Leseprobe - Theiss-Verlag
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108 Vom Handwerk zur Manufaktur – die lange Vorgeschichte der Industrialisierung Das Gewerbe – vom bäuerlichen Heimwerk zur Gewerbelandschaft<br />
109<br />
der Bevölkerung in frühkapitalistische ökonomische Strukturen einbezogen.<br />
Heute ist das Konzept der Protoindustrialisierung ausdifferenziert und allgemein<br />
anerkannt (siehe Abschnitt über Gewerbelandschaften). „Proto-Industrie“<br />
und „Proto-Fabriken“ gab es nicht nur im Textilsektor und im <strong>Verlag</strong>swesen.<br />
Auch in der Eisen- und Stahlverarbeitung (Sensen und Messer, Draht, Schmiedeware),<br />
in der Spielzeugherstellung, Strohflechterei etc. entstand eine produktive<br />
Gemengelage zwischen Stadt und Land, die auch im Rahmen der dezentralen<br />
Manufaktur – die ohnehin nur schwierig vom <strong>Verlag</strong>swesen zu unterscheiden<br />
ist – stattfinden konnte.<br />
Diese Produktionsweise überschritt also zum Teil die alten ständischen und<br />
räumlichen Trennungen und „trainierte“ auch ländliche Bevölkerungsschichten<br />
in industriellen Tugenden. Allerdings wird meines Erachtens die Bedeutung der<br />
Mühlenmaschinerie in dieser Diskussion zu wenig gewürdigt oder gar übersehen.<br />
Dies sei bei der Betriebsform der Manufaktur näher beschrieben.<br />
Die Manufaktur<br />
Während die klassischen Definitionen der Manufaktur bei Adam Smith und Karl<br />
Marx auf das Strukturmerkmal der manuellen Arbeitsteilung abzielen, kennzeichneten<br />
(zumindest zum Teil) auch der Gebrauch der Mühlenmaschinerie<br />
oder die Beherrschung thermischer Prozesse diese Betriebsform. Es ist zuerst<br />
einmal durchaus sinnvoll, die kooperative Arbeitsteilung als zentrales Kriterium<br />
der Manufaktur zu sehen: Zwar herrschte eine gewisse Arbeitsteilung auch im<br />
<strong>Verlag</strong> vor, nun aber wurde sie durch die Zerlegung des Produktionsprozesses so<br />
diffizil, dass die arbeitsteilige Zusammenarbeit in einer zentralen Produktionsstätte<br />
notwendig wurde. Ein Unternehmer leitete diesen Betrieb, und die handwerkliche<br />
Einheit von Wohnen und Arbeiten wurde in der Manufaktur zunehmend<br />
aufgehoben. Die Manufakturarbeiter waren mehr oder weniger<br />
Lohnarbeiter, auch wenn sie sich in qualifizierte Handwerker und ungelernte<br />
Hilfskräfte unterscheiden ließen. Die Einführung der Mühlenmaschinerie führte<br />
zur zunehmenden Beschäftigung angelernter Kräfte. Karl Marx erwähnt in<br />
seiner klassischen Manufakturdefinition (Das Kapital, Band 1, 12. Kapitel: Teilung<br />
der Arbeit und Manufaktur) die Maschinerie nur am Rande (sporadischer<br />
Einsatz von Maschinen), betont aber die Differenzierung und Spezialisierung<br />
der „Arbeitsinstrumente“: Der Detailarbeiter und sein Werkzeug seien die einfachen<br />
Elemente der Manufaktur. Adam Smith nennt im berühmten ersten Kapitel<br />
„Die Arbeitsteilung“ seines Werkes „Der Wohlstand der Nationen“ die Maschine<br />
ganz zentral als Teil der Manufaktur, die er am Beispiel der Nadelfertigung<br />
analysiert: „Die enorme Steigerung der Arbeit, die die gleiche Anzahl Menschen<br />
nunmehr infolge der Arbeitsteilung zu leisten vermag, hängt von drei verschiedenen<br />
Faktoren ab: (1) der größeren Geschicklichkeit jedes einzelnen Arbeiters,<br />
(2) der Ersparnis an Zeit, die gewöhnlich beim Wechsel von einer Tätigkeit zur<br />
anderen verloren geht und (3) der Erfindung einer Reihe von Maschinen, welche<br />
die Arbeit erleichtern, die Arbeitszeit verkürzen und den Einzelnen in den Stand<br />
setzen, die Arbeit vieler zu leisten“ (Adam Smith 1978, S. 12).<br />
Auch dieses Beispiel belegt damit, dass die Maschinerie in den Rhythmus<br />
des Produktionsprozesses einbezogen war. Zeitgenossen zählten in den fortgeschrittenen<br />
Nadelmanufakturen am Ende des 18. Jahrhunderts rund 50 bis zu 80<br />
Einzelarbeitsschritte. Waren Nadeln im Spätmittelalter noch rein handwerklich<br />
hergestellt worden, so verfügte die Nadelmanufaktur des 18. Jahrhunderts über<br />
verschiedene durch Wasserkraftnutzung gekennzeichnete Arbeitsgänge: Wasserkraft<br />
konnte die Drahtschere, mit der der Draht in Nadellänge geschnitten<br />
wurde, bewegen, trieb die Schleifmühle und die Scheuermühle. Die mühseligsten<br />
Arbeitsschritte waren somit mechanisiert oder automatisiert. So vermischten<br />
sich in der Nadelproduktion wie in vielen Manufakturen rein manuelle Teilarbeiten<br />
mit Arbeitsvorgängen, die von mechanisierten Werkzeugen und in<br />
Einzelfällen bereits automatischen Maschinen ausgeführt wurden.<br />
Auch in der Papiermanufaktur (Papiermühle) war eine solche Mischform<br />
gegeben. Insbesondere die Aufbereitung des Rohstoffes Lumpen (in der vorindustriellen<br />
Papiermacherei wurde Papier aus zerschnittenen und bis auf die<br />
Fasern aufgelösten Textilien hergestellt) wurde wie auch das Veredeln des Papieres<br />
(Pressen, Glätten) maschinisiert. Seit Einführung der Papiermacherei in Europa<br />
im 13. Jahrhundert (zuerst Spanien und Italien; die erste deutsche Papier-<br />
Abb. 57<br />
Staatliche Rasiermessermanufaktur<br />
in Paris, 1783.<br />
Dieser Betrieb weist<br />
typische Merkmale<br />
einer zentralisierten<br />
Manufaktur<br />
auf: arbeitsteilige<br />
Kooperation, Einsatz<br />
von Muskelkraft<br />
zum Antrieb der<br />
Schleifräder, Frauenund<br />
Kinderarbeit für<br />
weniger qualifizierte<br />
Tätigkeiten.