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Studentenzeitschrift für Sprache und Kultur, München, LMU

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Das Landstreichen<br />

Mandi Kiadu-Szinmanow<br />

E s kann zu jemandem sein.<br />

Es kann mit jemandem sein.<br />

Aber trotzdem immer alleine.<br />

In einer Gruppe. Zum Ziel. Ohne Ziel. Nach etwas.<br />

Weit. Nah. Für lange. Für ein Moment. Zurück.<br />

Für immer.<br />

Von sich selbst oder gezwungen.<br />

Aus der Notwendigkeit des Kennenlernens, der Freiheit, des<br />

Raumes.<br />

Aus Mangel.<br />

Aus Übermaß.<br />

Aus einem Grund oder einfach so.<br />

Mein ist nicht anders als alle. Am Anfang dachte ich so, aber<br />

nach einer Weile habe ich es verstanden, dass es weder<br />

mein Landstreichen gibt, noch kein dein, kein unseres, kein<br />

eures, kein sein, kein ihr, keins der anderen, aber nur ein,<br />

gemeinsames, wahres, echtes.<br />

Ohne zu sehen dachte ich, ich sehe alles. Ohne etwas zu<br />

können dachte ich, ich kann alles. Ohne etwas zu haben<br />

dachte ich, ich habe alles. Deswegen musste ich los und alles<br />

hinterlassen. Ich ging raus und kam nie zurück. Das musste so<br />

sein, alles andere wäre falsch. Denn würde ich bleiben, gäbe<br />

es mich nicht mehr. Ich würde mich unter den Menschen<br />

verdünnen. Unter denen, die sich entschlossen haben zu<br />

bleiben.<br />

Ich bin nicht weggerannt, in Wahnsinn schreiend, in Panik<br />

geflüchtet, wie es viele vor mir gemacht haben. Ruhig,<br />

bewusst ging ich hinaus und fing mein Landstreichen an.<br />

Ich nahm nur das wichtigste mit mir: gute Schuhe, warme<br />

Kleider, ein paar Bücher.<br />

Ich weiß nicht wann ich mich dafür entschlossen habe. Ich<br />

zähle keine Tage. Ich brauche keine Minuten, Stunden, Tage<br />

oder Jahre. Ich gehe. Egal woher, egal wohin. Und bin. Ohne<br />

ein Ziel zu haben. Ich komme nie an, ich kehre aber auch nie<br />

zurück. Wohin denn?<br />

Manchmal bleibe ich stehen. Nicht für lange, aber auch nicht<br />

für sehr kurz. Wenn ich schon stehen bleibe, dann bleibe ich<br />

so für eine Weile. Manchmal dauert es nur paar Sekunden,<br />

um auszuruhen. Manchmal dauert es Jahre. Aber ich bleibe<br />

nie für immer stehen, immer gehe ich weiter.<br />

Schlendernd lerne ich neue Welten und neue Menschen<br />

kennen, Menschen, von dessen Existenz ich nicht wusste.<br />

Manche schließen sich an und wir gehen dann zusammen<br />

weiter, eine Weile. Manche fangen selber an zu gehen.<br />

Manche treffe ich noch oft, manche nie wieder. Jedes Treffen<br />

gibt mir etwas, jedes bereichert, jedes bleibt in der Erinnerung.<br />

Ich bereue es nie. Ich denke nie daran, was wäre, wenn ich<br />

geblieben wäre.<br />

Es ist kein Aufschrei gegen Menschen, es ist kein Widerstand<br />

gegen die Zivilisation, das alles ist für sie. Ich bin derjenige,<br />

den sie sich mit den Fingern zeigen. Ich bin derjenige, der aus<br />

den touristischen Vierteln vertrieben wird. Ich bin derjenige,<br />

den sie morgens in der Mülltonne wühlend nicht sehen wollen.<br />

Ich bin derjenige, der nicht passt, der stört, der beunruhigt.<br />

Die, die geblieben sind statt loszugehen, würden es gerne<br />

sehen, dass es mich nicht gäbe. Dass ich ihnen die Sicht ihrer<br />

sauberen Stadt mit meiner im Hintergrund vorbeigehenden<br />

Person nicht verschmutze. Das ich nicht auf den selben<br />

Bänken sitze, auf denen sie ihr Lunch in Anzügen essen. Sie<br />

fühlen Ekel wenn sie mich sehen. Das glauben sie mindestens.<br />

Sie verstehen es nicht, dass es ein Echo der alten Entscheidung<br />

ist, dass ein kleiner Teil ihrer Persönlichkeit, jetzt schon fast<br />

total abgestumpft, sich das letzte Mal probiert zu befreien.<br />

Ich streiche umher.<br />

Ich streiche umher für immer.<br />

Weil ich so muss, um frei zu sein.<br />

Um zu versuchen.<br />

Um zu erleben.<br />

Um zu verstehen.<br />

Um zu wissen.<br />

Um alles zu haben ohne etwas zu haben.<br />

Um zu sein.<br />

Um mich zu sein.<br />

Weil es so ist.<br />

Weil man es anders nicht kann.<br />

Weil ich es anders nicht kann.<br />

Weil ich und du und er und sie und wir und alle.<br />

Wenn man einmal anfängt zu gehen kann man nicht mehr<br />

stehen bleiben. Es macht süchtig, wie reine Luft, wie die Jagd<br />

nach dem Horizont, wie Freiheit.<br />

Ich wandere zu Fuß, fange Mitfahrgelegenheiten, schlafe in<br />

Güterwaggons, esse zwischen den Containern auf Schiffen.<br />

Straßen entlang, quer durch die Städte, mitten in Abwegen.<br />

In der Luft, auf dem Lande, im Wasser, unter der Erde. Vor<br />

mich.<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 4 |

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