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5. Philosophie der Chemie Teil 1 - Professur für Philosophie

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Einführung in die <strong>Philosophie</strong><br />

<strong>der</strong> Naturwissenschaften<br />

3. <strong>Philosophie</strong> <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong>


Überblick<br />

1. Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />

2. Erkenntnisstrategien <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />

a) Analyse<br />

b) Synthese<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

2


Von Alchemie zu <strong>Chemie</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong><br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

3


Forschung zur Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> hat ihre eigene<br />

Geschichte:<br />

„Es läßt sich wohl behaupten, daß die Geschichte <strong>der</strong> Wissenschaften die<br />

Wissenschaft selbst sei. Man kann dasjenige, was man besitzt, nicht rein<br />

erkennen, bis man das, was an<strong>der</strong>e vor uns besessen, zu erkennen weiß.“<br />

Goethe<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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1. Geschichte <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> / Von Alchemie zu <strong>Chemie</strong><br />

(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Die konservative Perspektive<br />

(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Die ideengeschichtliche Perspektive<br />

(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

Die Perspektive des practical turn<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Vertreter dieser konservativen Perspektive:<br />

George Sarton<br />

Grün<strong>der</strong> <strong>der</strong> wissenschaftshistorischen Zeitschrift Isis (1912)<br />

sowie <strong>der</strong> History of Science Society (1924)<br />

„Die Beiträge <strong>der</strong> Zeitschrift Isis streben danach die relativistischen Studien zur<br />

Wissenschaftsgeschichte sowohl zu kritisieren, als auch sie zu<br />

vereinheitlichen.“<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„Alchemisten sind Idioten und Betrüger o<strong>der</strong>, fast noch häufiger,<br />

eine Kombination aus beiden Figuren.“<br />

Sarton<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Kupferstich von 1537 aus: Vergilius Polydorus, Der Dinge Erfindung, Augsburg.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Nie<strong>der</strong>ländische Zeichnung, 1510: Alchemisten in <strong>der</strong> Bauernküche<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Kupferstich um 1560 nach Pieter Bruegel d. Ä.:<br />

Die Alchemisten<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Ab dem 17ten Jahrhun<strong>der</strong>t finden sich mehr und mehr<br />

abschätzige Bezeichnungen <strong>für</strong> die Alchemie:<br />

„Was die Alchemisten suchen,<br />

das finden sie nicht,<br />

und was sie haben,<br />

das verlieren sie.“<br />

,„Alchemistische Seuche“<br />

„Pest <strong>der</strong> Alchemie“<br />

„Schleichendes Gift“<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„Die Pest <strong>der</strong> Goldsucht hat insbeson<strong>der</strong>heit nach Paracelsi Zeiten überhand<br />

genommen, da sich das Geschrei von seinen bewun<strong>der</strong>nswürdigen<br />

Geheimnissen ausgebreitet. Denn da haben Ba<strong>der</strong>, Barbierer, Apotheker und<br />

an<strong>der</strong>e …. ihre bisher getriebene Berufsarbeit verlassen, die <strong>Chemie</strong> einzig und<br />

allein und das mit ungewaschenen Händen ergriffen, und den Stein <strong>der</strong><br />

Weisen, eine <strong>für</strong> alles helfende Arznei, und wer weiß was sonst vortreffliches<br />

davon zu tragen gehofft… Diese unbesonnene und recht wütende Sucht, Gold<br />

zu machen, und viele schlechte Dinge <strong>für</strong> Geheimnisse und die kräftigsten<br />

Medikamente auszugeben, hat heutzutage noch nicht nachgelassen. “<br />

Juncker, 1749, Vollständige Abhandlung <strong>der</strong> <strong>Chemie</strong> Bd. I, S. 45 f.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„Den Schaden, den solch betrügerischen Scribenten und herumwan<strong>der</strong>nde<br />

Alchemie-Kräntzler verursachen, begehre ich nicht auszusprechen, doch<br />

getraue ich mir wohl zu behaupten, daß von Paracelsi Zeiten her kein Krieg in<br />

unserem verehrten Vaterlande entstanden, welcher demselben so fatal als<br />

<strong>der</strong>gleichen Leute gewesen.“<br />

Stahl, Zymotechnia fundamentalis o<strong>der</strong> Allgemeine Grundkenntnisse <strong>der</strong><br />

Gärungskunst, 1734, Vorwort.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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„Weil er dann die Leut betrogen,<br />

Und verkaufte Rauch und Dunst.<br />

Wird er nun hinaufgezogen,<br />

und gehenket ohne Gunst,<br />

Mit <strong>der</strong> Kunst.“<br />

Spruchgedicht auf einen 1574<br />

gehängten Alchemisten<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Woran also mangelte es <strong>der</strong> Alchemie konkret?<br />

• Keine adäquate Theorie <strong>der</strong> Elemente (4-Elemente-Lehre des Empedokles:<br />

Feuer, Wasser, Erde und Luft)<br />

• Keine Trennung primärer und sekundärer Eigenschaften<br />

• Keine ausreichende Kontrolle über Hitze (z.B. keine konzentrierte<br />

konstante Hitze wie die eines Bunsenbrenners; stattdessen Kohle, Holz<br />

und Pferdemist)<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

• Unreinheit <strong>der</strong> verwendeten Stoffe (führte bei gleichen<br />

Bedingungen zu unterschiedlichen, wi<strong>der</strong>sprüchlichen<br />

Ergebnissen)<br />

• Keine Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt<br />

(Bezug auf Natur als ein Du und nicht als ein Es)<br />

-> Verfolgung falscher Ziele (Erschaffung des Steins <strong>der</strong> Weisen,<br />

welcher Unsterblichkeit, unermesslichen Reichtum, etc.<br />

garantiert<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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„Hat es doch thatsächlich etwas Befremdendes, die chemischen Ideen auf ein<br />

Thier o<strong>der</strong> eine Pflanze anzuwenden, wie aus dem Beispiel <strong>der</strong> Analyse <strong>der</strong><br />

Citrone hervorgeht.“<br />

Berthelot, Die chemische Synthese, 1877, 10<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Überwindung <strong>der</strong> „schlechten“ Alchemie:<br />

Robert Boyle (1626-1691)<br />

• Berief sich auf Wissenschaftsideal Francis Bacons:<br />

Aufwertung des Experiments<br />

• Trennung von Erkenntnissubjekt und -objekt<br />

• Verwerfung <strong>der</strong> 4-Elemente-Lehre<br />

• Erforschung <strong>der</strong> nicht-weiter teilbaren Stoffe (Elemente) als wissenschaftliche Aufgabe <strong>der</strong><br />

<strong>Chemie</strong><br />

• Begrün<strong>der</strong> des Begriffs:<br />

Chemische Analyse<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„Diejenigen, die sich mit <strong>Chemie</strong> befaßten, wurden bisher nur von engen<br />

praktischen Gesichtspunkten geleitet, und ihr Wirken entbehrte höherer<br />

Richtlinien. Sie betrachteten die Metallverwandlung als ihre Aufgabe. Ich<br />

versuche, an<strong>der</strong>en Prinzipien zu folgen und diese Wissenschaft nicht als<br />

gewöhnlicher Alchemist, son<strong>der</strong>n als Philosoph zu betreiben. Ich habe hier<br />

die Grundlinien einer chemischen <strong>Philosophie</strong> dargelegt, die ich mit<br />

weiteren Versuchen und Beobachtungen noch erweitern zu können hoffe.<br />

Würden doch die Menschen das Fortschreiten <strong>der</strong> echten Wissenschaft<br />

mehr am Herzen tragen als ihre egoistischen Interessen, so wäre es leicht zu<br />

beweisen, daß sie <strong>der</strong> Welt bessere Dienste täten, wenn sie alle ihre Kräfte<br />

zum Experimentieren und zur Sammlung von Beobachtungen anspannten,<br />

als wenn sie ohne experimentelle Grundlage Theorien aufstellen.“<br />

Boyle, 1725<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„So sehr sich auch die Chemiker auf die Erfahrung zu berufen und so<br />

zuversichtlich sie auch die verschiedenen Substanzen, die durch das Feuer<br />

von einem gemischten Körper erhalten werden, als einen genügenden<br />

Beweis anzuführen pflegen, daß sie die Elemente sind, aus denen er besteht,<br />

so sind doch viele dieser verschiedenen Substanzen von elementarer<br />

Einfachheit weit entfernt und können immer noch als gemischte Körper<br />

angesehen werden …“<br />

Boyle, Der skeptische Chemiker, 57, 1661<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

„Den Chemikern stand es anfangs frei, die Stoffe, die sich bei ihren Analysen<br />

ergaben, Schwefel o<strong>der</strong> Quecksilber o<strong>der</strong> Gas o<strong>der</strong> Blas o<strong>der</strong> was ihnen sonst<br />

gefiel, zu nennen. Wenn sie aber einmal gesagt haben, daß Schwefel zum<br />

Beispiel ein primärer und einfacher, entzündlicher, riechen<strong>der</strong> usw. Körper<br />

ist, dann kann ich an ihren Worten zweifeln…<br />

Auch muß ich denken, daß sie mit Worten spielen, wenn sie lehren, daß<br />

Gold und Silber und einige an<strong>der</strong>e Stoffe reich an einem unverbrennbaren<br />

Schwefel sind, was ein ebenso zutreffen<strong>der</strong> Ausdruck ist, wie eine Nacht voll<br />

Sonnenschein o<strong>der</strong> flüssiges Eis.“<br />

Boyle, Der skeptische Chemiker, 57, 1661<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(1) Alchemie als die schlechtere <strong>Chemie</strong><br />

Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (1)<br />

Die Alchemie erscheint aus <strong>der</strong> konservativen<br />

wissenschaftshistorischen Perspektive als eine schlechtere<br />

Form <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong>, welche durch wissenschaftlichen<br />

Fortschritt überwunden werden musste. Zwischen Alchemie<br />

und <strong>Chemie</strong> gibt es keine Gemeinsamkeiten. Eine <strong>der</strong><br />

wichtigsten und zentralsten Figuren in <strong>der</strong> Überwindung <strong>der</strong><br />

Alchemie war Robert Boyle, <strong>der</strong> Begrün<strong>der</strong> <strong>der</strong> chemischen<br />

Analyse.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Vertreter dieser ideengeschichtlichen Perspektive:<br />

Alexandre Koyré<br />

Epochenbegriff:<br />

Wissenschaftliche Ideen müssen aus ihrer eigenen Zeit heraus begriffen<br />

werden und nicht im Vergleich zur Gegenwart<br />

Doch noch wichtiger als konkrete wissenschaftliche Ideen sind:<br />

Transwissenschaftliche, philosophische und metaphysische Ideen, welche<br />

den Zeitgeist und das Denken <strong>der</strong> jeweiligen Epoche bestimmen<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

«Wir wissen heute, dass <strong>der</strong> kritische Geist in <strong>der</strong> Renaissance<br />

einen selten schwachen Stand hatte; da gibt es kaum eine<br />

vergleichbare Epoche. Finsterer Aberglaube herrschte…»<br />

Koyré<br />

Doch die Renaissance war auch eine Zeit „voller Neugier, Leben<br />

und Leidenschaft“.<br />

Koyré<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Francis Bacon, Novum Organum, 1620<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Koyrés These:<br />

Alchemie schuf geistiges Klima, welches die wissenschaftliche Revolution<br />

überhaupt erst ermöglichte.<br />

„Die Evolution wissenschaftlicher Ideen war nie eine Abfolge voneinan<strong>der</strong><br />

unabhängiger Gedanken, son<strong>der</strong>n, ganz im Gegenteil, sie war immer eng<br />

verbunden mit den zugrundeliegenden transwissenschaftlichen,<br />

metaphysischen und philosophischen Ideen.“<br />

Koyré<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Wie konnte die Alchemie<br />

die wissenschaftliche Revolution vorbereiten?<br />

-> Verwerfung <strong>der</strong> mittelalterlichen Ontologie: alles ist möglich<br />

-> Mensch wird als Schöpfer neuer Stofflichkeiten<br />

innerhalb <strong>der</strong> Natur denkbar<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

„Es gehört zu den eigentümlichsten Merkmalen jener Zeit, dass dem Denken<br />

je<strong>der</strong> Begriff des Unmöglichen fehlte. Alles ist möglich.“<br />

Koyré<br />

„Alles ist möglich: so, meine ich, lässt sich die Mentalität <strong>der</strong> Renaissance auf<br />

den Begriff bringen.“<br />

Koyré<br />

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Aus: Splendor Solis, alchemistisches Traktat, 16tes<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t<br />

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„Ich will aber, daß du ebenso handelst wie die Natur, besser<br />

noch, daß deine Vorstellung immer gemäß <strong>der</strong> Natur sei. Sieh<br />

zu, daß dein Wirken gemäß <strong>der</strong> Natur sei, von <strong>der</strong> die<br />

metallischen Körper im Schoße <strong>der</strong> Erde erneuert werden. Das<br />

stelle dir vor Augen in wirklicher, nicht in unwirklicher<br />

Vorstellung.“<br />

Rosarium Philosophorum, 1550<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Die Alchemie ermöglichte es als erste, den Menschen selbst<br />

als Schöpfer neuer Stoffe zu denken.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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„Die <strong>Chemie</strong> besitzt eine schöpferische Kraft in einem noch höheren Grade,<br />

als die übrigen Wissenschaften, weil sie tiefer in das Wesen <strong>der</strong> Naturkörper<br />

eindringt und bis zu den Elementen <strong>der</strong>selben fortschreitet. Sie schafft nicht<br />

nur Erscheinungen, son<strong>der</strong>n sie ist auch imstande, das, was wie zerstört hat,<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen, sie ist auch imstande, eine Menge künstlicher Körper<br />

hervorzubringen...<br />

So brauchen wir uns nicht damit begnügen, in Gedanken die materiellen<br />

Umwandlungen zu durchlaufen, welche sich ehemals vollzogen haben und<br />

sich täglich in <strong>der</strong> unorganischen und <strong>der</strong> organischen Welt vollziehen, wir<br />

brauchen uns nicht damit begnügen, ihre flüchtigen Spuren durch directe<br />

Beobachtung <strong>der</strong> gegenwärtigen Erscheinungen und Existenzen zu<br />

verfolgen, son<strong>der</strong>n wir können uns, ohne den Kreis berechtigter Hoffnungen<br />

zu verlassen, uns die Aufgabe stellen, die allgemeinen Typen aller möglichen<br />

Substanzen zu begreifen und zu realisiren.“<br />

Berthelot, Die chemische Synthese, 1877, Leipzig, 294-295<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(2) Alchemie als Vorbereiterin <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen <strong>Chemie</strong><br />

Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (2)<br />

Der eigentliche Verdienst <strong>der</strong> Alchemie besteht aus<br />

ideengeschichtlicher Perspektive nicht darin, wahres Wissen<br />

produziert zu haben, son<strong>der</strong>n darin, den Menschen als Schöpfer<br />

neuer Stofflichkeiten denkbar zu machen (chem. Synthese). Die<br />

Alchemie war <strong>der</strong> erste Versuch, die bisher bestehende <strong>Chemie</strong><br />

aus einem Zustand <strong>der</strong> reinen Praxis zu befreien, um sie <strong>der</strong><br />

Reflexion freizugeben und trug darüberhinaus dazu bei, ein<br />

geistiges Klima zu schaffen, welches die wissenschaftliche<br />

Revolution ermöglichte.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

Perspektive des practical turn<br />

Vertreter:<br />

Karin Knorr Cetina, Ian Hacking,<br />

H.-J. Rheinberger, Bruno Latour, Paul Feyerabend, Thomas Kuhn,<br />

Andrew Pickering<br />

-> Die materielle Kultur <strong>der</strong> Wissenschaften und ihre gesellschaftliche<br />

Einbettung stehen im Zentrum<br />

und weniger die Theorien, Ideen und Individuen.<br />

D.h. konkret: Gefässe, Laboratorien, Stoffe, Methoden und Verfahren,<br />

ökonomischer und gesellschaftlicher Kontext<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

§ <strong>Chemie</strong> vor allem als praktische Tätigkeit / untergeordnete<br />

Rolle <strong>der</strong> Theorie<br />

§ Entdeckungen durch praktische Tätigkeiten möglich und nicht<br />

nur durch „wahre“ Theorien<br />

§ Erfindung des Laboratoriums durch die Alchemie<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

„Nicht verzweifeln soll also <strong>der</strong> Sohn <strong>der</strong> Lehre; denn wenn er sie sucht, so<br />

wird er sie finden, und zwar nicht durch bloßes Erforschen <strong>der</strong> Lehre,<br />

son<strong>der</strong>n durch Erforschen <strong>der</strong> Natur aus eigenem Antrieb. Wer nämlich <strong>für</strong><br />

sich mit gutem Fleiß sucht, wird das Wissen finden; wer es aber durch<br />

bloßes Nachforschen in Büchern sucht, wird es nicht finden.<br />

Rosarium Philosophorum, 1550, S. 142<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

„Seine Darstellung war klar und seine Sprache leicht, und je<strong>der</strong> Punkt, den er<br />

berührte, wurde in einzigartiger Weise behandelt. Natürlich wurde kein<br />

Buch benutzt o<strong>der</strong> angeführt...<br />

Wenn ein Praktikant ihn wegen irgendeiner Stelle in irgendeinem<br />

Handbuche befragte, die er nicht verstehen konnte, pflegte er lachend zu<br />

sagen, daß das meiste, was in Büchern sich geschrieben findet, Unsinn sei.“<br />

Ein Schüler über Robert Bunsen<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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Kupferstich um 1570: Goldmacher<br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

«…und betrachtet er die Werke <strong>der</strong> Alchymisten und Magier von innen, so wird er<br />

vielleicht schwanken ob sie nicht belacht o<strong>der</strong> beweint zu werden verdienen. Der<br />

Alchymist hat ein unverwüstliches Hoffen; gelingt ihm etwas nicht, so ist nur sein<br />

Irrthum daran Schuld; er überlegt bei sich, dass er die Ausdrücke <strong>der</strong> Kunst o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

Autoren nicht recht verstanden; er passt auf die Überlieferungen und das Geflüster<br />

von Ohrenzeugen; er meint, dass er in den schwierigen Punkten und Theilen seines<br />

Verfahrens etwas versehen habe; er wi<strong>der</strong>holt deshalb die Versuche ohne Ende, und<br />

geräth er bei diesen Versuchen zufällig auf etwas, was wegen seiner Neuheit nicht<br />

zu verachten ist, so weidet er an solchen Ergebnissen seine Seele, rühmt und preist<br />

dies übermässig und vertröstet wegen des Übrigen auf Hoffnungen. Dennoch kann<br />

man nicht leugnen, dass die Alchymisten Manches entdeckt und die Menschheit mit<br />

vielen Erfindungen beschenkt haben. Aber die Fabel von jenem Greise passt gut auf<br />

sie, welcher seinen Söhnen einen, angeblich in seinem Weinberge vergrabenen<br />

Schatz vermachte von dem er nur die Stelle nicht zu wissen vorgab. So gruben die<br />

Söhne fleissig in dem Weinberg und fanden zwar keinen Schatz, aber die Weinlese<br />

wurde durch diese Bearbeitung reicher.»<br />

Francis Bacon, 1620<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

Entdeckungen und Verfahren <strong>der</strong> Alchemie:<br />

Zinnchlorid (Andreas Libavius)<br />

Rubinglas (Andreas Libavius)<br />

Phosphor (Johan Kunckel von Löwenstern)<br />

Europäisches Porzellan (Johann Friedrich Böttger)<br />

Salmiak- und Zinnoberherstellung (von Geber)<br />

Europäisches Schießpulver (Berthold Schwarz)<br />

Destillationsapparat (Maria Prophetissa)<br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

Antoine Lavoisiers (1743-97) Experimenten zur Transmutation des Wassers<br />

im alchemistischen Gefäss des Pelikans<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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(3) <strong>Chemie</strong> als Praxis<br />

Zusammenfassung <strong>Teil</strong> (3)<br />

Trotz „falscher“ alchemistischer Theorien und Ideen war es <strong>der</strong><br />

Alchemie durch ihre Praktiken möglich, wahres Wissen zu<br />

produzieren, so dass zahlreiche bis heute verwendete Stoffe<br />

und Verfahren entdeckt wurden (Destillation). Darüber hinaus<br />

erfand die Alchemie das Laboratorium als zentralen Ort <strong>der</strong><br />

nicht nur chemischen Wissensproduktion. Alchemie und<br />

<strong>Chemie</strong> erscheinen aus <strong>der</strong> Perspektive des practical turns bis<br />

heute als eng miteinan<strong>der</strong> verbundene Tätigkeiten.<br />

Montag, 13. Mai 13 <strong>Professur</strong> <strong>für</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

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