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Segregation(sforschung) – quo vadis? - VHW

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Stadtentwicklung<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

Prof. Dr. Jens S. Dangschat<br />

<strong>Segregation</strong>(<strong>sforschung</strong>) <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

Warum eigentlich <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong>? Seit Beginn<br />

der Soziologie waren Sozialwissenschaftler daran interessiert<br />

zu analysieren, wie sich der Zusammenhalt von<br />

(Stadt-)Gesellschaften im Zuge von Industrialisierung<br />

und Verstädterung entwickelt. Städte wuchsen vor allem<br />

durch Zuwanderungen von Menschen unterschiedlicher<br />

sozialer Lagen, Kulturen und Mentalitäten. Wichtig hierbei,<br />

so schien es den Klassikern Max Weber und Georg<br />

Simmel, ist die Gruppenbildung, die Identifikation mit<br />

dem „Wir“ und die Abgrenzung zu dem und den „Anderen“,<br />

was in den rasch wachsenden Industriestädten vor<br />

allem dadurch sichtbar wurde, wo und in welcher Nähe<br />

von wem man wohnte. Die räumlichen Schwerpunkte<br />

von Menschen ähnlicher Herkunft, sozialer Lage und<br />

von Wertvorstellungen wurden daher als soziale Schließungsprozesse<br />

gegenüber „den Anderen“ interpretiert.<br />

Dieses Phänomen stand im Mittelpunkt der Überlegungen von<br />

Robert E. Park, der als Begründer der Stadtsoziologie und des<br />

<strong>Segregation</strong>skonzepts gilt (Chicagoer Schule). Er ging davon<br />

aus, dass sich die Ungleichheit und Unterschiedlichkeit der Menschen,<br />

ihre Gruppenbildungen, Öffnungs- und Abschließungsprozesse<br />

darin zum Ausdruck kommen, wie der städtische Raum<br />

genutzt wird. Aus der Vielfalt der Aspekte der Raumnutzung<br />

wurde aus zwei Gründen der Wohnstandort gewählt: Erstens <strong>–</strong><br />

ganz pragmatisch <strong>–</strong> verfügte die Stadtverwaltung von Chicago<br />

über entsprechende kleinräumig aufbereitete Statistiken und<br />

war selbst daran interessiert, die Stadtentwicklung und die Integration<br />

der Stadtbevölkerung zu steuern. Zweitens war damals<br />

das Wohnquartier der wichtigste Bezugspunkt des Lebens; in<br />

der Nachbarschaft wurden die Regeln des Zusammenlebens<br />

„in der Fremde“ aufgestellt und überwacht (moral order). Hier<br />

waren also die Schließungsprozesse unmittelbar abzulesen, womit<br />

einerseits die Herkunftswerte abgesichert, andererseits die<br />

Öffnungsprozesse zur Gesamtstadt geregelt wurden. So konnte<br />

sowohl das „Innenleben“ der communities (natural area) vor Ort<br />

analysiert als auch die gesellschaftliche Position der jeweiligen<br />

Gruppe in der jeweiligen Standort- und Ausstattungsqualität der<br />

Wohngebiete abgelesen werden.<br />

So entstanden das <strong>Segregation</strong>s- und das Konzentrationskonzept.<br />

Das Ausmaß der residenziellen <strong>Segregation</strong>, d.h. der<br />

ungleichen Verteilung der Wohnstandorte sozialer Gruppen in<br />

einer Stadt, gab Hinweise auf das Ausmaß der gesellschaftlichen<br />

Integration, indem die räumliche Distanz zwischen den Wohnstandorten<br />

der sozialen Gruppen als soziale Distanz interpretiert<br />

wurde. Dieses wurde seit dem Ende der 1940er Jahre mit<br />

verschiedenen <strong>Segregation</strong>sindices quantitativ als städtischer<br />

Durchschnittswert berechnet (vgl. Blasius 1988).<br />

Die räumlichen Konzentrationen der Wohnstandorte einzelner<br />

sozialer Gruppen in den ‚natural areas‘ wurden überwiegend im<br />

Rahmen qualitativer Fallstudien analysiert. Hierbei wurde nach<br />

der „inneren Logik des Zusammenhalts“ gesucht, der jeweiligen<br />

‚moral order‘ <strong>–</strong> in den 1930er Jahren wurden hieraus die methodischen<br />

Zugänge der Ethnomethodologie und des Symbolischen<br />

Interaktionismus entwickelt. In diesen Studien ging es um<br />

das Verstehen der kulturellen Codes, der Wertvorstellungen und<br />

Zielsetzungen der sozialen Gruppen <strong>–</strong> zum einen dahingehend,<br />

wie das Leben im Quartier organisiert wird, zum anderen aber<br />

auch hinsichtlich der Aufstiegs- und Integrationserwartungen<br />

und -haltungen. In diesem Zusammenhang hat Robert E. Park<br />

mit dem ‚race-relation-cycle‘ auch die sozialen Aufstiegs- und<br />

Integrationsmöglichkeiten der Zuwanderungsgruppen entwickelt.<br />

Danach dauere es etwa zwei bis drei Generationen, bis<br />

die Zugewanderten über den Arbeitsmarkt Ein- und Aufstiegschancen<br />

genutzt haben, was die Voraussetzung dafür ist, die<br />

sozial homogenen Viertel zu verlassen und in gemischtere und<br />

vielfältigere Viertel umzuziehen. Das bedeutet, dass er <strong>–</strong> wie<br />

auch andere <strong>–</strong> eine Konzentration unter Gleichen und damit eine<br />

segregierte Stadt zumindest dann für sinnvoll hielt, wenn diese<br />

ethnischen Quartiere als „Trainingslager“ für die Aufnahmegesellschaft<br />

und als Durchgangsstationen fungieren.<br />

Das (notwendige) Ende der<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong><br />

Die Debatte um „<strong>Segregation</strong>“ ist in den bundesdeutschen Städten<br />

vor dem Hintergrund einer nicht zu übersehenden neuen<br />

Spreizung der Einkommen und Vermögen sowie der ungleichen<br />

Entwicklung städtischer Teilgebiete wieder sehr viel intensiver,<br />

aber eben auch normativer aufgeladen geworden. Während<br />

kommunale Politik und Verwaltung nahezu durchgängig <strong>Segregation</strong><br />

als integrationsfeindlich ansehen und stattdessen eine<br />

„soziale Mischung“ propagieren, sind die sozialwissenschaftlichen<br />

Positionen <strong>–</strong> die bis vor circa zehn Jahren in die gleiche<br />

Richtung wiesen <strong>–</strong> anfangs heterogener, mittlerweile jedoch<br />

eindeutiger geworden: Die <strong>Segregation</strong>, genauer: Die räumliche<br />

Konzentration der Wohnstandorte von sozialen Gruppen hat nur<br />

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Stadtentwicklung<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

unter sehr spezifi schen Bedingungen einen integrationshemmenden<br />

Einfl uss. 1 Erst wenn<br />

❏ eine statusniedrige soziale Lage (keinen oder einen niedrigen<br />

Bildungsabschluss, mangelnde Kenntnis der Landessprache,<br />

Arbeitslosigkeit, niedriges und unregelmäßiges Einkommen)<br />

❏ mit einem fremden ethnischen Status (fremde Kultur, andere<br />

religiöse Praktiken, andere Rollen und soziale Umgangsformen)<br />

❏ in einem zusätzlich benachteiligenden Wohngebiet (schlechte<br />

Wohnungsausstattung, fehlende oder schlechte Infrastruktur<br />

<strong>–</strong> insbesondere Sozialisationsinstanzen wie Kindergärten,<br />

Schulen, Volkshoch- und Elternschulen, Bibliotheken <strong>–</strong>,<br />

schlechte Erreichbarkeit, hohe Immissionen, schlechtes Image<br />

etc.) zusammentreffen,<br />

wirken sich solche Gebiete als „Sackgasse“ und damit als „Falle“<br />

aus (vgl. Dangschat 2008).<br />

Ob eine räumliche Konzentration sozialer Gruppen in diesem<br />

Sinne „problematisch“ ist, lässt sich aus Anteilswerten beispielsweise<br />

der Menschen mit Migrationshintergrund allein<br />

nicht ablesen. Die wissenschaftlichen Versuche, die Effekte<br />

der Nachbarschaft auf (des)integratives Verhalten zu ermitteln,<br />

kommen eher zu ernüchternden Ergebnissen: Die negativen<br />

Einfl üsse sind sehr gering, wenn sie sich überhaupt nachweisen<br />

lassen; mehr noch, Atkinson & Kintrea (2004) kommen nach<br />

einer Analyse unterschiedlicher Studien im angelsächsischen<br />

Sprachraum zu dem Schluss, dass die Tatsache, ob (negativ<br />

wirkende) Nachbarschaftseffekte ermittelt werden können, von<br />

den theoretischen Annahmen, den vorhandenen Daten und den<br />

gewählten Methoden abhängen (vgl. zu weiteren Beispielen aus<br />

Deutschland den Beitrag von Häußermann in diesem Heft). Es<br />

kommt daher weniger auf die strukturelle Zusammensetzung<br />

von Bewohnern an (Kompositionseffekt), sondern vor allem darauf,<br />

wie die unterschiedlichen Gruppen vor Ort agieren, wie sie<br />

sich wechselseitig anerkennen, ob sie das Gefühl haben, in den<br />

wesentlichen Bereichen des Alltags integriert zu sein etc.<br />

Damit ist eindeutig: Auf die traditionelle <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong><br />

kann verzichtet werden, weil sie fragwürdige Ergebnisse liefert<br />

und keine Handlungsrelevanz hat. An der traditionellen <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong>,<br />

die sich im Übrigen von den ursprünglichen<br />

Annahmen Parks deutlich entfernt hat, gibt es eine Reihe von<br />

Kritikpunkten:<br />

❏ der gemessene Indexwert ist eine Mittelwertaussage, die<br />

nichts über die Art der Abweichung einzelner Quartiere vom<br />

städtischen Durchschnitt aussagt,<br />

1 Spätestens an dieser Stelle müsste eine Aussage stehen, was mit „Integration“ in<br />

diesem Fall überhaupt gemeint ist. Ich denke, dass damit vor allem gemeint ist,<br />

dass die Gruppen sich in der Lage fühlen, in zivilen Parallelgesellschaften zu leben,<br />

sich zumindest vorübergehend einen gemeinsamen Ort teilen und sich in ihrem<br />

So-Sein gegenseitig weder erschrecken und verängstigen noch diskriminieren. Das<br />

ist sicherlich eine sehr reduzierte Sichtweise, erscheint mir aber hierfür dennoch<br />

ausreichend, da die sozial-räumlichen Phänomene der <strong>Segregation</strong> lediglich sichtbare<br />

Erscheinungsformen von (Des-)Integration in anderen Dimensionen sind, resp. die<br />

Ursachen und ‚driving forces‘ für (Des-)Integration auf der Makro-Ebene und daher<br />

eher außerhalb des Quartiers liegen.<br />

❏ die Werte sind stark abhängig von der Größe der Teilgebiete<br />

und der Größe der betrachteten sozialen Gruppe, was eine<br />

vergleichende <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> unsinnig macht,<br />

❏ die <strong>Segregation</strong>swerte werden häufi g mathematisch falsch<br />

(Wert ist eine Aussage für den Anteil der Gruppe A, die umziehen<br />

müsste …) und hochgradig normativ interpretiert (…<br />

damit eine Gleichverteilung erreicht wird),<br />

❏ im Mittelpunkt stehen die relativen Lagen der Wohnstandorte<br />

als Interpretation der sozialen Distanz sozialer Gruppen, was<br />

voraussetzt, dass der Wohnstandort die zentrale räumliche<br />

Integrations- und Distinktionseinheit ist; das wird in dem<br />

Maße fragwürdig, wie Informationen, soziale Netze und<br />

Aktionsräume nicht (mehr) an das Wohnquartier gebunden<br />

sind.<br />

❏ Schließlich nimmt diese Art von <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong><br />

Erkenntnisse der Ungleichheit<strong>sforschung</strong> und Handlungstheorie<br />

nicht wahr: Erstere geht hinsichtlich der sozialen<br />

Positionierungen längst nicht mehr von einzelnen Merkmalen<br />

sozialer Ungleichheit aus (wie Schicht, Alter oder Geschlecht),<br />

sondern von Syndromen mehrerer Merkmalsausprägungen<br />

sozialer Ungleichheit. In der Handlungstheorie hat sich<br />

längst die Vorstellung von mehreren relevanten Ebenen<br />

durchgesetzt, die vermittelnd zwischen den Struktur- und<br />

Handlungsmerkmalen stehen (s. Abbildung 2). So haben<br />

Heitmeyer & Anhut (2000) deutlich herausgearbeitet, dass<br />

es bei der Auswirkung der Ausländeranteile auf die (Des-)<br />

Integration von anderen Ethnien auf die vermittelnden Faktoren<br />

des politischen und sozialen Klimas, der Intergruppen-<br />

Kontakte sowie der gegenseitigen Anerkennungsmuster in<br />

unterschiedlich gelagerten Konfl ikten ankommt.<br />

Der aus der Marktwirtschaft stammende Ansatz von Sinus<br />

Sociovision 2 (s. den Beitrag von Beck und Perry in diesem Heft)<br />

Abb. 1: <strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>? (Quelle: www.fl ickr.com)<br />

2 Dieser Ansatz blendet jedoch sowohl die Ober- als auch die Unterschicht aus, gibt<br />

also nur einen Ausschnitt aus der gesellschaftlichen Realität wieder. Weiterhin wird<br />

bei der Milieu-Konstruktion der traditionelle und den Strukturmerkmalen zuzuordnende<br />

Schichtungsaspekt defi nitorisch einem bestimmten Abschnitt in der Werte-/<br />

Modernisierungsskala zugeordnet; eine Unabhängigkeit von sozialer Schicht und<br />

sozialem Milieu würde bedeuten, dass man den statistischen Zusammenhang und<br />

dessen Wandel <strong>–</strong> der an verschiedenen Teilen der Gesellschaft enger oder weiter sein<br />

resp. unterschiedlich dynamisch sein dürfte <strong>–</strong> ermitteln könnte. Schließlich stellt die<br />

Ermittlung der Milieustruktur ein lang erarbeitetes Betriebskapital des Unternehmens<br />

dar, entsprechend „undurchsichtig“ ist der Zugang für die Anwender in Wissenschaft<br />

und Praxis.<br />

vhw FW 3 / Juni <strong>–</strong> Juli 2008 127


Stadtentwicklung<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

setzt sich damit auseinander, dass analytisch zwischen den<br />

Strukturdaten und den (des)integrativen Handlungsweisen eine<br />

soziokulturelle Ebene der tiefer sitzenden Wertvorstellungen<br />

und Lebensentwürfe notwendig ist, um „statistische Zwillinge“<br />

sinnvoll zu bewerten, d.h. Menschen, die trotz gemeinsamer<br />

Ausprägungen von Strukturdaten unterschiedliche Einstellungsund<br />

Wertemuster und daher unterschiedliche Wahrnehmungen,<br />

Bewertungen konkreter sozial-räumlicher Settings und daher<br />

auch unterschiedliche Handlungsweisen in ihnen haben.<br />

Dieser Ansatz entspricht der Theorie des französischen Soziologen<br />

Bourdieu und wurde mehrfach auf <strong>Segregation</strong>sanalysen<br />

angewendet (vgl. Bourdieu 1991, Dangschat 2004, 2007a,<br />

2007b). Im Ergebnis steht, dass die Analysen zum Zusammenhang<br />

aus (des)integrativem Verhalten und Nachbarschaftseffekten<br />

(Kompositionseffekte, Struktureffekte der Nachbarschaft<br />

wie Bau- und Infrastruktur, Lage und Erreichbarkeit sowie lokal<br />

gebundene Kulturen und feststehende Imagebilder <strong>–</strong> „Habitus<br />

des Ortes“) vorerst nur in Fallstudien, d.h. anhand von Konzentrationen<br />

ermittelt werden können, wobei eine Triangulation von<br />

Daten vorzunehmen ist.<br />

Von der Notwendigkeit von<br />

Sozialraumanalysen<br />

Um also der Frage nachgehen zu können, wie unterschiedliche<br />

Elemente sozialer Ungleichheit miteinander verwoben sind (die<br />

überwiegende Aufmerksamkeit gilt bei <strong>Segregation</strong>süberlegungen<br />

nahezu ausschließlich dem Status der Migration/des<br />

Migrationshintergrundes 3 ) und wie diese sich möglicherweise<br />

im Zusammenleben in spezifi schen sozial-räumlichen Settings<br />

(des)integrationsfördernd auswirken, setzt auch einen veränderten<br />

Blick auf „den Raum“ voraus, der nicht länger administrativ<br />

begrenzt sowie mit Objekten und Personen „angefüllt“ als<br />

Container verstanden werden kann, sondern als ein relationaler<br />

Raum, den soziale Gruppen als Ressource nutzen und in<br />

Wechselwirkung zueinander (re)konstruieren und entsprechend<br />

handeln (‚spacing‘, vgl. Löw 2000). Der Raum wird aber auch<br />

hergestellt, materiell (Wohnbau- und Infrastruktur, städtebauliche<br />

und architektonische Qualität, Erreichbarkeiten <strong>–</strong> mehr oder<br />

weniger belastet) und ideologisch (Images von Großsiedlungen<br />

oder innerstädtischem Altbaubestand, Normen des sozial geförderten<br />

Wohnungsbaus und der infrastrukturellen Ausstattung,<br />

des „guten Wohnens“ und der sozialen Mischung). Das bedeutet,<br />

dass den Stadtvierteln Funktionen zugeschrieben werden,<br />

hinter welchen mächtige Wirkungsgefüge stecken, die Orte zu<br />

Durchgangs- oder Auffangstationen resp. zu Orten städtischer<br />

sozialer Vielfalt oder einer sozialen Einfalt machen (gated communities,<br />

‚gentrifi ed areas‘ oder „Themenwohnen“ wie autofreie<br />

Siedlungen, Frauenwerkstätten und Integrationswohnen).<br />

3 Dieser Begriff klingt enorm ‚political correct‘, bringt jedoch eher Hilfl osigkeit zum<br />

Ausdruck. Man reagiert letztlich darauf, dass aufgrund von Einbürgerungen selektive<br />

Sozialisationseffekte resp. Diskriminierungsformen nicht unwirksam werden; da aber<br />

die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund in relevanten Fragestellungen<br />

eine enorme Binnen-Heterogenität aufweisen dürften, ist mit der Verwendung des<br />

neuen Begriffes kaum ein analytischer Fortschritt zu erzielen.<br />

Entsprechend der Mehrebenen-Analysen geht man in der sozialwissenschaftlichen<br />

Raumtheorie auch von drei Ebenen aus:<br />

❏ Die Makroebene, von der aus der physische Raum materiell<br />

und ideologisch hergestellt wird und in welcher Gruppenzuweisungen<br />

beispielsweise in Wohnungsmarktsegmente<br />

erfolgen (Grundlage von <strong>Segregation</strong>s- und Konzentrationsmustern),<br />

❏ die Mesoebene, auf der die Gruppenschließungsprozesse<br />

ablaufen, d.h. die Ebene konkreter Orte (am ehesten noch<br />

kombinierbar mit den traditionellen Raumvorstellungen) in<br />

ihrer materiell-physischen Erscheinungsform, die Komposition<br />

der sozialen Akteure sowie die übergreifende, länger<br />

andauernde Symbolik, die dem Ort zugeschrieben wird, und<br />

❏ die Mikroebene als der raumbezogenen Handlungsebene,<br />

wobei orts- und zeitabhängige Konstruktionen der sich jeweils<br />

rasch ändernden Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster<br />

einzelner Menschen stattfi nden (vgl. Dangschat 2007c).<br />

Begreift man nun die (Des-)Integration als an jeweils spezifi sche<br />

Orte gebundene relationale und refl exive soziale Prozesse zwischen<br />

unterschiedlichen Menschen, die einander zu sozialen<br />

Gruppen des „Wir“ und „die Anderen“ zusammenfügen, dann<br />

kann mit einem solchen Ansatz das komplexe Gefüge sozialer<br />

Prozesse an Orten auf ihre (Des-)Integrationskraft untersucht<br />

werden, die aufgrund der dortigen Konzentration von Wohnstandorten<br />

von Menschen mit spezifi schen Ausprägungen von<br />

Strukturmerkmalen als „problematisch“ eingestuft werden. Das<br />

allerdings setzt voraus <strong>–</strong> was mittlerweile aus der aktuellen<br />

Stadtsoziologie bezweifelt wird <strong>–</strong> dass der Wohnstandort immer<br />

noch der entscheidende Ort für Sozialisationsleistungen ist, an<br />

dem Toleranz und Offenheit als Voraussetzung für das Ertragen<br />

resp. das Lieben gesellschaftlicher Heterogenität eingeübt wird.<br />

Aus der Stadtsoziologie kommen hier eher Bedenken, ob der<br />

Wohnort von (homogenen) Gruppen überhaupt noch relevant<br />

ist, da sich die Mobilitätsmuster von Informationen und Menschen<br />

und damit die Muster der sozialen Kontakte erheblich<br />

ausgeweitet haben.<br />

Nicht die Lage der Wohnung,<br />

sondern der Öffentliche Raum<br />

entscheidet über Integration<br />

Ob und welche relative Bedeutung die Wohnung und ihr unmittelbares<br />

Wohnumfeld für die Rekonstruktion des Alltages hat,<br />

unterscheidet sich zwischen sozialen Gruppen nach ihrer sozialen<br />

Lage (Status und Lebenszyklus) und ihrem sozialen Milieu<br />

(was zusammengenommen den Lebensstil prägt). Für die „neuen<br />

kreativen Milieus“ gibt es schon erste Ansätze, den Arbeitsort<br />

als Lebensmittelpunkt zu betrachten. Dahinter steht die These,<br />

dass die „kreative Arbeit“ aufgrund ihrer Dauer und des häufi gen<br />

Überlagerns und Verschmelzens mit Freizeit identitätsstiftend ist<br />

(culturepreneur, Lange 2005). Weiter wird davon ausgegangen,<br />

dass diese Milieus spezifi sche Orte aufsuchen und formen, um<br />

ihre spezifi schen Lebensgewohnheiten auszuleben, aber auch,<br />

128 vhw FW 3 / Juni <strong>–</strong> Juli 2008


Stadtentwicklung<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

Abb. 2: Ebenen zwischen Struktur- und Handlungsmerkmalen<br />

um innovative Produkte zu erzeugen. Das ist insofern segregationsrelevant,<br />

weil in diesen Gruppen die Kreativität durch das<br />

Zusammenspiel möglichst unterschiedlicher Denktraditionen<br />

erzeugt wird (diversity management). Die Frage ist, welche Bedingungen<br />

solche Orte erfüllen müssen, wie diese Orte weiter<br />

entwickelt werden und wie eine neue „Kultur des Vertrauens“<br />

entstehen kann, aus der heraus nicht nur ‚creative industries‘,<br />

sondern auch eine kreative Zivilgesellschaft entstehen kann<br />

(vgl. Frey 2008).<br />

Es ist zudem überraschend, dass dem Öffentlichen Raum in<br />

der <strong>Segregation</strong>s-/Integration<strong>sforschung</strong> bislang so wenig Beachtung<br />

geschenkt wurde 4 , ist doch der Öffentliche Raum der<br />

Ort, an dem die Sichtbarkeit des Fremden in besonderer Weise<br />

wahrgenommen wird, ist er doch zudem die Bühne, auf der sich<br />

die sozialen Gruppen zeigen; es ist der Raum, der besetzt und<br />

eingenommen wird, ohne einen Eigentumstitel zu haben.<br />

Gerade in gemischten Gebieten zeigen sich die sozialen Gruppen,<br />

nehmen einander wahr und schließen sich nicht hinter<br />

den Wohnungstüren ein. Ein großer Teil der Menschen mit<br />

Zuwanderungshintergrund ist es gewohnt, den Öffentlichen<br />

Raum viel selbstverständlicher zu besetzen, sich dort zu treffen<br />

4 Natürlich ist dieser Umstand pragmatisch erklärbar, so lange man kleinräumige Statistiken<br />

über die Belegung und die Ausstattung von Wohnungen hat und kräftig an<br />

die Erklärungskraft der wenigen Strukturdaten über die Wohnbevölkerung glaubt.<br />

und zu verabreden, einen Teil des „privaten Wohnens“ nach<br />

draußen zu verlagern <strong>–</strong> das gilt insbesondere dann, wenn die<br />

Wohnungen überbelegt und schlecht ausgestattet sind, wenn<br />

die Menschen viel freie Zeit haben und wenn sie männlich sind.<br />

Ihre Wahrnehmbarkeit über äußere Merkmale und expressiveren<br />

Verhaltensweisen führt jedoch zu Verunsicherungen und Ängsten<br />

in den eher konservativen Milieus der Aufnahmegesellschaft<br />

(einschließlich bereits recht gut integrierter Menschen mit Zuwanderungshintergrund).<br />

Dies führt zum einen dazu, dass die<br />

Zahl und der Anteil der Fremden überschätzt werden („angstgeweitete<br />

Pupillen“) und sehr häufi g zu Abwehr-Reaktionen einer<br />

„überforderten Nachbarschaft“. Betrachtet man die Optionen<br />

der verunsicherten Alteingesessenen, so bleiben entweder<br />

❏ Ausweich-Strategien [Fortzug (1a) und Rückzug in die eigene<br />

Lebenswelt (1b)],<br />

❏ Protest-Strategien [mehr oder weniger geäußerte Fremdenfeindlichkeit<br />

(2a), die Suche nach Sündenböcken, denen<br />

die Schuld an allgemeiner Verschlechterung zugeschrieben<br />

werden kann (2b)], oder aber<br />

❏ Arrangements mit „den Fremden“ in (nahezu) berührungslosen,<br />

aber zivilisierten Parallelwelten (3a) und das Lernen<br />

voneinander (3b).<br />

vhw FW 3 / Juni <strong>–</strong> Juli 2008 129


Stadtentwicklung<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> <strong>–</strong> <strong>quo</strong> <strong>vadis</strong>?<br />

In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass es noch<br />

immer einige Sozialwissenschaftler gibt, welche die Meinung<br />

der Mehrzahl der Kommunalpolitiker und Verwaltungsbeschäftigten<br />

teilen, dass die Kontakte unter Fremden nur nach dem<br />

Muster 3b bearbeitet werden. Integration im Öffentlichen Raum<br />

soll hier heißen, dass alle Gruppen die Möglichkeit haben, den<br />

Öffentlichen Raum <strong>–</strong> betrachtet als System von Plätzen, Parks,<br />

Höfen und Straßen <strong>–</strong> in einer Weise zu nutzen, dass sie das Gefühl<br />

haben, den Abstand zu „den Anderen“ weitgehend selbst<br />

steuern können (vgl. Breitfuss et al. 2004). Wie Beobachtungen<br />

im Öffentlichen Raum Wiens gezeigt haben, weichen sich potenziell<br />

störende soziale Gruppen im Tagesverlauf in der Regel<br />

durch eine fl exible Nutzung der Raumsysteme eher aus, als<br />

konfrontativ und demonstrativ Orte zu besetzen.<br />

Was ist zu tun?<br />

<strong>Segregation</strong><strong>sforschung</strong> sollte also nicht mehr in traditioneller<br />

Weise fortgeführt werden. Aus Anteilen von Bevölkerungsgruppen<br />

kann weder eine gelingende Integration erwartet resp.<br />

eine misslingende Integration befürchtet werden. Zweitens ist<br />

die ausschließliche Orientierung am Wohnort zur Beschreibung<br />

sozial-räumlicher Integration/Desintegration zumindest fragwürdiger<br />

geworden. Stattdessen bietet sich der Öffentliche Raum<br />

mit den dort gegebenen fl exiblen Formen der Raumnutzung<br />

und -aneignungen an. Diesen Raum gilt es, als komplexes<br />

relationales soziales Gefüge zu verstehen sowie die Interessen<br />

und Handlungsweisen sozialer Gruppen im Raum, deren<br />

Symbolik und die des gebauten Raumes zu deuten. Will man<br />

die soziale Integration unterstützen, sollte es das Ziel sein, das<br />

lokale, politische und soziale Klima hinsichtlich der Toleranz<br />

von Vielfalt zu stärken <strong>–</strong> gegenwärtig geschieht jedoch eher<br />

das Gegenteil aufgrund kommunaler Entscheidungen resp. der<br />

Präferenzen des Immobiliensektors. Eine Stärkung erreicht man<br />

durch quartiersbezogene Diskurse und Maßnahmen, welche die<br />

unterschiedlichen Gruppen einbeziehen; die Sozialwissenschaft<br />

nennt dies die „schwachen Verbindungen“ stärken und „Brücken<br />

zu bauen“ zwischen den sozialen Gruppen (vgl. Madanipour<br />

2005). Da sowohl den Kommunen als auch dem Immobiliensektor<br />

ansonsten wenige Möglichkeiten zur Verfügung stehen,<br />

die Kohäsion der Stadtgesellschaften zu stärken, sollten sie dies<br />

wenigstens bewusst und intensiv tun.<br />

Prof. Dr. phil. Jens S. Dangschat<br />

Professor für Siedlungssoziologie an der Technischen Universität<br />

Wien, Fachbereich Raumentwicklung, Infrastruktur- und<br />

Umweltplanung, Leiter des Fachbereichs Soziologie und des<br />

Arbeitsbereichs Urbanistik<br />

Quellen:<br />

Atkinson, Rowland/Kintrea, Keith (2004): ‚Opportunities and Despair, It’s All<br />

in There’ Practitioner Experiences and Explanations of Area Effects and Life<br />

Chances. Sociology, 38, No. 3, 2004: 437-455.<br />

Blasius, Jörg (1988): Indizes der <strong>Segregation</strong>. In: J. Friedrichs (Hrsg.): Soziologische<br />

Stadtforschung. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,<br />

Sonderheft 29/1988: 410-431.<br />

Breitfuss, Andrea/Dangschat, Jens S./Gruber, Sabine/Gstöttner, Sabine/<br />

Witthöft, Gesa (2006): Integration im öffentlichen Raum. Stadt Wien, Magistratsabteilung<br />

18 (Hrsg.): Werkstattbericht 82.<br />

Dangschat, Jens S. (2004): <strong>Segregation</strong> <strong>–</strong> Indikator für Desintegration? In:<br />

Journal für Konfl ikt- und Gewaltforschung 6 (2004), Heft 2: 6-31.<br />

Dangschat, Jens S. (2007a): Wohnquartiere als Ausgangspunkt sozialer<br />

Integrationsprozesse. In: Kessel, F./Otto, H.-O. (Hrsg.): Territorialisierung des<br />

Sozialen. Regieren über soziale Nahräume. Opladen & Farmington Hills:<br />

Barbara Budrich Verlag: 255-272.<br />

Dangschat, Jens S. (2007b): <strong>Segregation</strong> und Sicherheitsaspekte in Städten.<br />

In: Der Städtetag 2/2007. 12-16.<br />

Dangschat, Jens S. (2007c): Raumkonzept zwischen struktureller Produktion<br />

und individueller Konstruktion. In: Ethnoscripts 9, Heft 1: 24-44.<br />

Dangschat, Jens S. 2008: Räumliche Aspekte der Armut. In: Dimmel, N./<br />

Heitzmann, K./Schenk (Hrsg.): Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck:<br />

Innsbrucker Studienverlag: im Druck.<br />

Frey, Oliver (2008): Orte.Netze.Milieus <strong>–</strong> Zur kommunalen Steuerung kreativer<br />

Milieus in einer „amalgamen Stadt“. Unveröff. Diss., TU Wien.<br />

Heitmeyer, Wilhelm/Anhut, Reimund (Hrsg.) (2000): Bedrohte Stadtgesellschaft.<br />

Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfl iktkonstellationen.<br />

Weinheim & München: Juventa.<br />

Lange, Sebastian (2005): Sociospatial Strategies of Culturepreneurs. The<br />

Example of Berlin and Its New Professional Scenes. Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie<br />

49(2): 79-96.<br />

Löw, Martina (2000): Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.<br />

Madanipour, Ali (2005): Public Space and Social Integration. In: Schader<br />

Stiftung; Deutscher Städtetag; GdW Bundesverband deutscher Wohnungsund<br />

Immobilienunternehmen; Deutsches Institut für Urbanistik & Institut für<br />

Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft, Stadt- und Regionalentwicklung<br />

(Hrsg.): Zuwanderer in der Stadt <strong>–</strong> Expertisen zum Projekt. Darmstadt, Schader<br />

Stiftung: 349-382.<br />

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130 vhw FW 3 / Juni <strong>–</strong> Juli 2008

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