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Studentenzeitschrift für Sprache und Kultur, München, LMU

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N EW<br />

ISSN 2195-2876<br />

Ausgabe 2 (1/2013)<br />

Mandi Kiadu-Szinmanow | LANDSTREICHEN<br />

Maria Levchenko | ETYMOLOGIE<br />

Martyna Lingenfelder | MÄRCHENWELT<br />

Georg Simic | KRISENWÖRTER<br />

Marc-Philipp Maeck | ORDRE PUBLIC<br />

Mehmet Akif Öz | ARCHITEKTUR<br />

Pavlo Popov | SLAWISTIK


Inhalt | Artikel<br />

4 Das Landstreichen<br />

Mandi Kiadu-Szinmanow<br />

6 Die Märchenstunde hat<br />

geschlagen<br />

Martyna Lingenfelder<br />

13 Der ordre public. Eine<br />

philosophische Betrachtung<br />

Marc-Philipp Maeck<br />

15 Las Vegas: Die Jagd nach „Enten“<br />

und „dekorierten Schuppen“<br />

Mehmet Akif Öz<br />

16 Existiert noch Slawistik?<br />

Pavlo Popov<br />

Inhalt | Rubriken<br />

3 Editorial<br />

5 Bab(b)elfischkolumne<br />

9 Interview<br />

12 Worte über Worte<br />

Impressum<br />

Herausgeber<br />

Aleksander Wiatr<br />

Redakteur<br />

Georg Simic<br />

Kontakt<br />

redaktion@newspeakmagazin.de<br />

www.newspeakmagazin.de<br />

facebook.com/ZirkelBabel<br />

Autoren dieser Ausgabe<br />

Mandi Kiadu-Szinmanow, Maria Levchenko,<br />

Martyna Lingenfelder, Marc-Philipp Maeck,<br />

Mehmet Akif Öz, Pavlo Popov, Georg Simic<br />

Layout & Design<br />

Adam Borowski (Titelbaltt)<br />

Damian Mandzunowski, Aleksander Wiatr<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 2 |


Editorial<br />

Für die zweite Ausgabe des nsm haben wir ein Inspirationswort gewählt: Ignoranz.<br />

Dies hatte keinesfalls zum Zweck, unseren Beiträgen eine Grenze zu setzen – was<br />

in unseren Zeiten gar nicht ungewöhnlich ist – sondern schlichtweg, um unseren<br />

Autoren eine Stütze für die Ideengebung ihrer Texte liefern zu können. Die Wahl<br />

dieses Worts ging aus einer zirkelinternen Diskussion heraus, in der aus vielen<br />

anderen Wortvorschlägen, ebendieses den größten Teil der Stimmen bekommen<br />

hat.<br />

Warum Ignoranz? Erstens, weil sie etwas ist, was alle von uns jeden Tag miterleben,<br />

ob wir es wollen oder nicht. So hat die Stadtpolitik gegenüber den Obdachlosen und<br />

Asylanten zur Folge, dass wir eine saubere und schöne Stadt erleben, die jedoch in<br />

ihrer Sterilität viele nicht so repräsentative, aber desto mehr reale Elemente einer<br />

Großstadt, hinter seiner renovierten Oberfläche versteckt. Anders, aber genauso<br />

ignorant, ist es in surrealen Konsumstädten wie Las Vegas, wo die Fassaden nichts<br />

mehr als das, wie sie aussehen, zu bieten haben. In der Jagd nach Schönheit und<br />

Erfolg vergessen wir, dass die Wirklichkeit nicht nur aus Plastik und Flitter besteht.<br />

Eine andere, nicht weniger politische, Ebene in der Ignoranz vorkommt, ist der<br />

rechtliche Aufbau von vielen Ländern. Dort, wo wir es mit dem ordre public zu tun<br />

haben, kommt es auch oft zu Missbrauchen und einem Kampf zwischen Toleranz<br />

und Ignoranz. Auch die Berichterstattung der Mainstream-Medien beeinflusst das<br />

Wahrnehmen der Welt durch eine gezielte Wortwahl, die ein konkretes Weltbild<br />

voller Bedrohungen und Gefahren, vor denen wir Angst haben sollen, kreiert.<br />

Sogar in der, wie man denken würde, sehr politisch-neutralen Realität der Märchen<br />

und Sagen, gelangen durch eine rücksichtslose Entwicklung der elektronischen<br />

Umgebung und durch die Zunahme der Geschwindigkeit des Lebens viele<br />

kulturschaffende Erzählungen ins Vergessen. Genau so in der Wissenschaft – bei der<br />

Gestaltung von solchen kulturbreitgreifenden Studiengängen wie Slawistik werden<br />

auch viele Elemente der jeweiligen Kulturen zwangsläufig außer Acht gelassen, die<br />

zur Vernachlässigung der Einen zugunsten der Anderen führen können.<br />

Es ist uns bewusst, dass die vielen Ebenen der Ignoranz hiermit erstens nicht<br />

vollständig übergreifen und zweitens auch nicht beseitigt werden konnten.<br />

Durch die thematisch differenzierte Auswahl von Texten wollten wir aber darauf<br />

aufmerksam machen, dass das Problem der Ignoranz in fast allen gesellschaftlichen<br />

Bereichen und kulturunabhängig vorkommt. Es ist eine ewige Dichotomie, dass im<br />

Rahmen einer Kultur die Ignoranz und das ihr gegenübergestellte Engagement,<br />

existierten, existieren und existieren werden. Es ist eine Konstante, die wir nicht<br />

komplett bekämpfen können, die jedoch auf viel mehr Aufmerksamkeit und<br />

Debatte verdient. Ignorieren wir die Ignoranz nicht.<br />

Die Redaktion<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 3 |


Das Landstreichen<br />

Mandi Kiadu-Szinmanow<br />

E s kann zu jemandem sein.<br />

Es kann mit jemandem sein.<br />

Aber trotzdem immer alleine.<br />

In einer Gruppe. Zum Ziel. Ohne Ziel. Nach etwas.<br />

Weit. Nah. Für lange. Für ein Moment. Zurück.<br />

Für immer.<br />

Von sich selbst oder gezwungen.<br />

Aus der Notwendigkeit des Kennenlernens, der Freiheit, des<br />

Raumes.<br />

Aus Mangel.<br />

Aus Übermaß.<br />

Aus einem Grund oder einfach so.<br />

Mein ist nicht anders als alle. Am Anfang dachte ich so, aber<br />

nach einer Weile habe ich es verstanden, dass es weder<br />

mein Landstreichen gibt, noch kein dein, kein unseres, kein<br />

eures, kein sein, kein ihr, keins der anderen, aber nur ein,<br />

gemeinsames, wahres, echtes.<br />

Ohne zu sehen dachte ich, ich sehe alles. Ohne etwas zu<br />

können dachte ich, ich kann alles. Ohne etwas zu haben<br />

dachte ich, ich habe alles. Deswegen musste ich los und alles<br />

hinterlassen. Ich ging raus und kam nie zurück. Das musste so<br />

sein, alles andere wäre falsch. Denn würde ich bleiben, gäbe<br />

es mich nicht mehr. Ich würde mich unter den Menschen<br />

verdünnen. Unter denen, die sich entschlossen haben zu<br />

bleiben.<br />

Ich bin nicht weggerannt, in Wahnsinn schreiend, in Panik<br />

geflüchtet, wie es viele vor mir gemacht haben. Ruhig,<br />

bewusst ging ich hinaus und fing mein Landstreichen an.<br />

Ich nahm nur das wichtigste mit mir: gute Schuhe, warme<br />

Kleider, ein paar Bücher.<br />

Ich weiß nicht wann ich mich dafür entschlossen habe. Ich<br />

zähle keine Tage. Ich brauche keine Minuten, Stunden, Tage<br />

oder Jahre. Ich gehe. Egal woher, egal wohin. Und bin. Ohne<br />

ein Ziel zu haben. Ich komme nie an, ich kehre aber auch nie<br />

zurück. Wohin denn?<br />

Manchmal bleibe ich stehen. Nicht für lange, aber auch nicht<br />

für sehr kurz. Wenn ich schon stehen bleibe, dann bleibe ich<br />

so für eine Weile. Manchmal dauert es nur paar Sekunden,<br />

um auszuruhen. Manchmal dauert es Jahre. Aber ich bleibe<br />

nie für immer stehen, immer gehe ich weiter.<br />

Schlendernd lerne ich neue Welten und neue Menschen<br />

kennen, Menschen, von dessen Existenz ich nicht wusste.<br />

Manche schließen sich an und wir gehen dann zusammen<br />

weiter, eine Weile. Manche fangen selber an zu gehen.<br />

Manche treffe ich noch oft, manche nie wieder. Jedes Treffen<br />

gibt mir etwas, jedes bereichert, jedes bleibt in der Erinnerung.<br />

Ich bereue es nie. Ich denke nie daran, was wäre, wenn ich<br />

geblieben wäre.<br />

Es ist kein Aufschrei gegen Menschen, es ist kein Widerstand<br />

gegen die Zivilisation, das alles ist für sie. Ich bin derjenige,<br />

den sie sich mit den Fingern zeigen. Ich bin derjenige, der aus<br />

den touristischen Vierteln vertrieben wird. Ich bin derjenige,<br />

den sie morgens in der Mülltonne wühlend nicht sehen wollen.<br />

Ich bin derjenige, der nicht passt, der stört, der beunruhigt.<br />

Die, die geblieben sind statt loszugehen, würden es gerne<br />

sehen, dass es mich nicht gäbe. Dass ich ihnen die Sicht ihrer<br />

sauberen Stadt mit meiner im Hintergrund vorbeigehenden<br />

Person nicht verschmutze. Das ich nicht auf den selben<br />

Bänken sitze, auf denen sie ihr Lunch in Anzügen essen. Sie<br />

fühlen Ekel wenn sie mich sehen. Das glauben sie mindestens.<br />

Sie verstehen es nicht, dass es ein Echo der alten Entscheidung<br />

ist, dass ein kleiner Teil ihrer Persönlichkeit, jetzt schon fast<br />

total abgestumpft, sich das letzte Mal probiert zu befreien.<br />

Ich streiche umher.<br />

Ich streiche umher für immer.<br />

Weil ich so muss, um frei zu sein.<br />

Um zu versuchen.<br />

Um zu erleben.<br />

Um zu verstehen.<br />

Um zu wissen.<br />

Um alles zu haben ohne etwas zu haben.<br />

Um zu sein.<br />

Um mich zu sein.<br />

Weil es so ist.<br />

Weil man es anders nicht kann.<br />

Weil ich es anders nicht kann.<br />

Weil ich und du und er und sie und wir und alle.<br />

Wenn man einmal anfängt zu gehen kann man nicht mehr<br />

stehen bleiben. Es macht süchtig, wie reine Luft, wie die Jagd<br />

nach dem Horizont, wie Freiheit.<br />

Ich wandere zu Fuß, fange Mitfahrgelegenheiten, schlafe in<br />

Güterwaggons, esse zwischen den Containern auf Schiffen.<br />

Straßen entlang, quer durch die Städte, mitten in Abwegen.<br />

In der Luft, auf dem Lande, im Wasser, unter der Erde. Vor<br />

mich.<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 4 |


Bab(b)elfisch: eine Kolumne über die Sprache<br />

und so . . .<br />

Georg Simic<br />

Die tagesschau ist eine Institution im deutschen Fernsehen.<br />

Täglich sitzen Millionen vor den Fernsehern, um<br />

sich von den seriösesten und kompetentesten TV-Redakteuren<br />

des Landes die mutmaßlich wichtigsten Geschehnisse<br />

der Welt in nur 15 Minuten näherbringen zu lassen. Auch<br />

ich muss zugeben, dass ich fast täglich die Nachrichten von<br />

Jan Hofer & Co. verfolge, wenngleich ich nicht jedem Inhalt<br />

folgen kann.<br />

So ergeht es mir beispielsweise häufig bei den nicht enden<br />

wollenden Beiträgen zur Finanzkrise. Einer der populärsten<br />

Begriffe in den letzten Wochen war hierbei mit Sicherheit<br />

die Systemrelevanz. Kein Tag verging ohne eine neue<br />

Meldung, in der es um die wirtschaftliche Rettung Zyperns<br />

ging. Und dauernd sah man einen Politiker oder Volkswirt,<br />

der uns versucht hat beizubringen, dass das Land von<br />

der Europäischen Union unterstützt werden muss, da der<br />

Inselstaat schließlich systemrelevant sei. Ganz vereinfacht<br />

gesagt geht es bei diesem Begriff darum, eine Finanzinfusion<br />

in Milliardenhöhe zu rechtfertigen, in dem man den Patienten,<br />

in diesem Fall Zypern, als systemrelevant labelt. Denn würde<br />

die finanzielle Hilfe ausbleiben, wäre dies ein fataler Zug für<br />

das ganze System, da folglich alles in einem Domino-Effekt<br />

kollabieren könnte.<br />

Mit alles ist im Übrigen nicht mehr und nicht weniger als das<br />

gesamte Wirtschaftssystem der EU gemeint. Was das System<br />

jedoch im Einzelnen ist und ausmacht, erscheint dennoch<br />

viel zu komplex, als dass man es uns erklären könnte. Wichtig<br />

ist aber auch nur, dass man dem Nicht-Ökonom begreiflich<br />

macht, wie wichtig der Transfer (oder die Gewährleistung) von<br />

Milliardenbeträgen ist. Der Ausdruck Systemrelevanz, der sich<br />

im Übrigen wunderbar in das Wortfeld der Rettungsroutine<br />

einreiht, ist somit mittlerweile zum Angstmacher und zur<br />

Entschuldigung zugleich mutiert. Interessant, was so ein<br />

abstrakter Fachbegriff alles erreichen kann. Doch ob dieser<br />

noch denselben Effekt hat, wie bei den Berichterstattungen<br />

zur Commerzbank-Rettung oder der Griechenland-Krise,<br />

muss allerdings bezweifelt werden. Immerhin ist der Begriff,<br />

vor allem in Bezug zu Zypern, dem englischen Fachausdruck<br />

too big to fail deutlich überlegen.<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 5 |


Die Märchenstunde hat geschlagen<br />

Martyna Lingenfelder<br />

Die Sonne ist längst untergegangen und obwohl der<br />

Tag schon deutlich länger dauert, als es noch vor kurzem<br />

der Fall war, bricht der Abend immer noch viel zu<br />

schnell ein. Ein heißer Tee wird zubereitet und in die Lieblingstasse<br />

eingegossen, eine Kerze angezündet, damit sie<br />

für Gemütlichkeit sorgt. In flauschige Decken eingekuschelt<br />

sitzen wir auf dem Sofa und ein Buch wird aufgeschlagen.<br />

Die Geschichte heißt Sindbad der Seefahrer – ich kenn sie<br />

noch grob aus meiner Kindheit. Sieben Abenteuer erwarten<br />

uns, pro Abend eines – kurz, aber intensiv. Und mit jedem<br />

vorgelesenen Abenteuer kommen die Zweifel, ob sich diese<br />

Geschichte für einen fünfjährigen Zuhörer eignet. Denn, wie<br />

erklärt man einem Vorschulkind, dass es keine Riesen gibt,<br />

die einen fressen wollen, wenn diese bunt und detailliert illustriert<br />

sind und den Anschein erwecken, sie würden doch<br />

existieren… Oder dass es ein<br />

Volk gab (gibt?), dass den lebenden<br />

Ehepartner mit dem<br />

verstorbenen in einer Höhle<br />

mitbegräbt und mit nur wenig<br />

Brot und Wasser ausstattet,<br />

so dass das Überleben<br />

völlig ausgeschlossen ist…<br />

Oder dass es eine Stadt gab<br />

(und wieder: gibt?), deren<br />

Männern zu Beginn jedes Monats<br />

Flügel wachsen und sie<br />

einfach davonfliegen, um am<br />

nächsten Tag zurückzukehren<br />

und wie gewohnt weiter zu<br />

leben… Aber das irritiert den<br />

kleinen Zuhörer nicht, er lässt<br />

sich auf das Vorgelesene ein,<br />

während meine Gedanken rasen<br />

und ich nicht länger weiß,<br />

ob ich das rechtfertigen kann,<br />

denn: ES IST DOCH BRUTAL!<br />

Und wie schafft dieser Sindbad<br />

überhaupt jedes seiner<br />

Abenteuer zu überleben, zu<br />

bewältigen, zu meistern und<br />

zu guter Letzt immer mit einem Haufen Edelsteine nach Hause<br />

zu kehren (ist er etwa eine Art Vorgänger von MacGyver?).<br />

Und ja, es ist nichts Reales, reine Fantasie, pure Fiktion, ein<br />

Märchen eben. Dornröschen, Schneewittchen, Aschenputtel,<br />

Pinocchio, Rapunzel, Das hässliche Entlein… Die Liste<br />

der Märchen ist lang und sie sind populär – nicht nur in Kinderzimmern.<br />

Was macht aber die Märchen attraktiv und zugleich<br />

so selbstverständlich, dass sie einen festen Platz in der<br />

Gesellschaft eingenommen haben? Sind sie mehr als schöne<br />

oder schreckliche Erzählungen? Sind sie für uns überhaupt<br />

von Nutzen? Haben sie einen Wert?<br />

Was ist überhaupt ein Märchen?<br />

Das Märchen oder auch Märlein bezeichnet ursprünglich eine<br />

kurze Erzählung. Es sind Diminutivformen zu Mär (mittelhochdeutsch<br />

Maere), was Kunde, Bericht, Erzählung, Gerücht<br />

bedeutet. Es wird zwischen Volks- und Kunstmärchen unterschieden.<br />

Volksmärchen wurden über lange Zeiträume weitergegeben.<br />

Ihr Verfasser, Entstehungszeit, -ort und –zweck<br />

sind unbekannt. Im Lauf ihrer Überlieferung wurden sie variiert<br />

und treten in verschiedenen Versionen in unterschiedlichen<br />

Ländern auf. 1 Dagegen sind Kunstmärchen – der Begriff<br />

soll keineswegs als abwertend gedacht werden, sondern als<br />

eine durchdachte, kunstvolle, literarische Leistung verstanden<br />

werden – keine Volksüberlieferungen und deutlich jünger<br />

als Volksmärchen. Sie werden schriftlich fixiert und ihre<br />

Verfasser sind bekannt, wie z.B. Ludwig Tieck, Clemens von<br />

Brentano, E.T.A. Hoffmann oder Hans Christian Andersen.<br />

Die Kunstmärchen können sich durchaus am Volksmärchen<br />

orientieren, z.B. an derer Erzählstruktur, oder ganz frei fantasievolle<br />

Wundergeschichten entwickeln. Durch das Element<br />

des Übernatürlichen, Unwirklichen,<br />

Unwahren, Phantastischen<br />

usw. bleiben sie mit<br />

dem Volksmärchen verbunden.<br />

2 Wunderbare und wundersame<br />

Inhalte werden in<br />

Märchen wie selbstverständlich<br />

dargestellt, ohne jedoch<br />

Anspruch auf ihre Glaubwürdigkeit<br />

zu stellen. So zum Beispiel<br />

in Rotkäppchen, wenn es<br />

sich mit dem Wolf unterhält,<br />

später von ihm aufgefressen<br />

wird, um schließlich von einem<br />

Jäger befreit zu werden<br />

und heil aus des Tieres Bauch<br />

zu schlüpfen. Die partielle<br />

Aufhebung der Naturgesetze<br />

3 , der Griff zum Geheimnisvollen,<br />

der Realität Widersprechendem,<br />

Zauberhaftem<br />

stellt sich als das Charakteristikum<br />

des Märchens heraus,<br />

das bis heute eine fesselnde<br />

Wirkung sowohl auf Kinder<br />

als auch auf Erwachsene ausübt.<br />

Enthält das Märchen den „innewohnenden Zauber“, so<br />

wird es als Zauber- oder Wundermärchenbezeichnet. 4 Nach<br />

Max Lüthi ist die Schreibart des Märchens durch abstrakten<br />

Stil, Flächenhaftigkeit und Isolation der Figuren, Eindimensionalität<br />

der Wirklichkeitswahrnehmung, Sublimation als Entwirklichung<br />

sowohl des Magischen als auch des Alltäglichen<br />

gekennzeichnet. 5 Das Märchen (Volksmärchen) neigt zum<br />

bestimmten Personal, Requisitengebrauch, Handlungsverlauf<br />

und Stil. Das gängigste Schema der Märchenhandlug ist<br />

die Darstellung von Schwierigkeiten und derer Bewältigung:<br />

dem Kampf folgt der Sieg, eine schwierige Aufgabe wird<br />

erfolgreich gelöst. Das Volksmärchen garantiert den guten<br />

Ausgang (während das Kunstmärchen dies nicht zwingend<br />

tut) – das Gute besiegt das Böse, das Kleine/Schwache/Unscheinbare<br />

triumphiert über das Große/Mächtige. Die Handlungsträger<br />

sind dabei der Held oder die Heldin, die beide der<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 6 |


menschlichen und diesseitigen Welt angehören. Daneben haben die Erzählungen<br />

weitere Figuren wie zum Beispiel den Auftraggeber, den Helfer des Helden oder die<br />

Kontrastgestalten. Alle Figuren beziehen sich jedoch auf den Held/Heldin und können,<br />

als Gegner oder Helfer, der außermenschlichen Welt angehören. Das Personal<br />

trennt sich in gut und böse, schön und hässlich, groß und klein etc. Zauberwesen<br />

wie Hexen, Riesen, Zwerge, Feen, Tiere vertreten die Über- und Unterwelt. Nicht<br />

nur Figuren, sondern auch bestimmte Dinge können zu Repräsentanten werden: als<br />

das durch den Helden zu gewinnende Ding (wie das Lebenswasser, ein schöner Teppich,<br />

eine Lampe etc.). In der Regel werden Personal und Requisite knapp benannt,<br />

Beschreibungen der Umwelt oder Innenwelt seiner Figuren sind selten. 6 Trotz der<br />

„Sparsamkeit“ werden bestimmte Merkmale, Zustände, Berufe usw. des Helden hervorgehoben,<br />

wie bei Sindbad – der eine wird als Sindbad der Seefahrer, der andere<br />

als Sindbad als Lastträger bezeichnet.<br />

Die Einfachheit, das Spielerische, das Magische lassen das Märchen brillieren. Es<br />

kann sowohl der Unterhaltung dienen und als eine von Leichtigkeit und relativer<br />

Klarheit geprägte Erzählung genossen werden. Es kann dem Leser/Zuhörer aber<br />

ebenfalls eine Welt voller Symbole und Bedeutungen eröffnen.<br />

Der Wert des Märchens<br />

Der Umgang mit dem Märchen hat sich im Laufe seines Bestehens verändert bzw.<br />

weiterentwickelt. Waren Märchen zuerst von Erwachsenen für Erwachsene gedacht,<br />

so wurden am Anfang des 19. Jahrhunderts Kinder zu ihren Adressaten, und zwar<br />

aufgrund der veränderten soziologischen und geistesgeschichtlichen Verhältnisse<br />

und besonders durch die Herausbildung der Kleinfamilie und ihrer Kommunkationsstrukturen.<br />

7 Heutzutage gelten Märchen nicht nur als Kinderliteratur, sondern<br />

werden auch von den „Großen“ gelesen. Die Beliebtheit der Märchen oder märchenhafter<br />

Stoffe kommt in diversen Verfilmungen zum Ausdruck. Schneewittchen,<br />

Schneekönigin, Alice im Wunderland, Dornröschen, Der gestiefelte Kater u.a. erscheinen<br />

auf der Kinoleinwand, im heimischen Fernseher und sind stets als DVD erhältlich.<br />

Nicht selten sind diese so konzipiert, dass sie sowohl das junge Publikum unterhalten,<br />

als auch von Erwachsenen gerne angeschaut werden. Als Gattung findet<br />

das Märchen in der Literaturwissenschaft seinen Platz (als Gattungsbegriff hat sich<br />

Märchen mit der Erstausgabe der „Kinder- und Hausmärchen“ von Grimm-Brüdern<br />

1812 durchgesetzt; die Arbeit der Brüder Grimm wurde im Übrigen zur ersten seriösen<br />

Märchenforschung) 8 , aber auch innerhalb der Psychologie spielt es keine geringe<br />

Rolle. Schließlich drückten sie für Freud die individuelle Entwicklung des Ichs aus und<br />

spiegelten universelle menschliche Probleme wider. Für Jung hingegen repräsentierte<br />

das Märchen das kollektive Unbewusste und barg in sich die Archetypen. 9 Und<br />

schließlich gab es auch noch Bruno Bettelheim. Er war einer der bekanntesten Kinderpsychologen<br />

und ebenso der Autor von „Kinder brauchen Märchen“. Damit schuf<br />

er ein Buch, das nicht nur von der Notwendigkeit der Märchen für Kinder handelt,<br />

sondern auch davon überzeugt. Folglich nimmt das Märchen eine bedeutende Rolle<br />

in der Bewältigung des Alltags, der damit verbundenen Ängste und Enttäuschungen<br />

im Leben des kleinen Menschen ein. So kann es ihm dabei helfen, die Welt besser<br />

zu ordnen und zu verstehen. In Märchen sieht Bettelheim im Übrigen ebenfalls eine<br />

wertvolle Erziehungshilfe und einen „Helfer“ bei der Sinnsuche. Er weist auf den universellen<br />

Charakter der Märchen hin: „Sie erreichen den noch unentwickelten Geist<br />

des Kindes genauso wie den differenzierten Erwachsenen. […] Die Märchen vermitteln<br />

wichtige Botschaften auf bewusster, vorbewusster und unbewusster Ebene<br />

entsprechend ihrer jeweiligen Entwicklungsstufe. Da es in ihnen um universelle Probleme<br />

geht und ganz besonders um solche, die das kindliche Gemüt beschäftigen,<br />

fördern sie die Entfaltung des auskeimenden Ichs; zugleich lösen sie vorbewusste<br />

und unbewusste Spannungen“ 10 .<br />

Das magische Element des Märchens regt also nicht nur die Phantasie des Kindes an,<br />

sondern spricht zu ihm auf einer Ebene, auf der das Kleinkind, das noch nicht „realistisch“<br />

denken kann, sich die Welt ohnehin zu erklären versucht. Zwischen dem Magischen<br />

und dem „Realen“ gibt es für das Kind keinen Unterschied – die Sonne kann<br />

ohne Probleme lachen oder die Wolken können weinen. Auf den Wert des Märchens<br />

weist in Ihrem neuesten Buch „Biblioterapia i bajkoterapia“ („Bibliotherapie und<br />

Märchentherapie“, Anm. d. Ver.) Maria Molicka hin. Als Psychologin, die mit Kindern<br />

und Jugendlichen arbeitet, erläutert sie die Bedeutung der Märchen für die Jüngsten.<br />

Anhand ihrer im Buch dargestellten empirischen Untersuchungen bietet sie einen<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 7 |<br />

Einblick in die Märchentherapie an. Außerdem<br />

ist sie Autorin von zwei Kinderbüchern<br />

„Bajki terapeutyczne 1“ und<br />

„Bajki terapeutyczne 2“, deren Inhalt aus<br />

therapeutischen Märchen besteht, die<br />

auf unterschiedliche Themen eingehen,<br />

wie z.B. Tod, Alkoholsucht und Gewalt in<br />

der Familie, Angst vor Dunkelheit, Verlustängste<br />

uvm.<br />

Märchen behandeln Probleme, mit welchen<br />

Kinder, und nicht selten Erwachsene<br />

zu kämpfen haben. Nach Molicka<br />

unterstützen sie die Entwicklung der<br />

Empathie, sensibilisieren auf Ungerechtigkeiten<br />

und stimulieren das soziale<br />

Verhalten. Zudem ist die Identifikationsschwelle<br />

dieser Geschichten niedrig.<br />

Somit kann das Kind sich mit dem Helden<br />

oder der Heldin leicht gleichsetzen,<br />

da seine Charakterisierung gemeinhin<br />

„ärmlich“ ausfällt. Das Kind kann ihn<br />

nachahmen und seine Abenteuer nachspielen,<br />

die Ereignisse auf eigene Art<br />

und Weise nacherleben und interpretieren.<br />

Manche Märchen bieten auch<br />

die Möglichkeit einer Veränderung oder<br />

Verwandlung an, wie zum Beispiel des<br />

Hässlichen ins Schöne, des Dummen<br />

ins Weise, der Armut in Reichtum usw.<br />

Das Happy End des Märchens ist entscheidend.<br />

Was manchmal als kitschig<br />

erscheinen kann, ist für das Kleinkind<br />

unerlässlich. Ein guter Ausgang der Geschichte<br />

beschenkt das Kind mit dem<br />

optimistischen Gedanken, dass alles gut<br />

wird. Das glückliche Ende gibt Hoffnung<br />

– wenn der Märchenheld es schafft die<br />

Hindernisse zu überwinden, dann werde<br />

ich es auch schaffen. 11 Am Ende wird<br />

alles Böse besiegt und das Gute gewinnt.<br />

Märchen erzählen von menschlichen<br />

Problemen, Ängsten, Konflikten, von<br />

Geburt und von Tod – unverblümt und<br />

manchmal drastisch. Nicht immer gefällt<br />

eine solche Konfrontation, doch sie<br />

gehört zum Leben und betrifft sowohl<br />

die Kinder als auch uns Erwachsene.<br />

Innerhalb der Kinderpädagogik und<br />

-psychologie haben Märchen ihren Platz<br />

längst eingenommen. Ob im Kindergarten<br />

oder in der Schule – sie sind da. Ob<br />

ein „traditionelles“ Märchen, das wir<br />

von den Brüdern Grimm kennen, oder<br />

ein Kunstmärchen von Hans Christian<br />

Andersen, oder aber auch jüngere märchenhafte<br />

Geschichten wie Astrid Lindgrens<br />

„Pippi Langstrumpf“ oder Ottfried<br />

Preußlers „Der kleine Wassermann“ und<br />

natürlich viele weitere – sie sind für die<br />

Kinder da. Und was ist mit uns „Großen“?<br />

Sind Märchen auch für uns da? Als Erwachsene<br />

können wir aus dem Reichtum


der Märchen schöpfen und profitieren.<br />

Der psychologische Wert der Märchen,<br />

kann aber ebenfalls für uns von Bedeutung<br />

und Nutzen sein – sie können uns<br />

helfen und uns z.B. im Prozess der Heilung<br />

unterstützen. Der Verein mamazone<br />

e.V. hat gemeinsam mit der PONS-Stiftung<br />

(Patientenorientierte Nachsorge-<br />

Stiftung) ein Hörbuch mit ausgewählten<br />

Märchen herausgegeben. Es ist speziell<br />

für Frauen mit Brustkrebs bestimmt und<br />

soll ihnen vor allem Mut machen – und<br />

so heißen sie schließlich Mutmachmärchen<br />

(www.mutmachmaerchen.de).<br />

Endnoten:<br />

1 Vgl. Rölleke, Heinz: Märchen. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen<br />

Literaturgeschichte. Band II. Hrsg.: Fricke, Harald. Berlin/New York 2007. S.513.<br />

2 Vgl. Lüthi, Max: Märchen. Stuttgart 2004.S.5<br />

3 Vgl. Rölleke, H.: Märchen. S. 513.<br />

4 entsprechend dem Typenregister von Antti Arne. Dieses Typensystem wurde von Stith Thompson bearbeitet und erweitert. Es ist ein<br />

Verzeichnis der Märchentypen, das mit Tiermärchen beginnt. Die zweite Gruppe heißt Eigentliche Märchen und gliedert sich in Zaubermärchen,<br />

legendenartige Märchen, novellenartige Märchen und Märchen vom dummen Teufel oder Riesen. Die Schwänke bilden die dritte<br />

Hauptgruppe. Die Eigentlichen Märchen sind die umfangreichste und gewichtigste Gruppe. Dabei bilden die Zauber- oder Wundermärchen<br />

den Schwerpunkt und werden somit an die Spitze gestellt.<br />

5 Rölleke, H.: Märchen. In: Reallexikon…, S. 514.<br />

6 Vgl. Lüthi, M.: Märchen. S. 25-29.<br />

7 Rölleke, H.: Märchen. In: Reallexikon…, S. 514.<br />

8 Vgl. Rölleke, H.: Märchen. S. 514 und 516.<br />

9 Vgl. Molicka, Maria: Biblioterapia i bajkoterapia. Rola literatury w procesie zmiany rozumienia świata społecznego i siebie. Poznań 2011.<br />

S.187-188.<br />

10 Bettelheim, Bruno: Kinder brauchen Märchen. München, 31.Auflage 2012. S.12.<br />

11 Vgl. Molicka, M.: Biblioterapia i bajkoterapia. S.187-214.<br />

Märchen können auch Berufsfelder erschaffen,<br />

was an der Tätigkeit als Märchenerzählerin<br />

zu sehen ist. In München<br />

gibt es ein Institut für Märchenpädagogik,<br />

an dem man sich zur Märchenerzählerin<br />

ausbilden lassen kann oder einzelne<br />

Seminare besuchen kann (www.<br />

institut-maerchenpaedagogik.de). Die<br />

Vorschläge sind vielfältig: von Erzählkompetenz,<br />

Gestaltung der Märchenprogramme<br />

bis hin zu Methodenseminaren.<br />

Die Seminare richten sich sowohl an<br />

Pädagogen als auch an „Laien“. Märchen<br />

sind vielfältig und sie bieten uns einen<br />

ebenso vielfältigen Umgang mit ihnen.<br />

…Den Sindbad der Seefahrer konnte ich<br />

erfolgreich zu Ende vorlesen. Bis heute<br />

frage ich mich, wen die Geschichte mehr<br />

beschäftigt hat – mich oder meinen Sohn.<br />

Sie ging nicht spurlos an mir vorbei – die<br />

Abenteuer sorgten für genug Spannung.<br />

Das ist das Allerschönste an Märchen –<br />

sie hinterlassen Eindruck und führen in<br />

die Welt der Symbole, Metaphern, Fantasien<br />

ein, die wir zwar nicht (be)greifen<br />

können, die wir aber auf irgendeine Weise<br />

dann doch verstehen. Es lohnt sich,<br />

sich in ferne Zeiten zu begeben, „als das<br />

Wünschen noch geholfen hat“…<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 8 |


Interview<br />

mit Karin Wedra<br />

Im Café Glockenbach in München traf ich Karin Wedra zu einem<br />

Gespräch. Karin Wedra ist eine Märchenerzählerin und<br />

gehört zum Leitungsteam des Instituts für Märchenpädagogik.<br />

Wie wurdest Du Märchenerzählerin?<br />

Ich habe Germanistik studiert und habe mich sehr für Mittelhochdeutsch<br />

interessiert – die alten Sagen, Siegfried und<br />

die Nibelungen, das gesamte Portfolio rauf und runter. Nach<br />

dem Studium habe ich als Online-Redakteurin gearbeitet,<br />

bin schnell in die Internetbranche hineingerutscht und war<br />

als Projektmanagerin tätig. Eine Zeit lang hat das Spaß gemacht,<br />

doch an manchen Stellen wurde es recht fade. Zum<br />

Abschied bekam ich von meinen Kollegen das erste Seminar<br />

zum Märchenerzähler. Das hat mir so gut gefallen, dass ich<br />

die ganze Ausbildung gemacht habe. Ich habe richtig Blut<br />

geleckt und es ging los. Ich nahm jeden Auftrag entgegen<br />

und mit der Zeit habe ich ein kleines Standbein aufbauen<br />

können. Jetzt bin ich als Erzählerin teilselbständig.<br />

Das heißt, dass Märchenerzähler tatsächlich ein Berufsbild<br />

ist.<br />

Ja, es gibt auch sehr viele Vollzeit Märchen- und Geschichtenerzähler.<br />

Was macht einen Märchenerzähler eigentlich aus?<br />

Es ist kein geschützter Beruf, aber man merkt schon, ob jemand<br />

ausgebildet wurde oder nicht. Es ist ähnlich wie beim<br />

Schauspiel – es gibt ein paar wenige Naturtalente, doch eine<br />

Grundausbildung ist durchaus vom Vorteil. In Deutschland<br />

gibt es einige Schulen, z.B. in München und in Nürnberg.<br />

In München haben wir das Institut für Märchenpädagogik<br />

gegründet, an dem man Geschichtenerzähler werden kann.<br />

Dann heißt es üben, üben, üben und viel auftreten. Dabei<br />

sollte man über ein großes Repertoire verfügen. Der Märchen-<br />

bzw. Geschichtenerzähler liest nicht vor, sondern<br />

er erzählt. Er hat also die Geschichten im Kopf. Der innere<br />

Funke und die Begeisterung müssen dabei auf den Zuhörer<br />

überspringen. Man merkt sehr schnell, ob jemand erzählt,<br />

weil er es auswendig gelernt hat, oder ob er für die Geschichte<br />

begeistert ist.<br />

Was sind mögliche Einsatzbereiche für Märchenerzähler?<br />

Diese sind sehr breit gefächert. Ich persönlich arbeite mit<br />

Kindern, hier gibt es, wenn man es so sagen darf, einen ganz<br />

großen Markt – von Kindergeburtstagen bis Vorlesen in Bibliotheken,<br />

Erzählvormittage, Geschichtenwerkstätten, in<br />

denen zusammen mit Kindern Geschichten erfunden werden<br />

und ich dann der Moderator und nicht mehr Erzähler bin.<br />

Teenager sind ebenfalls eine Zielgruppe. Dann darf es nicht<br />

mehr Märchen heißen, sondern Geschichten und Heldensagen.<br />

Für den Erwachsenenbereich gibt es das Märchenkulinarium<br />

bis hin zu Märcheninterpretationen, jedoch nicht im<br />

Freud´schen Sinne, sondern ganz offene Interpretationen,<br />

wie es z.B. die Germanisten machen – man hat eine Ausgangsfrage<br />

und untersucht die Geschichten darauf hin. Eine<br />

weitere Zielgruppe sind Menschen in Krankenhäusern und<br />

Senioren. Ich arbeite ehrenamtlich im Altenheim mit Menschen,<br />

die an Demenz erkrankt sind.<br />

Wie wirkt sich das Märchenerzählen auf an Demenz erkrankte<br />

Menschen aus?<br />

Die Demenz ist eine Krankheit, bei der man sozusagen aus<br />

der Realität langsam verschwindet. Hier erweisen sich vor<br />

allem die ganz bekannten Grimm Märchen als hilfreich.<br />

Diese Geschichten versetzen sie in ihre Jugendzeit, d.h. sie<br />

kommen wieder ins Aktive hinein. Das Wichtige bei dieser<br />

Arbeit ist, die Demenzkranken wieder zu aktivieren etwas<br />

mitzumachen. Da sind Märchen ein schönes Mittel, weil sie<br />

sich wieder erinnern, wieder wach werden, dabei sind und<br />

mitmachen. Ich erzähle oft Geschichten und bleibe bei bestimmten<br />

Versen stehen. Ich warte bis sie mit mir mitspringen,<br />

wie z.B.: „Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen<br />

hol ich mir der Königin ihr Kind“. Dann wissen schon alle wie<br />

es weiter geht: „Ach, wie gut dass niemand weiß, dass ich<br />

Rumpelstilzchen heiß!“ und plötzlich habe ich sie alle bei<br />

mir. Das ist ein Moment, in dem man Sicherheit geben kann.<br />

Demenzerkrankung ist sehr stark von Unsicherheit geprägt,<br />

da man weiß, dass das Gedächtnis immer schlechter wird<br />

und man sich nicht mehr orientieren kann. Durch Märchen<br />

werden die Betroffenen in ihre Jugend zurückgebracht, in<br />

ihre Vergangenheit, in der sie sich auskennen und dadurch<br />

sicher fühlen. Hier achte ich auf das textgenaue Erzählen.<br />

Die Demenzkranken kennen bestimmte Verse noch sehr gut,<br />

daher bleibe ich nah am Text.<br />

Märchen können vorgelesen oder erzählt werden. Was<br />

zeichnet das Erzählen gegenüber dem Vorlesen aus?<br />

Wenn ich vorlese bin ich an das Papier, an ein Buch gebunden.<br />

Das heißt, dass ich die Zuhörer nicht anschauen und mit<br />

ihnen in Verbindung treten kann. Wenn ich erzähle, muss ich<br />

eine Geschichte so verinnerlicht haben, dass sie in mir lebt.<br />

Eine Geschichte zu lernen ist ein Prozess – ich muss mich mit<br />

den Rollen auseinander setzen, die Rede lernen, die Gestik<br />

und die Mimik üben.<br />

Du unterstützt das Erzählen durch vielfältige und kreative<br />

Mittel, wie z.B. das Kamishibai für das bildgestützte Erzähler,<br />

Geschichtenbaukasten… Was verbirgt sich dahinter,<br />

was gibt es für Möglichkeiten noch und wann werden<br />

sie eingesetzt?<br />

Das Zuhören fällt manchmal schwer, gerade bei Kindern. Es<br />

gibt Kinder, die zuhörerfahren sind und Kinder, die fernseherfahren<br />

sind. Den letzteren fällt es oft schwer, sich eigene<br />

Bilder im Kopf vorzustellen. Beim bildgestützten Erzähler<br />

gebe ich zu jeder Szene haptische Bilder vor – es ist für<br />

sie wie fernsehen ohne Strom. Dann packe ich die Kinder<br />

sozusagen dort, wo sie sind und gehe mit ihnen durch die<br />

Geschichte. Je öfter ich den Kindern erzähle, umso weniger<br />

muss auf den Bildern drauf sein bis ich sie ganz weglasse.<br />

Ich habe z.B. eine Kindergruppe in einem Waisenhaus in<br />

München und am Anfang habe ich ganz stark bildgestützt<br />

erzählen müssen, mittlerweile kann ich es bei einigen Geschichten<br />

weglassen, weil sie schon so weit sind, dass sie<br />

sich die eignen Geschichten vorstellen können. Das bildgestützte<br />

Erzählen ist eine erste Hilfestellung bis hin zu dem<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 9 |


Moment, an dem von den Kindern „verlangt“ werden kann,<br />

dass sie ihre Fantasie benutzen. Der Geschichtenbauskasten<br />

wurde hier in München von Helga Gruschka erfunden. Es ist<br />

ein totsicheres Kochrezept, um zu einer Geschichte, einer<br />

einfachen Heldenreise zu kommen. Es ist eine sehr schöne<br />

und einfache Sache, um mit Kindern zu arbeiten und sie<br />

Geschichten erfinden zu lassen. Dabei entstehen sehr, sehr<br />

witzige Geschichten, da purzelt die Fantasie.<br />

Es gibt die Möglichkeit nicht nur bereits vorhandene Märchen<br />

zu erzählen, sondern auch welche zu erfinden. Wie<br />

erfindet man ein solches?<br />

Wir arbeiten mit Helga Gruschka zusammen und verwenden<br />

den Geschichtenbaukasten. Sie hat anhand der Heldenstruktur<br />

eine sehr schlichte Form entwickelt, die mit Kindern sehr<br />

einfach durchzuführen ist. Man braucht einen Ort, an dem<br />

die Geschichte startet, einen Helden, und da wir von Heldenreisen<br />

sprechen, müssen wir ihn auf eine Reise schicken.<br />

Das heißt, der Held braucht irgendeinen Bedarf diesen Ort<br />

zu verlassen, auch wenn es ihm dort gut gefällt. Wir geben<br />

ihm etwas Zauberhaftes mit, wie z.B. einen Zauberstab oder<br />

ein besonderes<br />

Glöckchen, und<br />

setzen ihn auf<br />

einen fliegenden<br />

Teppich, damit<br />

er losreisen und<br />

sein Glück finden<br />

kann. Erweitert<br />

wird das Ganze<br />

um einen Gegenspieler,<br />

wie<br />

einen bösen<br />

Zwerg oder einen<br />

Polizisten,<br />

der den Helden<br />

nicht durchlässt<br />

– der Fantasie<br />

sind hier keine<br />

Grenzen gesetzt.<br />

Dann muss der<br />

Gegenspieler<br />

überwunden<br />

werden, entweder<br />

mithilfe des Zaubergegenstandes oder einer List und der<br />

Held findet schließlich sein Glück. Bei Kindern geht es oft um<br />

das Thema Alleinsein und Freunde finden.<br />

Die Erzählkultur scheint etwas untergegangen zu sein.<br />

Während bei den älteren Generationen, Großeltern oder<br />

gar Urgroßeltern, das Erzählen viel präsenter war, ist es<br />

heute deutlich weniger geworden.<br />

In den 70er Jahren waren Märchen sehr verpönt. In den<br />

Schulen wurde das Erzählen herausgestrichen. Es herrschte<br />

gewisse Angst vor dem gewalttätigen Aspekt in Märchen.<br />

Das Leben ist aber auch kein Ponyhof. Es gibt Schwierigkeiten<br />

im Leben und das muss ein Kind auch lernen. Märchen<br />

vermitteln aber zugleich den Glauben daran, dass es gut<br />

ausgehen wird, den Glauben ans Gute, dass einem geholfen<br />

wird und dass man es schaffen wird. Es ist das Grundvertrauen<br />

ins Leben, das man mit Geschichten und Märchen den<br />

Kindern mit auf den Weg gibt.<br />

Märchen werden nicht nur wegen ihres Zaubers gelobt,<br />

sondern nicht selten als Lügengeschichten, fern von Reali-<br />

tät verurteilt. Das Happy End scheint für manche überholt<br />

zu sein.<br />

Der überwiegend gute Ausgang der Märchen erscheint manchen<br />

als realitätsfremd. Ich stelle die Gegenfrage: Was würde<br />

mit unserer Welt passieren, wenn wir nicht mehr an das<br />

Gute glauben? Diesen Grundglauben tragen fast alle in sich.<br />

Das heißt, dass Märchen glauben- und hoffnungsspendend<br />

sind. Tragen Märchen das Potenzial in sich, unser<br />

Bewusstsein füreinander zu fördern und zu stärken, das<br />

Gemeinschaftliche anzuregen?<br />

Auf jeden Fall. Was mir an Märchen gefällt ist, dass sie Werte<br />

vermitteln, aber nicht mit einem gehobenen Zeigefinger<br />

moralisieren (es gibt zwar Versionen, in denen das gemacht<br />

wird, es kommt jedoch eher selten vor). Und diese Werte<br />

können der Glaube daran sein, dass die Schwierigkeiten<br />

überwunden werden können, auch wenn es schwierig ist.<br />

Außerdem die Naturverbundenheit, das Hilfe-annehmenkönnen,<br />

Kleine und Schwache zu schützen. Das sind Werte,<br />

mit denen man gut im Bereich der Gewaltprävention arbeiten<br />

kann.<br />

Gewalt spielt in<br />

Märchen eine<br />

Rolle.<br />

Wenn es um die<br />

Gewalt geht,<br />

kann ich empfehlen,<br />

nur die<br />

Geschichten zu<br />

erzählen, die<br />

man wirklich<br />

auch erzählen<br />

möchte. Aschenputtel<br />

würde ich<br />

persönlich nicht<br />

in der Grimm<br />

Version erzählen,<br />

weil am Ende<br />

die Augen ausgepickt<br />

werden.<br />

Den Gedanken<br />

finde ich so<br />

fürchterlich,<br />

dass ich diesen nicht erzählen will. Da bin ich an meinem<br />

Ausgangspunkt: wenn das Feuer nicht in mir brennt und die<br />

Emotion nicht in mir drin ist, dann kann ich sie auch nicht<br />

rüberbringen. Das würde ich auch jedem raten, der bezüglich<br />

einer Gewaltszene Bedenken hat – sie einfach nicht zu<br />

erzählen. Sie zu verändern birgt manchmal mehr Gefahren<br />

als auf sie zu verzichten. Bei „Die sieben Geißlein“ wird dem<br />

Wolf der Bauch aufgeschnitten und die Geißlein springen<br />

heraus. Der Bauch des Wolfes wird mit Steinen gefüllt und<br />

zum Schluss ertrinkt er. Eine besorgte Mutter könnte jetzt<br />

meinen, den Wolf z.B. in einem Naturschutzpark unterzubringen,<br />

dass es dort sein Unwesen treiben kann. Aber<br />

in dem Fall könnte der Wolf wieder zurückkommen. Das<br />

erzeugt mehr Angst als wenn er einfach stirbt. Hier werden<br />

die Archetypen bedient – der Wolf ist kein Hund, er ist kein<br />

normales Tier, sondern das Böse, das verschlingt.<br />

Etliche Märchen wurden und werden weiterhin verfilmt.<br />

Ganz beliebt sind die Disneyverfilmungen, doch der Bogen<br />

wird weit gespannt bis hin zu Neuinterpretationen,<br />

wie z.B. „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“. Der Unterhal-<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 10 |


tungswert steht an oberster Stelle. Was hältst Du davon?<br />

Ich mag das und ich schaue mir solche Filme gerne an. Ich<br />

finde, jeder Regisseur und jeder Schriftsteller hat die Freiheit<br />

alte Texte zu nehmen und sie neu zu interpretieren. Es ist ein<br />

schönes Potenzial, das wir haben. Es ist eine andere Qualität.<br />

Die Frage ist, was man erreichen will und welches Publikum<br />

angesprochen wird. Da hat jedes Genre und Vorgehen<br />

durchaus seine Berechtigung. Für das Erzählen gilt das auch.<br />

Ich habe einen Text, ein bestimmtes Publikum und ich will<br />

gezielt etwas erreichen, dann wähle ich aus meinem Methodenschatzkästchen,<br />

damit ich das erfüllen kann.<br />

Wo kann, neben Veranstaltungen wie Erzählabende, die<br />

Erzählkunst und –kultur populärer gemacht werden?<br />

Ganz klare Schnittstellen sind für mich Lehrer. Gerade an<br />

den Schulen wird das Schriftliche verherrlicht, aber das<br />

Gesprochene kommt zu kurz. Die Schüler haben wenig<br />

Gelegenheit, zu erzählen. Später im Leben müssen sie aber<br />

Präsentationen halten, obwohl sie vielleicht nie eine gewisse<br />

„Bühnenpräsenz“ erfahren durften. Ich finde, dass der Schulund<br />

Erziehungsbereich den Mut zum Erzählen geben könnte.<br />

Ganz wichtig ist natürlich auch das Zuhause. Mir wurden<br />

sehr viele Geschichten, auch selbsterfundene, erzählt. Und<br />

da habe ich den Spaß am Fantasieren, am Sprechen und<br />

Erzählen mitbekommen.<br />

Was möchtest Du persönlich durch das Erzählen weitergeben?<br />

Die Freude, die ich habe, wenn ich Geschichten erzähle. Das<br />

ist für mich das Kostbare daran. Einerseits selber als Erzähler<br />

den Funken überspringen zu lassen und andererseits andere<br />

Menschen dazu zu befähigen – ganz viele neue Erzähler zu<br />

schaffen. (sie lacht)<br />

Martyna Lingenfelder<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 11 |


Ignoranz, was ist das? Als ich dieses Wort zum ersten Mal<br />

hörte, musste ich, als Nicht-Muttersprachlerin, zunächst<br />

zum Duden greifen. Das intelligente Buch definiert es<br />

als eine „tadelnswerte Unwissenheit, Kenntnislosigkeit in<br />

Bezug auf jemanden, etwas“. Und der Mensch, der eine<br />

derartige Unwissenheit besitzt, ist schließlich der Ignorant.<br />

Beide Substantive sind relativ stark negativ konnotiert. Es<br />

gibt aber auch das Verb ignorieren. Im Gegensatz zu den<br />

beiden Substantiven ist dieses Wort (abgesehen von seiner<br />

Bedeutung) doch relativ neutral. Wenn wir über jemanden<br />

sprechen, der etwas ignoriert, dann stellen wir einfach fest,<br />

dass diese Person etwas nicht wissen will oder etwas nicht<br />

beachtet. Bezeichnen wir jedoch jemanden als Ignoranten,<br />

gilt es schon fast als Schimpfwort. Diese unterschiedliche<br />

Konnotation verwundert umso mehr, da alle drei Wörter<br />

aus dem lateinischen direkt entlehnt wurden und auf das<br />

ignorantia, bzw. ignorare zurückzuführen sind, was wiederum<br />

schlichtweg Unwissenheit, bzw. nicht wissen, bedeutet.<br />

Worte über Worte<br />

Maria Levchenko<br />

Übersetzt man Ignoranz auf Russisch, so kommt man auf<br />

невежество (newežestwo). Das Wort ist genauso wie im<br />

Deutschen sehr negativ wertend. Es bedeutet nicht nur eine<br />

tadelnswerte Unwissenheit, sondern beinhaltet auch das<br />

Bewusste nicht wissen zu wollen. Ein невежа bzw. невежда<br />

(neweža, newežda) hat zwar eine Möglichkeit Wissen zu<br />

erlangen, nutzt aber diese Möglichkeit bewusst nicht. In<br />

der Epoche der Klassik wurde oftmals von newežestwo als<br />

Hauptlaster und Übel des Menschen gesprochen. Interessant<br />

ist zudem, dass es im Russischen in dieser Wortfamilie kein<br />

Verb mit gleichem Stamm gibt. Dabei gibt es aber sehr wohl<br />

das Verb игнорировать (ignorirowat’), mit der gleichen<br />

Bedeutung wie im Deutschen. Seit neuerem gibt es auch<br />

das Substantiv игнорант (ignorant), das aber im Gegensatz<br />

zur deutschen Sprache, tatsächlich nur als Bezeichnung für<br />

einen Menschen der etwas nicht beachtet, also ignoriert,<br />

verwendet wird. Dieses Wort ist nur leicht negativ konnotiert.<br />

Das ist aber noch nicht alles. Des Weiteren gibt es auch<br />

die Wortfamilie неведение (Verb: не ведать, Person:<br />

неведающий – newedenie, ne wedat’, newedajuš’ij) die<br />

zwar nach dem gleichen Muster, ja sogar aus den gleichen<br />

Bestandteilen, wie die Wortfamilie newežestwo besteht,<br />

merkwürdigerweise aber überhaupt keine negative<br />

Konnotation besitzt. Невежество bedeutet, wie bereits<br />

zuvor erwähnt, das Bewusste nicht wissen zu wollen, und das<br />

неведение ist die unbewusste Entsprechung dazu. Jemand,<br />

der ne wedajet, weiß nicht, dass er etwas nicht weiß. Dabei<br />

macht der Sprecher Niemandem einen Vorwurf, sondern<br />

bemitleidet das Objekt.<br />

Insgesamt ist es aber relativ egal welches Wort man für diese<br />

Eigenschaften verwendet, da sie schließlich nichts positives<br />

beinhalten. Vielleicht sollte man sich stattdessen lieber mit<br />

den Bedeutungen von Neugier oder Bildung beschäftigen…<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 12 |


Der ordre public.<br />

Eine philosophische Betrachtung<br />

Marc-Philipp Maeck<br />

Recht entgegen dem deutschen Grundgesetz, dass eine Adoption<br />

unzulässig sei, wenn die Ehefrau jünger als 30 ist und<br />

bereits ein Kind hat. Sofern das internationale Privatrecht auf<br />

fremdes Recht verweist, muss dieses trotz der Diskrepanz im<br />

Sinne der Akzeptanz fremder Rechtsordnungen zu eigenen<br />

Wertvorstellungen vollumfänglich zur Anwendung kommen.<br />

Damit wird aber gleichwohl eine der Schwächen des Kollisionsrechts<br />

offensichtlich, die Raape 1961 mit dem “Sprung<br />

ins Dunkle” verglich. Eine kollisionsrechtliche Verweisung auf<br />

ein unbekanntes Sachrecht birgt stets die Gefahr, dass die<br />

Anwendung des fremden Rechts mit den Grundsätzen und<br />

Wertvorstellungen des eigenen Kulturkreises offensichtlich<br />

unvereinbar ist. Es entsteht ein Paradox, dass die als Ausdruck<br />

der Toleranz zu verstehende kollisionsrechtliche Norm<br />

sich nunmehr plötzlich ins Gegenteil verkehrt und die freie<br />

Selbstbestimmung unseres Grundgesetzes torpediert. Die<br />

größte Problematik ergibt sich daraus, dass unsere Welt nicht<br />

ohne Weiteres schwarz oder weiß begriffen werden kann,<br />

sondern ist richtigerweise doch nur in eine Kompilation verschiedener<br />

Grauzonen einzuteilen. Fremde Kulturkreise legen<br />

oftmals ein anderes Selbstverständnis zugrunde, das akzeptiert<br />

werden muss. Man muss sich fragen lassen, “wer sind<br />

wir, um fremde Traditionen, kulturelle Eigenheiten, die meist<br />

in einem Rechtssystem ihren Ausdruck finden, an unserer eigenen<br />

Wertvorstellung messen zu dürfen”. Die westliche Welt<br />

mit ihren Moralvorstellungen und politischen Systemen hat<br />

„Der ordre public ist als Ergebniskontrolle, als Korrektiv eines lege artis abgeschlossenen<br />

Entscheidungsvorgangs zu verstehen. Das fremde Recht darf unter keinen Umständen<br />

bewertet werden, sondern nur das Ergebnis der Anwendung im konkreten Fall korrigiert<br />

werden.“<br />

Unsere Welt, wie wir sie heute erleben, befindet sich in<br />

einem dauernden Prozess des Umbruchs. Die technologische<br />

Revolution hat eine neue Moderne eingeläutet.<br />

In ihren Ausmaßen der industriellen Revolution<br />

gleichend, betrifft die zunehmende Verflechtung in seiner<br />

kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Ausprägung im<br />

Zuge der neuen Kommunikationsmöglichkeiten annähernd<br />

die Gesamtheit ihrer Bevölkerung. In Interdependenz mit der<br />

politischen Liberalisierung des Welthandels findet damit ein<br />

Phänomen bis dahin ungeahnten Ausmaßes seinen Eingang<br />

in die Weltpolitik - die Globalisierung. Die Welt rückt zunehmend<br />

näher zusammen, interkulturelle Beziehungen sind<br />

zur Selbstverständlichkeit, grenzüberschreitender Austausch<br />

zum wirtschaftlichen Überleben unabdingbar geworden. Das<br />

positive Potential, dass das Aufeinandertreffen verschiedenster<br />

Kulturkreise und Wertesysteme mit sich bringt, sei es im<br />

wirtschaftlichen, politischen oder auch persönlichen Bereich,<br />

birgt gleichwohl aufreibendes Konfliktpotential. Der Ausdruck<br />

des Clash of Civilizations sieht sich dabei zu Recht als<br />

eurozentrischer und konservativer Ansatz von Friedensforschern<br />

erheblicher Kritik ausgesetzt, sollte doch das Ziel der<br />

globalen Gemeinschaft die Annäherung und das interkulturelle<br />

Verständnis sein. Unbestritten scheint dennoch, dass dem<br />

unermessliche Mehrwert einer multipolaren kulturübergreifenden<br />

Weltordnung auch Herausforderungen inne wohnen.<br />

Nationale Rechtsordnungen sehen sich zunehmend konfrontiert<br />

mit einer Vielzahl grenzüberschreitender Sachverhalte.<br />

Während das Strafrecht seinem Grundsatz des Territorialitätsprinzips<br />

folgt, ist die Frage nach dem anwendbaren Recht<br />

im Privat-, bzw. Zivilrecht ungleich differenzierter. Das Internationale<br />

Privatrecht unterwirft sich einer komplexen Fülle<br />

von Einzelregelungen, dem sogenannten Kollisionsrecht.<br />

Das Kollisionsrecht als Ausdruck der Toleranz<br />

Das Kollisionsrecht ist eine der großen Errungenschaften<br />

des 20. Jahrhunderts. In ihm spiegelt sich Toleranz und Akzeptanz<br />

gegenüber fremden Kulturkreisen und Wertesystemen<br />

wider. In vorrangigen völkerrechtlichen bilateralen oder<br />

multilateralen Abkommen, europarechtlichen Kodifikationen<br />

und nachrangigen nationalen Regelungen bestimmen Kollisionsnormen,<br />

ob nationales Recht oder ein fremdes Recht auf<br />

den jeweiligen Einzelfall anzuwenden ist. So wird ein iranisches<br />

Ehepaar beispielsweise, trotz langjährigem Wohnsitz<br />

in Deutschland, bei einer Adoption sich weiter dem Recht<br />

Irans unterwerfen müssen, dass durch kollisionsrechtliche<br />

Bestimmungen von dem deutschen Gericht bei der Urteilsfindung<br />

anzuwenden ist. In diesem Falle statuiert das iranische<br />

im letzten Jahrhundert zur Genüge moralisch zu verurteilende<br />

Handlungen vorgenommen und sollte in seiner Beurteilung<br />

entsprechend vorsichtig sein. Andererseits wird mit dem Urteil<br />

ein hoheitlicher Akt auf deutschem Boden erlassen. Sollte<br />

da nicht auch die eigene Wertvorstellung Maßstab sein? Gibt<br />

es nicht im Grundgesetz verankerte Werte, die zu schützen<br />

wir verpflichtet sind, um die angelegte Toleranz aus dem<br />

starren Kollisionsrecht nicht selbst in Ignoranz umzukehren?<br />

Einigkeit besteht darin, dass zum Schutz fundamentaler<br />

Grundsätze wie Handlungsfreiheit, Religionsfreiheit,<br />

Gleichberechtigung, Emanzipation und Menschenwürde<br />

die starre Regelung des Kollisionsrechts durchbrochen werden<br />

muss und es somit einer gewissen Grenze bedarf. Damit<br />

ist das rechtliche Konstrukt geschaffen, dass sich um<br />

den Begriff des ordre public versammelt. Die Nähe von Toleranz<br />

und Ignoranz tritt dabei in Betrachtung der Grenzziehung<br />

der Toleranz zu Tage. Eine Toleranzgrenze ist zum<br />

Schutz der eigenen Wertvorstellungen unabdingbar, doch<br />

wo setzt man sie an, wie weit ist sie zu verstehen? Ergo<br />

wann wird die Toleranz zur Ignoranz, wann wird die Grenze<br />

zur Eindämmung der Ignoranz selbst zur Intoleranz?<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 13 |


Der ordre public - Ausdruck der Toleranz oder Ignoranz<br />

Der ordre public. Er ist das Spiegelbild der Toleranzgrenze und dabei doch unabdingbarer<br />

Ausdruck von Toleranz, schützt er gerade Werte wie im obigen Fall das Recht<br />

zur freien Entfaltung, nicht weniger also denn die freie Selbstbestimmung. Das<br />

Amtsgericht Hagen stand vor dem Widerspruch, die iranische Regelung zum Adoption<br />

lege artis, also kunstgerecht, anwenden zu müssen. Das Missverhältnis zum deutschen<br />

Grundgesetz, welches das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten statuiert,<br />

tritt damit in einer Entscheidung eines deutschen Gerichts offensichtlich zu Tage.<br />

Ohne entsprechendes Korrektiv einer solchen Entscheidung würde die Bundesrepublik<br />

seiner Pflicht zum Schutze der fundamentalen Grundprinzipien nicht gerecht<br />

werden. Kapitel zwei des EGBGB normiert hierzu in Artikel 6 Satz 1 entsprechende:<br />

“Eine Rechtsnorm eines anderen Staates ist nicht anzuwenden, wenn ihre Anwendung<br />

zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts<br />

offensichtlich unvereinbar ist”.<br />

Art. 6 ist subsidiär zu völkerrechtlichen Vereinbarungen und unionsrechtlichen Regelungen,<br />

gleichwohl aber als die Generalklausel des autonomen ordre public zu betrachten.<br />

Sie versteht sich als Auffangbecken für widersprüchlich erscheinende Anwendungen<br />

auf der Grundlage fremden Rechts. Die Sensibilität der Thematik wird<br />

deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass mit einer so offenen Norm eine Vielzahl<br />

von fremden Rechtsnormen in ihrer Anwendung im Richterspruch abgeschmettert<br />

werden können. Was sind wesentliche Grundsätze des deutschen Rechts, welche<br />

Bedeutung wohnt der Offensichtlichkeit inne, was bedeutet offensichtlich unvereinbar.<br />

Es sind Begrifflichkeiten, die unbestimmter nicht sein könnten. Gerade deshalb<br />

könnte der ordre public zum Einfallstor der Ignoranz werden und eben nicht seiner<br />

ursprünglichen Bestimmung als Norm der Toleranz gerecht werden. Die offene Formulierung<br />

trägt dem Umstand Rechnung, dass die Kriterien ihrer Kasuistik, also dem<br />

Einzelfall, geschuldeten Relativität nur schwerlich in konkretisierende Merkmale zu<br />

fassen ist. Das Zurückhaltungsgebot zur restriktiven Anwendung dieser Norm findet<br />

sich allerdings in allen, dem allgemeinen Kriterienkatalog zugrunde liegenden,<br />

Ansichten. Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang vor allem<br />

der Begriff des Ergebnisses. Der ordre public ist als Ergebniskontrolle, als Korrektiv<br />

eines lege artis abgeschlossenen Entscheidungsvorgangs zu verstehen. Das fremde<br />

Recht darf unter keinen Umständen bewertet werden, sondern nur das Ergebnis der<br />

Anwendung im konkreten Fall korrigiert werden. Das ist ein wichtiger Schritt, der<br />

die Aushöhlung der Norm als Diffamierung der fremden Rechtsnormen bzw. ganzer<br />

Rechtssysteme und damit der fremden Rechtskultur verhindert. Damit ist der Arroganz<br />

und Überheblichkeit einer egozentrischen Weltansicht ein Riegel vorgeschoben<br />

und in einer weltumspannenden Gesellschaft den Bürger eines Planeten, in welchem<br />

sich nationale Grenzen im Bewusstsein der Gesellschaft immer weiter auflösen, fördert<br />

und weiter befreit. Toleranz und Akzeptanz, das höchste Gut, um das von dem<br />

US-amerikanischen Wissenschaftler und Preisträger des Wissenschaftspreises 2001<br />

(der Wirtschaftspreis der schwedischen Reichsbank in Gedenken an Alfred Nobel) J.<br />

Stiglitz geforderte positive Potenzial der Globalisierung freizusetzen, muss weiterhin<br />

Aufgabe aller Rechtspfleger sein. Der verantwortungsvolle Umgang mit dieser Norm<br />

und seine rechtliche Entwicklung gilt es zu jeder Zeit im Auge zu behalten.<br />

Wie es um das Gut der Toleranz im Rechtssystem steht, ist noch durch den Schreck<br />

der Beschneidungsdebatte in guter Erinnerung. Der Grundsatz der gesellschaftlich<br />

und rechtskulturell weiter befördert werden muss (und hier kommt es zur Aufgabe<br />

eines jeden Einzelnen von uns) bleibt: Fremd ist nicht schlecht, anders nicht falsch,<br />

westlich nicht gleich gut. Eine Welt in grau und grau.<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 14 |


Las Vegas: Die Jagd nach „Enten“ und dem Durchstöbern<br />

„dekorierter Schuppen“ hat begonnen...<br />

Mehmet Akif Öz<br />

Las Vegas – Sündenpfuhl für die Einen, Inbegriff des amerikanischen<br />

Traums für die Anderen: Keine andere Stadt<br />

in den USA dürfte wohl dermaßen polarisieren, wie die<br />

Großstadt in der Wüste Nevadas. Das Touristenmekka, in<br />

welches jährlich über 39 Millionen Menschen ein- und ausreisen,<br />

ist weltbekannt für seine Kasinos und das pulsierende<br />

Nachtleben, in der sich Live-Shows mit Berühmtheiten aus<br />

der Entertainment-Industrie ebenso zahlreich finden, wie<br />

Hochzeitskapellen und Elvis-Imitatoren. Doch neben all jenem<br />

ist Las Vegas vor allem ein architektonischer Spielplatz,<br />

in der sich nahezu größenwahnsinnige Bauprojekte aneinanderreihen.<br />

Daher ist es auch nicht verwunderlich dass das<br />

Spielerparadies, in Diskursen um die moderne Architektur,<br />

unumgänglich ist.<br />

Ein Standardwerk an dem<br />

man bezüglich dieser Thematik<br />

kaum umhinkommt<br />

nennt sich „Lernen von Las<br />

Vegas“; ein Buch, dessen<br />

Mitverfasser Robert Venturi,<br />

nach dem Hinscheiden<br />

des Altmeisters Oscar Niemeyer<br />

(1907 - 2012 †), wohl<br />

getrost als eine der letzten<br />

überlebenden Architektur-<br />

Ikonen des vergangenen<br />

Jahrhunderts bezeichnen<br />

darf.<br />

Venturi gilt als bedeutender<br />

Vertreter der Postmodernen<br />

Architektur, besonders<br />

auch als Theoretiker und<br />

Publizist. Der US-amerikanische<br />

Architekt ist am 25. Juni 1925 in Philadelphia geboren<br />

und erhielt 1991 den bedeutsamen Pritzker-Architektur-<br />

Preis, der in Fachkreisen auch gerne als „Nobelpreis der Architektur“<br />

bezeichnet wird.<br />

In „Lernen von Las Vegas“ beschreibt Venturi zusammen mit<br />

seiner Frau Denise Scott Brown und dem bereits verschiedenen<br />

Steven Izenour (1940 - 2001 †) eine außergewöhnliche<br />

Theorie, welche die Interpretation gebräuchlicher Architektur<br />

im Lichte dieser Großstadt zu exemplifizieren versucht.<br />

Schließlich habe die Wüstenstadt die besten Voraussetzungen<br />

und sei unvoreingenommen. Man könnte durchaus sagen,<br />

dass die Semiotik (also die Zeichenlehre) als eine Art<br />

„Brücke“ zum Verständnis dienen soll. Letztlich sind es Äußerungen<br />

wie, das Haus sei eine „Ente“ oder ein „dekorierter<br />

Schuppen“, die Einem sichtlich zu denken geben. Gemeint ist<br />

schlichtweg, die Kombination sogenannter „Signets“ (Zeichen),<br />

die auf irgendeine Art in Verbindung mit Bauwerken<br />

stehen sollen.<br />

Geschrieben wird, wie man sich nun vermutlich vorstellen<br />

kann, in einer fast ununterbrochenen soliden akademischen<br />

Nuance, was für Architekturlektüren gewissermaßen nicht<br />

unüblich, gar unumgänglich scheint, da die Definition der<br />

Architektur, oft individuell gedeutet wird und Gelehrte wie<br />

Adolf Behne sie sogar als „soziale Kunst“, Schoppenhauer<br />

hingegen als „gefrorene Musik“ bezeichnen durften.<br />

Wenn man nun der besagten „Ente“ auf die Schliche kommen<br />

möchte, muss man Venturi und seinen Kompagnons aufmerksam<br />

folgen. Die Architektur wird hierbei als Gesamtzeichen<br />

betrachtet, womit anhand dieses Zeichens die Nutzung<br />

des Raumes deduktiv plausibel wird. Die Ente verwendet<br />

Venturi als Beispiel für eine Entenbraterei. Jenes Haus der Entenbraterei<br />

hat also die Gesamtform einer Ente. Sie ist somit<br />

für hungrige oder auch nicht-hungrige Passanten als ein Ort<br />

mit (gebratenen) Enten zu verstehen.<br />

Im Allgemeinen möchte uns der postmoderne Architekt damit<br />

sagen, dass die „Ente“ das Gebäude darstellt, welches<br />

selbst zum Ornament geworden ist. Die Fassade ist das Zeichen<br />

bzw. „Signet“.<br />

Man braucht seiner Kreativität<br />

nur freien Lauf lassen<br />

um weitere „Enten“ laut<br />

der Theorie der Autoren<br />

diagnostizieren zu können.<br />

Beispielsweise wäre eine<br />

Hendlbraterei in Gesamtform<br />

eines Huhns ebenso<br />

„Ente“, wie die Hütte eines<br />

Metzgers in Form eines<br />

Rinds oder Schweins.<br />

Kommen wir nun zum<br />

besagten „dekorierten<br />

Schuppen“. Anders als<br />

bei der „Ente“ trennt der<br />

„dekorierte Schuppen“<br />

die Fassade vom Inhalt<br />

des Hauses. Dies bedeutet,<br />

dass der Schuppen<br />

(das Haus) an sich ohne Ornament klarkommt, jedoch das<br />

„Signet“ vor dem Haus (Schuppen) klar ersichtlich sein sollte<br />

um die Funktion des Raumes für das Volk zu implizieren.<br />

Eine Tankstelle dient hierbei als gutes Beispiel. Während der<br />

Kassierer im unspektakulären Schuppen haust bzw. sitzt, dekoriert<br />

bzw. suggeriert das „Signet“ in Form eines auffälligen<br />

Schildes, mit beispielsweise den Lettern „BP“, den Kraftfahrern<br />

ein Bild dieser Tankstelle. Auch einige Fastfood-Lokale<br />

mit dem berühmten geschwungenem „M“ locken mit Hilfe<br />

ihrer „Signets“, welche in Nähe ihrer „Schuppen“ positioniert<br />

sind, die Kunden in ihre Lokalitäten.<br />

Und was lernen wir von Las Vegas? Eine Stadt, die mitten in<br />

der Wüste jeglichen ökologischen Bedenken strotzt und mit<br />

ihrer Artifizialität die Menschen zum Staunen versetzt, kann<br />

für sich selbst als ein Symbol für Vieles betrachtet werden.<br />

Aber bleiben wir bei der Architektur. Bedient durch die gewagte<br />

Annahme, „Architekten hätten es verlernt, ihre Umwelt<br />

voraussetzungslos zu betrachten“, ist dieses Werk<br />

überhaupt zustande gekommen. Ob man diese Behauptung<br />

wirklich so stehenlassen kann, vermag jedem selbst. Jedoch<br />

wirken die finalen Autorenthesen über die Gesamtreduktion<br />

der Architektur auf zwei metaphorische Kategorien mehr als<br />

kühn, fast schon ein wenig ignorant...<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 15 |


Existiert noch Slawistik?<br />

Pavlo Popov<br />

Alles befindet sich im Wandel. Was ist das Tribut,<br />

das der Gegenwart zu entrichten gilt, was eine<br />

vorübergehende, modische Erscheinung, Trend, und<br />

wer mag darüber urteilen? Diesen Prozessen unterliegt auch<br />

das Bildungssystem im Allgemeinen und die akademische<br />

Fachrichtung Slawistik im Einzelnen.<br />

Slawistik als Universitätsfach hat eine über 200-jährige<br />

Geschichte; es ist ein Fachgebiet, das seit ihren Beginnen<br />

bis in die Gegenwart sich immer wieder aufs Neue definieren<br />

musste. Angefangen hat es noch am Ende des 18. Jahrhunderts,<br />

als die progressiven Vertreter der Kleinbürgerlichkeit gegen<br />

die Vorherrschaft der Feudalklasse kämpfte, was zum<br />

Streben einer nationalen und ökonomischen Einheit führte,<br />

würde man in sozialistisch dominierten Darstellungen lesen.<br />

Wir lassen die marxistisch-dialektische Deutung erst einmal<br />

beiseite und schauen uns die Folge an: Eine neue Idee war<br />

geboren worden. Diese Idee besagte, dass der Volksgeist<br />

in der Sprache des Volkes, in seinen Sitten und Bräuchen,<br />

in seinen Liedern lebt. Die Idee kam zur rechten Zeit:<br />

Außer Russland hatte kein einziges slawisches Volk einen<br />

eigenen Staat, sondern existierte innerhalb der Grenzen der<br />

damaligen Riesenimperien: Dem Osmanischen Reich, der<br />

Zwischenkriegszeit wurde des Weiteren das Augenmerk auf<br />

die slawistische Dialektologie gelegt.<br />

Mit dem Ende des zweiten Weltkrieges und zum Beginn<br />

des Kalten Krieges wuchs schließlich das Interesse der<br />

westlichen Länder an seinen slawischen Nachbarn, die sich<br />

auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs befanden. Für<br />

Deutschland kann man ohne Übertreibung von der Blütezeit<br />

der Slawistik sprechen. Das spiegelte sich qualitativ in<br />

der Breite der Angebote und quantitativ in der Anzahl der<br />

Professuren an Slawistikinstituten wider.<br />

Der Slawistik-Boom endet mit dem Zerfall des sozialistischen<br />

Lagers. Nimmt man die LMU als Beispiel, so bleiben in<br />

München zurzeit nur noch 4 slawistische Lehrstühle, wobei<br />

„von oben“ bereits angedeutet wurde, dass eine Professur<br />

nach der Pensionierung des einschlägigen Dozenten nicht<br />

mehr besetzt wird.<br />

Im Ganzen lassen sich in der Slawistik heute folgende<br />

Tendenzen erkennen: Untergang der Slawistik als eine<br />

philologische Disziplin und Herauskristallisierung der<br />

einzelenen „Istiken“ wie Russistik, Polonistik, Bohemistik.<br />

„Die These der kulturellen, sprachlichen und geschichtlichen Einheit der slawischen<br />

Völker bestimmte die Breite der damaligen Slawistik, die den rein philologischen<br />

Rahmen sprengte. Geschichte, Ethnographie, Landeskunde, Archäologie und viele<br />

andere Disziplinen machten das neue komplexe Fach aus.“<br />

Habsburger Monarchie, dem Russischen Imperium, sowie in<br />

anderen Staatsgebilden. Die neue Idee sollte die slawischen<br />

Völker einen, wobei der stärkste Einigungsfaktor die Sprache<br />

war.<br />

Die ersten „Slawisten“ erfassten also im Dienste der neuen<br />

Idee des Nationalen die Folklore der slawischen Völker,<br />

sammelten slawische schriftliche Denkmäler, bemühten<br />

sich, die einzelnen Sprachen zu kodifizieren und gaben erste<br />

Grammatiken heraus. Die These der kulturellen, sprachlichen<br />

und geschichtlichen Einheit der slawischen Völker bestimmte<br />

die Breite der damaligen Slawistik, die den rein philologischen<br />

Rahmen sprengte. Geschichte, Ethnographie, Landeskunde,<br />

Archäologie und viele andere Disziplinen machten das neue<br />

komplexe Fach aus.<br />

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam<br />

es zu Tendenzen, die eigentliche Slawistik auf die<br />

sprachwissenschaftlichen, literaturwissenschaftlichen und<br />

folkloristischen Gebiete zu begrenzen. Mit dem Entstehen<br />

der Indogermanistik wächst zudem das Interesse an der<br />

vergleichenden historischen Sprachwissenschaft, wo die<br />

slawischen Sprachen untereinander und im Kontext der<br />

indoeuropäischen Sprachfamilien verglichen und untersucht<br />

wurden. An vielen Universitäten äußerte es sich z.B. darin,<br />

dass das Altgriechische, das Litauische oder das Sanskrit<br />

zum Bestandteil der Slawistik-Lehrpläne wurde. In der<br />

Dort, wo es ursprünglich eine starke Slawistik gab,<br />

entstehen sogenannte „areale Studien“. Populär scheinen<br />

in diesem Zusammenhang Studiengänge wie Ost- und<br />

Mitteleuropastudien, Balkanistik etc. zu sein. In Prag gibt<br />

es mittlerweile kein Slawistikinstitut mehr. Dieses wurde<br />

schließlich in das Institut für Osteuropastudien, das Institut<br />

für Südosteuropa- und Balkanstudien und das Institut für<br />

Mitteleuropastudien aufgeteilt. In ihrer ganzen philologischen<br />

Breite wird wahrscheinlich nur noch die tschechische<br />

Philologie am Institut für Bohemistik unterrichtet. Am<br />

Institut für Mitteleuropastudien wird beispielsweise neben<br />

den Sprachen und Literaturen auch Geschichte, Politik und<br />

Kultur studiert und neben Polen und der Slowakei fließen<br />

auch Ungarn und Albanien in das Programm mit ein.<br />

Das ist natürlich keine Slawistik mehr, denn im Vordergrund<br />

stehen ganz andere Ideen, als es noch im 19. Jahrhundert<br />

der Fall war. Die Idee der slawischen Einheit ist nicht mehr<br />

politisch aktuell; diese tritt zurück hinter einer Idee der<br />

einzelslawischen Eigenheit sowie der Idee der wirtschaftlichen<br />

Integrität im globalisierten Europa. Panslawismus muss also<br />

seinen Platz für die neuen abstrakten Begriffe der Areale<br />

räumen.<br />

Die ‚Ent-Philologisierung‘ der Slawistik nimmt dabei<br />

ganz konkrete Züge an. Wenn man beispielsweise die<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 16 |


Literaturwissenschaft nimmt, so sind in Prag und in München sehr wohl Vorlesungen<br />

zur Geschichte der Literaturen vorhanden. Allerdings gibt es keine systematischen<br />

praktischen Übungen (mehr), in welchen Primär- und Sekundärtexte unter Studenten<br />

diskutiert wurden, wie es zum Beispiel [noch] in Polen üblich ist. In München werden<br />

außerdem nicht alle Literaturgeschichten angeboten (nur „die wichtigsten“, wie z.B.<br />

die Russische, im Gegensatz zur Weißrussischen oder der Ukrainischen).<br />

Das Gleiche betrifft auch die Sprachwissenschaft. Die einst für den deutschsprachigen<br />

Raum ruhmreiche Tradition der Beschäftigung mit historischen Grammatiken der<br />

einzelnen slawischen Sprachen wird in München nur sporadisch fortgesetzt. In Prag,<br />

wo die vergleichbaren Fächer noch regulär angeboten werden, schlagen die Zahlen<br />

Alarm. Nur wenige Studenten besuchen diese (vier für Serbisch und Kroatisch, zwei<br />

für Bulgarisch, einer für Slowenisch), sodass fraglich ist, ob diese Disziplinen auch<br />

weiterhin angeboten werden.<br />

Als Kompensation für die weggefallenen Angebote wird öfters zum Selbststudium<br />

geraten: „Das Studium ist vor allem die selbständige Arbeit des Studenten“ [lässt<br />

sich schließlich auf vielen offiziellen Universitätswebsites lesen]. Doch jedem, der<br />

einst selbst Student gewesen war, dürfte klar sein, dass das Selbststudium niemals<br />

die Lehre und die Betreuung ersetzen kann – und darf.<br />

Neben den geschilderten „Untergangserscheinungen“ hat aber jede Universität,<br />

jedes Land seine Stärken und Traditionen. So werden in München immerhin 8 von<br />

10 slawischen Standartsprachen in Form des praktischen Unterrichts angeboten;<br />

Mehr noch werden in Deutschland die Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten<br />

sehr gut geschult, indem während des Studiums mehrere wissenschaftliche Arbeiten<br />

von unterschiedlichem Umfang geschrieben werden müssen. Das System der<br />

spezifischen Seminare in einer derart ausgeprägten Form und Quantität gibt es<br />

wahrscheinlich nur in den deutschsprachigen Ländern.<br />

In Prag werden die slawischen Sprachen sechs Semester lang unterrichtet (während<br />

es in München nur vier sind). Es gibt außerdem reguläre Vorlesungen zur Geschichte<br />

und Literatur. In Polen, wie erwähnt, wird die Literatur nicht nur theoretisch<br />

behandelt, sondern auch diskutiert. Zudem werden ebenfalls Veranstaltungen zur<br />

geistigen Kultur und Geschichte der Slawen angeboten. Das Studium der Philologie<br />

in Ljubljana und in Sofia ist dagegen strenger philologisch ausgerichtet. Das heißt,<br />

dass die Rahmenfächer, wie sie in Deutschland, Polen und Tschechien angeboten<br />

werden, nur beschränkt bzw. gar nicht im Studienplan vorhanden sind. Ein Nachteil?<br />

Nicht unbedingt, denn dafür ist das Angebot an philologischen Fächern umso reicher.<br />

Möchte sich einer als Slawist in der breiteren Bedeutung dieses Wortes profilieren,<br />

scheint es im Rahmen des Studiums an einer Universität fast unmöglich zu sein. Der<br />

junge Wissenschaftler ist auf Mobilität und Mobilitätsstipendien angewiesen. Es gilt<br />

dabei die Vielfalt der europäischen Universitätenlandschaft sowie die Stärken und<br />

Besonderheiten der einzelnen Schulen auszunutzen.<br />

Wie auch immer, es bleiben eine Menge Fragen offen. Wie sind die aktuellen<br />

Änderungen im Bildungssystem und in der Slawistik zu bewerten? Ist der Prozess<br />

tragbar und spiegeln die Transformationen die Bedürfnisse der Zeit wider, oder gar<br />

die Interessen der Finanzoligarchie? Sind die verschlechterten Bedingungen an den<br />

Universitäten zu akzeptieren? Wie steht es mit den Möglichkeiten zur Mobilität und<br />

können auch Studenten aus ärmeren europäischen Ländern darauf zugreifen? Was<br />

ist das Beste für Studenten, Universitäten und Staat?<br />

Literatur:<br />

Petr, Jan. (1984). Základy slavistiky. Státní Pedagog. Naklad: Praha<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 17 |


Call for papers<br />

Artikel gesucht<br />

Hiermit laden wir dich zur Teilnahme an der 3. Ausgabe vom newspeak<br />

magazin ein. Wir würden uns sehr freuen wenn Du Dich entscheidest, für<br />

uns (und dabei natürlich auch für Dich) etwas zu schreiben.<br />

Bislang tauchten in unserem <strong>Magazin</strong> nur bestimmte Artikel auf. Mit dieser Ausgabe<br />

wollten wir jedoch die Horizonte, sowohl von uns als auch unserer Autoren und<br />

Lesern, weiter öffnen. Sei es ein Artikel, ein Essay, ein Gedicht, eine Kolumne, ein<br />

Kurzfilm oder gar eine Fotoreportage - wir sind für sämtliche Ideen von Dir offen,<br />

um ein vielfältiges <strong>Magazin</strong> für Sprache und Kultur zu gestalten. Und da wir nur in<br />

digitaler Form erscheinen, haben wir keine Grenzen wenn es um die Medienform<br />

geht. Diese Idee wird in den nachfolgenden Ausgaben weiter entwickelt.<br />

Zum Ablauf:<br />

Zunächst erwarten wir eine E-Mail oder facebook Message von Dir, in<br />

der Du uns Deine Pläne bezüglich der nächsten Ausgabe erläuterst.<br />

Wir schreiben sofort zurück. Wir schicken Dir auch ein Stillblatt und<br />

eine Erklärung zu.<br />

Artikel dürfen auf Englisch oder auf Deutsch geschrieben werden.<br />

Artikelabgabefrist für die 3. Ausgabe ist der November 2013.<br />

Die 3. Nummer des <strong>Magazin</strong>s wird voraussichtlich Ende 2013<br />

veröffentlicht.<br />

Wie profitierst du davon?<br />

Dein <strong>Magazin</strong>beitrag wird an 200 Personen aus unserer<br />

Datenbank geliefert, darunter Studenten, Doktoranden, Professoren etc.<br />

Klingt 200 nicht überzeugend? Die 1. Ausgabe erreichte bisher über<br />

1500 Besucher auf der Plattform für digitale Zeitschriften issuu.<br />

Deine Worte werden nicht nur in Deutschland verbreitet, aber auch<br />

z.B.: in Polen, Italien, China wie auch weltweit über das Internet.<br />

Wir kümmern uns um die professionelle Redaktion Deines Textes.<br />

Du wirst zu einer <strong>Magazin</strong> Releaseparty als VIP eingeladen. Dort<br />

wird es die Möglichkeit geben, einige Leser und andere Autoren des<br />

newspeak magazins kennen zu lernen.<br />

Mehr Infos über uns, unsere Initiativen wie auch über die nächste Ausgabe des<br />

<strong>Magazin</strong>s findet ihr auf unserer Facebook Seite facebook.com/ZirkelBabel und<br />

auf unserer Webseite www.newspeakmagazin.de.<br />

Wir freuen uns auf alle, die Interesse an diesen Projekt haben und sind auch für<br />

alle weiteren Vorschläge offen!<br />

| newspeak magazin 2 (1 / 2013) | Seite 18 |


N EW<br />

Ausgabe 2 (1/2013)

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