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Leseprobe - Theiss-Verlag

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104 Vom Handwerk zur Manufaktur – die lange Vorgeschichte der Industrialisierung Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />

105<br />

Abb. 54<br />

Erhaltener Bandwebstuhl<br />

von 1820.<br />

bezeichnete man zu dieser Zeit ebenfalls als<br />

„Mühlen“ – weder die „Frisiermühle“ noch<br />

die „Bandmühle“ sind also mit Wind- oder<br />

Wasserkraft betrieben) und eisernen Spindelpressen.<br />

Außer den genannten Verbesserungen<br />

an den Spinnrädern blieben bei der<br />

Herstellung des „Gespinstes“ überraschenderweise<br />

technische Fortschritte aus, sodass<br />

im 18. Jahrhundert der „Garnhunger“ ein gesamteuropäisches<br />

Phänomen war. Der Garnbedarf<br />

der mittlerweile verbesserten und effektiveren<br />

Webstühle (Zug-, Zampel- oder<br />

Kegelstuhl; Erfindung der Schnelllade durch<br />

John Kay um 1733; Vorläufer des lochkartengesteuerten<br />

Jacquard-Webstuhls schon seit<br />

1725) konnte nur noch durch ständiges Anwachsen<br />

der Zahl an Spinnerinnen und Spinnern<br />

gedeckt werden.<br />

In diesen Bereichen gab es verständlicherweise<br />

keine Technikfeindschaft. Selbst<br />

der Strumpfwirkstuhl, 1589 in England präsentiert,<br />

stieß trotz zünftisch organisier -<br />

ter Handstricker kaum auf Widerstand. Ihn<br />

konnten sich die Handstricker leisten, er<br />

nahm ihnen mühseliges „Hand-Werk“ ab und steigerte durch Effektivität ihren<br />

Verdienst. Nach Berlin brachten ihn hugenottische Flüchtlinge, die dort 1721<br />

um die 140 Strumpfwirkstühle betrieben; 1737 waren es bereits 700 (Ulrich<br />

Troitzsch 1991, S. 166).<br />

Die Bandmühle (auch Bandmühlstuhl, Schnurmühle), vermutlich um 1586 in<br />

Danzig erfunden, verbreitete sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts<br />

trotz eines kaiserlichen Verbotes von 1685 (erneuert 1719) sowie etlicher städtischer<br />

Verbote wie schon am Ende des 16. Jahrhunderts in Brügge und Antwerpen.<br />

Bänder aus Seide oder sonstigen Stoffen zur Verzierung der Kleidung waren<br />

seinerzeit sehr begehrt. Diese Maschine bedrohte das zünftische Gewerbe der<br />

Bortenmacher oder Posamentierer, die auf dem herkömmlichen Bandwebstuhl<br />

nur jeweils ein Band produzieren konnten. Mit der Bandmühle hingegen waren<br />

6 bis 24, z. T. noch mehr Bänder in einem Arbeitsdurchgang zu fertigen; zudem<br />

war sie von Ungelernten zu bedienen. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten sich<br />

im gesamten Reich mehrere Zentren der Bortenmacherei etabliert, zum Teil<br />

zünftisch und gegen die Bandmühle eingestellt, zum anderen Teil auf Basis der<br />

Bandmühle: Neben Frankreich und dem Baseler Gebiet fand dies auch in Köln,<br />

Krefeld, Frankfurt am Main und Augsburg statt.<br />

In Augsburg wurde die Bandmühle von der Zunft bekämpft, da sie wegen<br />

ihres hohen Preises nur von einigen wenigen Meistern hätte angeschafft werden<br />

können. Die zünftischen Bortenmacher sahen – nicht zu Unrecht – durch die<br />

Bandmühle ihre Arbeits- und Lebensweise bedroht. Durch Mehrarbeit versuchten<br />

sie, mit der Maschine zu konkurrieren. Die Zünfte anderer Städte hatten<br />

bereits im 17. Jahrhundert bemängelt, dass in Augsburg auch Meisterfrauen und<br />

Meistertöchter an den Bandstühlen arbeiten würden – mit einem Vergleich wurde<br />

1693 der Streit um die Augsburger Frauenarbeit beigelegt, diese durften nicht<br />

mehr an den Bandstühlen tätig sein.<br />

Den Handel der Kaufleute aber konnten die empörten Handwerker in Augsburg<br />

und anderswo nicht untersagen. Mit dem billigen Preis der Bänder aus den<br />

von Verlegern beherrschten protoindustriellen städtischen und ländlichen Revieren<br />

konnten sie auch nicht mithalten.<br />

Trotz Lohndrückerei gegenüber den Gesellen<br />

und Ausbeutung der Lehrlinge war es ihnen<br />

nicht möglich, zu konkurrieren. Etliche<br />

Streiks und Aufstände der Gesellen gegen die<br />

Lohndrückerei hatten keinen Erfolg, seit der<br />

Mitte des 18. Jahrhunderts sank die Zahl<br />

der Meister und Gesellen im Bortenmacherhandwerk<br />

rapide. Auch hier hatte sich die<br />

proto industrielle Produktionsweise des Ver -<br />

lags systems gegenüber dem Handwerk als<br />

ökonomisch überlebensfähiger erwiesen.<br />

Reinhold Reith hat herausgearbeitet, wie<br />

sehr sich beim Streit um die Bandmühle unterschiedliche<br />

historische Entwicklungsstränge<br />

verknüpften. Er betont zunächst die<br />

hohe Produktivität der Bandmühle und hebt<br />

wie schon Karl Marx hervor, dass sie durch ihre<br />

technischen Problemlösungen entscheidend<br />

zur Mechanisierung des Webprozesses<br />

insgesamt und damit zum Industrialisierungsprozess<br />

des Textilgewerbes beigetragen<br />

habe. Sie verschuldete jedoch in hohem Maße<br />

den Niedergang des (Augsburger) Bortenmacherhandwerkes<br />

und steht damit symbol-<br />

Abb. 55<br />

Darstellung eines<br />

Bortenwirkers in<br />

C. Weigels Ständebuch.

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