Onkel Wanja - Münchner Kammerspiele
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ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
Material zur Inszenierung<br />
<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong><br />
von Anton Tschechow<br />
Aus dem Russischen von Ulrike Zemme<br />
REGIE Karin Henkel / Johan Simons, BÜHNE Muriel Gerstner,<br />
KOSTÜME Klaus Bruns, MUSIK Pollyester, LICHT Stephan Mariani,<br />
DRAMATURGIE Julia Lochte<br />
MIT<br />
Stephan Bissmeier, Benny Claessens, Anna Drexler, Hans Kremer,<br />
Polina Lapkovskaja, Stefan Merki, Wiebke Puls, Maximilian Simonischek<br />
PREMIERE<br />
04. April 2013, Schauspielhaus<br />
AUFFÜHRUNGSDAUER<br />
2 Stunden, 10 Minuten, keine Pause
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
Jahrelang und unermüdlich arbeiten <strong>Wanja</strong> und Sonja auf dem Landgut des verehrten Professors<br />
Serebrjakow. Erst als der nach seiner Pensionierung gemeinsam mit seiner jungen Frau<br />
Elena von der Großstadt aufs Land zieht, erkennen die beiden in ihm den parasitären Blender,<br />
der er schon immer war. Umsonst haben sie seine Bücher gelesen, umsonst ihre Kraft und Lebenszeit<br />
für ihn hergegeben. Überhaupt ist das alltägliche Leben ein unaufhörliches, unerfülltes<br />
Aneinandervorbeileben und -lieben. <strong>Wanja</strong> ist unglücklich in Elena verliebt, Elena macht<br />
Astrow, dem Landarzt mit ökologischen Visionen, schöne Augen. Dieser bemerkt die Liebe<br />
Sonjas nicht. <strong>Wanja</strong>s Mutter verehrt noch immer den Professor. Sie alle irren gemeinsam durch<br />
den Sommer und stellen sich die immer gleichen Fragen: Wie soll man leben, für was soll man<br />
arbeiten? Und wie könnte es ein bisschen gerechter zugehen? Es bleibt die himmeltraurige Gewissheit,<br />
dass nichts werden wird, wie es hätte sein können.<br />
Wenn es in einigen Minuten anfangen wird zu regnen, werden alle aufatmen, nur einer nicht: Ich.<br />
Tag und Nacht bin ich besessen von dem Gedanken, dass mein Leben endgültig verloren ist.<br />
Vergangenheit: Null. Die habe ich für Nebensächlichkeiten weggeworfen.<br />
Gegenwart: Null. Hier haben Sie mein Leben und meine Liebe: Wo soll ich hin damit?<br />
WANJA<br />
INHALT<br />
DER AUTOR. Selbstauskunft, Seite 4 / Mein Bruder Anton Tschechow, Seite 8 / Tschechow<br />
in seiner Zeit, Seite 9<br />
DAS STÜCK. Konstantin S. Stanislawski ONKEL WANJA, Seite 10 / BRIEFE und<br />
TEXTAUSZÜGE, Seite 11<br />
DIE INSZENIERUNG. Assoziationsmaterial, Seite 22/ Pressestimmen, Seite 24<br />
Impressum. <strong>Münchner</strong> <strong>Kammerspiele</strong> 2012/2013. Intendant: Johan Simons.<br />
Redaktion: Elke Bauer und Benetha Agbowo. Info unter: 089 233 36817<br />
1
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
I. DER AUTOR<br />
ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW wurde am 29. Januar<br />
1860 in der süd-russischen Hafenstadt Taganrog in einem kleinen<br />
Haus als drittes Kind von insgesamt sechs Geschwistern geboren.<br />
Die Mutter des Schriftstellers war eine hervorragende Geschichtenerzählerin,<br />
und sein Erzählertalent hat Tschechow wahrscheinlich von<br />
ihr geerbt. Auch lesen und schreiben hat ihn die Mutter gelehrt.<br />
Achtjährig ging er zur lokalen Grundschule, wo er sich als ein durchschnittlicher<br />
Schüler zeigte. Eher zurückhaltend und reserviert, hatte<br />
er trotzdem den Ruf eines Schelms wegen seiner satirischen Kommentare<br />
und Unarten sowie der Fähigkeit, die Lehrer mit humorvollen Spitznamen zu bezeichnen.<br />
Er hatte Amateurtheaterstücke sehr gern und besuchte oft die Aufführungen des Provinztheaters.<br />
Als Jugendlicher versuchte er kurze Anekdoten, possenhafte und witzige Geschichten zu schreiben.<br />
Außerdem schrieb er mit 20 sein erstes Theaterstück. Ein ursprünglich namenloses Drama für<br />
das der Titel ‚Die Vaterlosen’ verwendet wurde. Es handelt sich um eine Komödie, deren Aufführung<br />
in ungekürztem Zustand etwa siebeneinhalb Stunden gedauert hätte. Nach seinem Tode<br />
wurde das Stück im Nachlass entdeckt und unter dem Titel 'Platonow' unraufgeführt.<br />
Nach dem Schulabschluss ging Tschechow nach Moskau, um an der medizinischen Fakultät der<br />
Moskauer Universität sein Diplom als Arzt zu bekommen. Er musste Eltern und Geschwister ernähren.<br />
Tschechow betätigte sich als Arzt und war Mitarbeiter bei humoristischen Journalen und<br />
populären Zeitungen. Seit 1882 schrieb er für eine Sankt Petersburger Zeitung. Auf seinem Landgut<br />
bei Moskau hat er die Bauern kostenlos behandelt. Die wissenschaftliche Basis und die medizinische<br />
Erfahrung als Dorfarzt trugen bedeutend zum Realismus seiner reifen Werke bei. Der bereits<br />
lungenkranke Schriftsteller nahm 1890 klaglos die Strapazen einer Reise durch Sibirien auf<br />
sich, um über Zwangsarbeit auf der Gefangeneninsel Sachalin im Stillen Ozean zu berichten. Der<br />
Reisebericht schildert erschütternd das "Leben" von Ausgegrenzten im Zarenreich.<br />
Während seines Arztpraktikums sah Tschechow die Uraufführung seines Theaterstücks ONKEL<br />
WANJA. Ernste Themen wurden auch in seinen Erzählungen „Die Steppe“ (1888), „Langweilige<br />
Geschichte“ (1889) berührt; zu den späteren Geschichten gehören „Der schwarze Mönch“ (1894)<br />
und „Die Bauern“ (1897). Sein zweites langes Theaterstück, die Komödie „Der Waldschrat“ (1989),<br />
verarbeitete Tschechow zu dem erfolgreichen Drama ONKEL WANJA (1896). Sein Stück „Die<br />
Möwe“ (1896) hatte keinen Erfolg gehabt, bis Konstantin Stanislawski es im Moskauer Künstlertheater<br />
inszenierte. Er zog sich auf die Krim zurück, um dort seine Tuberkulose zu behandeln, und<br />
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ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
schrieb dort seine letzten großen Theaterstücke für das Moskauer Künstlertheater: „Drei Schwestern“<br />
(1901) und „Der Kirschgarten“ (1904).<br />
1901 ehelichte Tschechow Olga Knipper, eine Schauspielerin, die oftmals die Titelrolle in seinen<br />
Theaterstücken auf der Bühne des Moskauer Künstlertheaters gespielt hatte. Aufgrund seiner Lungentuberkulose<br />
zog er nach Jalta (Krim/Südukraine, Schwarzmeerküste) um. Im Sommer 1904<br />
ging er in den Kurort Badenweiler in Deutschland. Dort verstarb er am 15. Juli (nach anderen Quellen<br />
am 14. Juli). Nach einem Glas Champagner sollen "Ich sterbe" seine letzten Worte gewesen<br />
sein. Das Grab des Dramatikers befindet sich in Moskau.<br />
Die Stücke von Tschechow, die eine tragikomische Sicht auf die Banalität des Provinzlebens und<br />
die Vergänglichkeit des russischen Kleinadels zeigen, erhielten kurz nach der Übersetzung internationale<br />
Resonanz. Auch heute wird Tschechow als unübertroffener Meister der Kurzgeschichte betrachtet.<br />
Die meisten seiner handelnden Personen sind anständig und sensibel. Sie träumen davon,<br />
ihr Leben zu verbessern, meistens vergeblich, wegen des Gefühls der Hilf- und Nutzlosigkeit.<br />
Die Forscher meinen, Tschechow hat die Passivität des Gesellschaftslebens des zaristischen<br />
Russlands kritisiert. Aber er hat seine Leser nie belehrt, er zog immer vor, die höchst individualisierten<br />
Charaktere samt ihren spezifischen Problemen in seinen Werken vorzuzeigen.<br />
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ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
SELBSTAUSKUNFT<br />
Textcollage von Matthias Günther, die aus Tschechows Briefen und Notiz und Tagebüchern,<br />
herausgegeben und übersetzt von Peter Urban, zusammengestellt wurde:<br />
Anton Cechov: Briefe 1877–1904 in 5 Bänden, Zürich 1998.<br />
Anton Cechov: Tagebücher Notizbücher. Zürich 1983<br />
Sie brauchen eine Biographie? Da ist sie. Geboren wurde ich 1860 in Taganrog. Taganrog ist eine<br />
sehr schöne Stadt. Wenn ich ein talentierter Architekt wäre, würde ich sie abreißen. 60 000 Einwohner<br />
beschäftigen sich damit, dass sie essen, trinken, sich paaren, andere Interessen keine.<br />
1879 beendete ich das Gymnasium in Tangarog und begann zu schreiben. Ich habe auch im dramatischen<br />
Fach gesündigt, wenn auch mit Maßen. Unter Orientierungslosigkeit verstehe ich den<br />
gegenwärtigen Zustand unserer Gesellschaft: Alles ist bis zum Äußersten verwickelt und verworren,<br />
durcheinander. In Mysterien der Liebe eingeweiht wurde ich, als ich 13 Jahre alt war. Der Geschlechtsinstinkt<br />
hindert mehr am Arbeiten als der Vodka. Wenn ein schwacher Mensch zum Weib<br />
kommt, legt er sich zu ihr in die Pfühle und schläft mit ihr, bis die Nähte krachen. 1884 beendete<br />
ich das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Moskau. Es gibt schrecklich viele<br />
Kranke in Moskau. Alle sind abgemagert, blass, irgendwie eingefallen, als ahnten sie das jüngste<br />
Gericht voraus. Allen geht es mies. Geld keins. 1888 bekam ich den Puskin-Preis. Eine politische,<br />
religiöse und philosophische Weltanschauung habe ich noch nicht; ich ändere sie Monat für Monat<br />
und muss mich deshalb auf die Beschreibung dessen beschränken, wie meine Helden lieben, heiraten,<br />
gebären, sterben und wie sie reden. 1890 unternahm ich eine Reise nach Sachalin und<br />
durch Sibirien und zurück übers Meer. Der Dampfer ist nicht besonders. Das Beste an ihm ist das<br />
Wasserklosett. Es steht erhöht, auf vier Stufen, so dass ein unerfahrener Mensch es leicht für einen<br />
Königsthron halten könnte. Das Schlechteste auf dem Dampfer ist das Essen. 1891 unternahm<br />
ich eine Tournee durch Europa, wo ich sehr guten Wein getrunken und Austern gegessen<br />
habe. In West-Europa gehen die Menschen zugrunde, weil es zu eng und zu stickig ist zum Leben,<br />
bei uns weil zu viel Raum ist. Und Raum ist bei uns so viel, dass das kleine Menschenkind nicht<br />
Kraft genug hat, sich zu orientieren. Mit meinen Kollegen, Medizinern wie Literaten, pflege ich ausgezeichnete<br />
Beziehungen. Ich bezweifle nicht, dass meine Beschäftigung mit den medizinischen<br />
Wissenschaften großen Einfluss auf meine literarische Tätigkeit gehabt hat, sie hat den Horizont<br />
meiner Beobachtungen beträchtlich erweitert, hat mich um Kenntnisse bereichert, deren wahren<br />
Wert für mich als Schriftsteller nur der ermessen kann, der selbst Arzt ist; sie besaß auch richtungsweisenden<br />
Einfluss, und wahrscheinlich ist es mir, dank meiner Nähe zur Medizin, gelungen,<br />
viele Fehler zu vermeiden. Wenn ich einmal reich bin, eröffne ich ein Harem, in dem halte ich<br />
nackte dicke Frauen mit grün angestrichenem Hintern. Ich als Schreibender muss unbedingt so<br />
viele Frauen wie möglich beobachten, muss sie studieren und kann deshalb, leider, kein treuer<br />
Ehemann sein. Der Coitus mit den Musen ist nur im Winter schön. Aber das ist alles Unfug.<br />
Schreiben Sie, was Sie wollen. Wo keine Fakten sind, ersetzen Sie sie durch Lyrik.<br />
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ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
EINE MOHRRÜBE IST EINE MOHRRÜBE<br />
Textcollage von Matthias Günther, die aus Tschechows Briefen und Notiz und Tagebüchern, herausgegeben<br />
und übersetzt von Peter Urban, zusammengestellt wurde:<br />
Anton Cechov: Briefe 1877–1904 in 5 Bänden, Zürich 1998.<br />
Anton Cechov: Tagebücher Notizbücher. Zürich 1983<br />
Jeder Mensch kann ein Stück schreiben, das man inszenieren kann.<br />
Ich träume die ganze Zeit davon, ein komisches Stück zu schreiben, in dem nur so der Teufel los<br />
ist. Ich weiß nicht, ob etwas draus wird. Hier ist mir der Blick aus meinem großen Fenster dermaßen<br />
zuwider, dermaßen verhasst, das aus meinem Schreiben, glaube ich, nichts werden kann. Ich<br />
schaffe es einfach nicht mich hinzusetzen. Ich habe niemals Zeit. Dauernd stören mich irgendwelche<br />
Leute. Ich sehne mich nach Einsamkeit und wenn ich dann mal allein bin, dann ärgere ich<br />
mich und verspüre Ekel über den verbrachten Tag. Den ganzen Tag Essen und Gespräche Essen<br />
und Gespräche. Wie unerträglich sind manchmal Menschen, die glücklich sind, denen alles gelingt.<br />
Übrigens, es ist keine große Wonne ein großer Schriftsteller zu sein. Erstens ist es ein trübsinniges<br />
Leben. Arbeit von Morgens bis in die Nacht, und Nutzen - wenig. Geld - soviel die Katze auf dem<br />
Schwanz davonträgt. Ich weiß nicht, wie es bei den anderen ist, aber bei mir ist es verraucht und<br />
kalt. Zigaretten gibt man mir nach wie vor nur an Feiertagen. Unmögliche Zigaretten. Fest gestopft,<br />
feucht, wurstförmig. Bevor ich sie mir anstecke, zünde ich die Lampe an, trockne über ihr die Zigarette,<br />
dann rauche ich sie, wobei die Lampe qualmt und rußt, die Zigarette knistert und schwarz<br />
wird und ich mir die Finger verbrenne. Man könnte sich einfach erschießen. Was ist das für ein<br />
Leben? Oder, was ist das Leben? Das ist, als wollte man fragen: was ist eine Mohrrübe? Eine<br />
Mohrrübe ist eine Mohrrübe, mehr ist darüber nicht zu sagen.<br />
Mein Allerheiligstes sind – der menschliche Körper, Gesundheit, Geist, Talent, Begeisterung, Liebe<br />
und absolute Freiheit, Freiheit von Gewalt und Lüge, worin sich die beiden letzteren auch äußern<br />
mögen. Das ist das Programm, an das ich mich halten würde, wenn ich ein großer Künstler wäre.<br />
Ich habe schreckliche Lust, ein Vaudeville zu schreiben, denn ich habe die unbestimmte Ahnung,<br />
dass das Vaudeville bald wieder in Mode kommt. Ich sollte mir das Theater aus nächster Nähe<br />
anschauen. Bei den Proben zusehen, würde meinen Blick noch mehr schärfen. Nichts macht einen<br />
mit der Bühne besser bekannt als das Durcheinander auf den Proben. Oft heißt es bei mir „unter<br />
Tränen“, aber das bedeutet nur die Stimmung der Personen, nicht Tränen. Zu spielen ist die Rolle<br />
nicht schwer, man muss nur von Anfang an den richtigen Ton treffen; man muss sich ein Lächeln<br />
und eine Art zu lachen einfallen lassen.<br />
5
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
MENSCHEN MIT ERZIEHUNG<br />
Textcollage von Matthias Günther, die aus Tschechows Briefen und Notiz und Tagebüchern, herausgegeben<br />
und übersetzt von Peter Urban, zusammengestellt wurde:<br />
Anton Cechov: Briefe 1877–1904 in 5 Bänden, Zürich 1998.<br />
Anton Cechov: Tagebücher Notizbücher. Zürich 1983<br />
Menschen mit Erziehung müssen, meiner Meinung nach, folgenden Bedingungen genügen:<br />
1) Sie achten die menschliche Persönlichkeit, sind darum stets nachsichtig, weichherzig, höflich,<br />
nachgiebig ... Sie machen keinen Aufstand wegen eines Hammers oder eines verlorenen Radiergummis.<br />
Und wenn sie mit jemandem zusammenleben, so tun sie das nicht aus Gefälligkeit und<br />
sagen nicht, wenn sie gehen: mit euch kann man nicht leben! Sie verzeihen Lärm und Kälte und<br />
angebrannten Braten und Witze und die Anwesenheit Fremder in ihrer Behausung ...<br />
2) Sie haben Mitleid nicht nur mit Bettlern und Katzen. Ihnen tut auch das in der Seele weh, was<br />
man mit bloßem Auge nicht sehen kann. So z. B. wenn P. weiß, dass Vater und Mutter vor Sehnsucht<br />
graue Haare bekommen und nächtelang nicht schlafen können, weil sie P. so selten sehen<br />
(und wenn, dann betrunken), dann eilt er zu ihnen und pfeift auf den Vodka. (...)<br />
3) Sie achten fremdes Eigentum und zahlen deshalb auch ihre Schulden zurück.<br />
4) Sie sind reinen Herzens und fürchten die Lüge wie das Feuer. Sie lügen selbst in Kleinigkeiten<br />
nicht. Die Lüge beleidigt den Zuhörer und setzt ihn in seinen Augen herab. Sie zieren sich nicht,<br />
benehmen sich auf der Straße so wie zu Hause, streuen den geringeren Brüdern keinen Sand in<br />
die Augen ... Sie sind nicht schwatzhaft und halten mit Offenheiten zurück, wenn sie nicht gefragt<br />
sind ... Aus Achtung vor fremden Ohren schweigen sie meistens.<br />
5) Sie erniedrigen sich nicht, um beim anderen Mitleid zu erwecken. Sie spielen nicht auf den Saiten<br />
fremder Seelen, um als Antwort darauf Seufzer zu hören und von anderen bemuttert zu werden.<br />
Sie sagen nicht: »Die anderen verstehen mich nicht!« oder: »Ich habe auf kleines Geld gesetzt!<br />
Ich bin am Arsch!!« weil das auf billige Effekte zielt, platt ist, alt und verlogen ...<br />
6) Sie sind uneitel. Sie sind nicht interessiert an falschen Brillanten wie etwa Bekanntschaften mit<br />
Berühmtheiten, Entzückensbezeugungen eines Wildfremden im Salon, an Bekanntheit in Bierhallen.<br />
Wenn sie etwas tun, was einen Groschen wert ist, geben sie damit nicht an, als hätten sie etwas<br />
für hundert Rubel getan, und brüsten sich nicht damit, dass man sie dort eingelassen habe,<br />
wo andere nicht eingelassen werden ... Die wirklichen Talente sitzen immer im Dunkeln, in der<br />
Menge, fernab der Ausstellung.<br />
7) Wenn sie Talent besitzen, so haben sie Achtung davor. Sie opfern ihm die Ruhe, Frauen, Wein,<br />
Eitelkeit ... Sie sind stolz auf ihr Talent. Sie betrinken sich also nicht. Außerdem empfinden sie<br />
leicht Ekel.. .<br />
6
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
8) Sie erziehen sich zur Ästhetik. Sie können nicht in Tageskleidern schlafen, in den Tapetenritzen<br />
Wanzen sehen, schlechte Luft atmen, über bespuckten Fußboden gehen, sich von einem Petroleumkocher<br />
ernähren. Sie versuchen nach Möglichkeit den Geschlechtsinstinkt zu bändigen und<br />
zu veredeln. Mit einem Weib schlafen, ihr in den Mund atmen, ihre Logik ertragen, keinen Schritt<br />
von ihrer Seite weichen – und all das weshalb! Menschen, die in dieser Hinsicht erzogen sind, fühlen<br />
sich nicht so zur Küche hingezogen. Sie brauchen von der Frau nicht das Bett, nicht den Pferdeschweiß,<br />
nicht den Verstand, der sich in der Fähigkeit äußert, eine Schwangerschaft vorzutäuschen<br />
und unermüdlich zu lügen. Sie, besonders die Künstler, brauchen Frische, Eleganz, Menschlichkeit,<br />
die Fähigkeit der Frau, nicht Hure, sondern Mutter zu sein. Sie kippen nicht im Vorbeigehen<br />
einen Vodka, schnüffeln nicht in Schränken herum, weil sie wissen, dass sie keine Schweine<br />
sind. Sie trinken nur in freien Stunden, bei Gelegenheit. Was sie brauchen, ist mens sana in<br />
corpore sano.<br />
So sind Menschen mit Erziehung. Um sich zu erziehen und nicht unter das Niveau der Umwelt, in<br />
die man geraten ist, zu sinken, reicht es nicht, den Monolog aus dem »Faust« auswendig zu lernen.<br />
Hier ist ununterbrochene Arbeit nötig, tags und nachts, ewiges Lesen, Studium, Wille. Hier<br />
ist jede Stunde teuer.<br />
7
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
MEIN BRUDER ANTON TSCHECHOW von Maria Tschechowa<br />
Maria Čechova: Mein Bruder Anton Čechov. Übersetzt von Antje Leetz. Berlin 2004.<br />
Während Anton früher vor allem im Sommer als Arzt gearbeitet hatte, wenn wir auf einer Datscha<br />
wohnten, so empfing er in Melichovo das ganze Jahr hindurch Patienten. Als sich in Melichovo und<br />
Umgebung herumgesprochen hatte, daß der neue Besitzer des Gutes Arzt sei, kamen die Bauern,<br />
anfangs recht zögerlich, mit ihren Krankheiten zu uns. Als sie erfuhren, dass der Doktor aus Melichovo<br />
alle behandelte und sogar Arznei austeilte, dazu völlig kostenlos, kamen die Kranken aus<br />
allen umliegenden Dörfern.<br />
So entstand in Melichovo eine richtige Arztpraxis. Anton legte seine Sprechstunden auf den Morgen.<br />
Und nun saßen täglich, kaum dass es hell wurde, Kranke auf unserem Hof und warteten. Aus<br />
den anderen Dörfern kamen viele mit Pferdewagen. Anton registrierte jeden einzelnen Patienten,<br />
und aus diesen Eintragungen, die ich aufbewahrt habe, ist ersichtlich, dass viele Kranke aus Dörfern<br />
kamen, die zwanzig, fünfundzwanzig Werst von Melichovo entfernt lagen.<br />
Anton hielt seine Sprechstunde neben der Diele des Hintereingangs ab. Ich übernahm die Rolle<br />
der Assistentin: Ich half ihm beim Verbinden und bei unkomplizierten chirurgischen Eingriffen.<br />
Meine Aufgabe war es auch, den Patienten die von Anton verschriebene Arznei auszuhändigen.<br />
Außer den Sprechstunden zu Hause musste Anton oft zu schwerkranken Bauern in die Hütten<br />
gehen und in andere Dörfer fahren. Manchmal wurde er nachts gerufen, mal zu einer Entbindung,<br />
mal zu einem Kranken, der dringend Hilfe brauchte.<br />
Im Frühsommer unseres ersten Melichover Jahres brach im Bezirk Serpuchov eine Choleraepidemie<br />
aus. Anton übernahm die Aufgaben eines Sanitätsarztes. Zu seinem Bezirk gehörten fünfundzwanzig<br />
Dörfer und ein Männerkloster, außerdem unterstanden ihm noch zwei Fabrikambulatorien<br />
in den Dörfern Krjukovo und Ugrjumovo.<br />
Den ganzen Sommer und Herbst 1892 kam Anton kaum zum Schreiben, sondern fuhr seinen Bezirk<br />
ab, behandelte die Kranken und richtete Krankenhäuser und Quarantänebaracken ein.<br />
Während der Epidemie hielt er den Bauern Vorträge über Prophylaxemaßnahmen; da er Mitglied<br />
verschiedener Kommissionen und des Sanitätsrats von Serpuchov war, musste er an allen Sitzungen<br />
teilnehmen, auch an Besichtigungen von Räumlichkeiten in Schulen und Fabriken und so weiter.<br />
Kurz, er hatte alle Hände voll zu tun.<br />
Dank der durchgeführten Maßnahmen wuchs sich die Cholera im Bezirk Serpuchov nicht zu einer<br />
wirklich gefährlichen Epidemie aus. In unserem Kreis gab es überhaupt keine Fälle, im Nachbarbezirk,<br />
dreißig Werst von Melichovo entfernt, erkrankten sechzehn Menschen. Vier davon starben.<br />
8
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
TSCHECHOW IN SEINER ZEIT<br />
CHRONIK<br />
29. Januar 1860_ GEBURT VON ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW<br />
1861_ Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland<br />
1. März 1881_ Ermordung Zar Alexanders II.<br />
14. November 1894_ Hochzeit von Nikolaus Romanow und Alix von Hessen-Darmstadt (Zarin<br />
Alexandra Fjodorowna)<br />
14. Mai 1896_ Krönung von Zar Nikolaus II.<br />
1897_ ONKEL WANJA von Tschechow hat die eigentliche Uraufführung im Moskauer Künstlertheater<br />
unter der Regie von Stanislawski.<br />
15. Juli 1904_ TOD VON ANTON PAWLOWITSCH TSCHECHOW<br />
1904/05_ Russisch-japanischer Krieg. Niederlage des Zarenreichs<br />
9. Januar 1905_ "Blutsonntag": In Sankt Petersburg schießt das Militär auf unbewaffnete<br />
Demonstranten<br />
17. Oktober 1905_ Nach landesweiten Protesten und einem Generalstreik gewährt Nikolaus II.<br />
seinen Untertanen bürgerliche Freiheiten und eine Volksvertretung (Duma)<br />
1907_ Der Wunderheiler Rasputin findet Zugang zum Zarenhof<br />
5. September 1911_ Ermordung des Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin<br />
19. Februar 1913_ Dreihundertjahrfeier der Romanow-Dynastie<br />
1. August 1914_ Ausbruch des Ersten Weltkriegs: Das Deutsche Reich erklärt Russland den Krieg<br />
16. Dezember 1916_ Ermordung Rasputins<br />
23. Februar 1917_ Beginn der Februarrevolution in Petrograd<br />
1. März 1917_ Bildung einer Provisorischen Regierung<br />
2. März 1917_ Nikolaus II. dankt als Zar ab<br />
April 1917_ Mit Hilfe Deutschlands gelingt Lenin die Rückkehr aus dem Exil nach Russland<br />
25. Oktober 1917_ Die Bolschewiki gelangen unter Lenins Führung zur Macht. Der Winterpalast in<br />
Sankt Petersburg wird gestürmt, die Provisorische Regierung verhaftet<br />
3. März 1918_ Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen Deutschland und Russland<br />
17. Juli 1918_ Erschießung der Zarenfamilie in Jekaterinburg<br />
9
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
II. DAS STÜCK<br />
Konstantin S. Stanislawski ONKEL WANJA<br />
Konstantin S. Stanislawski: Mein Leben in der Kunst. Berlin 1987.<br />
Es ist heute kaum noch zu glauben, dass wir uns nach der Premiere des »<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>« im vertrauten<br />
Kreise versammelten und in einem Restaurant Tränen der Verzweiflung vergossen, weil die<br />
Aufführung nach unserer einhelligen Meinung durchgefallen war. Die Zeit tut aber dennoch das ihre:<br />
die Inszenierung wurde anerkannt, hielt sich über zwanzig Jahre im Spielplan und wurde in<br />
ganz Russland, aber auch in Europa und Amerika bekannt.<br />
Nach altem Brauch endete die Moskauer Theatersaison mit stürmischen Ovationen für alle Schauspieler<br />
des Ensembles. Die Drehbühne wurde zum Schluss mit allen darauf stehenden Schauspielern<br />
in Gang gesetzt, so dass der Eindruck entstand, das Ensemble begebe sich mitsamt den Dekorationen<br />
auf die Reise. Das Publikum sah nun die Rückseite der Dekoration, auf der »Auf ein<br />
neues!« stand.<br />
Das war der Frühling unseres Theaters, die Zeit der Blüte und Freude in seinem jungen Leben. Wir<br />
fuhren auf die Krim zu Tschechow. Wir dachten uns: »Anton Pawlowitsch kann nicht zu uns kommen,<br />
weil er krank ist. Also fahren wir zu ihm, denn wir sind gesund. Wenn der Prophet nicht zum<br />
Berg kommt, muss der Berg zum Propheten kommen.«<br />
Schauspieler mit Frauen, Kindern und Ammen, Bühnentechniker, Requisiteure, Ankleider und Friseure<br />
sowie mehrere Waggons mit Theatergepäck zogen im schlimmsten Tauwetter aus dem kalten<br />
Moskau in den sonnigen Süden. Fort mit den Pelzen! Her mit den Sommerkleidern und Strohhüten!<br />
Und sollten wir die zwei Tage unterwegs frieren, na wenn schon!<br />
Das Sommertheater, wo wir spielen sollten, stand verlassen mit zugenagelten Türen am Meer. Den<br />
Winter über blieb es zu, und als man es für uns öffnete, war es, als befänden wir uns am Nordpol:<br />
so kalt und feucht war es darin.<br />
Zu Ostern wurde es wieder wärmer. Wir zeigten zum erstenmal Tschechow und der Stadt Sewastopol<br />
den »<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>«. Der Erfolg war außerordentlich, und der Autor musste unzählige Male<br />
auf die Bühne. Diesmal war Tschechow zufrieden, außerdem sah er uns erstmals in einer öffentlichen<br />
Vorstellung. In den Pausen kam Tschechow zu mir, lobte und machte nur eine Bemerkung<br />
zur Abreise Astrows:<br />
»Der pfeift doch, verstehen Sie. Pfeift! <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong> weint, und Astrow pfeift!« Mehr ließ er sich<br />
auch diesmal nicht entlocken.<br />
»Merkwürdig«, dachte ich, »Wehmut, Hoffnungslosigkeit und – fröhliches Pfeifen?«<br />
Aber auch diese Bemerkung Tschechows ging mir unversehens bei einer späteren Vorstellung auf.<br />
Einmal fing ich zu pfeifen an, um zu sehen, was passiert, und sah sofort, dass es stimmte. Aber ja<br />
doch!<br />
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ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
BRIEFE UND TEXTAUSZÜGE<br />
Anton Tschechow BRIEFE<br />
Anton Čechov: Briefe 1897-1901. Herausgegeben und übersetzt von Peter Urban. Zürich, 1998.<br />
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Anton Tschechow: <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>. Übersetzt von Ulrike Zemme. Reinbek 1996.<br />
AN O.L. KNIPPER, JALTA, 9.9.1899<br />
9. Sept.<br />
Wie geht es Ihnen? Wie geht die Arbeit? Wie laufen die Proben? Gibt es nicht was Neues? Die<br />
Meinen sind angekommen. Klein aber fein richten wir uns in dem großen Hause ein. Es wird erträglich.<br />
Das Telephon. Aus Langeweile telephoniere ich jeden Augenblick. Es ist langweilig ohne<br />
Moskau, langweilig ohne Sie, liebe Schauspielerin. Wann werden wir uns Wiedersehen?<br />
Von den Alexandrinern habe ich ein Telegramm bekommen. Sie wollen den »<strong>Onkel</strong> Vanja«.<br />
Bleiben Sie gesund, glücklich, froh! Vergessen Sie den Schriftsteller nicht, vergessen Sie ihn nicht,<br />
sonst ersäufe ich mich hier oder heirate einen Tausendfüßler. Ich küsse Ihnen fest die Hand, fest,<br />
fest!! Ganz Ihr A. Čechov.<br />
TEXTAUSZUG, Erster Akt<br />
SONJA<br />
Nur noch essen trinken, schlafen, essen, trinken, schlafen. Früher haben<br />
wir gearbeitet, <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong> wir beide, jede Minute. Jetzt arbeite nur noch<br />
ich. Und du schläfst zu den unmöglichsten Zeiten und fängst schon<br />
morgens an zu saufen. Das kann doch nicht gesund sein.<br />
Seit mein Vater und seine neue Frau bei uns sind, ist hier alles<br />
durcheinander. Totales Chaos. Früher haben wir immer um eins zu Mittag<br />
gegessen, wie alle Leute, aber seit sie da sind, essen wir erst um sieben.<br />
Das ist doch nicht normal. In der Nacht liest mein Vater die ganze Zeit und<br />
schreibt und um zwei in der Früh läutet er plötzlich...ach du lieber Himmel!<br />
Essen will er...Nachts um zwei.<br />
11
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN O.L. KNIPPER, JALTA, 30.9.1899<br />
Auf Ihren Befehl beeile ich mich, Ihren Brief zu beantworten, in dem Sie nach der letzten Szene<br />
zwischen Astrov und Elena fragen. Sie schreiben, dass Astrov sich in dieser Szene an Elena wende<br />
wie der feurigste Verliebte, »sich an sein Gefühl klammert wie der Ertrinkende an den Strohhalm«.<br />
Aber das ist falsch, grundfalsch! Elena gefällt Astrov, sie fesselt ihn durch ihre Schönheit,<br />
aber im letzten Akt weiß er bereits, dass nichts daraus werden wird, dass Elena für ihn für immer<br />
verschwinden wird – und er spricht mit ihr in dieser Szene im selben Ton wie über die Hitze in Afrika,<br />
und er küsst sie einfach so, weil er nichts Besseres zu tun weiß. Wenn Astrov diese Szene<br />
stürmisch führt, dann geht die gesamte Stimmung des IV. Akts verloren – der still und träge ist.<br />
Ich habe Aleksandr Leonidovič durch den Fürsten ein japanisches Massagegerät geschickt. Soll<br />
A.L. dieses Ding seinem Schweden zeigen.<br />
In Jalta ist es plötzlich kalt geworden, der Wind weht aus Moskau. Ach, wie gern ich nach Moskau<br />
käme, liebe Schauspielerin! Übrigens, Sie wissen nicht, wo Ihnen der Kopf steht, Sie sind vergiftet,<br />
Sie befinden sich im Rausch – Ihnen steht jetzt nicht der Sinn nach mir. Sie können mir jetzt<br />
schreiben,: »Wir machen von uns reden, mein Freund, wir machen von uns reden!«<br />
Eine Photographie von mir schicke ich Ihnen nicht, bevor ich nicht eine von Ihnen bekomme, oh<br />
Schlange! Ich hatte Sie keineswegs »kleine Schlange« genannt, wie Sie schreiben. Sie sind eine<br />
Schlange, keine kleine, sondern eine riesengroße. Ist das nicht schmeichelhaft?<br />
Also, ich drücke Ihnen die Hand, verneige mich tief, stoße mit der Stirn an den Fußboden,<br />
Verehrteste. Bald schicke ich Ihnen noch ein Geschenk. Ihr A. Čechov.<br />
TEXTAUSZUG, Erster Akt<br />
SONJA<br />
Ja, er trinkt zuviel. Und warum? Weil das Leben so anstrengend ist. Er hat<br />
sich totgearbeitet. Vom frühen Morgen bis in die Nacht auf den Beinen,<br />
keine Pause, und kaum liegt er im Bett, packt ihn die Angst, dass sie ihn<br />
wieder zu einem Kranken rufen. Seit wir uns kennen, hatte er nicht einen<br />
Tag frei. Wie soll man da nicht alt werden. Und das Leben hier ist sowieso<br />
schwer auszuhalten und zieht sich dahin. Die Menschen hier um einen<br />
herum – lauter merkwürdige Gestalten. Nach zwei, drei Jahren wird man<br />
langsam genauso. Ganz automatisch. Nirgends ein normaler Mensch.<br />
Wahnsinn. Ein riesiger Bart ist ihm gewachsen. Wahnsinn. Astrow! Wollen<br />
Sie was essen?<br />
12
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN O.L. KNIPPER, JALTA, 4.10.1899<br />
Liebe Schauspielerin, Sie haben alles stark übertrieben in Ihrem düsteren Brief, das ist offensichtlich,<br />
denn die Zeitungen haben die Premiere von »<strong>Onkel</strong> Vanja« durchaus wohlwollend aufgenommen.<br />
Wie dem auch sei, ein-zwei erfolglose Vorstellungen sind durchaus kein hinreichender<br />
Grund, die Nase hängen zu lassen und die ganze Nacht nicht zu schlafen. Die Kunst, besonders<br />
die Bühne, ist ein Bereich, wo man nicht gehen kann, ohne zu stolpern. Vor Ihnen liegen noch<br />
viele erfolglose Tage, ganze erfolglose Spielzeiten; es wird sowohl große Missverständnisse als<br />
auch tiefe Enttäuschungen geben, – auf all das muss man gefasst sein, man muss damit rechnen<br />
und trotz alledem hartnäckig, fanatisch seine eigene Linie verfolgen. Ich war 3-4 Tage krank, jetzt<br />
sitze ich zu Hause. Es kommen unerträglich viele Besucher. Müßige Provinzzungen plappern, und<br />
ich langweile mich, ärgere, ärgere mich und beneide die Ratte, die unter dem Boden Ihres<br />
Theaters lebt. Den letzten Brief haben Sie um 4 Uhr morgens geschrieben. Wenn Sie den<br />
Eindruck haben, dass »<strong>Onkel</strong> Vanja« nicht den Erfolg haben werde, den Sie sich wünschen, dann<br />
bitte, legen Sie sich schlafen und schlafen Sie fest. Sie sind vom Erfolg verwöhnt, Sie können<br />
schon den Alltag nicht mehr ertragen. In Petersburg wird den »<strong>Onkel</strong> Vanja«, wahrscheinlich,<br />
Davydov spielen, und er wird ihn gut spielen, das Stück wird aber sicher trotzdem durchfallen.<br />
Wie geht es Ihnen? Schreiben Sie mehr. Sehen Sie, ich schreibe Ihnen fast jeden Tag. Ich vergesse<br />
immer, dass ich der Inspektor der Schauspielerinnen bin. Bleiben Sie gesund, kleiner Engel.<br />
Ihr A. Čechov.<br />
TEXTAUSZUG, Erster Akt<br />
SONJA<br />
Astrow liebt die Wälder. Njanja, geh doch mal und mach Tee. Jedes Jahr<br />
pflanzt er neue Wälder und hat schon eine Bronzemedaille und ein Diplom<br />
dafür bekommen. Er kämpft darum, dass die alten Wälder nicht abgeholzt<br />
werden. Das ist schön, aber irgendwie kommt es mir auch komisch vor. Hat<br />
Medizin studiert, befasst sich ganz und gar nicht mit Medizin... das ist alles<br />
merkwürdig. Er sagt, dass Wälder die Erde schmücken, Wälder mildern<br />
das raue Klima. In Ländern mit mildem Klima muss man weniger gegen die<br />
Natur ankämpfen, daher sind die Menschen zarter und heiterer. Und das<br />
Verhältnis zum anderen Geschlecht ist rücksichtsvoller.<br />
13
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN V. Ė. MEJERCHOLD, JALTA, ANFANG OKTOBER 1899<br />
Man sollte die Nervosität nicht unterstreichen, damit nicht die neuropathologische Natur das Übergewicht<br />
bekommt und dasjenige verdeckt, was wichtiger ist, nämlich die Einsamkeit, die nur von<br />
hoch entwickelten, dabei (in höchster Bedeutung) gesunden Menschen empfunden wird. Denken<br />
Sie daran, dass gegenwärtig beinahe jeder kultivierte Mensch, selbst der gesündeste, nirgends eine<br />
solche Gereiztheit erlebt wie zu Hause, in seiner eigenen Familie, denn die Disharmonie zwischen<br />
Vergangenheit und Gegenwart spürt man vor allem in der Familie. Es ist eine chronische<br />
Gereiztheit, ohne Pathos, ohne krampfhafte Ausbrüche, dieselbe Gereiztheit, die von Gästen gar<br />
nicht bemerkt wird und die in ihrer ganzen Schwere vor allem auf den Allernächsten lastet – der<br />
Mutter, der Frau, – sozusagen eine familiäre, intime Gereiztheit.<br />
Vielen Dank dafür, dass Sie an mich gedacht haben. Schreiben Sie mir bitte mehr, das wäre sehr<br />
großmütig von Ihnen, denn ich langweile mich sehr. Das Wetter hier ist großartig, warm, aber das<br />
ist doch nur Soße, und was soll ich mit Soße, wenn das Fleisch fehlt.<br />
Bleiben Sie gesund, ich drücke Ihnen fest die Hand und wünsche Ihnen alles Gute. Ihr A. Čechov.<br />
TEXTAUSZUG, Erster Akt<br />
WOJNITZKI<br />
Seit der Professor und seine Frau hier sind, ist alles durcheinander. Ich<br />
schlafe zu den unmöglichsten Zeiten und fange schon morgens an zu<br />
saufen. Das kann doch nicht gesund sein. Früher haben wir gearbeitet,<br />
Sonja und ich, jede Minute. Jetzt arbeitet nur noch sie. Ich esse, trinke,<br />
schlafe. Den ganzen Tag. Da stimmt doch was nicht.<br />
SONJA<br />
<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong> erzähl doch mal was Neues.<br />
WOJNIZKIJ<br />
Es gibt nichts Neues. Höchstens was Altes. Keine Veränderung, keine<br />
Verbesserung, keine Verschlimmerung. Oder doch: Ich bin wie ich immer<br />
war, aber noch jämmerlicher, weil ich stinkfaul geworden bin.<br />
Stinkfaul.Meine Mutter starrt schon mit einem Auge ins Grab, mit dem<br />
anderen sucht sie in ihren klugen Büchern immer noch nach der<br />
Morgenröte eines neuen Lebens. Und der Professor hockt Tag und Nacht<br />
da und schreibt unschuldiges Papier voll. Er sollte lieber seine Memoiren<br />
schreiben. Da hätte er wenigstens was zu erzählen! Ein Professor im<br />
Ruhestand. Nistet sich ein auf dem Gut seiner ersten Frau, und zwar<br />
unfreiwillig, weil er sich das Leben in der Stadt nicht leisten kann. Ständig<br />
14
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
beschwert er sich über sein Unglück, obwohl er eigentlich immenses Glück<br />
hat. Als Sohn eines einfachen Kirchendieners darf er studieren, bringt es<br />
zum Akademiker, bekommt einen Lehrstuhl, wird der Schwiegersohn eines<br />
hohen Senators und so weiter und so weiter. Das alles wäre ja noch egal.<br />
Aber jetzt kommts: Da liest und schreibt einer fünfundzwanzig Jahre lang<br />
über Kunst, ohne von Kunst auch nur die geringste Ahnung zu haben.<br />
Fünfundzwanzig Jahre käut er wieder, was andere über Realismus,<br />
Naturalismus und ichweißnicht was denken. Fünfundzwanzig Jahre hält er<br />
Vorlesungen und erzählt nur Blödsinn. Das heißt, 25 Jahre hat er einen<br />
Lehrstuhl blockiert. Dann geht er in den Ruhestand und jetzt steht er da.<br />
Kein Mensch kennt ihn, aber er kann vor Stolz kaum laufen.<br />
Aber sie ist schön! Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe! Ja,<br />
ich beneide ihn! Dieser sagenhafte Erfolg bei den Frauen! Meine<br />
Schwester, seine erste Frau hatte mehr Verehrer als er Studenten – und<br />
was macht sie:Verliebt sich in ihn, wie man sichs nicht vorstellen kann. Und<br />
meine Mutter himmelt ihn bis heute an. Ich begreif das nicht.Warum<br />
heiratet so eine herrliche Frau diesen Tattergreis. Vergeudet ihre Schönheit<br />
an seiner Seite. Wofür? Warum? Wenn sie wenigstens mit mir schlafen<br />
würde. Wenn sie ihn wenigstens betrügen würde.<br />
15
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN G.I. ROSSOLIMO, JALTA, 11.10.1899<br />
Sie fragen, wann wir uns Wiedersehen werden. Wahrscheinlich nicht vor kommendem Frühjahr.<br />
Ich bin in Jalta, in der Verbannung, einer vielleicht sehr schönen, aber trotzdem – in der Verbannung.<br />
Das Leben verläuft langweilig. Meine Gesundheit ist leidlich: ich bin nicht jeden Tag gesund.<br />
Außer allem übrigen habe ich Darmhämorrhoiden, Katarrh recti, und es gibt Tage, wo ich vom vielen<br />
Drang einfach völlig erschöpft bin. Ich muss mich operieren lassen.<br />
Wenn irgendetwas Interessantes passiert, dann bitte, schreiben Sie. Wirklich, mir ist langweilig<br />
hier, und ohne Briefe könnte man sich aufhängen, oder anfangen, schlechten Krimwein zu trinken,<br />
oder eine hässliche und dumme Frau heiraten.<br />
Bleiben Sie gesund, ich drücke Ihnen fest die Hand und sende Ihnen und Ihrer Familie meine besten<br />
Wünsche. Ihr A. Čechov. Jalta.<br />
TEXTAUSZUG, Erster Akt<br />
JELENA<br />
Ich halt das nicht mehr aus. Das ist so qualvoll.<br />
Der Doktor hat ein interessantes, erschöpftes Gesicht. Sonja gefällt er, das<br />
ist klar, sie ist in ihn verliebt, und ich kann sie sogar verstehen. Er war jetzt<br />
schon dreimal hier und ich habe mich nicht ein einziges Mal freundlich mit<br />
ihm unterhalten. <strong>Wanja</strong>, ich glaube, wir zwei verstehen uns deshalb so gut,<br />
weil wir beide sterbenslangweilige Menschen sind! Sterbenslangweilig!<br />
TELEGIN<br />
Ihr wisst gar nicht was echte Langeweile ist. Langeweile ist, wenn man<br />
einander gegenüber sitzt, keine Lust hat zu trinken oder zu reden. Sich<br />
einfach nur anstarrt. Eine Stunde vergeht, eine zweite. Man starrt sich an<br />
und weiß nicht wieso. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, steht einer auf,<br />
zieht den Säbel und los geht’s. Tschick Tschack Tschik Tschak.<br />
Bis einer tot umfällt.<br />
16
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN O.L, KNIPPER, JALTA, 30.10.1899<br />
Liebe Schauspielerin, gutes Menschenkind, Sie fragen, ob ich Lampenfieber hätte. Aber dass der<br />
»<strong>Onkel</strong> V.« am 26. Premiere hatte, habe ich offiziell doch erst aus Ihrem Brief erfahren, den ich am<br />
27. bekam. Die Telegramme begannen am 27. abends zu kommen, als ich bereits im Bett war. Sie<br />
werden mir telephonisch übermittelt. Ich wachte jedesmal auf und lief im Dunkeln ans Telephon,<br />
barfuß, und fror sehr; dann war ich kaum wieder eingeschlafen, als es wieder klingelte und wieder.<br />
Das erste Mal, dass mich mein eigener Ruhm nicht schlafen ließ, Am nächsten Tag habe ich mir<br />
vor dem Schlafengehen Pantoffeln und Schlafrock ans Bett gelegt, aber da kamen keine Telegramme<br />
mehr.<br />
In den Telegrammen war von nichts anderem die Rede als von Vorhängen und einem glänzenden<br />
Erfolg, aber es war darin etwas Feines, kaum Fassbares zu spüren, dem ich entnehmen konnte,<br />
dass die Stimmung bei Ihnen allen nicht die beste ist. Die Zeitungen, die ich heute bekam, haben<br />
diese meine Vermutung bestätigt. Ja, Schauspielerin, Ihnen allen, den Künstlerschauspielern, ist<br />
schon ein gewöhnlicher, mittlerer Erfolg zu wenig. Ihr wollt nur noch Knall, Salutschüsse, Dynamit.<br />
Ihr seid total verwöhnt, betäubt vom ständigen Gerede über Erfolge, volle und leere Häuser, seid<br />
von dieser Droge bereits vergiftet, und in 2-3 Jahren werdet ihr überhaupt nichts mehr wert sein!<br />
Da habt ihrs!<br />
Wie geht es Ihnen? Wie fühlen Sie sich? Ich bin immer noch hier und immer noch derselbe; ich<br />
arbeite, pflanze Bäume. Aber es sind Gäste gekommen, ich kann nicht weiterschreiben. Die Gäste<br />
haben sich seit über einer Stunde festgesetzt, jetzt wollen sie Tee. Also gehe ich und setze den<br />
Samovar auf. Oh, ist das langweilig!<br />
Vergessen Sie mich nicht, möge Ihre Freundschaft nicht erlöschen, damit wir im Sommer wieder<br />
gemeinsam irgendwohin verreisen können. Auf Wiedersehen! Wir werden uns wahrscheinlich nicht<br />
vor April Wiedersehen. Wenn Sie alle im Frühjahr nach Jalta kämen, könnten Sie hier spielen und<br />
sich erholen. Das wäre herrlich künstlerisch! Ich drücke Ihnen fest die Hand. Ihr A. Čechov.<br />
Schauspielerin, schreiben Sie, bei allen Heiligen, sonst langweile ich mich so. Ich sitze wie im Gefängnis<br />
und ärgere und ärgere mich.<br />
17
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
TEXTAUSZUG, Zweiter Akt<br />
SEREBRJAKOW<br />
Komisch, wenn dieser <strong>Wanja</strong> oder diese alte Idiotin, Marja Wassiljewna, ihr<br />
dummes Zeug quatschen – kein Problem, alle hören zu, aber kaum sage<br />
ich ein einziges Wort, sind alle sofort todunglücklich. Sogar meine Stimme<br />
ekelt euch an. Gut, ich gebe zu, ich bin ein Ekel, ein Egoist, ein Despot –<br />
aber habe ich nicht einmal im Alter ein gewisses Recht auf Egoismus?<br />
Habe ich mir das nicht verdient? Mein Leben war weiss Gott nicht leicht..<br />
Während ich studierte habe ich in billigen, schmutzigen Zimmern gehaust,<br />
Tag und Nacht nur gearbeitet, habe gehungert und mich gequält. Ich war in<br />
Heidelberg und habe von Heidelberg nichts gesehen, ich war in Paris und<br />
habe Paris nicht gesehen: die ganze Zeit habe ich in meinen vier Wänden<br />
gesessen und gebüffelt, gebüffelt, gebüffelt. Und nachdem ich den<br />
Lehrstuhl hatte, habe ich mein ganzes Leben der Wissenschaft geopfert.<br />
Habe ich nach alledem, frage ich, habe ich nicht wenigstens im Alter das<br />
Recht, egoistisch zu sein? Habe ich nicht das Recht auf die Toleranz<br />
meiner Mitmenschen?<br />
JELENA<br />
Keiner bestreitet deine Rechte. Es zieht. Gleich wird es bestimmt wieder<br />
regnen.<br />
SEREBRJAKOW<br />
Ein ganzes Leben für die Wissenschaft, der Hörsaal mehr ein Zuhause als<br />
die eigene Wohnung; die Kollegen näher als die nächsten Verwandten und<br />
dann – von einem Tag zum nächsten in ein Loch wie dieses hier. Und jeden<br />
Tag den letzten Blödsinn dieser Idioten im Ohr. Das halt ich nicht aus.<br />
Keine Verbannung könnte schlimmer sein, als diese Insel voller Leichen.<br />
Ich will leben, ich liebe Erfolg, Anerkennung, Aktivität. Jetzt muss ich den<br />
Erfolg der anderen ertragen, mich vor dem Tod fürchten. Und dann wird<br />
einem noch das Alter vorgeworfen!<br />
18
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN O.L. KNIPPER, JALTA, 1.11.1899<br />
Ich verstehe Ihre Stimmung, liebe Schauspielerin, ich verstehe sie sehr wohl, aber trotzdem würde<br />
ich mich an Ihrer Stelle nicht so verzweifelt aufregen. Man sollte ein für alle Male die Sorge um Erfolg<br />
oder Misserfolg fahren lassen. Das soll Sie gar nichts angehen. Ihre Sache ist, zäh zu arbeiten,<br />
tagaus tagein, im Stillen, gefasst zu sein auf Fehler, auf Misserfolge, mit einem Wort, die eigene<br />
schauspielerische Linie zu verfolgen, – die Vorhänge sollen die anderen zählen. Schreiben oder<br />
spielen und sich gleichzeitig dessen bewusst sein, dass man nicht tut, was nötig wäre, – das ist so<br />
etwas Normales, und für Anfänger so etwas Nützliches!<br />
Bleiben Sie gesund! Schreiben Sie, dass Sie sich inzwischen beruhigt haben und dass alles sehr<br />
gut geht. Ich drücke Ihnen die Hand. Ihr A. Čecbov.<br />
TEXTAUSZUG, Zweiter Akt<br />
JELENA<br />
WOJNIZKIJ<br />
JELENA<br />
WOJNIZKIJ<br />
JELENA<br />
WOJNIZKIJ<br />
Hier ist es nicht zum aushalten. Ihre Mutter hasst alles außer den Professor<br />
und ihre Bücher. Der Professor ist gereizt, vertraut mir nicht, vor Ihnen hat<br />
er Angst. Sonja ist auf ihren Vater und auf mich böse und redet schon zwei<br />
Wochen kein Wort mit mir. Sie hassen meinen Mann und ihre Mutter<br />
behandelt Sie wie Dreck. Ich bin mit meinen Nerven am Ende und hätte<br />
heute schon beinahe zwanzigmal am liebsten geweint.<br />
Das Leben hier ist eine Qual.<br />
Wem sagen Sie das!<br />
Sie müssten doch eigentlich wissen, dass die Welt nicht an Mord und<br />
Totschlag zugrunde geht, sondern an Hass, Feindseligkeit und diesen<br />
dauernden Streitereien. Gerade Sie sollten dafür sorgen, dass wir uns<br />
miteinander vertragen, statt hier herumzumäkeln den ganzen Tag.<br />
Ich vertrag mich ja nicht mal mit mir selber.<br />
Lassen Sie das! Gehen Sie jetzt!<br />
Wenn es in einigen Minuten anfangen wird zu regnen, werden alle<br />
aufatmen, nur einer nicht: Ich. Tag und Nacht bin ich besessen von dem<br />
Gedanken, dass mein Leben endgültig verloren ist. Vergangenheit: Null.<br />
Die habe ich für Nebensächlichkeiten weggeworfen. Gegenwart: Null. Hier<br />
haben Sie mein Leben und meine Liebe: Wo soll ich hin damit?<br />
19
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
AN V. I. NEMIROVIČ-DANČENKO, JALTA, 24.11.1899<br />
Lieber Vladimir Ivanovič,<br />
Natürlich langweile ich mich hier verzweifelt. Tagsüber arbeite ich, und gegen Abend beginne ich<br />
mich zu fragen, was ich tun, wohin ich gehen soll, – während bei euch im Theater der zweite Akt<br />
läuft, liege ich bereits im Bett. Ich stehe auf, wenn es noch dunkel ist, stell dir das vor, es ist dunkel,<br />
der Wind heult, der Regen trommelt.<br />
In deinem Brief klingt eine kaum hörbare Note an, die sirrt wie bei einer alten Glocke, – und zwar<br />
dort, wo du vom Theater schreibst, davon, wie dich die Kleinigkeiten des Theateralltags ermüden.<br />
Oh, werd nicht müde, werd nicht gleichgültig! Das Künstlertheater – das sind die besten Seiten jenes<br />
Buches, das einmal über das moderne russische Theater geschrieben werden wird. Dieses<br />
Theater ist dein Stolz, und es ist das einzige Theater, das ich liebe, auch wenn ich noch kein einziges<br />
Mal drin war. Wenn ich in Moskau lebte, dann würde ich versuchen, bei euch in die Verwaltung<br />
einzutreten, und sei es als Nachtwächter, um wenigstens ein bisschen zu helfen und nach<br />
Möglichkeit zu verhindern, dass du gleichgültig wirst gegenüber dieser liebenswerten Institution.<br />
Es gießt in Strömen, im Zimmer ist es warm. Bleib gesund, fröhlich, glücklich. Ich drücke dir fest<br />
die Hand. Grüß Ekaterina Nikolaevna und alle im Theater, und vor allem – Olga Leonardovna.<br />
Dein A. Čechov.<br />
TEXTAUSZUG, Dritter Akt<br />
SONJA<br />
Was soll man machen, man muss nun mal leben, auch wenn man gar nicht<br />
will. (Pause) Wir werden weiterleben, <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>. Einen Tag und noch<br />
einen Tag und immer weiter eine lange Reihe von endlosen Abenden<br />
verbringen. Wir werden arbeiten und alt werden, sterben und dann.....<br />
vielleicht geht’s danach weiter. Ganz anders. Dort werden wir erzählen,<br />
dass wir gelitten und geweint haben, dass wir ein bitteres Leben hatten,<br />
und man wird uns dafür belohnen, dass wir durchgehalten haben. <strong>Wanja</strong>,<br />
wir werden endlich glücklich sein, nichts tut mehr weh, wir werden uns<br />
freuen und auf unser heutiges Unglück mit einem Lächeln zurückblicken –<br />
und dann ruhen wir uns richtig aus. Du weinst ja, <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>. Vielleicht<br />
geht’s danach wirklich weiter, so wie wir es uns immer vorgestellt haben.<br />
Ein anderes Leben, ein richtiges, von vorn bis hinten ein völlig richtiges<br />
Leben. Armer <strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>, Du hast in deinem Leben keine Freude gehabt,<br />
aber warte... wir werden ausruhen, wir werden ausruhen!<br />
20
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
III. DIE INSZENIERUNG<br />
21
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
ASSOZIATIONSMATERIAL<br />
Das erschöpfte Selbst<br />
Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Berlin, 2008.<br />
Die Depression ist eine Krankheit, die sich außerordentlich gut für das Verständnis der zeitgenössischen<br />
Individualität zu Beginn des 21. Jahrhunderts eignet, das heißt der neuen Dilemmata, in<br />
denen sie steckt. Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische<br />
Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den<br />
beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zu persönlicher<br />
Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden.<br />
Die demokratische Moderne – darin liegt ihre Größe – hat uns mehr und mehr zu Menschen ohne<br />
Führer gemacht, uns nach und nach in die Situation versetzt, für uns selbst entscheiden und unsere<br />
eigenen Orientierungen konstruieren zu müssen. Wir sind reine Individuen geworden, und zwar<br />
in dem Sinne, dass uns kein moralisches Gesetz und keine Tradition sagt, wer wir zu sein haben<br />
und wie wir uns verhalten müssen. Damit stellt sich das Problem der regulierenden Grenzen zur<br />
Aufrechterhaltung der inneren Ordnung anders: Die Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen<br />
schwindet zugunsten der Spannung zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen.<br />
Parallel zur Relativierung des Verbotsbegriffs schwindet auch die Bedeutung der Disziplin in der<br />
Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft. Es geht nun weniger um Gehorsam als um Entscheidungen<br />
und persönliche Initiative. Die Depression ist die Tragödie der Unzulänglichkeit. Sie<br />
ist der vertraute Schatten des führungslosen Menschen, der des Projekts, er selbst zu werden, müde<br />
ist.<br />
22
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
FORMALISIERUNG DER LANGEWEILE<br />
Elisabeth Bronfen: Das schöne Scheitern der Sterblichkeit. Zur hysterischen Bildsprache Jürgen<br />
Klaukes. In: Absolute Windstille. Jürgen Klauke - Das fotografische Werk, Ostfildern, 2001<br />
Umgangssprachlich setzt man die Langeweile einem ermüdenden Empfinden von Eintönigkeit und<br />
Ödheit gleich, das aus dem Mangel an Abwechselung, Anregung oder interessanter, reizvoller<br />
Beschäftigung entsteht. Doch das bedeutet auch, die Langeweile tritt genau dann ein, wenn die<br />
imaginären und symbolischen Prothesen der Ablenkung – ob Arbeit, Liebe oder Unterhaltung –<br />
versagen, die uns erlauben, ein Wissen um die Leere, die dem Leben eigen ist, schützend<br />
abzudichten. Die Langeweile läßt somit jenen traumatischen Kern der menschlichen Existenz<br />
sichtbar werden, den wir verdrängen müssen, um im Alltag funktionieren zu können. Weil die<br />
Langeweile einem auf die Nerven geht, einen quält und als unerträglich, trostlos und zugleich<br />
lähmend wahrgenommen wird, spricht man davon, daß man sie vertreiben muß. Man ist bereit,<br />
selbst unsinnige Handlungen zu unternehmen oder belanglose Beziehungen einzugehen, »aus<br />
reiner, purer Langeweile«. Nimmt man zudem Redewendungen beim Wort, die davon sprechen,<br />
daß man vor lauter Langeweile ›fast‹ einschläft oder sogar ›fast‹ stirbt, läßt sich auch<br />
folgern: Ein zu langes Weilen bedeutet eine Situation, in der man sich zu ausgiebig irgendwo<br />
aufhält, zu sehr im zeitlichen wie räumlichen Sinne irgendwo anwesend ist, und dadurch in eine<br />
Grenzsituation todähnlicher Lähmung oder Erschlaffung gerät.<br />
23
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
Ample Food for stupid thought<br />
Die in der Inszenierung verwendeten Sätze der Laufschrift sind aus Ample Food for stupid thought<br />
von Robert Filliou. Robert Filliou: Ample Food for stupid thought. New York 1965.<br />
Why even pretend?<br />
Would you like to die of old age?<br />
Why did you get up this morning?<br />
Why not work?<br />
Can't you stay a few days?<br />
How much ist too much?<br />
What are you afraid of?<br />
What if Lenin hadn't lived?<br />
24
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
PRESSESTIMMEN<br />
Es ist dies zuallererst Sonjas Abend [...]. Anna Drexler [ist] in dieser Rolle schlicht ein Ereignis, hinreißend<br />
in ihrem leuchtenden Beisichsein und der so natürlich wirkenden Treffsicherheit, mit der<br />
sie ihre Blicke, Gesten und Sätze setzt. Anna Drexler? Nein kein Ensemblemitglied, sondern Schülerin<br />
an der Otto-Falckenberg-Schule, als solche jüngst ausgezeichnet mit dem O. E. Hasse-Preis.<br />
Eine Entdeckung. [...]. Alles altbekannt Tschechowselige vermeidet hier tunlichst die Regie, indem<br />
sie auf Abstraktion statt Ambiente setzt, [...], die starke Konzentration und enorm formwillige Konsequenz,<br />
mit der diese Art der Tschechow-Kernspintomografie von Henkel / Simons durchgezogen<br />
wird, ist doch sehr bezwingend.<br />
Süddeutsche Zeitung<br />
Dem Regie-Duo ging es nicht um fein ziselierte Charakterstudien oder psychologische Figurenzeichnung.<br />
Bereits der schwarze Mini-Guckkasten, den Muriel Gerstner an die Rampe im Schauspielhaus<br />
gebaut hat, erinnert an ein Kasperltheater. [...] Die Inszenierung arbeitet durch ihre formale<br />
Strenge, ihre Reduktion von Spiel und Text sehr überzeugend eben jene Erstarrung heraus,<br />
in der die Gesellschaft so hilflos gefangen ist. [...] Standing Ovations und Jubel, [...].<br />
<strong>Münchner</strong> Merkur<br />
Das Grundkonzept und die szenische Setzung durch den genialen Bühnenraum von Muriel Gerstner<br />
ist aus der Arbeit von Karin Henkel entstanden und so ist diese Inszenierung sicherlich ihr<br />
Kind, das Johan Simons aus der Taufe gehoben hat und dem das großartige Ensemble nun in den<br />
<strong>Münchner</strong> <strong>Kammerspiele</strong>n einen riesigen Erfolg erspielte.<br />
Deutschlandradio Kultur<br />
Das Tschechow'sche Als-ob setzen Karin Henkel und Johan Simons noch einmal in einen Trauerrand.<br />
Im schwarzen Rahmen drängen sich die Menschen, oder vielmehr was von ihnen noch geblieben<br />
ist. [...] "<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>" ist das große Theater der Wiederholungen, ein Karussell aus ebenso<br />
schnell erwachten wie wieder zerstörten Hoffnungen, aus Wünschen und Wodka.<br />
Die Welt<br />
Samuel Beckett und Thomas Bernhard lassen grüßen...So modern in das absolut Absurde gezogen,<br />
in einen ausweglosen Nihilismus gehüllt, hat man Tschechows Drama "<strong>Onkel</strong> <strong>Wanja</strong>" noch nie<br />
gesehen. An den <strong>Münchner</strong> <strong>Kammerspiele</strong>n gelang Intendant Johan Simons, der die Inszenierung<br />
für die erkrankte Karin Henkel übernommen hatte, ein überwältigender Geniestreich. Der Applaus<br />
wollte nicht enden nach mehr als zwei Stunden bei russischer Tristesse.<br />
Augsburger Allgemeine<br />
25
ONKEL WANJA von ANTON TSCHECHOW<br />
Material zur Inszenierung<br />
Zu sehen ist die seit langer Zeit wohl dichteste und durchdachteste Inszenierung in München. Henkels<br />
(und Simons') Regie ist tatsächlich eine doppelte. Einerseits wird der "<strong>Wanja</strong>" als fortlaufende,<br />
fast klinische Depressionsstudie überzeichnet [...]. Andererseits wird Tschechows latente Hysterie<br />
unterspielt. Während die Szene ein Spruchband mit englischem Text regiert [...], agieren die<br />
Schauspieler mitunter wie nicht ganz fein justierte, vortragende Textautomaten, artistisch nahe<br />
dran an der Monotonie: ausgebrannt und fast verloschen, aber ewige Wiedergänger ihrer Worte.<br />
Stuttgarter Zeitung<br />
Langeweile ist das einzige Thema der Reichen ohne Lebensaufgabe, und Langeweile entwickelt<br />
hier auch fast ohne Aktion einen spannenden Sog. Das Kasperltheater ist ein tragisches. Benny<br />
Claessens, [...], lässt seine Leibesfülle auf die Rampe plumpsen - ein trauriger Kasper <strong>Wanja</strong>, der<br />
seine Verzweiflung übers vergeudete Leben erstaunlich gefasst äußert, mit großen, naiven Augen.<br />
Gretel ist Sonja, die sich immer wieder aufrappelt zum Weitermachen: Anna Drexler, 23-jährige Absolventin<br />
der Falckenberg-Schule, spielt das hässliche, bebrillte Mauerblümchen glänzend und anrührend<br />
mit lakonischer Komik.<br />
Abendzeitung<br />
Anna Drexler, noch Falckenbergschülerin, gibt mit einem verblüffenden Nuancenreichtum, mit einer<br />
formalen Klarheit und Genauigkeit die Sonja. Die hat Kraft, Humor und ist eben nicht nur die<br />
Bemitleidenswerte. Immer wieder bringt sie mit ihren kleinen Einwürfen, einer frischen Entschiedenheit<br />
des Tons die Leute zum Lachen, ja zu Szenenapplaus.<br />
tz<br />
Henkels und Simons' Inszenierung findet in ihrer formalen Strenge, plakativen Zeichenhaftigkeit<br />
und radikalen Reduktion einen überzeugenden Zugriff auf den Text und veranschaulicht die Monotonie,<br />
Langeweile und Leere eines Lebens im Stillstand mitunter fast quälend. [...] Letztlich aber<br />
gelingt dem Regieduo ein auf einem schlüssigen Konzept basierendes, bestechend konzentriertes<br />
und dichtes Porträt einer in Lähmung verharrenden Gesellschaft, das die Zuschauer mit stürmischen<br />
Applaus feierten.<br />
www.nachtkritik.de<br />
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