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sich in der Zeit oft bei ihrem neuen<br />

Freund in Belgien aufhält.<br />

Es <strong>ist</strong> nun September 1995, und alles<br />

hätte nach Plan laufen können für den<br />

alleinerziehenden Vater. Seinem Sohn<br />

zuliebe zieht Baumgart nach Betelu, ein<br />

idyllisches Dorf in den Ausläufern der<br />

Pyrenäen, eine Hochburg der baskischen<br />

Separat<strong>ist</strong>en, wo an Fassaden<br />

strangulierte Puppen hängen und ETA-<br />

Parolen. Die beiden verbringen dort zunächst<br />

harmonische Monate, und alle –<br />

auch die Sozialarbeiterin des Familiengerichts<br />

– bescheinigen dem Deutschen,<br />

ein liebevoller Vater zu sein.<br />

Dann aber klagt Baumgart gegen die<br />

Verseuchung des Dorfteiches und<br />

erstattet Anzeige gegen eine große<br />

baskische Lebensmittelfabrik wegen<br />

des „Gebrauchs kontaminierten Maismehls“.<br />

Er versteht sein Leben <strong>als</strong><br />

Kampf für die Gemeinschaft, aber<br />

keiner in der Gemeinschaft versteht<br />

ihn. Spricht man heute mit den<br />

Bewohnern Betelus, mit den alten<br />

Männern am Marktplatz oder der<br />

Nachbarin, sagen sie: „Wenn du so b<strong>ist</strong><br />

wie der Deutsche, kannst du einsam in<br />

den Bergen leben, aber nicht in einem<br />

Dorf.“ Baumgart lässt sich nicht aufhalten.<br />

Er zeigt eine Vorschullehrerin<br />

an, weil sie Eneko Kopfnüsse verpasst<br />

habe. Er beschwert sich beim<br />

Erziehungsmin<strong>ist</strong>erium über prügelnde<br />

Lehrer, setzt sogar eine Anfrage im<br />

Parlament durch und lässt Medien und<br />

Politiker wissen, dass hier Menschen-<br />

rechte mit Füßen getreten werden. An<br />

die deutsche Botschaft schickt Baumgart<br />

eine 100-seitige <strong>Dokument</strong>ation<br />

über die „ausländerfeindlichen Aktionen“<br />

gegen ihn und verbeißt sich immer<br />

mehr in einen Krieg, den nur<br />

wenige mit Zivilcourage überschreiben<br />

würden und der Rest mit Querulantentum.<br />

Der Dorfrat Betelus erklärt ihn am<br />

1. April 1998 wegen „ungerechtfertigter<br />

Anklagen“ und „Diffamierung“<br />

zur Persona non grata. Derweil leidet<br />

Myriam Emperanza sehr unter der<br />

Trennung von ihrem Sohn. Die ehemalige<br />

Schönheitskönigin des Baskenlandes<br />

verdient nun ihr Geld <strong>als</strong> Sekretärin<br />

in der Arztpraxis ihres Bruders<br />

und fühlt sich wie abgetrennt <strong>vom</strong><br />

Leben, ausgespuckt in einen sinnentleerten<br />

Raum ohne Ausgang. Sie sieht<br />

Eneko alle 14 Tage, so wie es das<br />

Gericht vorsieht: „von Donnerstag<br />

Schulschluss bis Sonntag 20 Uhr.“ Drei<br />

Tage vollendeten Glücks, auf die unweigerlich<br />

das nächste Loch folgt.<br />

Doch <strong>als</strong> sich Axel Baumgart nun mit<br />

allen anlegt, mit den Nachbarn und dem<br />

Dorf und dem Staat, erkennt Myriam<br />

ihre Chance. Sie schickt ihm eine<br />

Psychologin ins Haus, die feststellt:<br />

„Don Axel (...) neigt zur Selbstüberschätzung,<br />

die möglicherweise auch die<br />

Ausübung seiner väterlichen Pflichten<br />

beeinflusst.“ Außerdem bittet sie Axels<br />

Kinderpfarrer um eine Einschätzung,<br />

der dieser, ein Lebrecht Schilling aus<br />

Herford, gern nachkommt. Er schreibt:<br />

„Die familiäre Situation war überlagert<br />

<strong>vom</strong> Alkoholismus des Vaters. (...) Die<br />

Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung<br />

des Jungen kann man sich leicht<br />

vorstellen.“ Am 5. Mai 1998 entreißt<br />

das spanische Familiengericht Axel<br />

Baumgart nach zweieinhalb Jahren das<br />

Sorgerecht und überträgt es der Mutter.<br />

Bis hierhin handelt es sich um einen<br />

Fall wie so viele andere Sorgerechtsfälle<br />

auch: hässlich. Erbittert geführt.<br />

Mit schweren Vorwürfen und dubiosen<br />

Methoden. Doch nun entgleitet die Geschichte.<br />

Baumgart <strong>ist</strong> keiner, der sich<br />

an Urteile hält, schon gar nicht, wenn<br />

es sich, wie er glaubt, um eine national<strong>ist</strong>ische<br />

Verschwörung handelt. Am<br />

Abend nach der Gerichtsentscheidung<br />

geht er in sein Herforder Stammlokal,<br />

ein pak<strong>ist</strong>anisches Restaurant, und fragt<br />

nach den Adressen in Südasien, wo er<br />

vorübergehend unterkommen könnte.<br />

Er lässt sich einen Teil seines Erbes<br />

auszahlen – 17.000 Mark – und fliegt<br />

zwei Tage später mit Eneko nach<br />

Karachi. Und keiner, nicht mal seine<br />

Mutter, weiß, wo sie sind.<br />

ZU BAUMGARTS ÜBERRASCHUNG<br />

<strong>ist</strong> es in Pak<strong>ist</strong>an heiß und feucht und<br />

dreckig, und er muss feststellen, dass<br />

die große Flucht in die Sonne nicht<br />

automatisch in einer sorgenfreien Zone<br />

unter Palmen endet: „In Karachi hab<br />

ich erst mal die Krise gekriegt“, erzählt<br />

er. „Man wird da richtig ins Elend ausgekotzt,<br />

überall laufen Ratten rum.<br />

Ursprünglich wollte ich mit dem Zug<br />

nach Islamabad, in ein islam<strong>ist</strong>isches<br />

Center. Da hätte mich kein Mensch<br />

rausgekriegt, aber zu der Zeit war ich<br />

noch kein Muslim. Dann war für den<br />

nächsten Tag ein Atombombenversuch<br />

angekündigt. Und da hab ich zu<br />

meinem Kleinen gesagt: Nee, komm,<br />

wir verpissen uns lieber.“<br />

Baumgart und Eneko fliegen daraufhin<br />

in den Libanon, eines der wenigen<br />

islamischen Länder, für das sie kein<br />

Visum brauchen. Auf dem Flughafen<br />

lernen sie eine Libanesin kennen, die<br />

ihnen anbietet, bei ihr in Beirut unterzutauchen.<br />

Sie folgen ihr in den chr<strong>ist</strong>lichen<br />

Teil der sTadt und erfahren zum<br />

ersten Mal in ihrem Leben, wie Krieg<br />

klingt. Täglich schlagen Bomben und<br />

Granaten der Israelis in der Ferne ein,<br />

und sehr schnell wird auch der libanesische<br />

Geheimdienst auf den Deutschen<br />

und seinen Sohn aufmerksam. Baumgart<br />

und Eneko landen auf der Straße,<br />

mitten in einem Kriegsgebiet, ohne Ziel<br />

und Sicherheit und den passenden Code<br />

für das Überleben in der Fremde. Also<br />

beschließt Baumgart, seine dilettantische<br />

Odyssee abzubrechen, und bringt<br />

Eneko nach 18 Tagen zurück zur Mutter<br />

nach San Sebastián.<br />

Vielleicht hätte er sich zu diesem<br />

Zeitpunkt noch fangen können, vielleicht<br />

hätte er, der inzwischen 37 Jahre<br />

alte Akademiker, den Einstieg ins<br />

Berufsleben noch finden können, aber<br />

seine einzige Aufgabe sieht er nun<br />

darin, die nächste große Flucht<br />

vorzubereiten. Eine Flucht ohne<br />

Wiederkehr, das steht für ihn fest. Eine<br />

Flucht in ein islamisches Land, in dem<br />

Fundamental<strong>ist</strong>en ihn beschützen würden,<br />

notfalls mit Waffengewalt. Aber<br />

dafür muss der chr<strong>ist</strong>liche Theologe mit<br />

dem Faible für Bhagwan zum Islam<br />

konvertieren, denn nur eine islamische<br />

Gesellschaft, davon <strong>ist</strong> er überzeugt,<br />

„ermöglicht dem Vater eine würdevolle<br />

Rolle“. Baumgart lässt sich beschneiden<br />

zeigt seinen geschwollenen Penis<br />

Eneko und gesteht ihm: „Ich bin jetzt<br />

Muslim, und wir beide hauen ab. Das<br />

musst Du für dich behalten.“ Eneko<br />

gehorcht. Wie immer. Eneko gehorcht<br />

beiden Eltern. Er <strong>ist</strong> ihr Vertrauter und<br />

Komplize, er tut das, was alle Kinder<br />

tun, um es Papa und Mama recht zu<br />

machen.<br />

Am Neujahrstag 1999, von dem<br />

Baumgart weiß, dass Kontrollen nur<br />

dürftig sind und sich viele Menschen<br />

noch im Vollrausch befinden, flieht er<br />

mit Eneko und 70.000 Mark per Zug<br />

nach Paris und anschließend im Direktflug<br />

IY 749 nach Sanaa, in die Hauptstadt<br />

des Jemen. Er nennt diesen Schritt<br />

eine „illegale Form der Verantwortlichkeit“.<br />

Es <strong>ist</strong> seine Maßnahme, um<br />

Eneko zu befreien – <strong>vom</strong> Schulzwang,<br />

<strong>vom</strong> baskischen Nationalismus und von<br />

einer Mutter, die der Liebe nicht fähig<br />

sei. Am 2. Januar morgens landen sie in<br />

Sanaa, bei angenehmen 20 Grad, auf<br />

2350 Meter Höhe. Über ein Jahr lang<br />

werden sie nun unentdeckt bleiben, in<br />

einer Art Paradies, fern deutschen<br />

Beamtenseelen und spanischen Kollektivneurosen,<br />

fern der „traumatischen<br />

Normalität“, wie Baumgart das Leben<br />

in Europa nennt.<br />

Baumgart redet viel. Über alles und<br />

jeden, branchenübergreifend, fachmännisch.<br />

Man kann ihn nach einem<br />

Taschentuch fragen, und er wird einen<br />

brillanten Vortrag halten, der mit den<br />

Produktionsbedingungen von Zellulose<br />

beginnt und bei Michel Foucault endet.<br />

Nur über Myriam sagt er nicht viel.<br />

Und manchmal schweigt er sogar: Wie<br />

war Myriam so, Herr Baumgart?<br />

„Wie?“ Was haben sie an ihr geliebt?<br />

„Na ja ...“ Gar nichts? „Na ja. So...“<br />

Es <strong>ist</strong> nun der 6. Januar 1999, und <strong>als</strong><br />

Baumgart Eneko zum verabredeten<br />

Termin nicht aus den Weihnachtsferien<br />

zurückbringt, wird für Myriam Emperanza<br />

alles sofort Gewissheit: Ihr Junge<br />

<strong>ist</strong> weg. Und diesmal wird er nicht wiederkommen.<br />

Er wird irgendwo dort<br />

draußen sein, in Laos oder im Iran, an<br />

einem Ort, den Baumgart mit derselben<br />

Akribie ausgewählt hat, mit der er ihre<br />

Seele sezierte. Wo sucht man ein Kind<br />

in einer Welt von sechs Milliarden<br />

Menchen?<br />

SIE BEGINNT ZU SUCHEN. Geht mit<br />

den Fotos zur Polizei, hängt überall<br />

Plakate auf – an Tankstellen, in<br />

Geschäften, an Flughäfen. Plakate auf<br />

denen steht „SOS. Kind verschwunden.

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