Das Gedächtnis der Sinne - Zukunftswerkstatt therapie kreativ
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Wenn Worte alleine nicht reichen …<br />
<strong>Das</strong> <strong>Gedächtnis</strong> <strong>der</strong> <strong>Sinne</strong><br />
Udo Baer<br />
„Ich versuchte immer wie<strong>der</strong> zu lesen, aber ich konnte nicht sehr lange den Faden behalten.<br />
Immer wie<strong>der</strong> las ich eine Seite zwei- o<strong>der</strong> dreimal hintereinan<strong>der</strong> und wusste immer noch<br />
nicht, was ich gerade gelesen hatte.<br />
<strong>Das</strong> Gleiche war es mit dem Fernsehen. Fast immer, wenn Stel und ich abends vor dem<br />
Fernseher saßen, konnte es sein, dass sie sagte: ‚Larry, die Show haben wir doch schon<br />
gesehen.’<br />
‚Nein, ich nicht. Ich habe sie noch nie gesehen. Du musst sie allein gesehen haben, als ich<br />
schon im Bett war o<strong>der</strong> als ich in Arkansas war’, gab ich dann gewöhnlich zur Antwort. In<br />
Wirklichkeit hatte ich sie wahrscheinlich schon gesehen. Ich konnte Tag für Tag ein und<br />
dasselbe Programm anschauen und es immer noch interessant finden. Wie<strong>der</strong>holungen<br />
machen mir gar nichts aus.<br />
Ich erzählte den Burschen im Café, was passiert war. ‚Bei mir daheim gibt es nie<br />
Wie<strong>der</strong>holungen’, sagte ich grinsend. Sie brachen alle in Gelächter aus.“ (Rose 1997, S.48f)<br />
Larry Rose ist, als er diese Geschichte erzählte, an Demenz erkrankt. Im Anfangsstadium. Er<br />
kann dem allmählichen Verlust seines <strong>Gedächtnis</strong>ses noch eine humorvolle Seite<br />
abgewinnen.<br />
Später ruft <strong>der</strong> schleichende Verlust des <strong>Gedächtnis</strong>ses bei ihm wie bei vielen an<strong>der</strong>en<br />
Scham, Trauer, Hilflosigkeit, Zorn und Verzweiflung hervor. Er berichtet von einem<br />
Telefongespräch, immer noch in einer frühen Phase <strong>der</strong> Demenzentwicklung:<br />
„Eines Abends erhielt ich den Anruf eines Bekannten, <strong>der</strong> wusste, dass ich in meiner Hütte<br />
war. Er erzählte mir, wie anstrengend für ihn dieser Tag im Geschäft gewesen sei; es war ein<br />
umtriebiger Tag gewesen, und er hatte mehrere Fehler gemacht. ‚Wenn du Alzheimer hast,<br />
muss ich sie zweimal haben’, sagte er.<br />
Ich spürte, wie in mir die Wut hochstieg. ‚Vergisst du etwa die einfachsten Wörter o<strong>der</strong><br />
gebrauchst ganz falsche, die deine Sätze unverständlich machen? Machst du dir etwas zum<br />
Essen und vergisst nicht bloß, dass du es gemacht hast, son<strong>der</strong>n auch, dass du es essen<br />
wolltest? Stellst du deine Pfanne in den Kühlschrank o<strong>der</strong> legst deinen Geldbeutel in die<br />
Zuckerdose, um sie erst viel später wie<strong>der</strong> zu finden und dich zu fragen, was in <strong>der</strong> Welt<br />
eigentlich mit dir los ist? Verirrst du dich in deiner eigenen Straße o<strong>der</strong> im Einkaufszentrum<br />
und weißt plötzlich nicht mehr, wo du bist und wie du heimfinden sollst? Vergisst du, wie man<br />
sich anzieht, und trägst manchmal drei o<strong>der</strong> vier Hemden auf einmal? Mähst du deinen<br />
Rasen drei- o<strong>der</strong> viermal am Tag? Und wenn du in deinem Telefonverzeichnis blätterst,<br />
kennst du dann plötzlich überhaupt nicht mehr die Zahlen und weißt nicht mehr, was du mit<br />
ihnen anfangen sollst? Befällt dich zehnmal am Tag grundlos plötzlich Verwirrung o<strong>der</strong><br />
Newsletter exlusiv 4/2010, Copyright <strong>Zukunftswerkstatt</strong> <strong>therapie</strong> <strong>kreativ</strong>, Dr. Udo Baer<br />
<strong>Zukunftswerkstatt</strong> <strong>therapie</strong> <strong>kreativ</strong>, Bal<strong>der</strong>bruchweg 35, 47506 Neukirchen-Vluyn<br />
www.zukunftswerkstatt-tk.de<br />
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Angst? Und vor allem: kriegst du eine Wut, wenn jemand so dumm daherschwätzt wie du<br />
gerade?’<br />
‚Nein, das nicht.’<br />
‚Dann hast du nicht Alzheimer’, sagte ich und hängte auf. Ich wurde hasserfüllt und<br />
wi<strong>der</strong>wärtig. <strong>Das</strong> ist überhaupt nicht meine Art, und ich verachte mich deswegen selbst, aber<br />
ich kann nicht verstehen, warum Leute so daherreden können. Ich muss mich besser<br />
zusammenreißen.“ (Rose 1997, S.79f)<br />
Die <strong>Gedächtnis</strong>störungen sind von vielen intensiven Gefühlen und Desorientierung begleitet.<br />
Sie führen zu sozialem Rückzug und bei vielen Erkrankten zu Einsamkeit.<br />
Die allmählichen <strong>Gedächtnis</strong>einschränkungen sind nur ein Aspekt. Wer mit demenzkranken<br />
Menschen zu tun hat, wird noch von einer an<strong>der</strong>en Erfahrung berichten können, nämlich<br />
dass die Erkrankten scheinbar „plötzlich“ über Fähigkeiten des <strong>Gedächtnis</strong>ses verfügen, die<br />
schon längst verloren schienen.<br />
Als ich Anfang <strong>der</strong> 80er Jahre in einem Altenheim am Nie<strong>der</strong>rhein zusammen mit meiner<br />
Frau eine <strong>kreativ</strong>-therapeutische Gruppe mit an Demenz erkrankten Menschen leitete,<br />
befand sich unter den Teilnehmenden eine Frau Mitte 70, <strong>der</strong>en demenzielle Erkrankung<br />
fortgeschritten war. Sie sprach allenfalls zwei, drei Worte am Tag, reagierte sehr selten,<br />
wenn sie angesprochen wurde, war desorientiert, kannte we<strong>der</strong> ihren Namen noch den<br />
an<strong>der</strong>er. Ihr Körper wirkte verworren. Wie ein Knäuel lagen Arme und Beine über- und<br />
umeinan<strong>der</strong> und sie versuchte immer wie<strong>der</strong>, sie zu entwirren.<br />
Ich legte eine Tangomusik auf, ging auf sie zu und setzte mich vor sie. Meine Hände griffen<br />
nach ihren Händen. Ich beabsichtigte, mit ihr sitzend den Tango zu tanzen, indem ich ihre<br />
Hände bewegte, hoffend, dass sie mit ihren Händen sich daran beteiligen könne. Sie<br />
schaute mich an, als sie die ersten Takte des Tangos hörte. Dann stand sie in einer<br />
fließenden Bewegung auf, ergriff mich und schob mit mir einen Tango durch den Raum – mit<br />
mir, <strong>der</strong> ich nie die Tango-Schrittfolgen behalten konnte. Sie tanze mit mir, bis die Musik<br />
verklang. Dann verbeugte sie sich vor mir und sagte: „Ich danke Ihnen, junger Mann.“<br />
Anschließend setzte sie sich und lächelte vor sich hin.<br />
Ich blieb verdutzt mitten im Raum stehen. Eine solche Erfahrung wi<strong>der</strong>sprach allem, was ich<br />
bis dahin gelernt hatte. Also versuchte ich, von dieser Frau zu lernen, und nicht nur von ihr,<br />
son<strong>der</strong>n auch von vielen an<strong>der</strong>en an Demenz erkrankten älteren Männern und Frauen. Ich<br />
lernte, dass es Möglichkeiten des Zugangs zu Menschen gibt, von denen es heißt: „An die<br />
kommt man nicht mehr heran.“ Ich lernte, dass es offenbar jenseits des <strong>Gedächtnis</strong>ses <strong>der</strong><br />
Zahlen und Namen ein an<strong>der</strong>es <strong>Gedächtnis</strong> gibt, so dass über die Tango-Klänge<br />
Ressourcen <strong>der</strong> Beweglichkeit und des Kontaktes mobilisiert werden können.<br />
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Dieses <strong>Gedächtnis</strong> ist ein <strong>Gedächtnis</strong> <strong>der</strong> <strong>Sinne</strong>, ein <strong>Gedächtnis</strong> des Erlebens, das nach<br />
dem philosophischen Begriff „Leib“ für den erlebenden Menschen auch „Leibgedächtnis“<br />
genannt wird. Von diesem <strong>Gedächtnis</strong> berichten auch die Filme und viele an<strong>der</strong>e<br />
Erfahrungen, wenn wir mit Demenzkranken über die <strong>Sinne</strong> in <strong>kreativ</strong>en Kontakt gehen.<br />
Menschen, die ihre Angehörigen nicht mehr erkennen können, sind in <strong>der</strong> Lage, mehrere<br />
Strophen eines Liedes zu singen, Märchen teilweise zu verstehen und zu erzählen und viele<br />
an<strong>der</strong>e verschüttete Fähigkeiten wie<strong>der</strong>zubeleben.<br />
Um dies zu verstehen, muss man einen Blick darauf werfen, wie das <strong>Gedächtnis</strong> arbeitet.<br />
Zuerst einmal ist wichtig, dass alle Informationen und Eindrücke, die potentiell dem<br />
<strong>Gedächtnis</strong> zugeführt werden, über die <strong>Sinne</strong> erfahren werden. Jede Einschränkung <strong>der</strong><br />
Sinnlichkeit lässt den „Nachschub“ für das <strong>Gedächtnis</strong> versiegen und die Fähigkeit zu<br />
<strong>Gedächtnis</strong>leistungen verkümmern. Und den Umkehrschluss können TherapeutInnen und<br />
Pflegende, die über die <strong>Sinne</strong> mit demenzkranken Menschen arbeiten, immer wie<strong>der</strong><br />
beobachten: <strong>Sinne</strong>saktivierung und sinnlicher Kontakt för<strong>der</strong>t die <strong>Gedächtnis</strong>fähigkeiten.<br />
Ferner „archiviert“ das menschliche <strong>Gedächtnis</strong> nicht wahllos alle Eindrücke und<br />
Informationen. Geschähe dies, würden die Menschen in kurzer Zeit schwer psychisch krank<br />
werden – das Gehirn wäre überfor<strong>der</strong>t. Es muss deshalb auswählen und filtern. Wonach wird<br />
entschieden, welche Eindrücke überhaupt bis in das Gehirn vordringen? Nach Häufigkeit und<br />
Wichtigkeit. Um zu wissen, ob etwas wichtig ist, wird auf vorhandene Erfahrungen<br />
zurückgegriffen und vor allem das Limbische System herangezogen, das für die Gefühle<br />
„zuständig“ ist. Schon bei dieser Vorauswahl dessen, was im Gehirn überhaupt registriert<br />
wird, sind also Emotionen beteiligt. Die so ausgewählten Informationen und Eindrücke<br />
werden im „Arbeitsspeicher“ festgehalten, was früher als Kurzzeitgedächtnis bezeichnet<br />
wurde. Im Schlaf werden dann diejenigen Informationen und Eindrücke, die als „wichtig“<br />
eingestuft werden, ins Langzeitgedächtnis überführt. Auch hier wie<strong>der</strong> sind die Gefühle<br />
beteiligt, die über die Wichtigkeit entscheiden.<br />
In <strong>der</strong> Demenzerkrankung ist dieser Regulationsprozess gestört. Da neue Informationen und<br />
Eindrücke nicht mehr den vorhandenen zugeordnet werden können, sind kann <strong>der</strong> eigene<br />
Sohn nicht erkannt werden: Ich sehe, da steht jemand vor mir, und ich weiß, dass er für mich<br />
wichtig ist – ich kann aber die Verbindung zu dem früher als wichtig Eingestuftem nicht mehr<br />
herstellen und erkenne ihn nicht.<br />
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Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, dass reines Wissensgedächtnistraining<br />
bei Demenzkranken kaum hilft, und wenn, dann nur für die Zeit des Trainings. Die<br />
Anhäufung des Wissens ist auch nicht das Problem, son<strong>der</strong>n die Zuordnung nach<br />
Wichtigkeit. Werden über die <strong>Sinne</strong>, z. B. die sinnliche Erfahrung des Tango-Hörens<br />
Eindrücke im Gehirn angesprochen, die als beson<strong>der</strong>s wichtig eingestuft worden waren,<br />
können darüber bestimmte Verknüpfungen aktiviert werden, die über reine Wissens-<br />
Informationen nicht zugänglich wären. Genau das geschieht, wenn mit demenzkranken<br />
Menschen über Märchen, Puppen und Musik in Kontakt getreten wird: <strong>Das</strong> <strong>Gedächtnis</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Sinne</strong> wird aktiviert. So können schon verkümmert scheinende Aspekte <strong>der</strong> Persönlichkeit<br />
wie<strong>der</strong> lebendig werden, so sind neue Begegnungen möglich, kann lebendiger Kontakt die<br />
zunehmende Vereinsamung stoppen o<strong>der</strong> wenigstens unterbrechen. <strong>Das</strong> zeigen die Filme.<br />
Baer, Udo; Frick-Baer, Gabriele (2001): Leibbewegungen. Methoden und Modelle <strong>der</strong> Tanz-<br />
und Bewegungs<strong>therapie</strong>. Neukirchen-Vluyn<br />
Rose, Larry (1997): Ich habe Alzheimer. Ein Bericht. Freiburg<br />
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