Mutter ja hier<br />
bleiben.»<br />
»Was soll ich nur machen?« Mrs. Maguma nimmt Bennie auf den Schoß.<br />
»Es muss sich was ändern, aber wie?«, überlegt Mr. Maguma.<br />
19. Mai<br />
Als Ben über die Brücke geht, die über die Geleise führt, sieht er seinen Zug einfahren.<br />
Er beginnt zu laufen. Der Zug hält an und im nächsten Augenblick ist der Bahnsteig mit<br />
Menschen überfüllt. Der Strom der Heimkehrenden gerät an der Brücke ins Stocken.<br />
»Ach, auch das noch: Polizeikontrolle.« Ben merkt, dass das Laufen jetzt keinen Zweck<br />
mehr hat. Er bewegt sich in einer Schlange, die sich langsam durch die Polizeisperre<br />
zwängt. Ben fällt mit Schrecken der Flugblattentwurf ein, den er in seiner Brusttasche<br />
hat. Schnell umdrehen und zurückgehen! schießt es Ben durch den Kopf. Doch das<br />
würde auffallen. Ungefähr zehn Leute sind noch vor ihm. Wenn ihm jetzt nicht schnell<br />
etwas einfällt, ist es <strong>aus</strong>. Aus <strong>dem</strong> Abfalleimer neben ihm ragt DIE VADERLAND<br />
her<strong>aus</strong>. Das konservative Hetzblatt der Buren, denkt er. Nur mit innerem Widerstand<br />
zieht er die Zeitung <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Eimer. In der Schlange vor ihm sind jetzt noch acht.<br />
Langsam schiebt er unter seiner Jacke den Flugblattentwurf zwischen die Seiten der<br />
Zeitung und nimmt sie fest in die rechte Hand. In der linken versucht er die leere<br />
Tasche, in der er die Flugblätter mit zurücknehmen will, so lässig zu halten, wie er nur<br />
irgend kann. Doch das Herz schlägt ihm bis zum Hals. Nur ganz ruhig bleiben. Ganz<br />
natürlich und lässig vorwärts schlendern, denkt er in einem fort. Jetzt sind nur noch vier<br />
vor ihm. Blechgeschirr, Bündel und Taschen werden durchsucht, Jackentaschen<br />
umgekrempelt, Papiere geprüft. Nur noch drei heimkehrende Arbeiter trennen Ben von<br />
der Sperre.<br />
»Können Sie mich ganz schnell durchlassen, Sergeant, ich hab's fürchterlich eilig«, sagt<br />
der eine.<br />
»Schnauze. Was d<br />
enkst du denn zum Teufel noch mal, wer du bist? Zeig her, was du da in <strong>dem</strong> Päckchen<br />
hast.«<br />
»Bloß meinen Overall. Nehme ich mit nach H<strong>aus</strong>e zum Waschen.«<br />
»Mach auf, du Idiot, bevor's knallt.«<br />
Jetzt kommt der nächste.
4<br />
»Ausweis her!«<br />
Die Seiten werden durchgeblättert.<br />
»He, du hast dieses Jahr die Steuern noch nicht bezahlt.«<br />
»Ich hab die Kopfsteuer schon vor Monaten bezahlt.«<br />
»Das hast du verdammt noch mal nicht getan. Werd nicht frech und komm mit.«<br />
»Aber wenn Sie hinschauen, sehen Sie doch die Marke.«<br />
»Hör mal schön zu, Junge, denkst du, ich würde mit dir unnütz Zeit vergeuden? Ich hör<br />
mir doch nicht den ganzen Abend deine dummen Geschichten an.«<br />
»Aber ich hab doch bezahlt. Die Marke ...«<br />
»Komm, ab in den Wagen, zu <strong>dem</strong> anderen schwarzen Pack. Komm, hopp, hopp!«<br />
Ben bekommt weiche Knie. Jetzt ist nur noch einer vor ihm.<br />
»He, du Affe, der Ausweis ist ungültig, du hättest schon lange <strong>aus</strong> Soweto r<strong>aus</strong> gemusst.<br />
Du denkst wohl, du kannst die Regierung betrügen?«<br />
»Aber ich arbeite doch hier.«<br />
»Wirklich? Und wer hat dir die Genehmigung erteilt, hier zu arbeiten? Das gibt Ärger<br />
für dich. Hier noch einer, Sergeant.«<br />
Jetzt ist die Reihe an Ben. Am liebsten würde er <strong>dem</strong> Sergeanten ins Gesicht springen.<br />
Doch er reißt sich zusammen und grüßt freundlich.<br />
»Ausweis!«<br />
Ben legt die Zeitung so natürlich er kann auf den Kühler des Polizeiwagens, zieht seinen<br />
Ausweis <strong>aus</strong> der Jackentasche und reicht ihn <strong>dem</strong> Sergeant. Wie Maden kriechen die<br />
weißen Finger über die Seiten.<br />
Der Sergeant vergleicht Ben mit der Fotografie. »Ihr Kaffer seht doch alle gleich <strong>aus</strong>.<br />
Und was hast du da in der Tasche?«<br />
»Nichts, Meneer«, versucht Ben so freundlich wie möglich zu sagen. Innerlich zittert er<br />
vor Wut und Angst zugleich.
5<br />
»Ihr blöden Kaffern mit euren ständigen Ausreden. Los, mach schon auf.«<br />
Der Sergeant reißt die Tasche auf. »Und was willst du mit einer leeren Tasche?«<br />
»Die Madame, wo meine Mutter arbeitet, möchte die Wäsche gewaschen haben. Die soll<br />
ich abholen.«<br />
»Dann zeig mal her, was du in den Jackentaschen hast.« Er durchwühlt Seiten- und<br />
Brusttaschen und zieht ein zerknittertes Foto hervor. Ben trägt stets ein Bild von Liz bei<br />
sich, das sie ihm einmal geschenkt hat.<br />
»Ach, sieh mal an, jetzt haben die Kaffern auch schon Bilder von unseren Frauen in den<br />
Taschen. Wer ist denn das? Ah, Liz steht hinten drauf.«<br />
Ben wird es schwindelig. «Eine Sch<strong>aus</strong>pielerin, kennen Sie die nicht, Meneer?«<br />
»Wir sind nicht so Leute, die ständig ins Kino rennen wie ihr schwarzes Pack, wir<br />
müssen hart arbeiten. Aber ich kann dich verstehen. Immer nur diese schwarzen Kühe<br />
um dich herum, verständlich, dass du da mal weißen Frauen nachsch<strong>aus</strong>t.«<br />
Der Sergeant grinst über das ganze Gesicht und schlägt Ben auf die Schulter: »Kann<br />
dich verstehen, Junge. Jetzt nimm aber deine Sachen hier und hau ab.«<br />
Ben greift hastig nach seiner Tasche und <strong>dem</strong> Foto. Beinahe hätte er die Zeitung<br />
vergessen. Lässig nimmt er sie vom Wagen, klemmt sie sich unter den Arm. Ihm ist<br />
schwindelig. Er fühlt sich wie auf hohen Stelzen, die ständig umzukippen drohen.<br />
Als er auf <strong>dem</strong> Bahnsteig ankommt, muss er sich erst an einen Pfeiler lehnen. Er reibt<br />
sich die feuchten Hände an der Hose trocken. Das ist ja noch einmal gut gegangen.<br />
Wieder rattert ein Zug ein. Ben bemerkt ihn erst, als die Leute <strong>aus</strong>steigen. Schnell<br />
springt er in ein Abteil. Der Zug fährt an. Die kleinen Baracken Sowetos huschen immer<br />
schneller am Fenster vorbei.<br />
Ben denkt an Liz. An ihre blonden Haare, den braunen Fleck am linken Oberarm, ihr<br />
helles Lachen. Es war im November, als er an einem Nachmittag im Zentrum von<br />
Johannesburg, Braamfontein, von der Polizei angehalten wurde. »Pass vorzeigen.« Ben<br />
wusste, heute hatte er ihn vergessen. Trotz<strong>dem</strong> suchte er umständlich in seinen Taschen,<br />
um das Unvermeidbare noch etwas hin<strong>aus</strong>zuzögern. Eine junge Frau, etwa so alt wie er,<br />
beobachtete sein Verzögerungsmanöver. Plötzlich trat sie auf den Sergeanten zu: »Ist<br />
schon okay. Das ist unser boy.« Und zu ihm: »Hier nimm schon den Korb und komm.«<br />
Damit drückte sie ihm wie selbstverständlich ihren Einkaufskorb in die Hand und zog<br />
ihn fort.<br />
»Okay«, sagte der Polizist. Ben trottete, ohne etwas zu begreifen, neben der Frau her.
6<br />
»Locker bleiben«, flüsterte sie ihm zu. »Gleich biegen wir um die Ecke und das<br />
Sch<strong>aus</strong>piel ist vorbei. Ich bin Miss Davidson.« Sie lachte: »Ach was, ich bin Liz. Und<br />
wer bist du?«<br />
»Ich bin Ben Nankudhu, aber Ben reicht schon«, fügte er schnell hinzu. »Du hast mir<br />
sehr geholfen. Ich habe meinen Pass vergessen.«<br />
»Das habe ich gemerkt.«<br />
»Aber warum hast du das gemacht?« Ben konnte die ganze Geschichte nicht verstehen.<br />
So etwas von einer »Weißen«, das war ihm noch nie passiert.<br />
»Ich mag diese Jungens von der Polizei auch nicht. Die schikanieren doch jeden, der die<br />
falsche Hautfarbe hat. In ihren Augen habe ich eben die richtige. Ich hab halt was gegen<br />
die Apartheid. Aber letztlich könnt nur ihr wissen, was Apartheid wirklich bedeutet.«<br />
»Übrigens trägst du immer noch meinen Korb«, stellte Liz lachend fest.<br />
15. Juni<br />
Seit <strong>dem</strong> Streikbeschluss der Phefeni-Junior-Sekundarschule ist ein Monat vergangen.<br />
Die Schüler von sechs weiteren Schulen hatten sich <strong>dem</strong> Streik angeschlossen.<br />
Insgesamt boykottierten etwa zweit<strong>aus</strong>end Schüler den Unterricht. Nach zehn<br />
Streiktagen kehrte Anfang Juni eine größere Anzahl der Schüler zum Unterricht zurück.<br />
Den Streikenden war nämlich für den Fall weiteren Fernbleibens vom Unterricht der<br />
Schulverweis angedroht worden. Außer<strong>dem</strong> hatte man eine mögliche Rücknahme des<br />
Afrikaans-Erlasses angedeutet. Tibas und Bens Lehrer Mr. Naidoo versuchte die<br />
Streikenden zu besänftigen. Doch er wusste: im Grunde sollte er das nicht tun. Hier<br />
musste man Stellung beziehen. Ein Teil der Schüler setzte den Streik fort. Schüler der<br />
Belle Higher Primary School bewarfen ihr Schulgebäude mit Steinen. In der Naledi High<br />
School wurden die Schüler in ihren Klassenräumen von der Polizei verhört.<br />
Währenddessen setzten Mitschüler <strong>aus</strong> Protest einen vor der Schule geparkten Wagen<br />
der Polizei in Brand. Fünfzehn Schüler wurden festgenommen. Die Eltern der Schüler<br />
von Soweto gründeten eine Elternvereinigung, die spätere Black Parents Association.<br />
Auch Mr. Tabata schloss sich dieser Elternvereinigung an. Von vielen Seiten gingen<br />
Warnungen und dringende Appelle an die weiße Regierung. Der afrikanische Dekan der<br />
anglikanischen Diözese von Johannesburg, Desmond Tutu, schrieb in einem offenen<br />
Brief an Premierminister Vorster, die Verzweiflung der Schwarzen sei »an einem Punkt<br />
angelangt, an <strong>dem</strong> es keine Umkehr mehr gibt.«<br />
Die fünf sitzen wieder in der matchbox von Mr. Tabata. Sie bereden die Ereignisse der<br />
letzten Tage und die Demonstration am kommenden Morgen.<br />
»Was meint ihr denn, wie viele kommen werden?«, fragt Tiba.
7<br />
»Das ist wirklich sehr schwer zu sagen. Aber ich finde es richtig, dass das Ziel der<br />
Demonstration das Sportstadion von Orlando-West sein soll.«<br />
»Meinst du, die weiße Regierung lässt sich von einem vollen Stadion beeindrucken?«<br />
fragt Ben.<br />
»Das muss sie einfach, wenn sie merkt, dass wir eine geschlossene Front bilden.«<br />
Aber Ben warnt, dass man nicht zu große Hoffnungen hegen soll.<br />
»Trotz<strong>dem</strong> ist eine Demonstration wichtig, um zu zeigen, dass wir einen friedlichen<br />
Wandel wollen. Wir müssen der Regierung zeigen dass unsere Waffe die Gewaltlosigkeit<br />
ist angesichts der Gewalt der Apartheid, dass wir verständigungsbereit sind angesichts<br />
absoluter Verständigungsunwilligkeit, dass wir Gespräche wollen, wo man und das<br />
Gespräch verweigert.«<br />
Albert denkt an das, was sein Vater ihm über seinen Namensvetter Albert Luthuli<br />
erzählt hat.<br />
»Es geht jetzt ja nicht mehr allein um den Afrikaans-Erlass«, fährt Tiba fort. »Albert hat<br />
schon recht, wenn er sagt, es geht um einen Wandel allgemein, um die Abschaffung der<br />
Bantu-Erziehung, um die Abschaffung der Apartheid überhaupt. Der Afrikaans-Erlass ist<br />
nur Anlass für unseren Streik, für unsere Demonstration, für all unsere Wut. Die<br />
Ursachen liegen ja viel tiefer. Die liegen praktisch in unserem Apartheid-Alltag. Und den<br />
haben wir schon vor <strong>dem</strong> Erlass tagtäglich zu spüren bekommen.«<br />
Ben nickt: »Für Weiße besteht Schulpflicht, für uns nicht. Weiße Schüler brauchen kein<br />
Schulgeld zu bezahlen, wir müssen zahlen. Die Regierung gibt 18-mal so viel für einen<br />
weißen wie für einen afrikanischen Schüler <strong>aus</strong>. Und das erleben wir doch jeden Tag.<br />
Auch schon vor <strong>dem</strong> Afrikaans-Erlass. Und dagegen müssen wir kämpfen.«<br />
»Man will uns ganz bewusst wenig <strong>aus</strong>bilden! Und warum? Das ist doch klar!«, wirft<br />
Shanti erregt ein.<br />
»Ich könnte schreien, wenn ich an diese Ungerechtigkeit denke«. Nora ballt ihre F<strong>aus</strong>t.<br />
»Du, ich hab mir vor ein paar Tagen ein Gedicht von einem Klassenkameraden<br />
abgeschrieben«, sagt Tiba. »Hast du schon mal was von James Matthews gehört? Seine<br />
Gedichte sind zwar verboten, aber ich habe eins hier. Das muss ich dir mal vorlesen,<br />
Nora.«<br />
»Kind der Freiheit,<br />
zu lange wurdest du verachtet.
8<br />
Füll deine Lungen, und schrei deinen Zorn hin<strong>aus</strong>!<br />
Tritt hervor, und nimm dein Recht!<br />
Du wirst nicht mehr dazu erzogen,<br />
an die Hintertür zu klopfen.<br />
Für dich verfügt kein Gesetz mehr<br />
Reisen dritter Klasse<br />
und getrennte Schulen, wo man auf <strong>dem</strong> Boden hockt.<br />
Die Flüsse unseres Landes, die Gebirge<br />
und der Meeresstrand<br />
gehören dir, sind dir nicht mehr verwehrt.<br />
Schrei deinen Zorn hin<strong>aus</strong>, Kind der Freiheit.«<br />
Als Tiba fertig ist, bleibt es lange still. Dann sagt er: »Wenn wir auf der Demonstration<br />
zusammen schreien, fühlen wir uns vielleicht nicht mehr so ohnmächtig.«<br />
16. Juni<br />
Das gemeinsame Morgengebet im Schulflur wird wie jeden Morgen gesprochen. Die<br />
Schüler kehren jedoch nicht wie gewöhnlich danach in ihre Klassen zurück, sondern<br />
diskutieren aufgeregt im Flur. Mrs. Pityana klatscht in die Hände, um sich Gehör zu<br />
verschaffen; doch niemand bemerkt sie. Verzweifelt sucht sie in <strong>dem</strong> Gedränge nach<br />
ihren Schülerinnen <strong>aus</strong> der 9. Klasse. Als sie Shanti erblickt, fragt sie ärgerlich: »Was ist<br />
denn heute nur wieder los? Wir müssen jetzt aber langsam in die Klasse zurück. Sonst<br />
holen wir den Stoff nie auf, den wir während des Streiks versäumt haben.«<br />
»Hier geht es doch um viel Wichtigeres als um Unterrichtsstoff. Wir wollen lernen, wie<br />
wir Afrikaans, wie wir Apartheid abschaffen können, und das steht nicht im Lehrplan.«<br />
Ben ist inzwischen zu ihnen getreten und will Mrs. Pityana noch einmal alles erklären.<br />
»Dürfen Sie arbeiten, wohnen und leben, wo Sie wollen? Dürfen Sie ihre eigene<br />
Zukunft bestimmen?«, fragt Shakti am Schluss ganz erregt.
9<br />
»Im Grunde habt ihr ja recht, und ich fühle da gen<strong>aus</strong>o wie ihr. Aber ich denke auch an<br />
eure Prüfungen.«<br />
»Was helfen uns Prüfungen, die uns nur den Weg in ein Leben öffnen, in <strong>dem</strong> wir nur<br />
Menschen zweiter Klasse sind?«<br />
»Ihr habt recht. Vielleicht habe ich mich schon zu sehr an all das Unrecht gewöhnt.<br />
Vielleicht habe ich nicht mehr so viel Kraft wie ihr, mich dagegen zu wehren.«<br />
Während sich die Schüler auf die Straße hin<strong>aus</strong>drängen, tritt Nora ganz nah an ihre<br />
Lehrerin: »Wir sind doch alle Schwarze! Kommen Sie mit hin<strong>aus</strong>?«<br />
»Ja, Nora.«<br />
Auch von anderen Schulen strömen die Schüler herbei. Einige halten Schulheftdeckel,<br />
abgerissene Pappkartons und weiße Stofffetzen hoch, auf denen zu lesen ist: »Nieder mit<br />
Afrikaans!«, »Afrikaans ist dreckig«, »Afrikaans als Unterrichtssprache wollen wir<br />
nicht«, »Zur Hölle mit Afrikaans«, »Schwarze sind keine Mülleimer, Afrikaans stinkt!«<br />
Ben läuft in <strong>dem</strong> Durcheinander in die Schulbücherei und klemmt sich einige<br />
afrikaanssprachige Bücher unter den Arm. Tiba und einige andere helfen ihm, sie zu<br />
einem Scheiterhaufen aufzutürmen. Dann züngeln kleine Flämmchen an den Seiten auf,<br />
die dann plötzlich als große Flammen emporschießen.<br />
»Nieder mit Afrikaans! Power! Power!« Erst rufen nur wenige, dann immer mehr, recken<br />
den rechten Arm in die Höhe und ballen die F<strong>aus</strong>t. Der Ruf schwillt an, breitet sich <strong>aus</strong>,<br />
kommt dann auch von der Hauptstraße. »Power! Power!« Von allen Seiten strömen sie<br />
laut schreiend herbei. Power! Power!<br />
»Da kommen ja immer mehr!« Shanti tanzt vor Freude von einem Bein auf das andere.<br />
»Das gibt eine riesige Demonstration«, ruft Nora ihr zu.<br />
Vorne wird ein Lied angestimmt: Nkosi Sikelela i Afrika, Gott segne Afrika, die alte<br />
Hymne der Schwarzen. Der Chor wird immer lauter und selbst Mrs. Pityana und Mr.<br />
Naidoo, der neben ihr steht, singen laut mit. Als die letzte Strophe verklungen ist, steigt<br />
ein Vertreter des Schülerrats von Soweto auf einen Stuhl, den Tiba schnell <strong>aus</strong> einer<br />
Klasse geholt hat.<br />
»Schwarze Brüder! Heute ist ein besonderer Tag in unserem Kampf gegen den<br />
Afrikaans-Erlass. Wir wollen mit dieser Demonstration zeigen, dass wir den Erlass<br />
niemals anerkennen werden. Aber es ist nicht nur das Afrikaans, gegen das wir kämpfen<br />
müssen, es ist das System. Darum wollen wir heute zum Stadion von Orlando-West<br />
marschieren. Wir werden uns dort mit den anderen Schulen treffen und der weißen<br />
Regierung deutlich unsere Zähne zeigen.«
10<br />
»Power! Power!«, ertönt wieder der Chor der Schüler. Inzwischen ist die<br />
Menschenmenge immer größer geworden.<br />
Plötzlich tauchen ungefähr dreißig Polizisten auf, die meisten von ihnen sind Schwarze.<br />
Die Weißen sind mit Revolvern und Schnellfeuergewehren bewaffnet. Die Schwarzen<br />
tragen keine Schusswaffen. Die Schüler, die vorne nahe zur Hauptstraße stehen,<br />
empfangen sie mit Spottversen und winken mit ihren Plakaten. »Die Polizei kann sich<br />
ihr Afrikaans an den Hut stecken.«<br />
»Afrikaans und Polizei, weg damit und macht euch frei!« – »Power! Power!«<br />
Vorne wird wieder ein Lied angestimmt. Da schießt ein weißer Polizist mitten in die<br />
Singenden eine Tränengasgranate. Das Lied verwandelt sich in Schreie. Das Gas beißt<br />
und ätzt in Augen und Nasen. Einige halten sich die Stoffplakate vor den Mund. Vielen<br />
beginnen die Augen zu tränen. Sie können kaum noch etwas sehen. Sie laufen zur Seite<br />
weg, um nicht noch mehr Geschosse abzubekommen.<br />
»Die Polizei greift an. Die wollen unsere ganze Demonstration aufhalten.«<br />
Wütend schreien die Schüler wieder: »Power! Power!« und sammeln Steine auf, um die<br />
Geschosse zu beantworten. Die ersten Steine fliegen. Laut polternd schlagen sie auf <strong>dem</strong><br />
Blech der Polizeifahrzeuge auf. Da zieht ein weißer Polizist seinen Revolver, zielt und<br />
schießt. Das Geräusch des Schusses geht fast in den Sprechchören unter. Mit vor<br />
Schreck aufgerissenen Mündern starren diejenigen, die etwas sehen und hören. Ein<br />
dünner Schmerzensschrei. Da beginnen auch die anderen Polizisten das Feuer zu<br />
eröffnen. Die Schüler stieben wild <strong>aus</strong>einander. Hals über Kopf stolpert und stürzt alles<br />
zurück. Angst ist in den aufgerissenen Augen, Verwirrung bei denen, die glauben, es<br />
seien Warnschüsse. Albert sieht, wie ein Klassenkamerad neben ihm zusammenbricht.<br />
Er beugt sich über ihn: »Hey, Mzoli, was ist los?« Langsam sickert Blut durch sein<br />
Hemd. Albert und Tiba tragen ihn zur Seite. Von überall hören sie nun Schreie. Die<br />
Schüler geraten außer sich vor Wut und Entsetzen.<br />
»Die schießen! Die schießen! Los, nehmt Steine!«<br />
»Was ist denn los?«<br />
»Es sind schon einige getroffen.«<br />
»Ich habe so schreckliche Angst.«<br />
»Dann musst du dich wehren. Wir brauchen noch mehr Steine.«<br />
Albert und Nora kümmern sich währenddessen um Mzoli. Sie ziehen ihm vorsichtig das<br />
Hemd vom Oberkörper und versuchen damit die Wunde notdürftig zu verbinden.
11<br />
»Er atmet immer schwerer«, sagt Albert erschreckt. »Nora, hol schnell Mrs. Pityana oder<br />
sonst einen. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll.«<br />
Als Nora zurückkommt und Mrs. Pityana durch das Gewühl hinter sich herzieht, hockt<br />
Albert neben Mzoli und schluchzt:<br />
»Er atmet nicht mehr.« Mrs. Pityana fühlt den Puls und das Herz:<br />
»Sie haben ihn ermordet.«<br />
Inzwischen fordert die Polizei Spezialeinheiten zur Verstärkung an. Als diese<br />
ankommen, beginnen sie sofort auf alle zu schießen, die schwarz sind. Die Schüler<br />
fliehen in alle Richtungen. Kleinere Gruppen sammeln sich in den Seitenstraßen wieder.<br />
Albert trifft Tiba: »Die haben Mzoli getroffen. Er ist tot.«<br />
»Was?«<br />
»Ich wollte ihn gerade mit Mrs. Pityana und Nora forttragen, als sie wieder schössen.<br />
Wir müssen zurück und ihn holen.«<br />
Keuchend kommt Shanti angelaufen. »Gut, dass ich euch wiedergefunden habe. Meine<br />
Augen brennen so fürchterlich.«<br />
»Feuchte dein Halstuch mit Speichel ein und halte es auf die Augen«, rät ihr Albert.<br />
»Wo sind denn Nora und Ben?«, fragt Tiba.<br />
»Die habe ich auch nicht mehr gesehen. In <strong>dem</strong> Durcheinander habe ich sie völlig<br />
verloren.«<br />
»Lasst uns jetzt bloß zusammenbleiben.«<br />
Sie sammeln wieder Steine auf und laufen geduckt zur Schule zurück. Immer wieder<br />
hallen die Schüsse durch die Straßen. Auf der anderen Seite der Schule schreit eine<br />
Gruppe den Polizisten «Power, Power, Power« entgegen. Doch dann werden die Rufe<br />
von Maschinengewehrsalven übertönt. Wütend schleudern Tiba und die anderen ihre<br />
Steine dorthin, wo die Polizei Stellung bezogen hat. Scheiben klirren, dann stürmen<br />
plötzlich einige der Polizisten mit ihren Maschinengewehren auf sie zu. Geduckt rennen<br />
sie wieder zurück, verbergen sich hinter einer Hecke. Eine Maschinengewehrsalve<br />
zerfetzt das Laubwerk. Tiba schaut sich nicht um, biegt in eine Seitenstraße ein und<br />
versucht, sich dicht an den Häusern zu halten. Shanti rennt hinter ein H<strong>aus</strong>, entdeckt<br />
eine Aschentonne, springt kurz entschlossen hinein und versucht, den rostigen Deckel<br />
so gut wie möglich von innen wieder zuzuklappen. Die Asche, die sie aufgewirbelt hat,
12<br />
lässt sie fast ersticken. Sie bemüht sich, ihren keuchenden Atem zu unterdrücken. Ihr<br />
Herz pocht laut bis zum Hals. Gespannt horcht sie auf die vorbeistürmenden Polizisten.<br />
Albert hat Shanti gar nicht verschwinden sehen. Er befürchtet, dass sie an der Hecke<br />
gestürzt ist. Als er anhält und sich umblickt, peitschen Schüsse über die Straße. Albert<br />
taumelt, bricht zusammen und bleibt dann liegen.<br />
Tiba läuft keuchend an den Häusern entlang. Als er in eine andere Straße einbiegen will,<br />
hört er auch von dort Schüsse und Schreie. Schnell läuft er zur anderen Seite, doch dort<br />
steht eines dieser gepanzerten Fahrzeuge. Sie nennen sie Hippos, weil sie an<br />
schwerfällige Flusspferde erinnern. Die Polizisten hinter <strong>dem</strong> Fahrzeug haben ihn längst<br />
gesehen, springen hinter <strong>dem</strong> Wagen hervor und beginnen zu schießen. Tiba springt<br />
zwischen zwei Häuser, prallt gegen einen Zaun <strong>aus</strong> morschen Latten und spürt, dass<br />
dieser unter seinem Gewicht nachgibt. Er durchbricht eine Wand von Abfällen. Räder,<br />
Kisten und leere Konservendosen poltern krachend durcheinander. Hinter <strong>dem</strong> zweiten<br />
H<strong>aus</strong> rennt er um die Ecke, stößt ein Wellblechtor auf und biegt in eine sandige Gasse<br />
ein. Erst jetzt bemerkt er den brennenden Schmerz in seinem Arm. Er taumelt und fällt<br />
auf die Knie, während er hinter sich wieder eine Salve von Schüssen hört. Tiba rafft sich<br />
wieder auf und presst mit der Hand den<br />
Arm an sich. Er fühlt, wie Arm und dann Handfläche und Handrücken klebrig und<br />
warm werden. Langsam dringt es rot durch seinen zerfetzten Pullover. Im ersten<br />
Schrecken denkt er, dass er vielleicht sterben müsse, aber dann wird ihm klar, dass der<br />
Arm wohl nicht so lebenswichtig ist. Eine Zeitlang hastet er mit zitternden Knien weiter.<br />
Dann wird er immer langsamer, bis er vor Erschöpfung hinfällt.<br />
Sein Mund ist trocken. Er wartet, dass seine Knie aufhören zu zittern. »Baragwanath<br />
Hospital.« Der Gedanke durchdringt seine Kopfschmerzen. Es ist noch ein weiter Weg<br />
bis dorthin.<br />
Tiba schleppt sich weiter. Er versucht, die größeren Straßen zu meiden.<br />
»Komm schnell rein; ich wohn hier«, winkt ihm ein etwa gleichaltriger Junge zu, und<br />
beide verschwinden in einem dunklen Zimmer. Vorsichtig beobachten sie durch das<br />
Fenster, wie ein Hippo die Straße entlang rollt. »Hat es dich erwischt?«<br />
»Ja, am Arm.«<br />
»Warte, ich hole mal ein Stück Tuch und binde es dir um. Ich heiße Miltou.«<br />
»Ich heiße Tiba. Kann ich auch einen Schluck Wasser haben?«<br />
Miltou kommt mit einem Becher und einer Binde zurück.<br />
Langsam schiebt er den Ärmel des Pullovers nach oben. Tiba beißt die Zähne<br />
zusammen. Die Berührung verursacht einen brennenden Schmerz.
13<br />
»Damit musst du ins Krankenh<strong>aus</strong>.«<br />
»Ich bin gerade auf <strong>dem</strong> Weg zum Baragwanath Hospital. Ich kenne dort einen Arzt.«<br />
»Das ist ja noch ein ganz schönes Stück zu laufen.«<br />
Miltou wickelt die Binde fest um den Arm. »So, fürs erste reicht das. Aber lange kannst<br />
du das nicht so lassen.«<br />
Tiba nickt und nimmt dann einen Schluck <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Becher.<br />
»Auf der Hauptstraße ist der Teufel los. Ich habe sogar gesehen, wie sie einige, die sie<br />
erschossen haben, gleich verbrannten«, berichtet Miltou.<br />
Tiba steht vorsichtig auf. »Ich muss jetzt sehen, dass ich ins Hospital komme. Ich danke<br />
dir vielmals.«<br />
Bevor er die Tür öffnet, schaut er durch das Fenster. Die Straße scheint leer zu sein.<br />
Als Tiba beim Baragwanath Hospital ankommt, spricht ihn jemand an der Auffahrt an:<br />
»Wenn du's <strong>aus</strong>halten kannst oder sonst wen kennst, geh besser nicht hier rein. Die<br />
Polizei ist drinnen. Die verhaften viele, die sich behandeln lassen wollen. Die sagen: wer<br />
verwundet ist, der war ganz vorne mit dabei, und das sind die Anführer. Und die<br />
verhaften sie dann. Aber vielleicht hast du ja auch Glück.«<br />
»Danke«, antwortet Tiba. »Ich glaube, ich geh dann besser woanders hin. Ich kenne da<br />
noch jemand.«<br />
Dann macht er sich auf den Weg zu Mr. Bonanis H<strong>aus</strong>. Inzwischen wird es dunkel und<br />
Tiba beginnt zu frösteln. Erschöpft kauert er sich hinter einen Zaun. Er glaubt, sich<br />
schon fast an den Schmerz gewöhnt zu haben. Als es ihm zu kalt wird, zieht er weiter.<br />
Im Dunkeln flackert ein Feuer von der nächsten Straßenbiegung herüber. Er hört Rufe:<br />
»Viva Azania. Es lebe Azania, es lebe Soweto«, Amandla Ngawethu, der Kampf geht<br />
weiter.»<br />
Tiba steuert vorsichtig auf die kleine Ansammlung zu. Man hat das Auto eines weißen<br />
Geschäftsmannes angezündet. Die Flammen prasseln durch die aufgebrochenen<br />
Scheiben. Weiter unten stehen zwei Polizeiautos in Flammen. Der Schmerz treibt Tiba<br />
weiter. Als er bei Mr. Bonani ankommt, ist das H<strong>aus</strong> noch dunkel, die Tür verschlossen.<br />
Mr. Bonani ist noch nicht zurückgekehrt. Der wird wohl heute auch viel zu tun haben,<br />
denkt Tiba. Er geht um das H<strong>aus</strong> herum und hockt sich vor den hinteren Eingang.
14<br />
Er muss schon eine ganze Weile gewartet haben. Kälte, Schmerz, Ermüdung und die<br />
Angst um seine Freunde lähmen seine Gedanken. Da kommen Schritte über den<br />
Sandweg. Eine dunkle Gestalt nähert sich.<br />
»Bist du es, Tiba? Jetzt wäre ich fast über dich gestolpert.«<br />
Mr. Bonani bleibt erstaunt stehen. »Was hockst du denn hier in der Kälte?«<br />
Tiba zeigt nur stumm auf seinen Arm.<br />
»Du auch? Komm rein, ich schau mir das mal an. Weißt du, wo Nora ist?«<br />
Tiba schüttelt nur den Kopf.<br />
»Ich mach mir Sorgen um sie. Wo kann sie denn jetzt bloß sein?« Mr. Bonani streicht<br />
sich mit der Hand über die Stirn. Tiba weiß, was Mr. Bonani befürchtet.<br />
Vorsichtig schiebt er den Ärmel des Pullovers nach oben und entfernt den Verband.<br />
»Hm, hm. Da hast du ja noch ganz schön Glück gehabt. Nur gestreift, da sitzt nichts<br />
drin. Das muss nur <strong>aus</strong>gewaschen und genäht werden. Aber das kann ich auch hier<br />
machen.«<br />
Mr. Bonani holt seine Geräte <strong>aus</strong> einem abgeschabten Köfferchen, kocht die Nadel auf<br />
<strong>dem</strong> Herd <strong>aus</strong> und bereitet in der Zwischenzeit alles andere vor. Beim Säubern der<br />
Wunde schmerzt der Arm wieder entsetzlich.<br />
Mr. Bonani setzt vorsichtig eine Spritze.<br />
»Das war heute ein schlimmer Tag. Nach den ersten Schüssen hatte mich Nora geholt,<br />
weil ein Schulkamerad getroffen worden war. Doch ich konnte ihm nicht mehr helfen.<br />
Ich bin dann zum Orlando-Polizeipräsidium geeilt und bin dort den ganzen Mittag<br />
geblieben. Da konnte ich beobachten, wie sie die Leichen auf Polizeiwagen geladen und<br />
zur Leichenhalle gebracht haben.«<br />
Mr. Bonani macht einige Stiche und zieht die Wunde langsam zusammen.<br />
»In den vier Stunden, die ich dort war, habe ich allein über hundertfünfzig Tote gezählt.<br />
Über zweihundert Verletzte wurden mit Schusswunden zur Polizeiwache gebracht.«<br />
Mr. Bonani wickelt einen neuen Verband um den Arm.<br />
»Im Hospital war es nicht anders. Wir haben die ganze Zeit ununterbrochen gearbeitet.<br />
Die Flure waren überfüllt mit Leichen. Dazwischen war dann immer wieder die Polizei<br />
und verhaftete die Patienten. Es war einfach schrecklich.«
15<br />
Tiba schaut sich seinen Verband an.<br />
»Ich danke Ihnen sehr, Mr. Bonani.«<br />
»Schon gut. Du musst den Arm jetzt möglichst ruhig halten.«<br />
Von der hinteren Tür her ist ein Geräusch zu vernehmen. Die Klinke wird<br />
heruntergedrückt und Nora tritt ein. An ihrem Kleid sind Spuren von Blut und Ruß.<br />
»Gott sei dank, da bist du ja.« Nora lächelt: »Ich hab mir solche Sorgen um euch<br />
gemacht. Wo sind die anderen?«<br />
Tiba zuckt mit den Schultern: »Zuletzt habe ich Shanti gesehen, als wir in einer<br />
kleineren Gruppe wieder zur Schule zurückgekehrt sind. Albert war auch noch dabei.<br />
Als die Polizei begann, auf uns zu schießen, sind wir alle fortgelaufen, und ich habe die<br />
anderen <strong>aus</strong> <strong>dem</strong> Auge verloren. Ich dachte, du wüsstest mehr.«<br />
Nora schüttelt den Kopf. »Nach<strong>dem</strong> ich Daddy geholt hatte, sind wir an die Straße nach<br />
Johannesburg gegangen. Wir haben die zurückkehrenden Erwachsenen empfangen und<br />
ihnen »Black Power« zugerufen. Die Fahrer der Busse und Taxen haben wir angehalten<br />
und nach <strong>dem</strong> Besitzer der Fahrzeuge gefragt: Schwarzer oder Weißer? Aus den Wagen<br />
der Weißen mussten alle Fahrgäste <strong>aus</strong>steigen. Wir haben dann den Wagen zum<br />
Straßenrand gerollt, umgekippt und angezündet.«<br />
Mr. Bonani findet dieses Vorgehen nicht gerade gut, aber er kann die aggressive Haltung<br />
schon verstehen. So schweigt er.<br />
»Und wie war die Polizei?«, fragt Tiba.<br />
»Da mussten wir sehr aufpassen. Als wir zum Beispiel einigen Heimkehrenden den<br />
Black-Power-Gruß zuriefen und sie den Gruß erwiderten und auch die F<strong>aus</strong>t ballten,<br />
wurde sofort von einigen weißen Polizisten geschossen.«<br />
»Es ist alles nicht zu begreifen. Wir haben ein neues Sharpeville.« Mr. Bonani stützt<br />
seinen Kopf in die Hände.<br />
»Ich muss jetzt aber noch nach H<strong>aus</strong>e. Die Eltern wissen ja gar nicht, wo ich stecke«,<br />
sagt Tiba und steht auf.<br />
»Kommst du morgen wieder?«, fragt Nora. »Ich versuch auch Ben und Albert Bescheid<br />
zu sagen.«<br />
»Ja. Bis morgen. Und nochmals vielen Dank, Mr. Bonani.«
16<br />
Tiba drückt langsam die Tür hinter sich ins Schloss. Er merkt erst jetzt, wie weich seine<br />
Knie sind. Aber bis nach H<strong>aus</strong>e wird er es schon schaffen. Er hofft, dass Shanti schon<br />
dort ist.<br />
Von ferne dringen vereinzelte Schüsse an sein Ohr.<br />
In dieser Nacht schießt die Polizei auf das Auto des Vorsitzenden der Black People's<br />
Convention, Mr. Kenneth Rachidis. Die Kugeln der Polizei treffen auch den Lehrer Mr.<br />
Kgongwane, der sich ebenfalls zu dieser Stunde auf <strong>dem</strong> Heimweg befindet.