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3. Erkenntnisse zur Säuglingssterblichkeit in Deutschland im 18 ...

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denkbare Anpassung des Heirats- oder Fruchtbarkeitsverhaltens <strong>in</strong> Form malthusianischer<br />

"preventive checks", erörtert Stephan nicht.<br />

Den Umstand, daß <strong>in</strong> Ditfurt unter den Kle<strong>in</strong>bauern (Kossäthen) und Handwerkern die<br />

höchsten IM-Werte erreicht wurden, erklärt der Autor mit der sozialen Notlage dieser<br />

Bevölkerungsgruppen. Diese hätten zwar von der Auflösung der feudalen Strukturen<br />

dah<strong>in</strong>gehend profitiert, daß sich erhöhter Arbeitse<strong>in</strong>satz <strong>in</strong> der Mehrung persönlicher<br />

Besitzstände ausdrücken konnte, der vermehrte Arbeitse<strong>in</strong>satz hatte jedoch auf dem<br />

Umweg über die Mutter zu großen Nachteilen für die Säugl<strong>in</strong>gspflege und damit zu e<strong>in</strong>er<br />

M<strong>in</strong>derung der Überlebenschancen Neugeborener geführt 104 . Ob die aus der Landwirtschaft<br />

resultierenden Arbeitszwänge der Mutter gerade unter kle<strong>in</strong>bäuerlichen Familien, die auf<br />

Nebenerwerb angewiesen waren, und unter Handwerksfamilien, die <strong>zur</strong> Sicherstellung der<br />

Existenz kle<strong>in</strong>e Ackerflächen bewirtschafteten, über Ditfurt h<strong>in</strong>aus zu e<strong>in</strong>em<br />

verallgeme<strong>in</strong>erbaren Sterberisiko der Säugl<strong>in</strong>ge führten, ist <strong>in</strong> der Forschung noch<br />

umstritten. Denn auch da, wo Untersuchungen nach dem sozialen Status der Eltern, der<br />

starken Besitzdifferenzierung <strong>im</strong> ländlichen Bereich gerecht werden, liegen durchaus<br />

unterschiedliche Ergebnisse vor, die <strong>in</strong> der Summe jedoch eher auf e<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Abstufung<br />

der <strong>Säugl<strong>in</strong>gssterblichkeit</strong> <strong>in</strong>nerhalb agrarischer Blöcke deuten. So ist der Umstand, daß die<br />

Säugl<strong>in</strong>ge von Vollbauern (Ackermänner) <strong>in</strong> Ditfurt bei der Geburt e<strong>in</strong>e höhere<br />

Lebenserwartung hatten als Säugl<strong>in</strong>ge von Kle<strong>in</strong>bauern ke<strong>in</strong> Regelfall. Sowohl <strong>im</strong><br />

süddeutschen Laich<strong>in</strong>gen 105 als auch <strong>im</strong> oldenburgischen Altenesch 106 war (zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong><br />

der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) das Gegenteil der Fall. Die Ursachen können <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er oberschichtsspezifischen Stillabneigung gesucht werden, die durchaus geschlechtsdiskr<strong>im</strong><strong>in</strong>ierende<br />

Formen annehmen konnte. Bei mittlerem Sterblichkeitsniveau <strong>in</strong><br />

Ditfurt konnte Stephan e<strong>in</strong>e unterdurchschnittliche <strong>Säugl<strong>in</strong>gssterblichkeit</strong> männlicher Säugl<strong>in</strong>ge<br />

von Ackerleuten nachweisen. In Anlehnung an E. Voland, der e<strong>in</strong>e Bevorzugung von<br />

Töchtern privilegierter Familien auf der ostfriesischen Marsch (Krummhörn) belegt 107 , vermutet<br />

Stephan e<strong>in</strong> "geschlechtsbee<strong>in</strong>flußtes elterliches, vom sozio-ökonomischen Status<br />

der Familie abhängiges Investment-Muster..." 108 .<br />

An wenigen Faktoren entscheidet sich die Frage nach Leben oder Tod e<strong>in</strong>es<br />

Neugeborenen so unmittelbar wie am Stillverhalten der Mutter. Das Gewicht dieser<br />

E<strong>in</strong>flußgröße wird <strong>in</strong> der Forschung so weitgehend anerkannt, daß bei der Suche nach<br />

weiteren Gliedern <strong>in</strong> der multikausalen Determ<strong>in</strong>ationskette e<strong>in</strong>zelne Faktoren oder<br />

strukturelle Zusammenhänge, die direkt oder <strong>in</strong>direkt auf das Stillverhalten gewirkt haben<br />

können, besondere Beachtung f<strong>in</strong>den. Das gilt <strong>in</strong>sbesondere für demographische<br />

Autokorrelationen (Beispiel: Fertilitätsentwicklung), Konsequenzen sozialer und<br />

wirtschaftlicher Realitäten (Beispiel: Arbeitsbelastung der Mutter) sowie für die Folgen<br />

mentalitätsgeschichtlicher Bed<strong>in</strong>gungen (Beispiel: fatalistische Grundhaltung <strong>in</strong>folge<br />

religiöser Überzeugungen oder traumatischer Erlebnisse). Wie oben erwähnt, bezeichnet<br />

104<br />

105<br />

106<br />

107<br />

108<br />

Ebda., 40<br />

H. Medick, Weben und Überleben... (1996), Tab.4.17, 368.<br />

E. H<strong>in</strong>richs, R. Liffers und J. Ziegler, "Sozialspezifische Unterschiede <strong>im</strong> generativen Verhalten e<strong>in</strong>es<br />

Wesermarsch-Kirchspiels (<strong>18</strong>00-<strong>18</strong>50)", <strong>in</strong>: W. Günther (Hrsg.), Sozialer und politischer Wandel <strong>in</strong><br />

Oldenburg, Oldenburg 1981, 49-73, bes. 60.<br />

E.Voland, "Reproduktive Konsequenzen sozialer Strategien..." (1992), 290-305.<br />

Vgl. P. Stephan, "Sterben <strong>in</strong> früheren Jahrhunderten..." (1993), 45. Warum der höhere Eltern<strong>in</strong>vest bei<br />

den Krummhörner Großbauern den Töchtern zugute kam, bei den Ditfurter Großbauern aber den<br />

Söhnen, untersuchen E. Voland und P. Stephan zusammen mit weiteren Autoren (R.I.M. Dunbar und<br />

C. Engel) <strong>in</strong> dem Aufsatz "Population Increase and Sex-Biased Parental Investment <strong>in</strong> Humans..."<br />

(1997), 129-135. Die Erklärung wird <strong>in</strong> der Wandlungsdynamik der ökonomischen Umwelt gesucht: "If<br />

the economic environment is less variable, then Trivers and Willard (1973) would predict a will<strong>in</strong>gness to<br />

pursue a more risky strategy at Ditfurt (and so an enhanced preference for boys); conversely, <strong>in</strong> the<br />

less predictable environment of the Krummhörn, girls should be preferred" (S. 134; Die Literaturangabe<br />

<strong>im</strong> Zitat bezieht sich auf: R.L. Trivers/D.E. Willard, "Natural selection of parental ability to vary the sex<br />

ratio of offspr<strong>in</strong>g", <strong>in</strong>: Science 179, 1973, 90-92).

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