Schreibwerkstattgeschichten – Auf dem ... - Handgeschrieben

DIE GESCHICHTE MEINES NÄCHSTEN JAHRES
Spätsommerabend. Im letzten Sonnenlicht tanzen die Mücken unter dem alten Apfelbaum.
Hin und wieder streift ein sachter Luftzug seine Äste, die sich schwer unter den vielen
Früchten der Erde entgegen neigen. Im Garten lodert in einem steinernen Rondell ein Feuer.
Mächtige Scheite glühen. Im hohen Gras spielen zwei Kinder.
Mit kraftvollen Schritten tritt eine Frau aus dem alten Haus, gleich neben dem Apfelbaum.
Eine hohe Gestalt im langen Kleid, ein Cape um die schmalen Schultern geschwungen. Sie
trägt ein Buch mit zartem Einband in den Händen. Ein Buch voller Geschichten und
Erinnerungen.
Beide Kinder laufen zu ihr und setzen sich schnell auf dicke Decken an das Flammenrondell.
Wie schon so oft wollen sie ihrer Erzählung lauschen. Am Feuer findet die Frau ihren Platz
und mit geheimnisvollem Blick schlägt sie das Buch auf. Sie lässt die Augen über die Zeilen
gleiten, die Erinnerungen steigen in ihr auf und sie beginnt zu erzählen:
„Vor vielen Jahren, eure Eltern waren in etwa so alt wie ihr jetzt seid, lebten wir schon an
diesem Ort mit einem schönen See. Zu dieser Zeit herrschte in den Landen ein mächtiges
Wesen. Noch nie hatte es jemand gesehen und doch standen fast alle Menschen in seinen
Diensten. Es machte die Menschen der Zeit und dem Geld hörig. Nicht mehr Freiheit und
Selbstbestimmung zählten, nur Leistung und Schaffenskraft waren wichtig. Wen es einmal
mit seinen scharfen Krallen gepackt hatte, hielt es für lange Zeit fest. Meist schien eine
Befreiung unmöglich. Auch ich war seine Gefangene für viele Jahre. Eines Tages verließ mich
alle Kraft. Verzweifelt versuchte ich mich zu wehren. Es wurde ein langer Kampf. Als mir die
Befreiung endlich gelang, trug ich viele Narben davon. Mein Körper war geschunden, meine
Seele verzweifelt.
Dann geschah etwas Wunderbares. Andere Menschen, die Ähnliches erlebt hatten,
18 Schreibwerkstattgeschichten – Auf dem Herzensweg