Arme Schlucker - Felixhutt.com
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als eine einzelne Klinik wie das BMHRC.<br />
In einem <strong>Arme</strong>nviertel in der Nähe des Stadtzentrums<br />
lebt die Familie Naik, und sie ist der<br />
Beweis, dass die Studien nicht immer tödlich<br />
enden müssen, um Leben zu zerstören. Vor<br />
der Tür ihres Häuschens liegt Müll, es riecht<br />
nach verbranntem Kuhdung, der zum Heizen<br />
benutzt wird. Ajay und seine Frau Pooja haben<br />
bereits eine Tochter, als am 8. März 2010 ihr<br />
ersehnter Sohn auf die Welt kommt, Yatarth.<br />
Die Geburt verläuft problemlos, nach einem<br />
Tag werden Pooja und Yatarth Naik aus dem<br />
städtischen Hospital entlassen.<br />
Für die bei Babys üblichen Impfungen verweist<br />
sie die Krankenschwester an die Kinderklinik<br />
Chacha Nehru. Dort sollen sie am nächsten<br />
Tag zu Dr. Hemant Jain gehen, Zimmer 14, der<br />
habe eine neue Impfung, die alle anderen abdecke<br />
und eigentlich bis zu 10 000 Rupien<br />
koste, aber bei ihm ohne Bezahlung zu haben<br />
sei. Ajay Naik ist arbeitslos, die Naiks sind begeistert<br />
und besuchen tags darauf Dr. Jain.<br />
Sie könnten sich glücklich schätzen, sagt der<br />
Doktor, diese Impfung sei so neu, dass sie noch<br />
gar nicht erhältlich sei. Deswegen müsse Pooja<br />
Naik ein Papier unterschreiben, eine Formalie.<br />
Sie versteht nicht, was auf dem Papier steht,<br />
es ist auf Englisch, aber sie will, dass ihr Sohn<br />
diese neue Impfung bekommt. Pooja Naik<br />
kritzelt ihren Namen auf Hindi unter das Dokument<br />
und unterschreibt damit fast Yatarths<br />
Todesurteil.<br />
Dr. Jain sagt den Naiks nicht, dass ihr Baby<br />
nun Teil einer Medikamentenstudie ist. »Sonst<br />
wären wir sofort gegangen«, sagt Ajay Naik<br />
heute, »wir geben unseren Sohn doch nicht für<br />
Versuche her.« So wie Dr. Jain sichern sich viele<br />
indische Ärzte und ihre Auftraggeber mit Einverständniserklärungen<br />
ab, die die Patienten<br />
nicht verstehen, aber unterschreiben, weil sie<br />
glauben, dass sie ein tolles neues Medikament<br />
bekommen, und das auch noch gratis. Manche<br />
Patienten können nicht einmal ihren eigenen<br />
Namen schreiben, sie werden aufgefordert, ihren<br />
Daumenabdruck unter der Erklärung zu<br />
hinterlassen, das reiche auch.<br />
Es gibt nicht nur moralische, sondern auch berufliche<br />
Verhaltensregeln, die dieses Gebaren<br />
der Ärzte verbieten. Der Weltärztebund hat in<br />
der Deklaration von Helsinki festgelegt, dass<br />
ein Arzt die Patienten für eine Studie sorgsam<br />
auswählen muss, dass er sie ausdrücklich um<br />
Einverständnis fragen muss und dass sie darüber<br />
aufzuklären sind, was im Rahmen der<br />
Studie mit ihnen passieren könnte, welche<br />
Nebenwirkungen und Risiken diese mit sich<br />
bringt. Ärzte sollen ihre Arbeit an Studien von<br />
ihrer Arbeit in der Praxis oder im Krankenhaus<br />
strikt trennen, und sie sollen Personen schützen,<br />
die nicht in der Lage sind, selbst ihre Zustimmung<br />
zu erteilen oder zu verweigern. »In<br />
der medizinischen Forschung am Menschen<br />
muss das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson<br />
Vorrang vor allen anderen Interessen<br />
haben«, heißt es in der Deklaration.<br />
PAKISTAN<br />
NEU-DELHI<br />
INDORE<br />
BHOPAL<br />
INDIEN<br />
NEPAL<br />
CHINA<br />
BANGLADESCH<br />
Am 10. März 2010 verabreicht Dr. Jain dem<br />
zwei Tage alten Yatarth eine Injektion, die unter<br />
anderem Thiomersal, Tween 80 und Formaldehyd<br />
enthält. Thiomersal ist ein Konservierungsmittel<br />
für Impfstoffe und besteht zu 49,6<br />
Prozent aus Quecksilber; Thiomersal kommt<br />
in westlichen Ländern kaum noch zum Einsatz,<br />
und wenn, ist für Kinder von sechs Monaten<br />
bis neun Jahren in Deutschland eine<br />
Dosis von 2,5 Mikrogramm vorgesehen, das<br />
sind 2,5 Millionstel eines Gramms. In Yatarth<br />
Naiks Körper spritzt Dr. Jain 25 Mikrogramm.<br />
Laut dem indischen Wissenschaftsmagazin<br />
»Down to Earth« kann eine Thiomersal-Überdosis<br />
zu neurologischen Störungen führen<br />
und Tween 80 Herz-Kreislauf-Erkrankungen<br />
nach sich ziehen. Formaldehyd kann krebserregend<br />
wirken.<br />
Am Morgen nach der Impfung ist Yatarth voller<br />
weißer Flecken, sein Körper sieht aus, als<br />
habe man Tischtennisbälle auf ihn gemalt.<br />
Und die Bälle werden immer mehr und immer<br />
größer. Die Naiks gehen mit ihrem Sohn wieder<br />
zu Dr. Jain. Er nimmt dem Kleinen Blut ab,<br />
das braucht er für die Studie, und rät ihnen,<br />
eine andere Seife zu benutzen, so würden die<br />
Flecken schon weggehen.<br />
Aber die Flecken bleiben, egal mit welcher<br />
Seife die Naiks ihren Sohn waschen. Im April,<br />
Mai und Juni 2010 bringen sie Yatarth zu Dr.<br />
Jain, das Prozedere ist immer gleich: Er nimmt<br />
ihm Blut ab, gibt ihm eine neue Spritze mit<br />
dem Impfstoff und sagt, das mit den weißen<br />
Flecken werde sich erledigen.<br />
Eines Tages liest Ajay Naik in der Lokalzeitung<br />
einen Bericht über Medikamentenstudien. Er<br />
schneidet den Artikel aus und geht mit Yatarth<br />
zu einem anderen Doktor, den fragt er, ob es<br />
möglich sei, dass sein Sohn für eine Medikamentenstudie<br />
missbraucht werde. Der Doktor<br />
stellt einen Antrag auf Untersuchung der Vorkommnisse<br />
am Chacha Nehru. Die Ergebnisse<br />
bestätigen Ajay Naiks Verdacht. Sein Sohn<br />
Nur in wenigen Fällen zahlen<br />
die Pharmakonzerne den<br />
Familien eine Entschädigung<br />
Yatarth ist eines von mindestens 1100 Kindern,<br />
an denen im Rahmen von Medikamentenstudien<br />
in Indore Impfstoffe getestet werden. Mehr<br />
als vierzig Ärzte in achtzehn Krankenhäusern<br />
sind beteiligt, allein Dr. Jain verdient mit Medikamentenstudien<br />
5 600 000 Rupien innerhalb<br />
von fünf Jahren, knapp 80 000 Euro.<br />
Die Studie an dem Impfstoff, der Yatarths Körper<br />
mit weißen Flecken übersät hat, wird abgebrochen.<br />
Aber es dauert noch fast ein Jahr, bis<br />
es mit Hilfe eines Alternativmediziners gelingt,<br />
Yatarths Körper von den Flecken zu befreien.<br />
Der Kleine wirkt heute autistisch, er spricht<br />
nicht, welche Schäden er langfristig davontragen<br />
wird, ist ungewiss. Für Untersuchun gen<br />
und Vorsorge fehlt den Naiks das Geld, sie versuchen,<br />
ihn mit Liebe zu kurieren.<br />
Laut einer Untersuchung des indischen Gesundheitsministeriums<br />
sind zwischen 2007<br />
und 2010 insgesamt 1722 Inder infolge ihrer<br />
Teilnahme an Medikamentenstudien gestorben.<br />
Diese Untersuchung wäre ohne den<br />
Druck von Aktivisten und die Recherchen von<br />
Experten wie Dr. Gulhati nicht zustande gekommen.<br />
Die Pharmaunternehmen argumentieren,<br />
dass viele Probanden aufgrund ihrer<br />
Vorerkrankungen sowieso gestorben wären.<br />
Von den 1722 gemeldeten Toten erkannten sie<br />
nur bei 22 einen direkten Zusammenhang mit<br />
ihren Medikamentenstudien an und zahlten<br />
den Angehörigen geringe Entschädigungen.<br />
Bayer zahlte in fünf Fällen jeweils 250 000<br />
26 — Sehen