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Studentenzeitschrift für Sprache und Kultur, München, LMU

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Existiert noch Slawistik?<br />

Pavlo Popov<br />

Alles befindet sich im Wandel. Was ist das Tribut,<br />

das der Gegenwart zu entrichten gilt, was eine<br />

vorübergehende, modische Erscheinung, Trend, und<br />

wer mag darüber urteilen? Diesen Prozessen unterliegt auch<br />

das Bildungssystem im Allgemeinen und die akademische<br />

Fachrichtung Slawistik im Einzelnen.<br />

Slawistik als Universitätsfach hat eine über 200-jährige<br />

Geschichte; es ist ein Fachgebiet, das seit ihren Beginnen<br />

bis in die Gegenwart sich immer wieder aufs Neue definieren<br />

musste. Angefangen hat es noch am Ende des 18. Jahrhunderts,<br />

als die progressiven Vertreter der Kleinbürgerlichkeit gegen<br />

die Vorherrschaft der Feudalklasse kämpfte, was zum<br />

Streben einer nationalen und ökonomischen Einheit führte,<br />

würde man in sozialistisch dominierten Darstellungen lesen.<br />

Wir lassen die marxistisch-dialektische Deutung erst einmal<br />

beiseite und schauen uns die Folge an: Eine neue Idee war<br />

geboren worden. Diese Idee besagte, dass der Volksgeist<br />

in der Sprache des Volkes, in seinen Sitten und Bräuchen,<br />

in seinen Liedern lebt. Die Idee kam zur rechten Zeit:<br />

Außer Russland hatte kein einziges slawisches Volk einen<br />

eigenen Staat, sondern existierte innerhalb der Grenzen der<br />

damaligen Riesenimperien: Dem Osmanischen Reich, der<br />

Zwischenkriegszeit wurde des Weiteren das Augenmerk auf<br />

die slawistische Dialektologie gelegt.<br />

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und zum Beginn<br />

des Kalten Krieges wuchs schließlich das Interesse der<br />

westlichen Länder an seinen slawischen Nachbarn, die sich<br />

auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befanden. Für<br />

Deutschland kann man ohne Übertreibung von der Blütezeit<br />

der Slawistik sprechen. Das spiegelte sich qualitativ in<br />

der Breite der Angebote und quantitativ in der Anzahl der<br />

Professuren an Slawistikinstituten wider.<br />

Der Slawistik-Boom endet mit dem Zerfall des sozialistischen<br />

Lagers. Nimmt man die LMU als Beispiel, so bleiben in<br />

München zurzeit nur noch 4 slawistische Lehrstühle, wobei<br />

„von oben“ bereits angedeutet wurde, dass eine Professur<br />

nach der Pensionierung des einschlägigen Dozenten nicht<br />

mehr besetzt wird.<br />

Im Ganzen lassen sich in der Slawistik heute folgende<br />

Tendenzen erkennen: Untergang der Slawistik als eine<br />

philologische Disziplin und Herauskristallisierung der<br />

einzelenen „Istiken“ wie Russistik, Polonistik, Bohemistik.<br />

„Die These der kulturellen, sprachlichen und geschichtlichen Einheit der slawischen<br />

Völker bestimmte die Breite der damaligen Slawistik, die den rein philologischen<br />

Rahmen sprengte. Geschichte, Ethnographie, Landeskunde, Archäologie und viele<br />

andere Disziplinen machten das neue komplexe Fach aus.“<br />

Habsburger Monarchie, dem Russischen Imperium, sowie in<br />

anderen Staatsgebilden. Die neue Idee sollte die slawischen<br />

Völker einen, wobei der stärkste Einigungsfaktor die Sprache<br />

war.<br />

Die ersten „Slawisten“ erfassten also im Dienste der neuen<br />

Idee des Nationalen die Folklore der slawischen Völker,<br />

sammelten slawische schriftliche Denkmäler, bemühten<br />

sich, die einzelnen Sprachen zu kodifizieren und gaben erste<br />

Grammatiken heraus. Die These der kulturellen, sprachlichen<br />

und geschichtlichen Einheit der slawischen Völker bestimmte<br />

die Breite der damaligen Slawistik, die den rein philologischen<br />

Rahmen sprengte. Geschichte, Ethnographie, Landeskunde,<br />

Archäologie und viele andere Disziplinen machten das neue<br />

komplexe Fach aus.<br />

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam<br />

es zu Tendenzen, die eigentliche Slawistik auf die<br />

sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und<br />

folkloristischen Gebiete zu begrenzen. Mit dem Entstehen<br />

der Indogermanistik wächst zudem das Interesse an der<br />

vergleichenden historischen Sprachwissenschaft, wo die<br />

slawischen Sprachen untereinander und im Kontext der<br />

indoeuropäischen Sprachfamilien verglichen und untersucht<br />

wurden. An vielen Universitäten äußerte es sich z.B. darin,<br />

dass das Altgriechische, das Litauische oder das Sanskrit<br />

zum Bestandteil der Slawistik-Lehrpläne wurde. In der<br />

Dort, wo es ursprünglich eine starke Slawistik gab,<br />

entstehen sogenannte „areale Studien“. Populär scheinen<br />

in diesem Zusammenhang Studiengänge wie Ost- und<br />

Mitteleuropastudien, Balkanistik etc. zu sein. In Prag gibt<br />

es mittlerweile kein Slawistikinstitut mehr. Dieses wurde<br />

schließlich in das Institut für Osteuropastudien, das Institut<br />

für Südosteuropa- und Balkanstudien und das Institut für<br />

Mitteleuropastudien aufgeteilt. In ihrer ganzen philologischen<br />

Breite wird wahrscheinlich nur noch die tschechische<br />

Philologie am Institut für Bohemistik unterrichtet. Am<br />

Institut für Mitteleuropastudien wird beispielsweise neben<br />

den Sprachen und Literaturen auch Geschichte, Politik und<br />

Kultur studiert und neben Polen und der Slowakei fließen<br />

auch Ungarn und Albanien in das Programm mit ein.<br />

Das ist natürlich keine Slawistik mehr, denn im Vordergrund<br />

stehen ganz andere Ideen, als es noch im 19. Jahrhundert<br />

der Fall war. Die Idee der slawischen Einheit ist nicht mehr<br />

politisch aktuell; diese tritt zurück hinter einer Idee der<br />

einzelslawischen Eigenheit sowie der Idee der wirtschaftlichen<br />

Integrität im globalisierten Europa. Panslawismus muss also<br />

seinen Platz für die neuen abstrakten Begriffe der Areale<br />

räumen.<br />

Die ‚Ent-Philologisierung‘ der Slawistik nimmt dabei<br />

ganz konkrete Züge an. Wenn man beispielsweise die<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 16 |

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