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Hinweise zur exegetischen Arbeit - Universität zu Köln

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Prof. Dr. Martin Avenarius<br />

INSTITUT FÜR RÖMISCHES RECHT – UNIVERSITÄT ZU KÖLN<br />

<strong>Hinweise</strong> <strong><strong>zu</strong>r</strong> <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong><br />

Die nachfolgenden <strong>Hinweise</strong> verstehen sich als eine Kurzanleitung <strong>zu</strong> exegetischem<br />

<strong>Arbeit</strong>en, die <strong>zu</strong>dem auf die klausurmäßige Bearbeitung von Quellen des römischen Rechts<br />

ausgerichtet ist. Ausführlichere Anleitungen sind bei den Literaturhinweisen zitiert. Dort<br />

finden Sie auch Angaben <strong>zu</strong> einigen Musterexegesen, anhand derer sich die hier als<br />

„Trockenübung“ vorgestellte exegetische <strong>Arbeit</strong> an konkreten Rechtstexten nachvollziehen<br />

läßt.<br />

Insbesondere der Hauptteil der Quellenexegese, die juristische Erörterung des Rechtstextes,<br />

läßt sich nicht rein theoretisch anhand eines „Prüfungsschemas“ erlernen. Ebenso wie die<br />

juristische Klausurtechnik lernt man auch das exegetische <strong>Arbeit</strong>en nur dadurch, daß man es<br />

an konkreten Quellentexten einübt. Daher sei jedem, der sich eingehender mit dem<br />

römischen Recht befassen möchte, der Besuch des romanistischen Seminars empfohlen.<br />

Die Quellenexegese ist die Grundlage jeder romanistischen <strong>Arbeit</strong>. Mit dem Ausdruck<br />

„Quellenexegese“ wird die Auslegung oder Interpretation (Exegese) eines antiken<br />

Rechtstextes (Quelle) bezeichnet. Handelt es sich bei der aus<strong>zu</strong>legenden Quelle um ein<br />

Fragment der Digesten, der Sammlung klassischer Juristenschriften des Kaisers Justinian<br />

von 533 n. Chr., so spricht man von einer „Digestenexegese“.<br />

Wenn man sich verdeutlicht, daß wir unsere Kenntnis des römischen Rechts nur der<br />

Überlieferung von antiken Texten bis in unsere Zeit verdanken, so wird erkennbar, weshalb<br />

der <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong> ein solcher Stellenwert in der Wissenschaft vom römischen Recht<br />

<strong>zu</strong>kommt. Denn die antiken Texte sprechen nicht unmittelbar <strong>zu</strong> uns, sie wurden nicht in der<br />

Absicht verfaßt, einem Juristen des 21. Jahrhunderts römisches Recht <strong>zu</strong> erklären. Vieles an<br />

ihnen scheint dem modernen Juristen unverständlich, etwa weil sie Kenntnisse<br />

voraussetzen, die ein römischer Jurist selbstverständlich besaß, die uns heute aber fehlen.<br />

Wenn wir trotz unserer Verständnisprobleme aus den antiken Texten Kenntnisse über die<br />

Entwicklung des römischen Rechts gewinnen wollen, so müssen wir sie interpretieren, also<br />

exegetisch bearbeiten.<br />

Ebenso wie die Methode der Subsumtion im Gutachtenstil erlernt werden muß, um das<br />

geltende Recht unter Beachtung aller relevanten Gesichtspunkte anwenden <strong>zu</strong> können, so<br />

ist auch die Beherrschung der <strong>exegetischen</strong> Methode unerläßlich, um einen antiken<br />

Rechtstext unter Einbeziehung aller sinnvollen Aspekte <strong>zu</strong> interpretieren. Es bietet sich an,<br />

die Exegese etwa nach der hier vorgeschlagenen Einteilung I - VII <strong>zu</strong> gliedern. Die Erfahrung<br />

lehrt, daß es die Klarheit und Stringenz des eigenen Gedankengangs fördert, wenn man sich<br />

da<strong>zu</strong> zwingt, nicht wahllos alles Wissen nieder<strong>zu</strong>schreiben, sondern nur die konkrete<br />

Aufgabe <strong>zu</strong> bearbeiten. Dies will das folgende Schema erleichtern. Danach gliedert sich eine<br />

Quellenexegese in:<br />

I. Wiedergabe des Quellentextes und Überset<strong>zu</strong>ng<br />

II. Erläuterung der Inskription<br />

III. Textkritik<br />

IV. Paraphrase<br />

V. Rechtsfrage und Entscheidung des Juristen<br />

VI. Erörterung<br />

VII. Vergleich mit dem geltenden Recht<br />

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Prof. Dr. Martin Avenarius<br />

INSTITUT FÜR RÖMISCHES RECHT – UNIVERSITÄT ZU KÖLN<br />

Im einzelnen:<br />

I. Wiedergabe des Quellentextes und Überset<strong>zu</strong>ng<br />

Die Exegese sollte mit einer Wiedergabe des (lateinischen) Quellentextes und einer<br />

selbständig an<strong>zu</strong>fertigenden Überset<strong>zu</strong>ng beginnen. Hinsichtlich der Überset<strong>zu</strong>ng ist es<br />

notwendig, sich den folgenden Zusammenhang <strong>zu</strong> verdeutlichen: Jede Überset<strong>zu</strong>ng ist<br />

immer auch schon Interpretation eines Textes. Eine „1 : 1“ - Übertragung eines Textes von<br />

einer Sprache in die andere ist unmöglich, da eine Überset<strong>zu</strong>ng stets einige<br />

Deutungsvarianten ausschließt, die im Originaltext enthalten sind, und solche hin<strong>zu</strong>fügt, die<br />

der Originaltext nicht enthält. Aus dieser Einsicht folgt für die eigene Überset<strong>zu</strong>ng zweierlei:<br />

Zum einen kann die <strong>zu</strong> Beginn der <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong> angefertigte Überset<strong>zu</strong>ng nur eine<br />

Rohüberset<strong>zu</strong>ng sein. Denn wie jede Überset<strong>zu</strong>ng ist auch sie eine Interpretation, allerdings<br />

eine inhaltlich gewissermaßen noch unreflektierte Interpretation, da sich die eigentlich<br />

inhaltliche Auseinanderset<strong>zu</strong>ng mit dem Text ja erst an die Rohüberset<strong>zu</strong>ng anschließt. Man<br />

kann sie daher als ein erstes Zwischenergebnis betrachten. Erst nach Abschluß der<br />

inhaltlichen Interpretation, der eigentlichen Exegese, kann man dann <strong>zu</strong> einem endgültigen<br />

Überset<strong>zu</strong>ngsergebnis gelangen.<br />

Zum anderen ergibt sich aus der Erkenntnis, daß Überset<strong>zu</strong>ng immer auch Interpretation<br />

bedeutet, zwingend die Notwendigkeit, den lateinischen Text, nicht seine Überset<strong>zu</strong>ng, <strong><strong>zu</strong>r</strong><br />

Grundlage und <strong>zu</strong>m Gegenstand der <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong> <strong>zu</strong> machen. Die eigene<br />

Überset<strong>zu</strong>ng verfolgt daher nur den Zweck, den lateinischen Text „in den Griff <strong>zu</strong><br />

bekommen“ und damit der <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong> mit einem vorläufig gesicherten, fixierten<br />

Textverständnis ein festes Fundament <strong>zu</strong> verschaffen. Zudem weiß ein Leser der Exegese<br />

dann, welches Textverständnis der folgenden Interpretation <strong>zu</strong>grunde liegt. Aus alldem ergibt<br />

sich weiterhin, daß fremde Überset<strong>zu</strong>ngen zwar hilfsweise bei der eigenen Überset<strong>zu</strong>ng<br />

herangezogen werden dürfen, diese aber keinesfalls ersetzen können, geschweige denn <strong><strong>zu</strong>r</strong><br />

Grundlage der Exegese gemacht werden dürfen.<br />

Sollte eine Quellenexegese in Klausurform <strong>zu</strong> schreiben sein, kann auf Textwiedergabe und<br />

Überset<strong>zu</strong>ng verzichtet werden, da beides sich bereits auf dem Aufgabenblatt befinden wird.<br />

(Insbesondere die Klausur im Grundkurs „Römische Rechtsgeschichte“ setzt keine<br />

Lateinkenntnisse voraus.)<br />

II. Inskription<br />

Die sog. Inskription ermöglicht es, die Quelle <strong>zu</strong> identifizieren und dadurch in ihren<br />

juristischen, historischen und spezifisch wissenschaftsgeschichtlichen Kontext ein<strong>zu</strong>ordnen,<br />

aus dem heraus eine Interpretation erst möglich wird. Nur wenn man weiß, von wem ein Text<br />

in welcher Situation und für welchen Adressatenkreis verfaßt wurde, kann man seinen Inhalt<br />

verstehen.<br />

Mit dem Ausdruck „Inskription“ bezeichnet man den „Herkunftsnachweis“ eines antiken<br />

Rechtstextes. Die Inskription nennt den Autor und das Werk sowie die konkrete Stelle<br />

innerhalb des Werkes, dem der Text entnommen ist. Weitere Angaben können<br />

hin<strong>zu</strong>kommen: Ist etwa der Text innerhalb der justinianischen Digesten überliefert, so ist<br />

<strong>zu</strong>sätzlich vermerkt, an welcher Stelle innerhalb der Digesten sich das Textfragment<br />

befindet. Zumindest ein Teil dieser Angaben wird in der Inskription abgekürzt<br />

wiedergegeben. Zum Beispiel bezeichnet die Inskription „Pomponius libro nono ad Sabinum<br />

D. 18,1,6,2“ einen Text, den Pomponius im neunten Buch seines Sabinuskommentars<br />

schrieb, und der in den Digesten im 18. Buch, in dessen 1. Titel, dessen 6. lex und darin in<br />

§ 2 steht.<br />

Im Rahmen der Quellenexegese stellt sich nun die Aufgabe, diese teils abgekürzten<br />

Angaben auf<strong>zu</strong>lösen und kurz <strong>zu</strong> erläutern. Der Autor sollte durch einige <strong>Hinweise</strong> <strong>zu</strong> Leben<br />

und Werk (soweit möglich) in einen historischen und insbesondere auch<br />

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wissenschaftsgeschichtlichen Kontext eingeordnet werden. Desgleichen ist sowohl das<br />

konkrete Werk, dem die <strong>zu</strong> bearbeitende Quelle entstammt, als auch die Werkgattung, der<br />

es angehört, juristisch und wissenschaftsgeschichtlich <strong>zu</strong> verorten. Schließlich sind die<br />

Angaben <strong><strong>zu</strong>r</strong> Überlieferung, etwa in den Digesten, auf<strong>zu</strong>lösen. Nennt die Textstelle weitere<br />

Personen oder Werke, etwa weil im Text die Meinungen anderer Juristen wiedergegeben<br />

werden, so sind auch diese <strong>zu</strong> identifizieren und in ihren juristischen, historischen und<br />

spezifisch wissenschafts-geschichtlichen Kontext ein<strong>zu</strong>ordnen.<br />

Ebenso wie die Überset<strong>zu</strong>ng dient damit auch die Erläuterung der Inskription da<strong>zu</strong>, sich der<br />

Grundlagen einer inhaltlichen Interpretation des Textes <strong>zu</strong> versichern. Diese Aufgabe<br />

erfordert <strong>zu</strong>mindest diejenigen Grundkenntnisse der Quellen des römischen Rechts, die in<br />

der Vorlesung <strong><strong>zu</strong>r</strong> römischen Rechtsgeschichte vermittelt werden.<br />

III. Textkritik<br />

In einem nächsten Schritt ist der Text daraufhin kritisch <strong>zu</strong> überprüfen, ob die überlieferte<br />

Fassung tatsächlich die Originalversion wiedergibt, oder ob im Laufe der Jahrhunderte<br />

Textveränderungen stattgefunden haben. Diese sogenannte Textkritik verfolgt das Ziel, den<br />

Originalwortlaut der Quelle fest<strong>zu</strong>stellen. Dieser Teil der Quellenexegese dient also da<strong>zu</strong>,<br />

Einsicht in die jeweils speziellen Probleme der Textüberlieferung <strong>zu</strong> gewinnen und von<br />

dieser Basis ausgehend eine lateinische Textfassung <strong>zu</strong> konstituieren, die der weiteren<br />

Exegese <strong>zu</strong>grundeliegen soll.<br />

Denn hinsichtlich des Quellentextes besteht folgendes Problem, welches wir mit Hilfe der<br />

Textkritik <strong>zu</strong> beheben versuchen: Kein antiker Rechtstext ist unmittelbar, in seiner ersten,<br />

originalen Fassung bis in unsere Zeit überliefert. Insofern gilt für Papyrusrollen und die sie<br />

als Textmedium ablösenden Pergamentcodices nichts anderes als für sonstige materielle<br />

Hinterlassenschaften der Antike: Kaum etwas ist uns erhalten, das meiste zerfiel, ging<br />

verloren oder wurde zerstört. Mit dem Verlust der Papyrusrolle oder des Pergamentcodex<br />

ging jedoch nicht immer auch der Verlust des Textes einher: Vielfach existierten Abschriften<br />

des Textes, denn in der Antike und auch im Mittelalter war das Abschreiben von Texten der<br />

einzige Weg ihrer Vervielfältigung. Jeder Text wurde somit über die Jahrhunderte<br />

mindestens einmal, meist häufiger abgeschrieben. Nur diese Abschriften, nicht aber die<br />

Originalfassungen haben bis in unsere Zeit überdauert. Das Problem besteht nun darin, daß<br />

Abschriften durch unbewußte Fehler oder durch bewußte Änderungen vom Originaltext<br />

abweichen können - und dies in der Regel an einigen Stellen auch tun. Bei manchen<br />

Rechtstexten ist daher nicht klar, ob sie in der uns überlieferten Fassung auf den römischen<br />

Juristen selbst als Autor oder auf die Fehler bzw. Eingriffe eines antiken oder<br />

mittelalterlichen Abschreibers <strong><strong>zu</strong>r</strong>ückgehen.<br />

Da wir das antike römische Recht erforschen, ist es für uns von elementarer Bedeutung, ob<br />

die inhaltliche Aussage einer Quelle, aus der wir unser Wissen schöpfen, tatsächlich von<br />

einem bestimmten römischen Juristen stammt oder etwa von einem fehlerhaft arbeitenden<br />

mittelalterlichen Abschreiber verändert wurde. Im letzteren Fall wäre die inhaltliche Aussage<br />

der Quelle in der überlieferten Form für unsere Zwecke völlig wertlos.<br />

Als textkritisch bezeichnet man nun diejenigen Methoden, mit deren Hilfe versucht wird, den<br />

Originalwortlaut von Texten fest<strong>zu</strong>stellen bzw. nötigenfalls <strong>zu</strong> rekonstruieren. Man<br />

unterscheidet dabei die ‚niedere’ von der ‚höheren’ Textkritik. Die ‚niedere’ Textkritik<br />

beschränkt sich darauf, die ursprüngliche Textgestalt möglichst wiederher<strong>zu</strong>stellen.<br />

Demgegenüber fragt die ‚höhere’ Textkritik danach, ob der Text inhaltlich glaubwürdig ist,<br />

welchem Autor er <strong>zu</strong><strong>zu</strong>schreiben ist und ob sich in ihm sogenannte Interpolationen, d.h.<br />

absichtliche Textveränderungen durch einen anderen als den Autor, finden. Diese <strong>zu</strong>meist<br />

nach inhaltlichen Kriterien <strong>zu</strong> klärenden Fragen der ‚höheren’ Textkritik sind erst bei der<br />

juristischen Erörterung der Quelle <strong>zu</strong> behandeln.<br />

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Punkt III der Exegese dient hingegen da<strong>zu</strong>, sich ihres Gegenstandes, des lateinischen<br />

Textes, <strong>zu</strong> versichern. Daher ist an dieser Stelle ‚niedere’ Textkritik mit dem Ziel der<br />

Konstitution des Originaltextes <strong>zu</strong> betreiben. Hier<strong>zu</strong> sind als Hilfsmittel kritische<br />

Textausgaben heran<strong>zu</strong>ziehen, welche neben einer Textfassung auch abweichende Lesarten<br />

anderer Abschriften des antiken Textes sowie Parallelüberlieferungen in anderen antiken<br />

Quellen verzeichnen. Mit Hilfe des sogenannten kritischen Apparates kann man sich ein Bild<br />

von der Überlieferungssituation des Textes machen. (Wegen der Notwendigkeit, mit<br />

kritischen Textausgaben <strong>zu</strong> arbeiten, spielt die Textkritik in einer in Klausurform <strong>zu</strong><br />

schreibenden Quellenexegese keine Rolle.)<br />

IV. Paraphrase<br />

Paraphrase bedeutet Umschreibung. Dieser Teil der Exegese erfordert eine Wiedergabe des<br />

Inhalts der Textstelle mit eigenen Worten. Sinn und Zweck der Paraphrase ist es <strong>zu</strong>nächst,<br />

sicher<strong>zu</strong>stellen, daß man den inhaltlichen Kern des Textfragments erfaßt hat. Außerdem<br />

können hier weitere Angaben <strong>zu</strong>m Zusammenhang des jeweiligen Problems ergänzt werden.<br />

Römische Rechtstexte sind nämlich mitunter so knapp formuliert, daß das Verständnis z.B.<br />

des behandelten Sachverhalts weitere Angaben erfordert.<br />

Wichtig ist hier, sich darauf <strong>zu</strong> konzentrieren, nur den Inhalt der Textstelle mit eigenen<br />

Worten wieder<strong>zu</strong>geben, nicht etwa schon mit der Interpretation <strong>zu</strong> beginnen. Auf die<br />

Verwendung selbständiger Formulierungen ist <strong>zu</strong> achten, da man daran <strong><strong>zu</strong>r</strong> eigenen<br />

Kontrolle sein Textverständnis messen kann. Wer einen Text nicht in eigenen Worten<br />

wiedergeben, sondern bloß den Wortlaut der Überset<strong>zu</strong>ng abschreiben kann, hat ihn im<br />

Zweifel nicht verstanden.<br />

Handelt es sich bei der Textstelle um eine Fallentscheidung eines römischen Juristen, so ist<br />

Punkt IV (Paraphrase) der Exegese streng von Punkt V (Rechtsfrage und Entscheidung)<br />

ab<strong>zu</strong>grenzen. Unter Punkt IV ist im Rahmen der Paraphrase der der Entscheidung des<br />

Juristen <strong>zu</strong>grundeliegende Sachverhalt mit eigenen Worten dar<strong>zu</strong>stellen. Da in den<br />

römischen Rechtstexten der Sachverhalt häufig mit den Entscheidungsbegründungen<br />

verwoben ist, ist dies keine leichte Aufgabe. Sie erfordert eine klare Isolierung des<br />

<strong>zu</strong>grundeliegenden Lebenssachverhalts von sämtlichen aufgeführten juristischen<br />

Bewertungen.<br />

V. Rechtsfrage und Entscheidung des (oder der) Juristen<br />

Hier gilt es, das in der Quelle behandelte juristische Problem und seine Lösung(en) abstrakt,<br />

d.h. losgelöst von einem eventuell geschilderten Lebenssachverhalt, <strong>zu</strong> erfassen. In<br />

Umkehrung des <strong>zu</strong> Punkt IV Gesagten geht es bei Punkt V also um die Isolierung der<br />

juristischen Aspekte vom Lebenssachverhalt. Die Exegese sollte auch an dieser Stelle kurz<br />

und prägnant sein, sich mithin auf die Herausarbeitung der Rechtsfrage und ihrer<br />

Entscheidung beschränken, ohne auf den Sachverhalt oder die Entscheidungsbegründungen<br />

ein<strong>zu</strong>gehen.<br />

Wie bereits unter IV. angedeutet, behandelt nur ein Teil der römischen Rechtstexte<br />

Fallentscheidungen römischer Juristen. Nur dieser Teil der Texte läßt sich nach dem hier<br />

<strong>zu</strong>grundegelegten Schema streng in Paraphrase des Sachverhalts, Rechtsfrage und<br />

Entscheidung des Juristen aufgliedern. Andere Texte geben etwa nur eine Definition oder<br />

eine Rechtsregel ohne konkreten Fallbe<strong>zu</strong>g wieder, oder sie führen eine Gliederung eines<br />

Rechtsgebietes nach Ober- und Unterbegriffen ein. Hier gilt es, sich erneut vor Augen <strong>zu</strong><br />

führen, daß das hier vorgestellte „Prüfungsschema“ der Quellenexegese kein Selbstzweck<br />

ist, sondern eine Anleitung und ein Hilfsmittel <strong>zu</strong> exegetischem <strong>Arbeit</strong>en, das mit Verstand<br />

benutzt werden will: Wo etwa der Quellentext keinen Lebenssachverhalt enthält, läßt sich ein<br />

solcher auch nicht streng nach Schema paraphrasieren. Die Punkte IV und V dienen nur<br />

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da<strong>zu</strong>, den Inhalt des Textes klar heraus<strong>zu</strong>arbeiten, wobei man häufig zweckmäßigerweise<br />

zwischen der Wiedergabe des Sachverhalts einerseits (IV) und der Darstellung des<br />

juristischen Problems andererseits (V) differenzieren sollte.<br />

VI. Juristische Erörterung<br />

Dieser Punkt der Exegese bildet ihren Hauptteil, hier findet die eigentliche Interpretation<br />

statt. Die juristische Erörterung ist daher der schwierigste, aber auch der wichtigste Teil der<br />

Quellenexegese. Hier findet statt, was den Kern der romanistischen <strong>Arbeit</strong> ausmacht: Die<br />

Gewinnung von Erkenntnissen über das römische Recht aus den Quellen. Von dem<br />

Sonderfall abgesehen, daß man eine konkrete Frage <strong>zu</strong> beantworten hat, versucht man in<br />

der Erörterung daher (auch wenn dies in einer Klausur nur ansatzweise möglich ist), dem<br />

antiken Text alle Aussagen über seinen Gegenstand, die er nur irgend enthält,<br />

ab<strong>zu</strong>gewinnen.<br />

Deshalb erfordert Punkt VI der Exegese, den Text inhaltlich unter allen sinnvollen<br />

Gesichtspunkten <strong>zu</strong> erörtern. Wie dies im einzelnen aussieht, läßt sich nicht allgemein<br />

vorschreiben. Die sinnvollerweise <strong>zu</strong> erörternden Aspekte ergeben sich immer erst aus dem<br />

Inhalt der konkreten Quellenstelle, sie heraus<strong>zu</strong>arbeiten stellt bereits einen bedeutenden Teil<br />

der <strong>exegetischen</strong> <strong>Arbeit</strong> dar.<br />

Verlangt wird eine Erklärung des Inhalts der Quellenstelle. Dies geschieht etwa dadurch, daß<br />

man die Aussage der Quelle in Be<strong>zu</strong>g setzt <strong>zu</strong> dem sonstigen Wissen, das wir über dieses<br />

Thema besitzen. Häufig gelingt dies, indem man die Kernbegriffe der Quelle betrachtet und<br />

vergleicht, ob sie in dem Quellentext mit dem gleichen Gehalt und in dem gleichen<br />

Zusammenhang gebraucht werden, wie man es selbst bisher gelesen und gelernt hat.<br />

Unabhängig davon, ob man nun eine Übereinstimmung oder eine Abweichung feststellt,<br />

sollte man versuchen, das Ergebnis <strong>zu</strong> den Befunden der Inskription in Beziehung <strong>zu</strong> setzen,<br />

sich also beispielsweise fragen, wie sich ein solches Begriffsverständnis des Autors vor dem<br />

Hintergrund seiner wissenschaftsgeschichtlichen Stellung erklären läßt.<br />

An diesem Punkt in der Exegese ist auch der Ort, sich mit eventuell in der Quelle<br />

aufgeführten Entscheidungsbegründungen oder sonstigen juristischen Wertungen<br />

auseinander<strong>zu</strong>setzen. Ist z.B. der Argumentationsgang des Juristen ohne weiteres<br />

nachvollziehbar oder sind bestimmte Vorannahmen nicht genannt, sondern müssen erst aus<br />

der Argumentation erschlossen werden? Inwiefern stimmt der Argumentationsgang mit der<br />

sonstigen, bekannten <strong>Arbeit</strong>sweise des Juristen überein? Mitunter finden sich keinerlei<br />

Begründungen für eine Entscheidung, in diesem Fall muß eine Rekonstruktion versucht<br />

werden.<br />

In diesem Zusammenhang werden, wenn es da<strong>zu</strong> Anlaß gibt, auch die Leitfragen der<br />

‚höheren’ Textkritik (vgl. III) erörtert. Ist der Text authentisch, d.h. stammt er tatsächlich von<br />

dem antiken Autor, dem er <strong>zu</strong>geschrieben wird? Ist er inhaltlich glaubwürdig oder treten etwa<br />

nicht <strong>zu</strong> erklärende Widersprüche <strong>zu</strong> Aussagen anderer Quellen auf? Gibt es Anhaltspunkte<br />

dafür, daß anders nicht <strong>zu</strong> erklärende, inhaltliche Auffälligkeiten des Textes auf Eingriffe<br />

fremder Bearbeiter <strong><strong>zu</strong>r</strong>ückgehen, d.h. sog. Interpolationen sind?<br />

VII. Vergleich mit dem geltenden Recht<br />

Abschließend ist ein kurzer Vergleich mit dem geltenden Recht an<strong>zu</strong>stellen. Es ist<br />

dar<strong>zu</strong>legen, wie sich das jeweilige Rechtsinstitut im modernen Recht entwickelt hat. Falls die<br />

Rechtseinrichtung sich im modernen Recht nicht findet, ist danach <strong>zu</strong> fragen, auf welchem<br />

Wege man das von der Quelle aufgeworfene Rechtsproblem heute löst. Wo es sinnvoll<br />

erscheint, soll sich der Vergleich nicht auf deutsches Recht beschränken, sondern auch<br />

ausländische Rechte einbeziehen.<br />

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