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Musterseiten 145-148 - Schattauer

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11.1 Psychodramatisches Erklärungsmodell<br />

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11.1 Psychodramatisches Erklärungsmodell<br />

Borderline-Persönlichkeitsstörung<br />

Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, vor allem im Bereich der Borderline-<br />

Persönlichkeitsstörung, können psychodramatisch folgendermaßen charakterisiert<br />

werden:<br />

Der kreative Zirkel, also eine adäquate Person-Umwelt-Situation-Passung,<br />

funktioniert in wesentlichen Bereichen nur auf dem Niveau von Rollen- und Interaktionskonserven.<br />

Die Entwicklung neuer, situationsadäquater Veränderungslösungen<br />

gelingt nur eingeschränkt oder gar nicht. Das dysfunktionale Verhalten<br />

betrifft die Re-Inszenierung früh erworbener, zeitlich überdauernder, rigider Rollenmuster<br />

(beeinträchtigte Rollenflexibilität und eingeschränktes Rollenrepertoire),<br />

das Zeigen von Handlungen, die in der aktuellen Lage unangemessen sind,<br />

sowie situations-, selbst- und fremdwahrnehmungsinadäquate Mentalisierungen<br />

und Theories of Mind (eingeschränkte Rollendistanz, eingeschränkter Rollenund<br />

Perspektivenwechsel). Die Emotions- und Affektregulation ist betroffen und<br />

verläuft meist stereotyp, situations- und personeninadäquat (Stimmungsschwankungen<br />

und Affektimpulsivität).<br />

Dies führt in der Gesamtheit dazu, dass eine flexible, angemessene Reaktion<br />

auf situative Bedingungen für die Person in der Regel nicht möglich ist. Die Betroffenen<br />

reagieren in den Bereichen Verhalten, Denken und Fühlen gemäß inneren,<br />

situationsinadäquaten „Konserven“. Sie werden daher von ihrem Gegenüber<br />

in Interaktionen zumeist als rigide, anstrengend und manipulativ erlebt. Da<br />

Veränderungen als identitätsbedrohend empfunden werden, haben die Betroffenen<br />

meist Schwierigkeiten mit allen Arten von neuen Situationen. Eigene, bekannte<br />

(rigide) Rollenmuster vermitteln dagegen Sicherheit: „Auch wenn ich<br />

mich schlecht fühle – so bin ich“ oder „Lieber einen Partner, der mich schlecht<br />

behandelt, als einen neuen oder keinen“.<br />

Häufig ist das gesamte soziale Atom ein Konfliktfeld, wobei sich im Nahbereich<br />

der aktiven sozialen Beziehungen meist wenige Kontakte finden (Nähe-<br />

Angst) oder solche mit extremen Affekten („Ich hasse dich, verlass mich nicht“).<br />

Der Bereich der gewünschten Beziehungen ist in der Regel ebenfalls stark ambivalent<br />

besetzt; es besteht eine große Sehnsucht nach Kontakt und Nähe bei<br />

gleichzeitiger großer Angst bzw. Ablehnung von Nähe und Verschmelzung. Die<br />

ersehnte Nähe der anderen („Objekthunger“) hilft dabei, der eigenen bestehenden<br />

Identitätsdiffusion 7 zu begegnen, und den Mangel an frühen guten, halten-<br />

7 Clarkin et al. (2005) verstehen unter Identitätsdiffusion das Fehlen eines integrierten Konzeptes des<br />

Selbst und der wichtigen Bezugspersonen. Psychodramatisch gefasst bedeutet dies das Fehlen eines<br />

explizit erfahrbaren soziokulturellen Atoms.


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11 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Störungen der Impulskontrolle<br />

den Beziehungen, also positiv erlebten Bezugspersonen im familiären sozialen<br />

Atom, zu kompensieren.<br />

Das Bekanntschaftsvolumen ist in der Regel von distanten Beziehungen gekennzeichnet,<br />

die wenig Verbindlichkeit aufweisen. Innerhalb des sozialen Atoms<br />

bestehen zahlreiche, z. T. auch heftige Konflikte, die zwar einerseits zu einem positiv<br />

erlebten Auto-Tele von Lebendigkeit führen können („Ich spüre mich“),<br />

aber andererseits bei einer der Parteien, also entweder bei den Betroffenen selbst<br />

oder bei den jeweiligen Antagonisten, deutlich negativ-affektive Zustände wie<br />

z. B. Schuld-, Scham- und Angstgefühle sowie Selbstentwertung evozieren. Das<br />

Verhalten im sozialen Atom ist demnach durch ein Pendeln zwischen bedrohlich<br />

erlebter Nähe in Kombination mit einer Verschmelzungsangst und bedrohlich<br />

erlebter Distanz in Kombination mit einer massiven Verlassenheitsangst gekennzeichnet.<br />

Eine Einsicht in die eigene Störung oder Krankheit besteht durch die gestörten<br />

Auto-Tele-Prozesse (Selbstwahrnehmung, Selbstreflexion, Selbstregulation)<br />

in der Regel lange Zeit nicht. Die eigene Person wird grundsätzlich nicht wertschätzend<br />

wahrgenommen, sondern durch die Augen des „Verfolgers“ bzw. „Aggressors“<br />

gesehen. Es ist, als ob die Betroffenen mit dem (vorgestellten oder realen)<br />

Aggressor einen ständigen Rollenwechsel eingegangen wären: Sie betrachten<br />

sich im aggressiv verzerrten Spiegel. Dazu werden die entwerteten Rollen aus der<br />

eigenen Wahrnehmung ausgegliedert und projektiv an andere Menschen angeheftet<br />

(Spaltung zwischen positiv und negativ besetzten Rollen).<br />

Das Fallbeispiel 38 veranschaulicht den Mechanismus der Spaltung bei Vorliegen<br />

einer Persönlichkeitsstörung.<br />

Fallbeispiel 38<br />

Karin, 47 Jahre, erfuhr in ihrer Kindheit massive Vernachlässigungen mit z. T. traumatisierender<br />

Auswirkung. Sie erlebte, wie ihre Mutter durch den Stiefvater vergewaltigt<br />

wurde, wie beide Eltern über lange Jahre einen exzessiven Alkoholabusus betrieben und<br />

wie einer ihrer Brüder sich in der Adoleszenz das Leben nahm. Die Patientin schrieb sich<br />

selbst Schuld für die Vorkommnisse in Bezug auf die Eltern zu (z. B.: „Wenn ich die Wohnung<br />

besser aufgeräumt hätte, wäre meine Mutter nicht so schlecht behandelt worden“).<br />

Mit dieser Selbstzuschreibung gelang es ihr zunächst, ein Bild aufrechtzuerhalten,<br />

welches die Mutter schützte, sie als zumindest leicht positiv besetzte Rolle in ihrem<br />

sozialen Atom bewahrte („Meine Mutter war ein guter Mensch, die ist nur total verzweifelt<br />

wegen meinem Vater, die musste ja so viel trinken, dass sie das aushalten<br />

konnte“). Der Vater wurde von ihr negativ besetzt („Der misshandelnde Scheißkerl, der<br />

Hurenbock“), ebenso der Bruder („Der hat es sich leicht gemacht, der Feigling“). Die<br />

Patientin zog mit 18 Jahren von zu Hause aus und hatte danach häufig wechselnde<br />

Partner, die alle tranken und sich ihr gegenüber unter Alkoholeinfluss auch sexuell übergriffig<br />

verhielten. Sie hat zwei Berufsausbildungen abgebrochen und wechselte danach


11.1 Psychodramatisches Erklärungsmodell<br />

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von einer zur anderen Arbeitsstelle („Die Männer als Chefs sind einfach Dreckschweine,<br />

da muss man als Frau früher oder später gehen, da hatte ich nie eine Chance. Und die<br />

beiden Frauen, die ich mal als Chefinnen hatte, die haben es nicht ausgehalten, dass ich<br />

besser war als die“).<br />

Die Patientin generalisierte die Spaltung der Welt in „gute“ und „böse“ Menschen,<br />

wie sie es in ihrer Kindheit erlebt hatte. Ihr Vater verhielt sich „böse“ und sie und ihre<br />

Mutter waren Opfer dieser Situation. In ihren späteren Lebenssituationen erwies sich<br />

die Spaltung jedoch als hinderlich und nicht mehr situations- und personenangemessen.<br />

Menschen mit Macht (z. B. Chefs) wurden von ihr grundsätzlich projektiv als „böse“ und<br />

neidische Menschen wahrgenommen, was sie ihrerseits mit entsprechendem abwertendem<br />

Verhalten beantwortete. Dies führte zu einem Teufelskreis: Ständig erlebte Karin<br />

wieder, dass sich Menschen in Machpositionen ihr gegenüber schlecht verhielten.<br />

Neben der Spaltung ist bei Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen<br />

die projektive Identifizierung als klassischer Selbstschutzmechanismus bekannt.<br />

Diese kann mit dem psychodramatischen Rollenmodell von Role-Giver<br />

und Role-Receiver anschaulich beschrieben werden: „Als Borderline-Patient<br />

bringe ich mein Gegenüber dazu, sich als Role-Giver (Täter 8 ) zu verhalten, der<br />

mich zum Role-Receiver (Opfer) macht. Einerseits demonstriere ich damit auf<br />

symbolische Weise, was mir von früheren Personen meines sozialen Atoms angetan<br />

wurde (Rekonstruktion symbolisierter Rollenkonserven), andererseits<br />

schaffe ich es so, meine „bösen“ Rollen(Täter)-Introjekte an eine andere Person<br />

zu delegieren. Dort kann ich sie dann bekämpfen, da ich (unbewusst)<br />

weiß, dass sich die andere (projektiv identifizierte) Person vom Ursprungstäter<br />

unterscheidet. Auf diese Weise kann ich mit Wut, Hass, maligner Aggression,<br />

Ohnmacht und Hilflosigkeit sowie Scham- und Schuldgefühlen umgehen.“<br />

Hintergrund der Rollen-Introjekte ist das wiederholte frühe eigene Erleben einer<br />

hilflosen Role-Receiver-, also Opferseite. Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen<br />

erlebten in aller Regel diese Gefühle von Wut, Hass, Aggression<br />

und Vernachlässigung seitens naher Bezugspersonen und entwickelten<br />

dazu die komplementären Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Beschämung.<br />

Das Fatale an der projektiven Identifizierung ist nun, dass die Borderline-Patienten<br />

in ihren heutigen, aktuellen Bezugspersonen ähnliche Rollenmuster hervorrufen,<br />

wie sie sie von ihren frühen Bezugspersonen erlebt haben. Während<br />

die Patienten früher diese „bösen“ Objekte erlebt haben, scheinen sie nun „böse“<br />

Objekte (unbewusst) zu suchen bzw. „böses“ Verhalten ihnen selbst gegenüber<br />

im anderen zu erzeugen. Dies verstärkt das meist schon bestehende Schuldgefühl:<br />

8 Dies wird vom Gegenüber als negativ-komplementäre Gegenübertragung erlebt.


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11 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen, Störungen der Impulskontrolle<br />

„Warum gerate ich nur immer wieder an solche Menschen?“ oder „Was habe ich<br />

an mir, dass sich Menschen mir gegenüber so schlecht verhalten?“<br />

Das folgende Beispiel zeigt die projektive Identifizierung.<br />

Fallbeispiel 39<br />

Veronika, eine 42-jährige, deutlich untergewichtige Frau, kommt nach drei Jahren Pause<br />

zum zweiten Mal in die Therapie. In der ersten Therapie ging es um die Beziehung zu<br />

ihren Eltern und die Trennung von einem Partner. Nach drei „gescheiterten“ Beziehungen,<br />

in denen sie sich jeweils klein machen „musste“, damit es den Partnern gut ging,<br />

lernte sie vor zwei Jahren Walter, einen charismatischen Mann, kennen, bei dem sie den<br />

für sie „nötigen“ Halt fand. Walter ist zwölf Jahre älter als die Patientin, erfolgreicher<br />

Künstler von Beruf und konsumiert größere Mengen an Alkohol und Drogen. Unter diesen<br />

Substanzen wird er schnell laut, droht anderen Menschen; wenn es sein muss,<br />

schlägt er auch einmal zu. Die Patientin beschreibt ihren Vater als „Weichei“, der unter<br />

dem Pantoffel ihrer Mutter stehe, so einen Mann wolle sie nicht. Mit ihrer Mutter könne<br />

sie nicht sprechen, ohne dass diese sie massiv „fertigmache“. Ständig kämen Vorwürfe,<br />

was sie falsch gemacht habe und wie sie aussehe. Das gehe schon ihr ganzes Leben so.<br />

Die Patientin hat aus ihrer ersten Beziehung einen 20-jährigen Sohn, Karsten, der<br />

noch bei ihr lebt. Karsten kenne Walter und missbillige die Beziehung seiner Mutter zu<br />

diesem, da er schon mehrfach mitbekommen habe, wie schlecht er sie behandle. Walter<br />

äußere sich ebenfalls massiv abfällig über den Sohn der Patientin: „Schmeiß ihn doch<br />

endlich raus, die faule Sau!“ sei dabei eine der harmloseren Formulierungen.<br />

Die Patientin kann sich nicht von ihrem Partner trennen, obwohl sie (kognitiv) weiß,<br />

wie schlecht er sie behandelt: „Eigentlich brauche ich ja auch einen Macho, aber einen<br />

netten hätte ich gerne. (…) Damit die Trennung mal klappen soll, wäre es am besten,<br />

wenn er mit mir Schluss machen würde. Ich habe das ja schon das letzte Mal erlebt, dass<br />

ich das nicht durchhalte, wenn er vor meiner Tür steht.“ Ihr Sohn Karsten sowie alle ihre<br />

Freundinnen würden immer wütender. Sie hätten einen „Riesenhass“ auf Walter und sie<br />

fühle sich dadurch unter Druck gesetzt. Sie empfinde sich dann als totale Versagerin,<br />

dass sie so etwas Einfaches wie eine Trennung nicht schaffe.<br />

»Anmerkung: Die Freundinnen und der Sohn werden für die Patientin (projektiv<br />

identifizierte) Role-Giver, die in den Augen von Veronika manchmal emotional schwerer<br />

auszuhalten sind als Walter. Sie selbst erlebt sich nur noch in einer nicht handlungsfähigen<br />

Opferrolle (Role-Receiver); je angriffslustiger und aggressiv-fordernder die Freundinnen<br />

und der Sohn werden, desto mehr rutscht ihr Selbstwert ab.«<br />

In der Lage der projektiven Identifizierung gelingt den Patienten bei Konflikten<br />

mit der Umwelt der Ausgleich zwischen den eigenen Role-Giver- und den Role-<br />

Receiver-Qualitäten nicht mehr adäquat. Obwohl die Patienten in Konflikten

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