Dieser Bericht, vom 11.April 2000, ist als PDF-Dokument vorhanden ...
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nach zähen Verhandlungen und nur mit<br />
diplomatischem Druck aus der Gewalt<br />
der Politiker befreien. Enekos erster<br />
Satz zur Mutter lautet: "Aber eins <strong>ist</strong><br />
klar. Ich gehe in Spanien nicht zur<br />
Schule.“ Am nächsten Tag fliegen Myriam,<br />
ihr Bruder und Eneko über London<br />
nach Hause. Sie werden von<br />
Dutzenden Journal<strong>ist</strong>en und patriotischen<br />
Schlagzeilen empfangen - Ein<br />
Happy End, so scheint es. Und gleichzeitig<br />
der Sieg des spanischen Volkes<br />
über einen verrückten deutschen Kidnapper.<br />
Axel Baumgart landet in<br />
Untersuchungshaft Zunächst in Herford<br />
und später in Bielefeld. Er bekommt<br />
eine Einzelzelle, weil er das Rauchen<br />
seiner Zellengenossen nicht verträgt. Er<br />
verweigert das Leitungswasser, weil er<br />
den Geschmack des Chlors nicht<br />
verträgt. Er wird immer dünner und<br />
schweigsamer und denkt darüber nach,<br />
sich das Leben zunehmen - mit einem<br />
Laken am Fensterkreuz und mit der<br />
Gewissheit: „Das <strong>ist</strong> der letzte<br />
würdevolle Schritt, wenn dir ein Leben<br />
in Würde nicht ermöglicht wird."<br />
Am 3. August <strong>2000</strong> findet die<br />
Verhandlung vor dem Amtsgericht<br />
Herford statt. Auf dringenden Rat<br />
seines Anwalts gesteht Axel Baumgart<br />
seine Schuld ein und bestätigt, dass die<br />
Entführung nicht gut fürs Kind war und<br />
so, dass er geblendet war und so. Heute<br />
sagt er: „Ich habe die ganze Sache<br />
ausgebremst, dadurch, dass ich zugegeben<br />
habe, ein Verbrechen begangen zu<br />
haben, und das deckt sich einfach nicht<br />
mit meiner persönlichen Auffassung."<br />
Nach zwei Tagen trifft die Richterin<br />
eine Entscheidung, die alle, außer<br />
Baumgarts cleveren Anwalt, überrascht:<br />
nur ein Jahr und acht Monate<br />
Haft, ausgesetzt zur Bewährung. Er <strong>ist</strong><br />
frei.<br />
Baumgart <strong>ist</strong> zurück.<br />
Die Wolken hängen tief über den<br />
Bergen Navarras, und von der Hochebene<br />
ziehen immer dichtere Nebelfäden<br />
heran. Baumgart sitzt in der<br />
Wohnung seiner spanischen Freundin<br />
Marisa und blickt hinaus in das grautrübe<br />
Wolkenmeer, in einen Tag, der so<br />
recht nicht aufwachen will. Er <strong>ist</strong><br />
angespannt und blass, und die Schulterknochen<br />
unter seiner weiten Sportjacke<br />
wirken wie Kleiderbügel, starr und<br />
spitz. Er stellt sich vor den Badezimmerspiegel,<br />
beobachtet sorgenvoll die<br />
zuckenden Adern in seinem Gesicht<br />
und sagt: »Ich will endlich meinen<br />
Sohn wiedersehen. Im Beisein der<br />
Guardia Civil oder der Armee, es <strong>ist</strong><br />
mir egal. Ich habe nichts mehr zu<br />
verlieren."<br />
SEIN SPANISCHER ANWALT ruft an<br />
und teilt ihm mit, dass er noch einmal<br />
vor dem Oberlandesgericht. in San<br />
Sebastian erscheinen müsse. Die Justiz<br />
habe es auf ihn abgesehen. Draußen im<br />
Ort rollen die ersten Journal<strong>ist</strong>en an.<br />
Baumgart zittert. Er <strong>ist</strong> allein - und da<br />
draußen die Feinde, ein ganzes Land,<br />
aber war es nicht das, was er immer<br />
wollte? Den Kampf? Die Mauer? Die<br />
höchstmögliche Mauer, die er zum<br />
Einstürzen bringt? Also geht Baumgart<br />
raus und knöpft sich die Medien vor. Er<br />
diktiert den Reportern, dass Zivilcourage<br />
im Baskenland <strong>als</strong> ge<strong>ist</strong>ige<br />
Krankheit gesehen wird. Und er fügt<br />
hinzu: „Ich bin ein Typ, der keine<br />
Angst hat vor dem Größenwahn. Ich<br />
muss Schulen kontrollieren, Behörden<br />
und selbst Gerichte. Ich sage nicht, die<br />
Spanier sind schuld an allem, sondern<br />
ich bin politisch noch nicht handlungsfähig<br />
genug, mich durchzusetzen."<br />
100 Kilometer Luftlinie entfernt hat<br />
Myriam Emparanza ihre Wohnung im<br />
dritten Stock eines Mehrfamilienhauses<br />
noch mal sichern lassen. "Ich bin nur<br />
noch der Bodyguard meines Sohnes“,<br />
sagt sie. „Das <strong>ist</strong> alles, was ich mit<br />
meinem Leben mache.“ Morgens fährt<br />
sie Eneko zur Schule, mittags holt sie<br />
ihn wieder ab. Nachmittags fahrt sie ihn<br />
zum Sport, abends holt sie ihn wieder<br />
ab. Und erst in der Nacht, wenn unten<br />
kein Auto, keine Schritte und keine<br />
Stimme mehr zu hören <strong>ist</strong>, denkt sie für<br />
sich: „Danke. Wieder einen Tag mehr<br />
mit Eneko. Danke für diesen einen<br />
Tag.“<br />
Eneko kommt ins Zimmer. Ein schon<br />
großer, kräftiger Junge, der gern<br />
schwimmt und surft und auf seinem<br />
Skateboard durch Legazpia fährt. Er <strong>ist</strong><br />
acht Jahre alt, spricht fünf Sprachen<br />
und hat mehr von der Welt gesehen <strong>als</strong><br />
seine Mutter, seine Oma, seine ganze<br />
Familie zusammen. Aber Eneko sagt<br />
nichts. KeinenTon. Nichtmalguten Tag.<br />
Er habe sich schnell wieder daran<br />
gewöhnt, mit Messer und Gabel zu<br />
essen, und auch zur Schule gehe er gern<br />
betont seine Mutter. Die Typhus-<br />
Erkrankung sei überwunden, die Unterrährung<br />
auch, nur dieses Kiegstrauma<br />
sei schwer aus ihm herauszukriegen.<br />
Manchmal geht Eneko zu seinen<br />
Freunden und prahlt: „Ich hatte schon<br />
mal eine Halbautomatik in der Hand.“<br />
Und manchmal verzieht er sich in sein<br />
Zimmer und spielt Krieg, stundenlang<br />
Krieg. Enekos Psychotherapeuten<br />
halten ihn für „instabil“ und „fragil“,<br />
ein Wiedersehen mit dem Vater sei<br />
„nicht ratsam“. Am Tag darauf fährt<br />
Myriam Emparanza nach San Sebastian,<br />
zum Familiengericht. Sie fleht den<br />
Richter an, Baumgart nicht auf ihren<br />
Sohn treffen zu lassen, selbst in Anwesenheit<br />
von hundert Poliz<strong>ist</strong>en nicht.<br />
„Er versucht es jetzt legal. Und wenn er<br />
es nicht schafft, wird er ihn noch mal<br />
entführen. Entziehen Sie ihm den<br />
Pass.“ „Das geht nicht“, antwortet der<br />
Richter. „Wir leben in einem demokratischen<br />
Land:' Myriam verlässt das<br />
Gericht, enttäuscht und voller Angst.<br />
Sie flüstert: „Er könnte Eneko töten. Er<br />
<strong>ist</strong> mental in der Lage dazu“. Es <strong>ist</strong> der<br />
Tag der Entscheidung. Baumgart <strong>ist</strong> um<br />
vier Uhr früh aufgestanden. Den<br />
Morgen über hat er im Bett fiktive<br />
Interviews gegeben. Und jetzt, da er<br />
aufs Gerichtsgebäude zugeht, zittert er<br />
stark. Was <strong>ist</strong> los, Herr Baumgart? „Zittern<br />
<strong>ist</strong> meine Kulturkritik“, sagt er.<br />
„Ich wundere mich, dass Leute bei diesem<br />
Zustand der Gesellschaft nicht zittern.“<br />
Er trägt eine Thermohose, die bei<br />
jedem Schritt quietscht. Er wippt, wenn<br />
er geht, leichtfüßig, immer zum Angriff<br />
bereit. „Und was <strong>ist</strong>, wenn man Sie<br />
gleich festnimmt?“ Ich habe ein Buch<br />
von Foucault dabei, das reicht für 14<br />
Tage. Und vielleicht bringe ich mich ja<br />
um. Es gibt mehr Gründe, sich umzubringen,<br />
<strong>als</strong> am Leben zu bleiben."<br />
VOR DEM OBERLANDESGERICHT<br />
stürzen sich etwa 40 Reporter auf<br />
Baumgart, <strong>als</strong> sei er Luis Figo oder die<br />
neue Infantin des Königshauses. Er<br />
liefert eine Kurzanalyse der spanischen<br />
Gesellschaft, die keiner hören will. Er<br />
gesteht: „Ich habe Fehler gemacht, ich<br />
würde Eneko seiner Mutter nie wieder<br />
entziehen“, aber das will auch keiner<br />
hören. Dann sagt er: „Ich betrachte dies<br />
hier <strong>als</strong> einen Akt der Ausländerfeindlichkeit.“<br />
Das wollen alle hören. Sie<br />
werden es gleich senden. Und drucken.<br />
Der verrückte Deutsche <strong>ist</strong> endlich wieder<br />
da. Die Richterin vernimmt Axel<br />
Baumgart zwei Stunden lang. Vor dem<br />
Saal tauchen Poliz<strong>ist</strong>en auf, und<br />
Myriams Anwältin erklärt den wartenden<br />
Journal<strong>ist</strong>en, dass der Deutsche<br />
fünf bis zehn Jahre bekommen und<br />
gleich abgeführt werden könnte. Dann<br />
tritt Baumgart aus dem Saal heraus.<br />
Lächelt verstohlen. Und geht. Und<br />
keiner hindert ihn. Die Richterin <strong>ist</strong> zu<br />
dem Schluss gekommen, dass er wegen<br />
eines Verbrechens in Europa nicht<br />
zweimal verurteilt werden darf. Baumgart<br />
<strong>ist</strong> frei. Und darf schon bald seinen<br />
Sohn wiedersehen. Einige Wochen<br />
später, am 15. März 2001, entscheidet<br />
das Familiengericht San Sebastian nach<br />
Anfertigung eines psychologischen<br />
Gutachtens: Baumgart, der Vater des<br />
kleinen Eneko, erhält ab sofort ein 14-<br />
tägliches Besuchsrecht unter Aufsicht<br />
von Sozialarbeitern. „Eine Aussetzung<br />
des Vater-Sohn-Kontaktes wäre schädlich<br />
für das Kind“,urteilt der Richter.<br />
Baumgart <strong>ist</strong> zurück. Und er hat<br />
gesiegt.