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König Lear - Münchner Kammerspiele

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

Material zur Inszenierung<br />

KÖNIG LEAR<br />

von William Shakespeare<br />

Deutsch von Frank Günther<br />

REGIE Johan Simons BÜHNE Bert Neumann KOSTÜM Nina von Mechow<br />

MUSIK Christoph Homberger, Jan Czajkowski LICHT Lothar Baumgarte<br />

DRAMATURGIE Koen Tachelet<br />

MIT<br />

<strong>Lear</strong><br />

<strong>König</strong> von Frankreich / Herzog von Albany<br />

Herzog von Cornwall /Oswald<br />

Graf von Kent<br />

Graf von Gloucester<br />

Edgar<br />

Edmund<br />

Narr<br />

Goneril<br />

Regan<br />

Cordelia<br />

André Jung<br />

Oliver Mallison<br />

Lasse Myhr<br />

Wolfgang Pregler<br />

Peter Brombacher<br />

Kristof Van Boven<br />

Stefan Hunstein<br />

Thomas Schmauser<br />

Annette Paulmann<br />

Sylvana Krappatsch<br />

Marie Jung<br />

PREMIERE<br />

9. März 2013, Schauspielhaus<br />

AUFFÜRUNGSDAUER<br />

3 Stunden, 30Minuten, eine Pause


KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

<strong>König</strong> <strong>Lear</strong> ist alt und des Regierens müde. Er hat beschlossen, sein Reich unter seinen<br />

drei Töchtern aufzuteilen. Aber der alte Monarch macht aus der Verteilung ein Spiel, einen<br />

Liebes-Test: Wer mich am meisten liebt, bekommt das größte Stück Land. Zweimal<br />

läuft es gut, aber dann verweigert sich die jüngste Tochter - wahre Liebe ist kein Tauschhandel.<br />

KÖNIG LEAR ist die vielleicht dunkelste Tragödie Shakespeares. Im Zentrum<br />

stehen Fragen, die die Menschheit schon immer berührt haben: der Sinn des Lebens, das<br />

Leiden, die menschliche Wut. In KÖNIG LEAR hat Shakespeare auf grausame Weise<br />

das Leiden ergründet; das Leiden des einzelnen Menschen, das Leid der Welt. Ecce<br />

Homo. Seht den Menschen, wie er ist. Mit seiner Gewalt, Macht und Zerstörung - aber<br />

auch mit seiner enormen Kraft, seinen Mitmenschen zu vergeben. Um sie zu retten vor<br />

zu viel Selbst-Hass.<br />

Ich habe gerade den Sarah Kane Abend inszeniert. Es gibt für mich eine klare Verbindung zwischen<br />

Kane und Shakespeare. Beide sprechen über Themen, die größer sind, als der Mensch selbst ist. Über<br />

Leben und Tod. Dass der Mensch mehr leiden muss, als er verdient. Genau so wie bei Sarah Kane ist<br />

es auch bei Shakespeare meine Aufgabe, diese großen Themen zu menschlichen Proportionen zurück zu<br />

bringen. Johan Simons<br />

INHALT<br />

I. Der Autor. William Shakespeare, Seite 2<br />

II. Das Stück. Wo sind wir. Seite 3. / <strong>König</strong> sein. <strong>Lear</strong>. Seite 4 /<br />

Gloucester. Der Sturm. Seite 5 / Mensch und Tier. Der Fall. Seite 6<br />

III. Die Inszenierung. <strong>Lear</strong> auf dem Bauernhof. Seite 7 / Textauszug. Seite 8 /<br />

Zwei Väter und ihre Kinder. Seite 14 / Pressestimmen. Seite 16<br />

IV. Vor dem Vorstellungsbesuch. Seite 17<br />

Impressum. <strong>Münchner</strong> <strong>Kammerspiele</strong> 2012/2013. Intendant: Johan Simons.<br />

Redaktion: Elke Bauer und Benetha Agbowo. Info unter: 089 233 36817<br />

1


KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

I. DER AUTOR<br />

WILLIAM SHAKESPEARES Leben ist absolut undramatisch verlaufen.<br />

Der Dichter tötete niemanden im Duell wie Ben Jonson und<br />

wurde nicht ermordet wie Christopher Marlowe. Er lebte als geachtetes<br />

Mitglied der Gesellschaft, starb eines natürlichen Todes und<br />

hinterließ seiner Familie ein stattliches Erbe. Shakespeares genaues<br />

Geburtsdatum steht nicht fest; weil unter dem 26. April 1564 im<br />

Kirchenregister von Stratford on Avon seine Taufe eingetragen ist<br />

und dies in der Regel einige Tage nach der Geburt erfolgte, hat sich<br />

die Annahme durchgesetzt, dass er am 23. April geboren wurde.<br />

Shakespeare war Mitglied der Zunft der Handschuhmacher und<br />

Weißgerber und handelte außerdem mit landwirtschaftlichen Produkten.<br />

Mit achtzehn Jahren heiratete Shakespeare die acht Jahre<br />

ältere Anne Hatheway, die Tochter eines Grundbesitzers aus einem<br />

nahen Dorf.<br />

Die erste eindeutige Bestätigung für Shakespeares Theaterarbeit stammt von 1595. In diesem<br />

Jahr erscheint sein Name in den Rechnungsbüchern des Schatzmeisters der <strong>König</strong>in in Zusammenhang<br />

mit der Bezahlung von zwei Vorstellungen der „Chamberlains’s Men“. Die erst wenige<br />

Monate vorher entstandene Truppe nahm bei Hof eine privilegierte Stellung ein; zweiunddreißig<br />

Mal spielte sie vor <strong>König</strong>in Elisabeth I. Nach ihrem Tod wurde sie in die Dienste Jakob I. übernommen<br />

und legte sich nun den Namen „King’s Men“ zu. Shakespeares Beitrag zum Gedeihen der<br />

Truppe bestand selbstverständlich vor allem in der Bereitstellung immer neuer Spielvorlagen.<br />

Darüber hinaus leitet er aber auch Proben und spielte in vielen Produktionen selbst mit.<br />

Sein Fach sollen die ehrwürdigen Greise gewesen sein. Als die „Chamberlain’s Men“ kurz vor der<br />

Wende zum 17. Jahrhundert ihr Haus niederrissen und aus dem Baumaterial „The Globe“ errichten<br />

ließen, verteilten sich die Anteile neu. Shakespeare erwarb jetzt den Anspruch auf zehn Prozent<br />

der Gewinne; sie müssen ganz beträchtlich gewesen sein, denn bald darauf kaufte er eines der<br />

größten Häuser in Stratford. Zahlreiche Nachrichten über Geschäfte mit seinen Mitbürgern lassen<br />

darauf schließen, dass er die letzten fünf Jahre seines Lebens hauptsächlich in der geruhsamen<br />

Ländlichkeit seiner Heimatstadt verbrachte, wo er im Jahre 1616 starb. Sein Leichnam wurde in<br />

der Holy Trinity Church beigesetzt. Der möglicherweise vom Dichter selbst verfasste Grabspruch<br />

verflucht alle, die den Versuch unternehmen sollten, das Grab zu öffnen:<br />

Good frend, for Jesus' sake forbeare<br />

To digg the dust encloased heare.<br />

Blest be the man that spares thes stones,<br />

And curst be he that moves my bones<br />

Die Forscher ließen sich davon nicht abhalten. Was sie fanden, trug allerdings auch nicht wesentlich<br />

dazu bei, das Geheimnis seiner Kunst zu lüften.<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

II. DAS STÜCK<br />

Textmaterial aus dem Programmheft KÖNIG LEAR, <strong>Münchner</strong> Kammspiele 2013,<br />

Redaktion: Koen Tachelet, Antonia Tretter<br />

WO SIND WIR?<br />

Die räumliche Lokalisierung des Stückes ist sehr vage. Wir sind uns kaum darüber bewusst, dass<br />

wir in England sind. In verschiedenen Szenen wissen wir überhaupt nicht, wo wir uns befinden. Wir<br />

wissen nicht, wo <strong>Lear</strong>s Schloss steht, wo der erste Akt spielt. Cornwall und Albany sind vage Begriffe,<br />

für ihre Entfernung gibt es keinen Hinweis: die Figuren reisen hin und her, aber wir wissen<br />

nicht in welche Richtung und wie weit sie reisen. Alles bleibt unklar, und wir haben das Gefühl wir<br />

befinden uns nicht an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, sondern in einer barbarischen,<br />

halb legendenreichen Welt, voll von Finsternis, Schrecken und Gewalt.<br />

Willy Courteaux, Koning <strong>Lear</strong>: Inleiding, In: William Shakespeare, Verzameld Werk, vertaald en ingeleid door<br />

Willy Courteaux, Meulenhoff/Manteau, 2007<br />

3


KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

KÖNIG SEIN<br />

<strong>Lear</strong> hat das <strong>König</strong>reich aufgeteilt und die Macht abgelegt, aber <strong>König</strong> wollte er weiterhin bleiben.<br />

Er hat geglaubt, ein <strong>König</strong> könne nicht aufhören, <strong>König</strong> zu sein, so wie die Sonne nicht aufhören<br />

kann zu leuchten. Er glaubte an die reine Majestät, an die reine Idee des <strong>König</strong>s. <strong>Lear</strong> und Gloucester<br />

klammern sich krampfhaft an die Existenz des Absoluten. Sie rufen die Götter an, glauben<br />

an die Gerechtigkeit, appellieren an die Naturgesetze. Nur der Narr blickt von außen und ist kein<br />

Ideologe. Er verwirft jeglichen Schein: den des Gesetzes, den der Gerechtigkeit und den der moralischen<br />

Ordnung. Er sieht die nackte Gewalt, die nackte Grausamkeit und die nackte Begierde.<br />

Jan Kott, Shakespeare heute, Büchergilde Gutenberg, 1965<br />

LEAR<br />

Wie spielst du einen Archetyp? Gar nicht. Allerdings trägst du ein bestimmtes Kostüm und ein beeindruckendes<br />

Schwert, du schreitest über eine Landkarte, die die ganze Bühne umfasst, du teilst<br />

auch das <strong>König</strong>reich mit Würden und Segen; du erwartest, dass das Volk dir gehorcht. Du bist weder<br />

eine byzantinische Figur in Gottes heiligem Feuer, noch bist Du auf der Suche nach dem Hieratischen,<br />

wie etwa die Kunden in Genet’s Bordell. Du hast ein bestimmtes Amt inne – von Stammes<br />

wegen, familiär, politisch – jeder und alles um dich herum vermittelt dir, du seist der Mittelpunkt<br />

aller Dinge. Es wäre unsinnig diesen Wahn zu schwächen; sie sagten dir, du seist Alles. Sie<br />

mögen Vorbehalte gehabt haben, doch sie verhielten sich stets ihrem Wort entsprechend. Bis sich<br />

etwas Fremdes, Düsteres und Schreckliches ereignet, ganz plötzlich, ausgehend von der Person,<br />

die du am meisten liebst. Erst dann beginnst du dich zu fragen, was es bedeutet, ein Mensch zu<br />

sein.<br />

Herbert Blau, A Subtext Based on Nothing, The Tulane Drama Review, vol. 8, N° 2, 1963<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

GLOUCESTER<br />

Gloucesters Schicksal läuft parallel mit <strong>Lear</strong>s Schicksal. Auch er schenkt sein Vertrauen einem Unwürdigen,<br />

verbannt seine einzige Stütze, wandert obdachlos herum. So wie <strong>Lear</strong> die Weisheit findet<br />

im Wahnsinn, so findet Gloucester die geistige Klarheit, wenn er blind ist. Diese Parallelität ist<br />

kein Zufall. Shakespeare sorgt dafür, dass Gloucesters Tragödie nicht die Größe und Intensität erreicht<br />

wie <strong>Lear</strong>s Tragödie. Aber wichtiger noch: die Tragödie wird vom Individuellen ins Universelle<br />

transportiert. Wir haben das Gefühl einen Kataklysmus zu erleben, der die ganze Welt schockt. Mit<br />

Faust könnten wir sagen: „Der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an”.<br />

Willy Courteaux, Koning <strong>Lear</strong>: Inleiding, In: William Shakespeare, Verzameld Werk, vertaald en ingeleid door<br />

Willy Courteaux, Meulenhoff/Manteau, 2007<br />

DER STURM<br />

Shakespeare benutzt den Sturm mehrmals in seinen Stücken, aber nirgends ist der Sturm ein so<br />

grundsätzliches dramatisches Element wie in King <strong>Lear</strong>. „Jedes Leiden der Menschheit, des Menschen<br />

Qualen und Erlösung; alle rätselhaften Überlegungen Gottes, Seine Gerechtigkeit, Seine<br />

Gnade, Sein Zorn: alle sind sie konzentriert in diesem titanischen Sturm”, sagt Wilson Knight. Der<br />

Sturm ist das Sinnbild des Menschenlos”. Shakespeares Problem war, den Sturm so zu gestalten,<br />

dass er zu einer emotionalen Kraft im Drama wird. Das Rütteln einer Donnerkiste reicht auf keinen<br />

Fall, und andere Theatermittel hatte Shakespeare auf seiner kahlen Bühne bei hellem Tageslicht<br />

nicht zur Verfügung. Ein Regisseur, der den Sturm zu realistisch gestaltet, wagt es, die Aufmerksamkeit<br />

des Publikums von den Figuren abzulenken. Shakespeare weicht dieser Gefahr aus, indem<br />

er den Schauspieler, der die Rolle <strong>Lear</strong>s spielt, gleichzeitig auch den Sturm spielen lässt, damit<br />

die Leidenschaft <strong>Lear</strong>s und die des Sturms ineinander fließen. In den Ausbrüchen des titanischen<br />

alten Manns hören wir die Stimme des Sturms selbst. Der Mensch und die Natur sind eins<br />

geworden.<br />

Willy Courteaux, Koning <strong>Lear</strong>: Inleiding, In: William Shakespeare, Verzameld Werk, vertaald en ingeleid door<br />

Willy Courteaux, Meulenhoff/Manteau, 2007<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

MENSCH UND TIER<br />

So wie in Macbeth die Wörter „Blut“ und „blutig“ dauernd vorkommen, so wird der Mensch in King<br />

<strong>Lear</strong> dauernd verglichen mit dem einen oder andern Tier. Jede menschliche Schwäche, jeder Fehler<br />

und jede Gemeinheit ruft das Bild eines Tiers mit den abstoßendsten Eigenschaften, die es beschreiben<br />

könnten, hervor: die böse Giftigkeit der Schlange, die Wildheit der Eber, die kriecherische<br />

Ergebenheit der Hunde, die Erbarmungslosigkeit des Wolfes, die Fressgier der Geier, die<br />

armselige Nacktheit des Wurms. Es ist als ob die Seelen aller Tiere in die Körper aller Sterblichen<br />

eindringen: widerwärtig in ihrer Giftigkeit, Wildheit, Wollust, Falschheit, Trägheit, Grausamkeit; jämmerlich<br />

in ihrer Schwachheit, Nacktheit, Wehrlosigkeit, Blindheit. Und der Mensch, man sehe ihn<br />

gut an, ist wie sie. Dieses ständige Betonen des Tierseins des Menschen in seiner Infamie und seinem<br />

Elend ist kein Zufall. Wiedernatürlichkeit ist ein wichtiges Thema im Stück: das Kind, vom Vater<br />

verstoßen, der Vater bedroht vom Kind, das Alter dem Grauen der losgebrochenen Elemente<br />

preisgegeben, der gewalttätige Anschlag auf die Unschuld. Die Bosheit ist zum Monstrum geworden,<br />

ein Missprodukt der Natur, die Kreaturen schuf in der Gestalt eines Menschen und mit der<br />

Seele einer Bestie.<br />

Willy Courteaux, Koning <strong>Lear</strong>: Inleiding, In: William Shakespeare, Verzameld Werk, vertaald en ingeleid door<br />

Willy Courteaux, Meulenhoff/Manteau, 2007<br />

DER FALL<br />

Das Thema des Falls ist von Shakespeare beharrlich und konsequent verfolgt und mindestens<br />

viermal wiederholt worden. Der Fall ist zugleich ein physischer und ein geistiger, ein körperlicher<br />

und ein sozialer. Zu Beginn gab es einen <strong>König</strong>, einen Hof und Minister, am Ende gibt es nur noch<br />

vier Bettler, die in Sturm und Regen über Wege irren. Der Fall vollzieht sich langsam oder schlagartig.<br />

<strong>Lear</strong> besitzt am Anfang ein Gefolge, das aus hundert Mann besteht, später sind es nur noch<br />

fünfzig, zum Schluss nur einer. Kent wird mit einer wütenden Geste in die Verbannung geschickt.<br />

Alles Auszeichnende fällt weg: die Würden, die gesellschaftliche Position, sogar der Name. Auch<br />

Namen sind eitel. Jeder ist nur der Schatten seiner selbst. Nur Mensch. Ein Blinder ist ein Mensch,<br />

ein Verrückter ist ein Mensch, ein irrer Geist ist ein Mensch. Nur ein Mensch. Ein Nichts, das leidet,<br />

das seinem Leiden Sinn und Würde zu geben versucht, das sich zur Wehr setzt, sich über sein<br />

Leid empört oder sich damit abfindet, ein Nichts, das sterben muss.<br />

Jan Kott, Shakespeare heute, Büchergilde Gutenberg, 1965<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

III. DIE INSZENIERUNG<br />

LEAR AUF DEN BAUERNHOF<br />

Stellen Sie sich vor: Die Einwohner eines Bauerndorfs beschließen, einen Bus zu mieten, um sich<br />

in der Stadt eine Aufführung von KÖNIG LEAR anzugucken. Auf dem Heimweg fassen sie den<br />

Entschluss, das Stück selber aufzuführen. Sie basteln sich ein Bühnenbild zusammen, verteilen<br />

die Rollen und nennen es „Die <strong>Lear</strong>s“. Je mehr sie damit beschäftigt sind, desto erkennbarer wird:<br />

Der <strong>König</strong> kann genauso gut ein Herrenbauer sein, die Auseinandersetzungen in der Familie <strong>Lear</strong><br />

sind laut und gewalttätig, die Kommunikation ist sehr körperlich, die Psychologie abwesend, der<br />

Unterschied zwischen Mensch und Tier ist vage, das Recht des Stärkeren herrscht, die Haut der<br />

Jungen juckt, Gewalt und Tod sind so vertraut wie Essen und Trinken. In dieser Welt entfaltet sich<br />

das Drama von <strong>Lear</strong>, dem alten Mann, der so viel Mühe hat sich von Titeln, Besitz und Macht zu<br />

lösen. Wenn am Ende die Bühne mit Leichen bedeckt ist und der Vater mit seinen drei Töchtern –<br />

tot – wieder vereinigt ist, geht es nicht um die Frage nach dem Tod – der ist unvermeidlich – sondern<br />

es geht um die Frage, wie wir sterben. Die riesige Anstrengung, die <strong>Lear</strong> unternimmt, um sich<br />

von sich selbst zu erlösen, bringt ihm nicht das ewige Leben, wohl aber eine innere Ruhe. In<br />

KÖNIG LEAR finden ungeheuer viele Verkleidungen und Verwandlungen statt. Menschen verbergen<br />

sich voreinander, kommen wieder mit einem anderen Namen, spielen ein Spiel von Verschwinden<br />

und Wiedererscheinen. Was bei den meisten Figuren eine äußerliche Strategie ist, vollzieht<br />

sich bei <strong>Lear</strong> in seinem Innersten. Indem er sich selbst immer mehr verlässt und seine Identität abstreift,<br />

kommt er schließlich bei sich selbst an. Nicht zufällig ist das letzte Wort des Stückes, in der<br />

Mitte einer Bühne voller Leichen, das Wort „Leben“.<br />

Koen Tachelet: <strong>Lear</strong> auf dem Bauernhof. Originalbeitrag für das Programmheft. München, 2013.<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

TEXTAUSZUG<br />

ERSTER AKT<br />

1. Szene<br />

Ein Staatssaal in <strong>König</strong> <strong>Lear</strong>s Palast.<br />

(...)<br />

LEAR:<br />

Rufen Sie den Lord von Frankreich, Gloucester.<br />

GLOUCESTER:<br />

Sehr wohl, mein <strong>König</strong>.<br />

LEAR:<br />

Derweil erklärn wir Unsern tiefern Plan.<br />

Hört, daß Wir das Reich<br />

Gedrittelt haben; und ’s ist fest Unser Vorsatz,<br />

Sorgen und Müh von Unsern Jahrn zu schütteln,<br />

Sie jüngren Schultern aufzulasten, während Wir<br />

Entbürdet kriechen hin zum Tod. Unser Sohn von Cornwall,<br />

Und Sie, nicht minder lieber Sohn von Albany,<br />

Wir sind zur Stunde willens, Unsrer Töchter<br />

Mitgift jeweils zu klärn, daß zukünftigem Streit<br />

Schon vorgebeugt ist heut. Der Prinz von Frankreich,<br />

Anwärter auf die Liebe Unsrer Jüngsten,<br />

War lang an Unserm Hof zum Minnedienst,<br />

Und soll hier Antwort hörn. Sagt, meine Töchter,<br />

Da Wir uns jetzt entkleiden wolln von Macht,<br />

Von Landbesitz und Sorge für den Staat<br />

Von welcher solln Wir sagen, sie liebt Uns<br />

Am meisten? auf dass wir dort am reichsten beschenken,<br />

Wo Natur wetteifert mit Verdienst.<br />

Goneril, als Erstgeborne, sprich zuerst.<br />

GONERIL:<br />

Sir, ich lieb Sie mehr als Worte meistern können;<br />

Mehr als mein Augenlicht, Freiraum und Freiheit;<br />

Über all das, was reich und rar kann gelten;<br />

Nicht weniger als Leben, Gnade, Gesundheit, Schönheit, Ehre;<br />

Liebe, wie je ein Kind sie gab, ein Vater fand;<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

Die Worte ärmlich macht und Sprache stumm;<br />

Und über mehr als maßlos mehr noch lieb ich Sie.<br />

CORDELIA (apart):<br />

Was soll Cordelia sagen? Liebe, und schweig.<br />

LEAR:<br />

Von diesem Landteil, von dem Strich zu diesem,<br />

Mit Schattenwäldern und fruchtbaren Ebnen,<br />

Fischreichen Flüssen, weiten grünen Fluren,<br />

Machen Wir dich zur Herrin: deinem und Albanys Stamm<br />

Sei dies auf ewig. Was sagt die zweite Tochter,<br />

Unsere liebste Regan, Frau des Cornwall?<br />

REGAN:<br />

Ich bin vom gleichen Stoff wie meine Schwester<br />

Und schätz mich gleich im Wert. Im Herzen tief<br />

Merk ich, sie zählt mein eignes Lieben auf;<br />

Nur greift sie viel zu kurz: sofern ich mich<br />

Als Feind erkläre aller andern Freuden,<br />

Worin der feinsten Sinne Feinmaß schwelgt,<br />

Und mich beglückt find einzig und allein<br />

In Euer Hoheit Liebe.<br />

CORDELIA (apart): Arme Cordelia dann!<br />

Und doch nicht arm; weil ich doch weiß, mein Lieben<br />

Wiegt schwerer als mein Reden.<br />

LEAR:<br />

Dir und den Deinen bleib als Erbrecht ewig<br />

Dies weitre Drittel Unsres schönen Reichs,<br />

Nicht kleiner, das, an Fläche, Wert und Reiz,<br />

Als was auf Goneril kam. Nun, Unsre Freude,<br />

Die Letzte zwar und Kleinste; deren junger Liebe<br />

Die Weine Frankreichs verbunden sein wolln; was sagst du, ein Drittel<br />

Noch reicher als die Schwestern dir zu ziehen? Sprich.<br />

CORDELIA: Nichts, Mylord.<br />

LEAR: Nichts?<br />

CORDELIA: Nichts.<br />

LEAR:<br />

Von nichts kommt nichts: sprich nochmal.<br />

CORDELIA:<br />

Unglücklich bin ich, kann mein Herz<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

In den Mund nicht heben: ich liebe Euer Hoheit<br />

Wie es sich gehört; nicht mehr, nicht minder.<br />

LEAR:<br />

Nun, nun, Cordelia! Sag was Schöneres,<br />

Sonst schädigst du dein Glück.<br />

Mein teurer Lord,<br />

Sie zeugten, nährten, liebten mich: nun ich<br />

CORDELIA:<br />

Erwidre solche Pflichten, wie man soll,<br />

Gehorche, liebe und verehr Sie sehr.<br />

Was haben meine Schwestern Männer, wenn<br />

Sie sagen, daß sie nur Sie lieben? Mag wohl sein,<br />

Wenn ich mich mal vermähle, daß der Lord,<br />

Der dann mein Ja-Wort hört, halb meine Liebe,<br />

Halb meine Pflicht und Sorge mit sich nimmt:<br />

Gewiß heirat ich nie wie meine Schwestern,<br />

Um dann Vater nur zu lieben.<br />

LEAR:<br />

Und spricht dein Herz genauso?<br />

Ja, Mylord.<br />

CORDELIA:<br />

LEAR:<br />

So jung, und so unzärtlich?<br />

CORDELIA:<br />

So jung, Mylord, und wahr.<br />

LEAR:<br />

Gut denn; dein Wahr-Sein sei dann deine Mitgift:<br />

Denn, bei dem heilgen Sonnenfeuerkranz,<br />

Entsag ich aller Vaterpflicht und seh Dich mir und meinem Herzen für immer fremd.<br />

KENT: Mein guter <strong>König</strong> –<br />

LEAR:<br />

Still, Kent! Das Blut kocht.<br />

Die liebte ich am meisten, auf ihre sanfte Pflege<br />

wollt ich mein Alter baun. Weg, geh mir aus dem Blick!<br />

Cornwall und Albany,<br />

Zu zweier Töchter Mitgift schluckt die Dritte;<br />

Soll Stolz – ›Aufrichtigkeit‹, nennt sie’s – den Mann ihr schaffen.<br />

Ich kleid euch beide ein in meine Macht<br />

Und Würden und all jenen Vorrechtsschatz,<br />

Der Majestät umdient. Wir selbst, im Monatslauf<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

Und vorbehaltlich von einhundert Rittern,<br />

Durch Sie zu unterhalten, nehmen Aufenthalt<br />

Bei Ihnen jeweils wechselnd. Nur bewahrn<br />

Wir Ehrenrecht und Titel eines <strong>König</strong>s.<br />

Der Rest sei Euer!<br />

<strong>König</strong>licher <strong>Lear</strong>,<br />

Den ich geehrt hab stets als meinen <strong>König</strong>,<br />

KENT:<br />

Als Vater stets geliebt, als Herrn umdient-<br />

LEAR:<br />

Der Bogen ist gespannt; entgeh dem Pfeil.<br />

KENT:<br />

Mag er doch schnelln, ob auch die Spitze mir<br />

Ins Herz sich frißt: sei Kent ruhig unhöflich,<br />

Wenn <strong>Lear</strong> verrückt ist. Alter Mann, was tust du?<br />

Meinst du, daß Pflicht sich scheut zu reden, wenn<br />

Macht kniet vor Schmeichelei? Gradheit ist Ehrenpflicht,<br />

Wenn Majestät zum Narrn wird. Bleib im Herrscheramt;<br />

Und, mit reiflichster Überlegung, hemm<br />

Die ekelhafte Hast: mein Leben setz ich,<br />

Dein jüngstes Kind liebt dich um nichts geringer;<br />

Noch sind die herzhohl, deren leiser Ton<br />

Aus keinem hohlen Innren widerhallt.<br />

LEAR:<br />

Kent, bei deinem Leben, schweig.<br />

KENT:<br />

Mein Leben war mir nie mehr als ein Einsatz,<br />

Vor deinem Feind zu wagen; ich fürchte nicht, es für deine Sicherheit zu verlieren.<br />

Widerruf die Schenkung;<br />

Oder, solang aus vollem Hals ich schrein kann,<br />

Sag ich dir, du tust übel.<br />

Hör mich, Rebell!<br />

Bei deiner Treue, hör mich, hör!<br />

Fünf Tage gönnen Wir dir, zu beschaffen,<br />

Was dich beschützt vorm Unheil dieser Welt;<br />

Und am sechsten darfst den verhaßten Rücken<br />

Kehrn Unserm Reich: wenn man zehn Tage drauf<br />

Deinen verbannten Leib noch trifft im Land,<br />

LEAR:<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

So ist’s dein Tod. Bei Apollo!<br />

Dies widerruf ich nicht!<br />

KENT:<br />

Leb du wohl, <strong>König</strong>; da du dich mir so zeigst,<br />

wohnt Freiheit fern und Verbannung hier.<br />

(zu Cordelia) Halten die Götter über dich die Hand,<br />

Die richtig denkt und rechte Worte fand.<br />

(zu Goneril und Regan) Und Euer Wortschwall mög zu Taten führen,<br />

Daß wirksam Gutes wächst aus Liebesschwüren.<br />

Kent sagt Euch, Fürsten, frisch verbannt: adieu.<br />

Ab.<br />

Fanfaren. Gloucester kehrt zurück mit Frankreich und Gefolge.<br />

GLOUCESTER:<br />

Hier ist Frankreich, mein <strong>König</strong><br />

LEAR:<br />

(zu Frankreich) Sie, großer <strong>König</strong>:<br />

Ich möcht mich nicht von Ihrer Gunst so entfernen,<br />

Sie zu vermählen, wo ich haß; drum bitt ich,<br />

Ihr Werben würdigerem Ziel zu weihn,<br />

Als einer Kreatur, der sich Natur fast schämt.<br />

FRANKREICH:<br />

CORDELIA:<br />

Das ist doch seltsam...<br />

Ich bitt doch Euer Hoheit wenn es drum<br />

Ist, daß die ölig glatte Kunst mir fehlt,<br />

Zu reden statt zu meinen, denn das, was mir ernst<br />

Ist, tu ich, eh ich rede, daß Sie bekunden,<br />

Es ist kein Lasterfleck, nicht Mord noch Schandtat,<br />

Nichts Unkeusches, kein ehreloser Schritt,<br />

Was mich aus Ihrer Gunst und Gnade riß,<br />

Nein, nur ein Mangel – der mich reicher macht –<br />

An Habgier-Augen, und an einer Zunge,<br />

Die nicht zu haben ich mich freu, obwohl<br />

Sie nicht zu haben Ihre Gunst mich kostet.<br />

Besser du<br />

Wärst nicht geborn als mir nicht besser zu gefalln.<br />

LEAR:<br />

FRANKREICH:<br />

Schönste Cordelia, die du arm höchst reich bist;<br />

Verjagt höchst wählbar, und höchst liebenswert in Acht!<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

Dich und dein Menschliches nehm ich an mich:<br />

Sei’s rechtens, daß ich aufheb, was man wegwarf.<br />

<strong>König</strong>, dein Kind – enterbt warfst du’s mir hin –<br />

Wird meine, unsre, Frankreichs <strong>König</strong>in:<br />

Cordelia, sag Lebwohl den Kaltgesinnten:<br />

Dein Hier verlierst du, beßres Dort zu finden.<br />

LEAR:<br />

Du hast sie, Frankreich; sei sie dein, denn Wir<br />

Besitzen keine solche Tochter, noch wolln wir sie hier<br />

Noch sonstwo je mehr sehn; drum macht euch fort.<br />

Fanfaren. <strong>Lear</strong>, Cornwall, Albany, Gloucester und Gefolge ab.<br />

FRANKREICH:<br />

Sag deinen Schwestern Lebewohl.<br />

CORDELIA:<br />

Ihr Kleinodien des Vaters, tränenklaren Blicks<br />

Verläßt Cordelia euch: ich kenn euch, wie ihr seid;<br />

Und bin als Schwester unwillns, eure Fehler<br />

Zu nennen, wie ich’s könnt. Liebt unsern Vater:<br />

Ich leg ihn euch ans laut beschworne Herz:<br />

Doch, ach, würd ich in seiner Gunst noch stehn,<br />

Wollt ich an einem bessern Platz ihn sehn.<br />

Damit Lebwohl euch beiden.<br />

REGAN:<br />

Schreib uns nicht unsre Pflicht vor.<br />

Du, sieh zu, daß<br />

Du deinem Herrn gefällst; dein Gehorsam hier<br />

GONERIL:<br />

War spärlich.<br />

CORDELIA:<br />

Die Zeit entfältelt ’s Faltenkleid der List,<br />

Das Falsch verhüllt, und zeigt Schande, wie sie ist.<br />

Auf daß euch’s gut geh!<br />

Komm, schöne Cordelia.<br />

Frankreich und Cordelia ab.<br />

FRANKREICH:<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

ZWEI VÄTER UND IHRE KINDER<br />

(Textauszüge)<br />

KÖNIG LEAR:<br />

Derweil erklärn wir Unsern tiefern Plan.<br />

Hört, daß Wir das Reich<br />

Gedrittelt haben; und ’s ist fest Unser Vorsatz,<br />

Sorgen und Müh von Unsern Jahrn zu schütteln,<br />

Sie jüngren Schultern aufzulasten, während Wir<br />

Entbürdet kriechen hin zum Tod.<br />

Wir sind zur Stunde willens, Unsrer Töchter<br />

Mitgift jeweils zu klärn, daß zukünftigem Streit<br />

Schon vorgebeugt ist heut.<br />

Sagt, meine Kinder,<br />

Da Wir uns jetzt entkleiden wolln von Macht,<br />

Von Landbesitz und Sorge für den Staat<br />

Von welcher solln Wir sagen, sie liebt Uns<br />

Am meisten? auf dass wir dort am reichsten beschenken,<br />

Wo Natur wetteifert mit Verdienst.<br />

GONERIL UND REGAN, LEARS TÖCHTER<br />

GONERIL: Ich denk, unser Vater will heute abend fort.<br />

REGAN: Das ganz gewiß, und zwar zu dir; nächsten Monat zu uns.<br />

GONERIL: Du siehst, wie launisch wechselhaft er wird im Alter.<br />

REGAN: Das ist bei ihm die Altersschwäche; aber er hat sich eh und je nie recht selbst gekannt.<br />

GONERIL: Selbst in seinen besten und gesündesten Jahren war er zu hitzköpfig; dann müssen wir<br />

von seinem Alter nicht nur die Unzulänglichkeiten jahrelang eingewurzelter Gewohnheiten<br />

gewärtigen, sondern obendrein noch diesen widerlichen Eigensinn, den gebrechliches und<br />

cholerisches Alter so mit sich bringt.<br />

REGAN: So unberechenbare Ausbrüche kommen nun auch auf uns zu.<br />

GONERIL: Närrischer alter Mann,<br />

Der immer noch die Macht ausüben will,<br />

Die er doch längst vergeben hat!<br />

Laß uns gemeinsam vorgehn: wenn unser Vater weiterhin so seine Autorität über unsre Köpfe weg<br />

ausübt wie eben, dann wird uns dieser sein Thronverzicht nichts als schaden.<br />

REGAN: Wir werden drüber denken.<br />

GONERIL: Wir müssen handeln, und noch solang das Eisen glüht.<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

GRAF VON GLOUCESTER:<br />

Das ist mein Sohn, Mylord.<br />

Zucht und Aufzucht, Sir, gingen zu meinen Lasten: ich bin so oft glühend rot geworden, den<br />

anzuerkennen, daß ich jetzt gestählt dazu bin.<br />

Mir folgen, Sir, konnte seine Mutter und auch die Folgen austragen, dieweil sie in der Folge<br />

rundbäuchig wurde und hatte in der Tat, Sir, eher einen Sohn in der Wiege als einen Ehemann im<br />

Bett. Wittern Sie eine Sünde?<br />

Aber ich hab auch einen Sohn, Sir, nach Recht und Gesetz, ein Jährchen älter zwar als dieser, mir<br />

aber deswegen unterm Strich nicht lieber: obwohl der Spitzbube hier ein bißchen vorwitzig zur<br />

Welt kam, bevor er gerufen wurde, war aber seine Mutter doch sehr schön; wir hatten viel Spaß<br />

beim Anfertigen, und der Hurensohn muß halt anerkannt sein. Ich wirk darauf, daß er erbfähig<br />

wird.<br />

EDMUND, GLOUCESTERS UNEHELICHER SOHN:<br />

Du bist mein Gott, Natur; deinem Gesetz<br />

Nur folg ich nach. Warum sollt ich der Pest<br />

Der Sittenkonvention mich beugen, dulden,<br />

Daß mich Erbrechtshaarspalterei enterbt,<br />

Nur weil ich zwölf bis vierzehn Mondenscheine<br />

Dem Bruder nachhink? Wieso Bastard? wie – unehrlich?<br />

Was brandmarkt man uns unehrlich? unehlich? unehunehrlich? un-, un-, un-?<br />

Die wir, lustprall von der Natur gestohlen,<br />

Mehr Zutat kriegen, heißern Feuergeist,<br />

Als im vermieften, faden, drögen Bett<br />

Vermanscht wird zum Herstelln von Heern von Stieseln,<br />

So zwischen Schlaf und Dösen? Nun denn,<br />

Ehlicher Edgar, also ich brauch dein Land:<br />

Die Vaterliebe hat der Bastard Edmund<br />

Ganz wie der Eheliche. Klingt hübsch, das: ›ehelich‹!<br />

Tja, Ehelicher, wenn der Brief hier wirkt<br />

Und mein Erfindungsgeist blüht, wird Edmund der ›Un-‹<br />

Dem Ehelichen über –: ich wachs, ich blüh;<br />

Jetzt, Götter, ran für Bastarde!<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

PRESSESTIMMEN<br />

Im Theater mal so richtig die Sau rauszulassen, gehört zum Konzept, Shakespeares Tragödie "<strong>König</strong><br />

<strong>Lear</strong>", dieses monumentale Stück Weltliteratur, einmal ganz unverbildet, körperlich und direkt<br />

zu inszenieren. Wie einen rohen Findling aus grauer Vorzeit, in dem sich das scheinbar Essenzielle<br />

des Menschseins verbirgt. Wobei das mit dem "Saurauslassen" wörtlich zu nehmen ist. Wenn<br />

der alte <strong>Lear</strong> nach dem Sturm über die Heide irrt, kommen tatsächlich fünf rosige, quieklebendige<br />

Schweine auf die Bühne, grasen und grunzen herum und fühlen sich offensichtlich sauwohl.<br />

Süddeutsche Zeitung<br />

Der Intendant der <strong>Münchner</strong> <strong>Kammerspiele</strong> hat sich bei seiner Inszenierung von Shakespeares<br />

wohl krudestem Stück für eine sehr bewusst ebenso krude Umsetzung entschieden "Look there"<br />

steht gleich zweimal auf dem billigen Plastikvorhang, der vor der Szene hängt: [...] Schau da genau<br />

hin und du wirst dir selbst begegnen. [...] Und so ist es denn auch im Kreise der lautstarken Archetypen<br />

der <strong>Lear</strong> von André Jung, auf den sich [...] die Aufmerksamkeit konzentriert. [Es ist]<br />

schon eine Lust diesem Schauspieler dabei zuzusehen, wie er da in seiner Narrenstrumpfhose<br />

sitzt, Undefinierbares aus seiner Einkaufstüte knabbert und sich sichtbar erleichtert in seine kleine<br />

erbärmliche Menschlichkeit ergibt. Look there, Johan Simons hat das <strong>König</strong>sspiel <strong>Lear</strong> im Bauernformat<br />

auf die Bühne geklotzt und ist dem Stück damit auf seine Art sehr nahe gekommen.<br />

DRadio Wissen<br />

Bodenständig, kraftvoll und mit geschickt eingestreuten Akzenten inszeniert Simons die tragischen<br />

Ereignisse rund um den greisen <strong>König</strong>, der daran zerbricht, dass er ausgerechnet die Tochter verstößt,<br />

die ihn wahrhaft liebt. [...] Viel Raum gibt Simons der Sprachgewalt seiner Darsteller. André<br />

Jung brilliert als alter, verwirrter und dennoch kraftvoller "King <strong>Lear</strong>". Ihm zur Seite stehen überzeugend<br />

Thomas Schmauser als scharfzüngiger Narr und Peter Brombacher als Graf Gloucester. [...]<br />

Immer wieder entfaltet das Stück eine große Wucht, vor allem am Schluss, als <strong>König</strong> <strong>Lear</strong> die entsetzlichen<br />

Folgen seines Irrtums erkennt. [...] So simpel und klar kann Theater sein - und so bewegend.<br />

dpa<br />

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KÖNIG LEAR von WILLIAM SHAKESPEARE<br />

Material zur Inszenierung<br />

IV. VOR ODER NACH DEM VORSTELLUNGSBESUCH<br />

Was möchtest Du erben und was wärst Du bereit dafür zu tun?<br />

Haben Kinder ein Anrecht auf das Erbe ihrer Eltern?<br />

Müssen sich erwachsene Kinder um ihre alten Eltern kümmern?<br />

„ In der ersten Szene von Shakespeares “<strong>König</strong> <strong>Lear</strong>” versucht der alte Mann mit großer Geste,<br />

sein Reich an seine drei Töchter zu vermachen und damit eine Absprache für seine Altersvorsorge<br />

zu treffen – ein Plan, der auf gewaltsame Weise scheitert.<br />

Das verwundert nicht. Denn von allen Tauschgeschäften, in die wir jemals verwickelt werden, ist<br />

dasjenige zwischen den Generationen das komplizierteste und undurchsichtigste. Wert und Gegenwert<br />

(also Geld und Liebe) sind prinzipiell verschleiert, und niemand hat den Tauschbedingungen<br />

je offiziell zugestimmt. Das gilt für fast alle Verabredungen zwischen den Generationen: Sie<br />

sind faul. Sie haben nie stattgefunden. Es gibt sie nicht. Der Stall, den es hier auszumisten gilt, ist<br />

randvoll mit Daten und Details, Schmuckstücken, Stammbäumen, Erbfolgen, Erbkrankheiten, Liebesschwüren,<br />

Pflegeplänen, Benzinquittungen und Schuldgefühlen.“<br />

Das Performance – Ensembel SHE SHE POP über ihre Auseinandersetzung mit Shakespeares <strong>König</strong> <strong>Lear</strong>:<br />

TESTAMENT. Verspätete Vorbereitungen zum Generationswechsel nach <strong>Lear</strong>. www.sheshepop.de<br />

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