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Agrarreformen in regionaler Perspektive - LernWerkstatt Geschichte ...

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Schneider, <strong>Agrarreformen</strong> 10<br />

und ostdeutschen Territorien gelang dagegen, gleich ob <strong>in</strong> grundherrschaftlichen oder <strong>in</strong><br />

gutsherrschaftlichen Gebieten e<strong>in</strong>e vergleichsweise schnelle Reform, sofern nicht spezielle<br />

naturräumliche H<strong>in</strong>dernisse wie ausgedehnte Heide- und Moorgebiete dem entgegen<br />

standen.<br />

Das deutsche Reich erlebte zwischen 1870 und 1914 e<strong>in</strong>en nahezu beispiellosen Modernisierungs-<br />

und Industrialisierungsschub: es entwickelte sich vom Markt für englische<br />

Industrieprodukte zu e<strong>in</strong>em scharfen Konkurrenten der englischen Industrie. 46 Die<br />

Rolle der Landwirtschaft bei diesem rasanten Wandel kann nicht unterschätzt werden:<br />

durch Produktionssteigerungen konnte die Nahrungsmittelversorgung der schnell wachsenden<br />

<strong>in</strong>dustriellen und städtischen Bevölkerung gesichert werden. Dabei blieb die<br />

deutsche Landwirtschaft e<strong>in</strong>erseits zahlenmäßig immer noch bedeutsam, andererseits<br />

kle<strong>in</strong>- und mittelbäuerlich strukturiert. Deutschland wurde beides: e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong>e führende<br />

Industrienation, anderseits blieb es e<strong>in</strong>e Agrarnation. Dabei standen sich agrarische<br />

und <strong>in</strong>dustrielle Regionen teilweise krass gegenüber, wurde der Abstand zwischen<br />

ihnen im Vergleich zur vor<strong>in</strong>dustriellen Periode deutlich größer. 47 Dieses doppelte<br />

Deutschland spiegelt sich auch <strong>in</strong> dem regional differenzierten Fortgang der <strong>Agrarreformen</strong><br />

wider. Der Modernisierungsprozeß geriet jedenfalls <strong>in</strong> diesen Bereichen <strong>in</strong>s Stocken,<br />

die Flurbere<strong>in</strong>igung blieb bis weit <strong>in</strong> das 20. Jahrhundert e<strong>in</strong>e zentrale Aufgabe.<br />

Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ ist e<strong>in</strong> bekannter, wenngleich fragwürdiger<br />

Topos zur Beschreibung gesellschaftlicher gesellschaftlicher und <strong>regionaler</strong> Ungleichgewichtigkeit<br />

ist. Dabei führt gerade diese Wertung für das Kaiserreich <strong>in</strong> die Irre. Zwar<br />

sprechen die statistischen Daten e<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>bare e<strong>in</strong>deutige Sprache, wenn sie zeigen,<br />

dass spätestens 1895 die Zahl der <strong>in</strong> der Landwirtschaft beschäftigten Personen ger<strong>in</strong>ger<br />

war als die <strong>in</strong> der Industrialisierung beschäftigten Menschen. Aber diese Zahlen haben<br />

nur e<strong>in</strong>e begrenzte Informationskraft, denn e<strong>in</strong>erseits bedeuteten sie nicht, dass die Zahl<br />

der <strong>in</strong> der Landwirtschaft beschäftigten tatsächlich zurück g<strong>in</strong>g (das tat sie erst seit den<br />

1920er Jahren) noch können sie die starken regionalen Disparitäten zeigen, die sich h<strong>in</strong>ter<br />

den globalen Daten verbergen. Aber gerade die regionalen Unterschiede nahmen <strong>in</strong><br />

dieser Phase zu, nicht ab.<br />

Nachdem lange Zeit die agrargeschichtliche Forschung sich auf den Großbetrieb als<br />

verme<strong>in</strong>tlich besonders modernisierungsfähig konzentriert hatte, 48 rückt der bäuerliche<br />

Betrieb erst <strong>in</strong> den letzten Jahren wieder stärker <strong>in</strong> das Blickfeld. Doch s<strong>in</strong>d diese neuen<br />

Forschungen weiterh<strong>in</strong> stark auf die nord- und ostdeutschen Verhältnisse konzentriert,<br />

während die süddeutsche Agrargeschichte <strong>in</strong> dieser <strong>Perspektive</strong> relativ wenig Beachtung<br />

46 David Blackbourn, The Fontana History of Germany 1780-1918. The Long N<strong>in</strong>eteenth Century. London<br />

1997, 313. Zu der aktuellen Debatte jetzt: Hartmut Harnisch, Agrarstaat oder Industriestaat. Die<br />

Debatte um die Bedeutung der Landwirtschaft <strong>in</strong> Wirtschaft und Gesellschaft an der Wende vom 19.<br />

zum 20. Jahrhundert. In: Reif, He<strong>in</strong>z, Hrg.: Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und <strong>in</strong> der Weimarer<br />

Republik. Agrarkrise – junkerliche Interessenpolitik -Modernisierungsstrategien. Berl<strong>in</strong> 1994, 33-<br />

50.<br />

47 Kaelble, Hartmut/Hohls, Rüdiger: Der Wandel der regionalen Disparitäten <strong>in</strong> der Erwerbsstruktur<br />

Deutschlands 1895-1970. In: Bergmann, Jürgen u.a.: Regionen im historischen Vergleich. Studien zu<br />

Deutschland im 19. und 20.Jahrhundert. (Schriften des Zentral<strong>in</strong>stituts für sozialwissenschaftliche Forschungen<br />

der Freien Universität Berl<strong>in</strong>. Bd.55) Opladen 1989, 288-413.<br />

48 Als Beispiel für e<strong>in</strong>e neue E<strong>in</strong>schätzung: He<strong>in</strong>z Reif, Hrg.: Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich<br />

und <strong>in</strong> der Weimarer Republik. Agrarkrise - junkerliche Interessenpolitik -Modernisierungsstrategien.<br />

Berl<strong>in</strong> 1994. Siehe auch Walter Achilles, Agrarkapitalismus und Agrar<strong>in</strong>dividualismus - Leerformeln oder<br />

Abbild der Wirklichkeit? VSWG 81/1994, 494-544.

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