Rede - Wolf Nkole Helzle
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<strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong> <strong>Helzle</strong><br />
I AM WE_IDENTITY<br />
A Social Media Art Project<br />
TTR Technologiepark Tübingen-Reutlingen 25.04. – 26.07.2013<br />
Eröffnung der Ausstellung am 25.04.2013, 18.30 Uhr<br />
Kaum sind wir bekanntermaßen als Jugendliche und junge Erwachsene im Rahmen<br />
des sogenannten psychosozialen Moratoriums den höchst komplexen<br />
Orientierungsproblemen der Suche und Bestimmung eigener Identität halbwegs<br />
entronnen, sehen wir uns – sozusagen kaum in der adoleszenten Gesellschaft<br />
angelangt – angesichts der seit geraumer Zeit unausweichlich scheinenden<br />
Globalisierung (samt deren Chancen und Zwängen) auch schon wieder mit der<br />
Auflösung dieser jäh und jüngst errungen geglaubten Einzigartigkeit unseres Wesens<br />
und Seins konfrontiert. Da haben wir uns doch – von Müttern und von Vätern<br />
behutsam an der Hand genommen – Das kleine Ich-bin-ich gerade erst sehr mühsam<br />
angeeignet, so wie es in der gleichbenamsten, 1972 erschienenen Anleitung der<br />
österreichisch-jüdischen Kinderbuchautorin Mira Lobe (mit Mädchenname Hilde<br />
Mirjam Rosenthal, 1913-1995) anschaulich dargestellt wird, wenn beispielsweise<br />
deren Nilpferd dem noch kindlich erstaunten und weitgehend ichlosen Titelhelden<br />
des Buchs erklärt: „Wer du bist, das weiß ich nicht. Zwar sind deine Stampferbeine<br />
grad so wunderschön wie meine. Aber sonst, du buntes Tier, ist rein gar nichts wie<br />
bei mir. Pony-Fransen, Dackel-Ohr, so was kommt bei mir nicht vor.“<br />
Wenig später dann im juvenilen Curriculum haben wir im Rahmen aller einschlägigen<br />
Casting-Shows, die uns als entmündigte Marionettenpuppen hölzern auf die Bühne<br />
medialer Öffentlichkeit zu zerren trachteten, all den Klums, Bohlens und Konsorten<br />
eine lange Nase gedreht, da wir bereits ein noch längeres Einsehen darin besaßen,<br />
dass ein hässliches Entlein allein noch keinen Frühling macht und auch der<br />
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tausendfach trainierte supercoole Griff an’s eigenmännliche Gemächt noch keinen<br />
Michael Jackson. Cinderella, Traumprinz, Teenage Mutanten, seid gegrüßt! – wir<br />
wussten einst um eigene Qualitäten, die keine noch so normierende Jury auf<br />
Normalmaß zurechtzubiegen vermochte, um vollends kopflos allenfalls Clichés und<br />
Abziehbildschönheiten der Hochglanzmagazine hinterherzuhecheln, um zuletzt und<br />
atemlos als frühzeitig erschlaffte ps-potente und silikonbewehrte Altjugendliche –<br />
Opfer unzeitgemäß pauschaler Abenteurerwähne – im entindividualisierten Lamento<br />
enden zu müssen.<br />
I AM WE – man könnte das Motto ebenso auch umkehren zu WE AM I (also Ich bin<br />
Wir bzw. Wir sind Ich) – hat <strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong> <strong>Helzle</strong> seine Ausstellung hier im TTR betitelt<br />
und er gibt damit schon den entscheidenden Hinweis auf eines der zentralen Themen<br />
seiner bildnerischen Arbeit, das er seit vielen Jahren stringent verfolgt. Mit<br />
Fotografie, Video, Installationen und Performances geht dieser nämlich ebendieser<br />
Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Kollektiv – also dem Verhältnis<br />
von Ich und Wir, Wir und Ich und ihrer je spezifischen Identitätsbildung – nach. Als<br />
technisch versierter und international angesehener Medienkünstler vermag er dieses<br />
ebenso selbstverständlich von seinem Lebens- und Arbeitsort Magolsheim (bei<br />
Münsingen gelegen) aus zu tun, wie er seine Social Media Art-Projekte – zu dem<br />
auch die aktuelle Präsentation zu zählen ist – als Gast des National Visual Arts<br />
Council, Lusaka, Sambia (2005), der Ogaki-Biennale in Japan (2004), der Biennale<br />
media_city Seoul, Südkorea (2007) oder zuletzt auf der Tepekule, Izmir, Türkei<br />
(2013), sowie im Rahmen zahlreicher europäischer und deutscher<br />
Ausstellungsunternehmungen und Festivals realisieren konnte.<br />
Wie bereits die Begrifflichkeit der sogenannten Social Media Art offenkundig<br />
nahelegt, haben wir es auch in Anbetracht des hiesigen Projektes von <strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong><br />
<strong>Helzle</strong> keineswegs nur mit der statisch wirkenden Ausstellung diverser Exponate – in<br />
unserem Falle der von 100 fotografischen Einzelaufnahmen mitsamt deren<br />
Gesamtbild als hundertfach multiples Portrait – zu tun. Das Ausstellungsprojekt nahm<br />
vielmehr längst im Vorfeld des heute zu Sehenden – im wahrsten Sinne des Wortes –<br />
Gestalt an, erhielt sozusagen ein und zugleich einhundertundein Gesicht, das ohne<br />
die bis heute stattgefundene und zukünftig weiter stattfindende Kommunikation und<br />
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soziale Interaktion nicht denkbar erscheint; die Präsentation stellt damit mitnichten<br />
bloß ein Endergebnis eines künstlerischen Konzeptes dar, sondern bildet darüber<br />
hinaus mehr noch den Ausgangspunkt für ein individuelles wie gemeinschaftliches<br />
Weiterdenken in die Zukunft.<br />
Zu diesem Zweck nun hat der Künstler – mit der ihm eigenen Überzeugungsgabe –<br />
kurzerhand die Identität von 100 im Technologiepark arbeitenden Menschen<br />
fotografisch festgestellt (und im Gegensatz zu einschlägigen Polizeikontrollen fiel<br />
diese Identitätsfeststellung eher angenehm, mindestens nicht allzu schmerzlich aus).<br />
Die Kandidatinnen und Kandidaten wurden hierfür persönlich angefragt,<br />
offensichtlich etliche überzeugt, und fanden sich in der Folge dann zu mehrtägigen,<br />
aufwendigen Foto-Aktionen bereit, innerhalb derer sich Gespräche und Kontakte<br />
entwickelten, die genauso private Themen betrafen, wie Informationen über Künstler<br />
und Kunst auf der einen Seite sowie (bei aller hier nötigen Diskretion, versteht sich)<br />
über die Tätigkeiten und Unternehmen am hiesigen Standort auf der anderen Seite<br />
ausgetauscht wurden. In exakt der Abfolge, in der die Männer und Frauen<br />
aufgenommen wurden (unabhängig von Firmenzugehörigkeiten, Hierarchien,<br />
persönlichen Wünschen oder Bedürfnissen, etc.), werden nun auch deren konterfeite<br />
Einzelportraits im Gebäude gezeigt – hier im Erdgeschoss beginnend, durch alle vier<br />
Etagen auf den Gängen intervallisch aufsteigend und im großformatigen Gesamtbild,<br />
das sich auf der gegenüberliegenden Seite des Foyers befindet, die Einzelnen<br />
schließlich wieder vereint.<br />
Ebendieses multiple Portrait hat <strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong> <strong>Helzle</strong> generiert, indem er mit speziellen<br />
Computerprogrammen die 100 individuellen Physiognomien transparent<br />
übereinander geschichtet hat, um so ein neues, gemeinsames Gesicht zu erzeugen,<br />
das identitätsstiftend das gesellschaftliche Gemeinwesen eines miteinander geteilten<br />
Arbeitsumfeldes repräsentiert. Weder erkennungsdienstlichen Merkmalen einer<br />
amtlichen Rasterfahndung noch ästhetischen Kriterien aristokratischer<br />
Schönheitengalerien geschuldet, wie sie bereits seit dem 17. Jahrhundert<br />
gebräuchlich waren, veranschaulicht so der Künstler, wie der Einzelne nicht ohne die<br />
Gemeinschaft und die Gemeinschaft nicht ohne den Einzelnen auszukommen<br />
vermag, jeder im Ganzen enthalten ist (und das Ganze in jedem), Identität sich also<br />
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erst in der Übereinstimmung aller sozial relevanten Variablen des „Ichs“ und des<br />
„Wir“ feststellen lässt. Die dennoch erkennbar männlich geprägte Gesamterscheinung<br />
geht dabei freilich auf den im TTR fehlenden Proporz der beiden Geschlechter<br />
zurück; umso amüsanter muss daher die im Verlaufe des Ausstellungsaufbaues<br />
aufgeschnappte Äußerung eines Passanten anmuten, der im raschen Vorübergehen<br />
meinte, er würde den groß da Portraitierten zwar nicht kennen, aber sympathisch<br />
sähe der ja schon aus, und wo der denn wohl arbeite.<br />
Dass die wechselvollen Beziehungen von Einzel- und Kollektivwesen aber immer auch<br />
jede Menge Konfliktpotentiale bereitzuhalten wissen, kann insbesondere vor dem<br />
historischen Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte nicht ausgeblendet<br />
werden. Insofern stellen <strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong> <strong>Helzle</strong>s Arbeiten auch immer zeitgenössische<br />
politisch bedeutsame Fragen, exemplarisch nach dem Ungleichgewicht einer staatlich<br />
verordneten, gänzlich misslingenden Identität eines solchen Ichs und Wirs, wie sie<br />
angesichts des Personenkultes und der Gleichschaltung eines ganzen Volkes<br />
beispielsweise in Nordkorea seit Jahrzehnten betrieben wird. In unseren Breiten<br />
dagegen scheint sich die Vereinzelung des Menschen einerseits sowie ein uniformes<br />
Gleichschrittdenken andererseits eher in der Bedrohung durch die medial<br />
vorangetriebene Diktatur der Dinge äussern zu wollen, vor denen bedeutende<br />
Wirtschaftswissenschaftler wie etwa der luxemburgische Guy Kirsch (Neue politische<br />
Ökonomie, 1993) eindringlich warnen, wenn sie sagen: „Doch je mehr<br />
Individualismus und Liberalismus mit dem Siegeszuge der modernen Gesellschaft<br />
triumphierten, um so deutlicher zeigte sich auch die andere Seite der Entwicklung.<br />
Die Gesellschaft differenziert sich aus, ihre Teilsysteme verselbständigen sich<br />
(Wirtschaft und Wissenschaft, Wissenschaft und Religion), werden so zwar immer<br />
erfolgreicher, aber insgesamt zerfällt die Gesellschaft immer mehr in ihre<br />
funktionalen Subsysteme – und mit ihr der Mensch in seine verschiedenen Rollen und<br />
Funktionen. So ist die moderne Gesellschaft notwendig individualistisch, weil sie auf<br />
dem einzelnen, seiner Autonomie und seinen Kompetenzen aufbaut, und doch läuft<br />
der einzelne dabei stets Gefahr, sich selbst als Person abhanden zu kommen. Am<br />
Ende gibt es nur noch Wirtschaftssubjekte, die den wirtschaftlichen Erfolg suchen,<br />
Politiker, die kurzfristig die politische Macht im Visier haben, und Wissenschaftler, die<br />
in ihrem Elfenbeinturm sich immer weiter spezialisieren. Die Subsysteme beziehen<br />
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sich nur noch auf sich selbst. Was man nicht ,haben‘ kann und was sich nicht in<br />
Geldeinheiten ausdrücken lässt [so Kirsch], existiert für das wirtschaftliche<br />
Interaktionssystem schlechterdings nicht. Was sich nicht in den Kategorien der Macht<br />
erfassen lässt, liegt außerhalb des Wahrnehmungsfeldes der Politik, ist für sie nicht<br />
real.“<br />
So appelliert <strong>Wolf</strong> <strong>Nkole</strong> <strong>Helzle</strong> mit seinem Projekt I AM WE_IDENTITY auch an das<br />
ganz persönliche Verantwortungsbewusstsein eines jeden, unsere eigene<br />
Individualität zu wahren, um dieselbe als (mit)entscheidenden Teil einer<br />
funktionierenden Lebens- und Arbeitsgemeinschaft – ja, einer Gesellschaft insgesamt<br />
– einzubringen. Anstatt also bloß politisch oder wirtschaftlich instrumentalisierte<br />
Subsysteme abzugeben, könnten wir meinethalben doch ganz gern kleine bunte<br />
Tiere bleiben, denn analog zu Hans Falladas großartigem Roman, der unter dem Titel<br />
Jeder stirbt für sich allein (1947) erschienen ist, gilt immerhin genauso vehement<br />
noch festzustellen Aber niemand lebt für sich allein!<br />
Clemens Ottnad M.A.<br />
Freier Kunsthistoriker und Kurator<br />
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