der ganze Artikel im PDF Format - Hinterland Magazin
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stadt. land. wohnen<br />
Elektro-Doppel-Kochplatte , mit zwei Reglern und Netzstecker.<br />
Ideal für die zünftige Gemeinschaftsküche<br />
foto: michael santifaller, 2006<br />
Leben in fragilen Räumen<br />
In <strong>der</strong> Sammelunterkunft wohnt die Angst mit. Von Maggie Brandmair<br />
Ben kommt aus Nigeria, wo er nach<br />
seinem Abschluss in Biochemie zehn<br />
Jahre als Umweltberater tätig war. Er<br />
lebte dort zuletzt in einer Drei-Z<strong>im</strong>mer-<br />
Wohnung.<br />
Seit Januar 2004 wohnt <strong>der</strong> 42-Jährige<br />
nun in einer Flüchtlingsunterkunft in<br />
München. Ben ist geduldet in Deutschland.<br />
„Er ist verpflichtet, in folgen<strong>der</strong><br />
Einrichtung zu wohnen...“, wie es in<br />
seinem Ausweis-Papier festgehalten ist.<br />
Vier Betten, vier Schränke, ein Tisch -<br />
das ist „sein“ Raum. Sein eigenes Z<strong>im</strong>mer<br />
einerseits als Umschreibung für die<br />
Privatsphäre, die ihm Raum zur persönlichen<br />
Entfaltung schaffen soll, aber<br />
auch ganz konkret gedacht als Raum,<br />
in dem er tagtäglich schläft und isst.<br />
Eigentlich müsste Ben sich das Z<strong>im</strong>mer<br />
mit drei an<strong>der</strong>en teilen. Er hat Glück,<br />
denn <strong>im</strong> Moment ist nur einer <strong>der</strong> zwei<br />
Mitbewohner regelmäßig da. Seit <strong>der</strong><br />
vierte vor sechs Monaten nach Nigeria<br />
abgeschoben wurde, wohnt in dem<br />
Z<strong>im</strong>mer die Angst mit. Die Angst hin<strong>der</strong>t<br />
Ben daran, sich konzentrieren zu<br />
können. Er erzählt, dass er oft stundenlang<br />
vor einem Buch sitze ohne zu<br />
lesen o<strong>der</strong> das Gelesene aufzufassen,<br />
weil sein Kopf so voller Gedanken sei.<br />
Schon zu zweit gestaltet sich das<br />
Zusammenleben in dem 13-Quadratmeter<br />
großen Z<strong>im</strong>mer schwierig. „Ich soll<br />
ihn behandeln wie einen König!“,<br />
bemerkt er über seinen Z<strong>im</strong>mergenossen.<br />
Mit seinen 42 Jahren ist Ben über<br />
zehn Jahre jünger und solle dem Älteren<br />
mit Respekt und Achtung begegnen.<br />
Ben zeigt sich empört, zumal sich<br />
die Verständigung aufgrund des unterschiedlichen<br />
Erziehungs- und Bildungshintergrunds,<br />
wie er es nennt, als kompliziert<br />
erweist. Für Ben ist am bedrückendsten,<br />
dass er <strong>im</strong> „He<strong>im</strong>“ so wenige<br />
anspruchsvolle Gespräche führen<br />
kann. Er fühlt sich vielmehr <strong>im</strong> He<strong>im</strong><br />
kursierenden Gerüchten ausgesetzt.<br />
Schon <strong>im</strong> kleinsten Alltäglichen wird<br />
<strong>der</strong> eigene Raum fragil; nicht best<strong>im</strong>men<br />
zu können, wann er geweckt werden<br />
will, nicht einfach in seinem Z<strong>im</strong>mer<br />
zu rauchen, keine Möglichkeit,<br />
BesucherInnen einen ruhigen Ort zu<br />
bieten. Allein die Tatsache, dass dieser<br />
an <strong>der</strong> Pforte <strong>der</strong> Unterkunft ein Schild<br />
„Kein Zutritt ohne Genehmigung“ passieren<br />
muss, findet Ben absurd.<br />
Wir treffen uns bei mir. Ben strahlt viel<br />
Ruhe aus, in seinen Gesten wird <strong>der</strong><br />
starke Wille spürbar, sich dieser Situation<br />
nicht tatenlos zu unterwerfen o<strong>der</strong><br />
in Apathie zu verfallen. Wie so viele<br />
um ihn herum. Er rennt gegen die Langeweile<br />
an, macht Deutschkurse, findet<br />
ein Praktikum an <strong>der</strong> Universität, das<br />
ihm nicht genehmigt wird, findet viermal<br />
Vollzeitstellen, die ihm nicht<br />
genehmigt werden. Derzeit gibt <strong>der</strong><br />
zweistündige Job als Spüler dem Tag<br />
Struktur. Er schreibt dagegen an, betätigt<br />
sich politisch. Seit kurzem besitzt<br />
Ben einen eigenen PC. Er mag schreiben,<br />
hat früher sogar überlegt, Journalist<br />
zu werden. Bevor er sich an den<br />
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stadt. land. wohnen<br />
Computer setzt, muss er Kühlschrank<br />
und Stereoanlage ausstecken und das<br />
Licht löschen. Eine Vorsichtsmaßnahme,<br />
seit er mehrmals einen Kurzschluss verursacht<br />
hat und für mehrere Tage ohne<br />
Strom in seinem Z<strong>im</strong>mer war, da das<br />
Pförtner-Büro nicht besetzt war und<br />
somit die Sicherungen übers Wochenende<br />
nicht zugänglich.<br />
Ben beschreibt die willkürlich stattfindenden<br />
Ausweiskontrollen in den Z<strong>im</strong>mern<br />
durch Sicherheitsdienst und Polizei,<br />
die oft von BewohnernInnen <strong>der</strong><br />
Unterkunft wegen Streit o<strong>der</strong> Lärmbelästigung<br />
gerufen werden. Es könne<br />
passieren, dass die Polizei um drei Uhr<br />
morgens <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer stehe, es könne<br />
aber auch dreis Uhr nachmittags sein,<br />
sagt Ben.<br />
Es fällt ihm schwer, auf meine Frage zu<br />
antworten, in welchen Details er sich in<br />
seiner Privatsphäre am meisten gestört<br />
fühlt. Vielleicht weil sie ihm schon gar<br />
nicht mehr bewusst sind, vielleicht<br />
wäre es auch nicht auszuhalten, sie<br />
ständig vor Augen zu haben. Ben trägt<br />
stets eine Tasche mit sich, in welcher er<br />
alle wichtigen Unterlagen bei sich hat.<br />
Er zieht daraus sein Diplomzeugnis hervor,<br />
wenn er von <strong>der</strong> Uni spricht, und<br />
seine Gehaltsabrechnung vom letzten<br />
Monat. Seine Identität ist in <strong>der</strong> Tasche<br />
verwahrt. In dem Z<strong>im</strong>mer gibt es keinen<br />
sicheren Aufbewahrungsort.<br />
Wir begeben uns in die Gemeinschaftsräume<br />
<strong>der</strong> Unterkunft. Hier sind die<br />
Probleme, die sich <strong>im</strong> Zusammenleben<br />
<strong>der</strong> vielen Menschen unterschiedlichster<br />
Façon ergeben, für Ben so offensichtlich,<br />
dass er nur mit den Schultern<br />
zuckt. Es gibt viel Streit wegen <strong>der</strong> Sauberkeit<br />
in den sechs Toiletten und zwei<br />
Duschen. Ständig ist etwas kaputt und<br />
Kontrolle so gut wie nicht möglich, da<br />
auch BewohnerInnen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Häuser<br />
die Toiletten mitbenutzen. Die<br />
Reparatur von vier kaputten Waschbecken<br />
kann schon mal ein halbes Jahr in<br />
Anspruch nehmen, eine zu Bruch<br />
gegangene Fensterscheibe übersteht<br />
zerbrochen auch mal einen Winter. Ben<br />
zahlt eine monatliche Miete von etwa<br />
80 Euro.<br />
In <strong>der</strong> Küche gibt es sechs Kochstellen,<br />
auch hier ist es <strong>im</strong>mer schmutzig und<br />
selten <strong>der</strong> Fall, dass alle Platten funktionieren.<br />
„Manchmal müsste ich bis Mitternacht<br />
warten, um mir etwas kochen<br />
zu können. Davor sind die Kochstellen,<br />
die gehen, von den Familien belegt. So<br />
spät habe ich oft dann keine Lust<br />
mehr.“ Ich habe vergessen ihn zu fragen,<br />
wo er um diese Zeit überhaupt<br />
essen könnte.<br />
Stattdessen frage ich ihn nach seiner<br />
Familie. Ob er zu ihr Kontakt hat. „Ja<br />
manchmal, über Internet und Telefon.“<br />
Allerdings stellt sich auch telefonieren<br />
als ein tückisches Unterfangen heraus.<br />
Es gibt in <strong>der</strong> <strong>ganze</strong>n Unterkunft ein<br />
Kartentelefon <strong>im</strong> Freien, mit dem man<br />
nach draußen telefonieren kann.<br />
Erreichbar ist man nur über den Besitz<br />
eines mobilen Telefons. Wird das allgemeine<br />
Telefon länger als eine Stunde<br />
benutzt, komme es schon mal zu Schlägereien.<br />
Vorsichtshalber fährt Ben zum<br />
Bahnhof, um dort in Ruhe telefonieren<br />
zu können.<br />
Ben entflieht seinem Raum so oft es<br />
geht. Er ist viel unterwegs, auch wenn<br />
er wenig zu tun hat.<br />
Maggie Brandmair<br />
foto: maggie brandmair, 2006
Die Hofgemeinschaft Felizenzell versteht sich als ein Ort selbstbest<strong>im</strong>mten Wohnens<br />
Die BewohnerInnen sind zugleich Mitglie<strong>der</strong> des Vereins „Friede den Hütten e.V.“, <strong>der</strong> 2004 gegründet wurde, um <strong>der</strong><br />
Zwangsversteigerung zu entgehen. Mit Hilfe von ca. 30 Kleinkrediten und einem Kredit <strong>der</strong> GLS-Bank, für dessen Erhalt<br />
40 Bürgen gefunden werden mussten, konnte <strong>der</strong> Hof gekauft werden. So entstand ein Projekt, das nicht auf Privateigentum<br />
basiert und den dort lebenden Menschen ermöglicht, ihre unterschiedlichen Ideen zu leben. Alle sind gleichzeitig<br />
Vermieter und Mieter. Ein wichtiger Aspekt, auch in den Vereinszielen festgelegt, ist <strong>der</strong> ökologische Ausbau des<br />
Hofes.<br />
Im Moment wohnen zehn Erwachsene und zwei Kin<strong>der</strong> in zwei Wohnhäusern und einem Bauwagen. Im Garten leben<br />
noch Hühner, Schafe und Ziegen, die größtenteils von zwei <strong>der</strong> Bewohnern versorgt werden, neben dem Gemüsegarten<br />
ein Vorrantreiben <strong>der</strong> Selbstversorgeridee. Alle 14 Tage treffen sie sich in <strong>der</strong> Hofversammlung, um zwischenmenschlichen<br />
Problemen Raum zu gewähren und anstehende Bauprojekte zu besprechen. mb<br />
foto: maggie brandmair, 2006