5. Philosophie der Chemie Teil 1 - Professur für Philosophie
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Einführung in die <strong>Philosophie</strong><br />
<strong>der</strong> Naturwissenschaften<br />
3. <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong>
Überblick<br />
1. Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />
2. Erkenntnisstrategien <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />
a) Analyse<br />
b) Synthese<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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Von Alchemie zu <strong>Chemie</strong><br />
Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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Forschung zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> hat ihre eigene<br />
Geschichte:<br />
„Es läßt sich wohl behaupten, daß die Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaften die<br />
Wissenschaft selbst sei. Man kann dasjenige, was man besitzt, nicht rein<br />
erkennen, bis man das, was an<strong>der</strong>e vor uns besessen, zu erkennen weiß.“<br />
Goethe<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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1. Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> / Von Alchemie zu <strong>Chemie</strong><br />
(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Die konservative Perspektive<br />
(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Die ideengeschichtliche Perspektive<br />
(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
Die Perspektive des practical turn<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Vertreter dieser konservativen Perspektive:<br />
George Sarton<br />
Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> wissenschaftshistorischen Zeitschrift Isis (1912)<br />
sowie <strong>der</strong> History of Science Society (1924)<br />
„Die Beiträge <strong>der</strong> Zeitschrift Isis streben danach die relativistischen Studien zur<br />
Wissenschaftsgeschichte sowohl zu kritisieren, als auch sie zu<br />
vereinheitlichen.“<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„Alchemisten sind Idioten und Betrüger o<strong>der</strong>, fast noch häufiger,<br />
eine Kombination aus beiden Figuren.“<br />
Sarton<br />
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Kupferstich von 1537 aus: Vergilius Polydorus, Der Dinge Erfindung, Augsburg.<br />
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Nie<strong>der</strong>ländische Zeichnung, 1510: Alchemisten in <strong>der</strong> Bauernküche<br />
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Kupferstich um 1560 nach Pieter Bruegel d. Ä.:<br />
Die Alchemisten<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Ab dem 17ten Jahrhun<strong>der</strong>t finden sich mehr und mehr<br />
abschätzige Bezeichnungen <strong>für</strong> die Alchemie:<br />
„Was die Alchemisten suchen,<br />
das finden sie nicht,<br />
und was sie haben,<br />
das verlieren sie.“<br />
,„Alchemistische Seuche“<br />
„Pest <strong>der</strong> Alchemie“<br />
„Schleichendes Gift“<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„Die Pest <strong>der</strong> Goldsucht hat insbeson<strong>der</strong>heit nach Paracelsi Zeiten überhand<br />
genommen, da sich das Geschrei von seinen bewun<strong>der</strong>nswürdigen<br />
Geheimnissen ausgebreitet. Denn da haben Ba<strong>der</strong>, Barbierer, Apotheker und<br />
an<strong>der</strong>e …. ihre bisher getriebene Berufsarbeit verlassen, die <strong>Chemie</strong> einzig und<br />
allein und das mit ungewaschenen Händen ergriffen, und den Stein <strong>der</strong><br />
Weisen, eine <strong>für</strong> alles helfende Arznei, und wer weiß was sonst vortreffliches<br />
davon zu tragen gehofft… Diese unbesonnene und recht wütende Sucht, Gold<br />
zu machen, und viele schlechte Dinge <strong>für</strong> Geheimnisse und die kräftigsten<br />
Medikamente auszugeben, hat heutzutage noch nicht nachgelassen. “<br />
Juncker, 1749, Vollständige Abhandlung <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> Bd. I, S. 45 f.<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„Den Schaden, den solch betrügerischen Scribenten und herumwan<strong>der</strong>nde<br />
Alchemie-Kräntzler verursachen, begehre ich nicht auszusprechen, doch<br />
getraue ich mir wohl zu behaupten, daß von Paracelsi Zeiten her kein Krieg in<br />
unserem verehrten Vaterlande entstanden, welcher demselben so fatal als<br />
<strong>der</strong>gleichen Leute gewesen.“<br />
Stahl, Zymotechnia fundamentalis o<strong>der</strong> Allgemeine Grundkenntnisse <strong>der</strong><br />
Gärungskunst, 1734, Vorwort.<br />
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„Weil er dann die Leut betrogen,<br />
Und verkaufte Rauch und Dunst.<br />
Wird er nun hinaufgezogen,<br />
und gehenket ohne Gunst,<br />
Mit <strong>der</strong> Kunst.“<br />
Spruchgedicht auf einen 1574<br />
gehängten Alchemisten<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Woran also mangelte es <strong>der</strong> Alchemie konkret?<br />
• Keine adäquate Theorie <strong>der</strong> Elemente (4-Elemente-Lehre des Empedokles:<br />
Feuer, Wasser, Erde und Luft)<br />
• Keine Trennung primärer und sekundärer Eigenschaften<br />
• Keine ausreichende Kontrolle über Hitze (z.B. keine konzentrierte<br />
konstante Hitze wie die eines Bunsenbrenners; stattdessen Kohle, Holz<br />
und Pferdemist)<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
• Unreinheit <strong>der</strong> verwendeten Stoffe (führte bei gleichen<br />
Bedingungen zu unterschiedlichen, wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />
Ergebnissen)<br />
• Keine Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt<br />
(Bezug auf Natur als ein Du und nicht als ein Es)<br />
-> Verfolgung falscher Ziele (Erschaffung des Steins <strong>der</strong> Weisen,<br />
welcher Unsterblichkeit, unermesslichen Reichtum, etc.<br />
garantiert<br />
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„Hat es doch thatsächlich etwas Befremdendes, die chemischen Ideen auf ein<br />
Thier o<strong>der</strong> eine Pflanze anzuwenden, wie aus dem Beispiel <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong><br />
Citrone hervorgeht.“<br />
Berthelot, Die chemische Synthese, 1877, 10<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Überwindung <strong>der</strong> „schlechten“ Alchemie:<br />
Robert Boyle (1626-1691)<br />
• Berief sich auf Wissenschaftsideal Francis Bacons:<br />
Aufwertung des Experiments<br />
• Trennung von Erkenntnissubjekt und -objekt<br />
• Verwerfung <strong>der</strong> 4-Elemente-Lehre<br />
• Erforschung <strong>der</strong> nicht-weiter teilbaren Stoffe (Elemente) als wissenschaftliche Aufgabe <strong>der</strong><br />
<strong>Chemie</strong><br />
• Begrün<strong>der</strong> des Begriffs:<br />
Chemische Analyse<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„Diejenigen, die sich mit <strong>Chemie</strong> befaßten, wurden bisher nur von engen<br />
praktischen Gesichtspunkten geleitet, und ihr Wirken entbehrte höherer<br />
Richtlinien. Sie betrachteten die Metallverwandlung als ihre Aufgabe. Ich<br />
versuche, an<strong>der</strong>en Prinzipien zu folgen und diese Wissenschaft nicht als<br />
gewöhnlicher Alchemist, son<strong>der</strong>n als Philosoph zu betreiben. Ich habe hier<br />
die Grundlinien einer chemischen <strong>Philosophie</strong> dargelegt, die ich mit<br />
weiteren Versuchen und Beobachtungen noch erweitern zu können hoffe.<br />
Würden doch die Menschen das Fortschreiten <strong>der</strong> echten Wissenschaft<br />
mehr am Herzen tragen als ihre egoistischen Interessen, so wäre es leicht zu<br />
beweisen, daß sie <strong>der</strong> Welt bessere Dienste täten, wenn sie alle ihre Kräfte<br />
zum Experimentieren und zur Sammlung von Beobachtungen anspannten,<br />
als wenn sie ohne experimentelle Grundlage Theorien aufstellen.“<br />
Boyle, 1725<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„So sehr sich auch die Chemiker auf die Erfahrung zu berufen und so<br />
zuversichtlich sie auch die verschiedenen Substanzen, die durch das Feuer<br />
von einem gemischten Körper erhalten werden, als einen genügenden<br />
Beweis anzuführen pflegen, daß sie die Elemente sind, aus denen er besteht,<br />
so sind doch viele dieser verschiedenen Substanzen von elementarer<br />
Einfachheit weit entfernt und können immer noch als gemischte Körper<br />
angesehen werden …“<br />
Boyle, Der skeptische Chemiker, 57, 1661<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
„Den Chemikern stand es anfangs frei, die Stoffe, die sich bei ihren Analysen<br />
ergaben, Schwefel o<strong>der</strong> Quecksilber o<strong>der</strong> Gas o<strong>der</strong> Blas o<strong>der</strong> was ihnen sonst<br />
gefiel, zu nennen. Wenn sie aber einmal gesagt haben, daß Schwefel zum<br />
Beispiel ein primärer und einfacher, entzündlicher, riechen<strong>der</strong> usw. Körper<br />
ist, dann kann ich an ihren Worten zweifeln…<br />
Auch muß ich denken, daß sie mit Worten spielen, wenn sie lehren, daß<br />
Gold und Silber und einige an<strong>der</strong>e Stoffe reich an einem unverbrennbaren<br />
Schwefel sind, was ein ebenso zutreffen<strong>der</strong> Ausdruck ist, wie eine Nacht voll<br />
Sonnenschein o<strong>der</strong> flüssiges Eis.“<br />
Boyle, Der skeptische Chemiker, 57, 1661<br />
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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />
Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (1)<br />
Die Alchemie erscheint aus <strong>der</strong> konservativen<br />
wissenschaftshistorischen Perspektive als eine schlechtere<br />
Form <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong>, welche durch wissenschaftlichen<br />
Fortschritt überwunden werden musste. Zwischen Alchemie<br />
und <strong>Chemie</strong> gibt es keine Gemeinsamkeiten. Eine <strong>der</strong><br />
wichtigsten und zentralsten Figuren in <strong>der</strong> Überwindung <strong>der</strong><br />
Alchemie war Robert Boyle, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> chemischen<br />
Analyse.<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Vertreter dieser ideengeschichtlichen Perspektive:<br />
Alexandre Koyré<br />
Epochenbegriff:<br />
Wissenschaftliche Ideen müssen aus ihrer eigenen Zeit heraus begriffen<br />
werden und nicht im Vergleich zur Gegenwart<br />
Doch noch wichtiger als konkrete wissenschaftliche Ideen sind:<br />
Transwissenschaftliche, philosophische und metaphysische Ideen, welche<br />
den Zeitgeist und das Denken <strong>der</strong> jeweiligen Epoche bestimmen<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
«Wir wissen heute, dass <strong>der</strong> kritische Geist in <strong>der</strong> Renaissance<br />
einen selten schwachen Stand hatte; da gibt es kaum eine<br />
vergleichbare Epoche. Finsterer Aberglaube herrschte…»<br />
Koyré<br />
Doch die Renaissance war auch eine Zeit „voller Neugier, Leben<br />
und Leidenschaft“.<br />
Koyré<br />
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Francis Bacon, Novum Organum, 1620<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Koyrés These:<br />
Alchemie schuf geistiges Klima, welches die wissenschaftliche Revolution<br />
überhaupt erst ermöglichte.<br />
„Die Evolution wissenschaftlicher Ideen war nie eine Abfolge voneinan<strong>der</strong><br />
unabhängiger Gedanken, son<strong>der</strong>n, ganz im Gegenteil, sie war immer eng<br />
verbunden mit den zugrundeliegenden transwissenschaftlichen,<br />
metaphysischen und philosophischen Ideen.“<br />
Koyré<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Wie konnte die Alchemie<br />
die wissenschaftliche Revolution vorbereiten?<br />
-> Verwerfung <strong>der</strong> mittelalterlichen Ontologie: alles ist möglich<br />
-> Mensch wird als Schöpfer neuer Stofflichkeiten<br />
innerhalb <strong>der</strong> Natur denkbar<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
„Es gehört zu den eigentümlichsten Merkmalen jener Zeit, dass dem Denken<br />
je<strong>der</strong> Begriff des Unmöglichen fehlte. Alles ist möglich.“<br />
Koyré<br />
„Alles ist möglich: so, meine ich, lässt sich die Mentalität <strong>der</strong> Renaissance auf<br />
den Begriff bringen.“<br />
Koyré<br />
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Aus: Splendor Solis, alchemistisches Traktat, 16tes<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t<br />
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„Ich will aber, daß du ebenso handelst wie die Natur, besser<br />
noch, daß deine Vorstellung immer gemäß <strong>der</strong> Natur sei. Sieh<br />
zu, daß dein Wirken gemäß <strong>der</strong> Natur sei, von <strong>der</strong> die<br />
metallischen Körper im Schoße <strong>der</strong> Erde erneuert werden. Das<br />
stelle dir vor Augen in wirklicher, nicht in unwirklicher<br />
Vorstellung.“<br />
Rosarium Philosophorum, 1550<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Die Alchemie ermöglichte es als erste, den Menschen selbst<br />
als Schöpfer neuer Stoffe zu denken.<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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„Die <strong>Chemie</strong> besitzt eine schöpferische Kraft in einem noch höheren Grade,<br />
als die übrigen Wissenschaften, weil sie tiefer in das Wesen <strong>der</strong> Naturkörper<br />
eindringt und bis zu den Elementen <strong>der</strong>selben fortschreitet. Sie schafft nicht<br />
nur Erscheinungen, son<strong>der</strong>n sie ist auch imstande, das, was wie zerstört hat,<br />
wie<strong>der</strong> herzustellen, sie ist auch imstande, eine Menge künstlicher Körper<br />
hervorzubringen...<br />
So brauchen wir uns nicht damit begnügen, in Gedanken die materiellen<br />
Umwandlungen zu durchlaufen, welche sich ehemals vollzogen haben und<br />
sich täglich in <strong>der</strong> unorganischen und <strong>der</strong> organischen Welt vollziehen, wir<br />
brauchen uns nicht damit begnügen, ihre flüchtigen Spuren durch directe<br />
Beobachtung <strong>der</strong> gegenwärtigen Erscheinungen und Existenzen zu<br />
verfolgen, son<strong>der</strong>n wir können uns, ohne den Kreis berechtigter Hoffnungen<br />
zu verlassen, uns die Aufgabe stellen, die allgemeinen Typen aller möglichen<br />
Substanzen zu begreifen und zu realisiren.“<br />
Berthelot, Die chemische Synthese, 1877, Leipzig, 294-295<br />
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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />
Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (2)<br />
Der eigentliche Verdienst <strong>der</strong> Alchemie besteht aus<br />
ideengeschichtlicher Perspektive nicht darin, wahres Wissen<br />
produziert zu haben, son<strong>der</strong>n darin, den Menschen als Schöpfer<br />
neuer Stofflichkeiten denkbar zu machen (chem. Synthese). Die<br />
Alchemie war <strong>der</strong> erste Versuch, die bisher bestehende <strong>Chemie</strong><br />
aus einem Zustand <strong>der</strong> reinen Praxis zu befreien, um sie <strong>der</strong><br />
Reflexion freizugeben und trug darüberhinaus dazu bei, ein<br />
geistiges Klima zu schaffen, welches die wissenschaftliche<br />
Revolution ermöglichte.<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
Perspektive des practical turn<br />
Vertreter:<br />
Karin Knorr Cetina, Ian Hacking,<br />
H.-J. Rheinberger, Bruno Latour, Paul Feyerabend, Thomas Kuhn,<br />
Andrew Pickering<br />
-> Die materielle Kultur <strong>der</strong> Wissenschaften und ihre gesellschaftliche<br />
Einbettung stehen im Zentrum<br />
und weniger die Theorien, Ideen und Individuen.<br />
D.h. konkret: Gefässe, Laboratorien, Stoffe, Methoden und Verfahren,<br />
ökonomischer und gesellschaftlicher Kontext<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
§ <strong>Chemie</strong> vor allem als praktische Tätigkeit / untergeordnete<br />
Rolle <strong>der</strong> Theorie<br />
§ Entdeckungen durch praktische Tätigkeiten möglich und nicht<br />
nur durch „wahre“ Theorien<br />
§ Erfindung des Laboratoriums durch die Alchemie<br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
„Nicht verzweifeln soll also <strong>der</strong> Sohn <strong>der</strong> Lehre; denn wenn er sie sucht, so<br />
wird er sie finden, und zwar nicht durch bloßes Erforschen <strong>der</strong> Lehre,<br />
son<strong>der</strong>n durch Erforschen <strong>der</strong> Natur aus eigenem Antrieb. Wer nämlich <strong>für</strong><br />
sich mit gutem Fleiß sucht, wird das Wissen finden; wer es aber durch<br />
bloßes Nachforschen in Büchern sucht, wird es nicht finden.<br />
Rosarium Philosophorum, 1550, S. 142<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
„Seine Darstellung war klar und seine Sprache leicht, und je<strong>der</strong> Punkt, den er<br />
berührte, wurde in einzigartiger Weise behandelt. Natürlich wurde kein<br />
Buch benutzt o<strong>der</strong> angeführt...<br />
Wenn ein Praktikant ihn wegen irgendeiner Stelle in irgendeinem<br />
Handbuche befragte, die er nicht verstehen konnte, pflegte er lachend zu<br />
sagen, daß das meiste, was in Büchern sich geschrieben findet, Unsinn sei.“<br />
Ein Schüler über Robert Bunsen<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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Kupferstich um 1570: Goldmacher<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
«…und betrachtet er die Werke <strong>der</strong> Alchymisten und Magier von innen, so wird er<br />
vielleicht schwanken ob sie nicht belacht o<strong>der</strong> beweint zu werden verdienen. Der<br />
Alchymist hat ein unverwüstliches Hoffen; gelingt ihm etwas nicht, so ist nur sein<br />
Irrthum daran Schuld; er überlegt bei sich, dass er die Ausdrücke <strong>der</strong> Kunst o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Autoren nicht recht verstanden; er passt auf die Überlieferungen und das Geflüster<br />
von Ohrenzeugen; er meint, dass er in den schwierigen Punkten und Theilen seines<br />
Verfahrens etwas versehen habe; er wi<strong>der</strong>holt deshalb die Versuche ohne Ende, und<br />
geräth er bei diesen Versuchen zufällig auf etwas, was wegen seiner Neuheit nicht<br />
zu verachten ist, so weidet er an solchen Ergebnissen seine Seele, rühmt und preist<br />
dies übermässig und vertröstet wegen des Übrigen auf Hoffnungen. Dennoch kann<br />
man nicht leugnen, dass die Alchymisten Manches entdeckt und die Menschheit mit<br />
vielen Erfindungen beschenkt haben. Aber die Fabel von jenem Greise passt gut auf<br />
sie, welcher seinen Söhnen einen, angeblich in seinem Weinberge vergrabenen<br />
Schatz vermachte von dem er nur die Stelle nicht zu wissen vorgab. So gruben die<br />
Söhne fleissig in dem Weinberg und fanden zwar keinen Schatz, aber die Weinlese<br />
wurde durch diese Bearbeitung reicher.»<br />
Francis Bacon, 1620<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
Entdeckungen und Verfahren <strong>der</strong> Alchemie:<br />
Zinnchlorid (Andreas Libavius)<br />
Rubinglas (Andreas Libavius)<br />
Phosphor (Johan Kunckel von Löwenstern)<br />
Europäisches Porzellan (Johann Friedrich Böttger)<br />
Salmiak- und Zinnoberherstellung (von Geber)<br />
Europäisches Schießpulver (Berthold Schwarz)<br />
Destillationsapparat (Maria Prophetissa)<br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
Antoine Lavoisiers (1743-97) Experimenten zur Transmutation des Wassers<br />
im alchemistischen Gefäss des Pelikans<br />
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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />
Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (3)<br />
Trotz „falscher“ alchemistischer Theorien und Ideen war es <strong>der</strong><br />
Alchemie durch ihre Praktiken möglich, wahres Wissen zu<br />
produzieren, so dass zahlreiche bis heute verwendete Stoffe<br />
und Verfahren entdeckt wurden (Destillation). Darüber hinaus<br />
erfand die Alchemie das Laboratorium als zentralen Ort <strong>der</strong><br />
nicht nur chemischen Wissensproduktion. Alchemie und<br />
<strong>Chemie</strong> erscheinen aus <strong>der</strong> Perspektive des practical turns bis<br />
heute als eng miteinan<strong>der</strong> verbundene Tätigkeiten.<br />
Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />
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