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Das Erdbeben von Lissabon_Bordat.pdf - History-Blog

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eigene Substantialität, die unabhängig vom Guten existieren kann. <strong>Das</strong> Böse ist bei Leibniz<br />

also eine substanzlose Entität, die als malum metaphysicum außerhalb des Menschen besteht<br />

(und – wie oben gezeigt wurde – in Leibnizens Weltbild um der Schöpfung Gottes und der<br />

Freiheit des Menschen willen auch bestehen muss) und die sich im malum physicum<br />

manifestiert, dem Menschen also gleichsam als Leid <strong>von</strong> außen her begegnet. In seinem Text<br />

Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee (1791) wiederholt Kant<br />

deutlicher als in den Frühschriften, dass die menschliche Vernunft zu begrenzt sei, um<br />

derartige metaphysische Spekulationen anzustellen, wie Leibniz dies getan habe. Dessen<br />

Versuch weist er als »Auslegung einer vernünftelnden (spekulativen) [...] Vernunft« (Kant<br />

1964, 116) zurück, da sie einen Absolutheitsanspruch erhebe, die der menschlichen Vernunft<br />

nicht zukomme.<br />

Insbesondere in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) verfolgt er<br />

das Programm einer pragmatischen Übersetzung der Theodizeefrage <strong>von</strong> der Transzendenz in<br />

die Weltimmanenz. Die Grundhaltung des Quietismus hinsichtlich des Ursprungs des Übels<br />

wird angesichts des daraus resultierenden Leids auf der Basis der Hinwendung zu Gott ein<br />

Auftrag für die Moralität des Menschen. Bei Kant gibt es letztlich nur den Menschen und<br />

seine subjektiv-innerliche Perspektive auf die Welt. Er, der Mensch, der nichts wissen kann<br />

<strong>von</strong> Grund und Ursprung des Übels wird damit zum Grund und Ursprung <strong>von</strong><br />

Überwindungsformen des Leids. Entscheidend sei dabei eine Änderung der Sitten (Kant<br />

1963b, 697 f.). Der Sieg des Guten über das Böse hängt für Kant zudem mit einer veränderten<br />

Religiosität zusammen, weg vom »Kirchenglauben«, hin zum »reinen Religionsglauben«,<br />

durch den die »Gründung des Reiches Gottes auf Erden« möglich werde (Kant 1963b, 751<br />

ff.), das nicht mehr als messianisches, sondern als moralisches Reich gedacht wird (Kant<br />

1963b, 803).<br />

Die authentische Theodizee Kants ist im Ergebnis also eine Anthropodizee. Dabei führt diese<br />

Umformung nicht nur zum Verlust der Pointe, es ist am Ende gar nicht mehr dieselbe Frage,<br />

um die es geht, denn es wird keine Erklärung für den Ursprung des Übels mehr gesucht,<br />

sondern eine Strategie gelungener Kontingenzbewältigung. Die Schwäche der theoretischintellektuellen<br />

Theodizee Leibnizens, genau diese nicht zu bieten, wird erkannt und behoben,<br />

aber um den Preis dessen, dass das Problem als solches dispensiert wird. Die Ursache des<br />

Übels bleibt dem Menschen bei Kant verborgen, eine Lösung gibt es nicht, zumindest keine,<br />

die wir erkennen können. Was dem Menschen bleibt, ist die Überwindung des Leids, das aus<br />

dem Übel resultiert. Die authentische Theodizee ist keine »echte« Theodizee mehr, da sie mit<br />

dem Anspruch Leibnizens nach einer intelligiblen Welterklärung bricht, einer Einsicht ins<br />

Ganze, die mit der Hypothek eines feinjustierten Systems metaphysischer Voraussetzungen<br />

belastet ist und die ihre Geltung nach dem <strong>Erdbeben</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> nur noch unter<br />

Ausblendung des menschlichen Strebens nach Hilfen zur Kontingenzbewältigung hätte<br />

aufrecht erhalten können. Dazu waren die Menschen in <strong>Lissabon</strong> und in ganz Europa<br />

eingedenk der überwältigenden Faktizität der Katastrophe nicht bereit. Ob Kants Lösung<br />

jedoch trost- und hilfreicher ist, um in der Leiderfahrung Sinn zu sehen, darf bezweifelt<br />

werden, denn seine Rechnung eines Fortschritts der Menschheit zum Guten eingedenk der<br />

Achtung vor dem moralischen Gesetz ist eine mit vielen Unbekannten.<br />

Dennoch öffnet Kant eine Perspektive zur Überwindung des Leids in theologischphilosophischer,<br />

naturwissenschaftlicher und ethischer Hinsicht. Dabei sind strukturelle<br />

Ähnlichkeiten <strong>von</strong> Theodizee, Technodizee und Anthropodizee vorhanden, welche die<br />

unterschiedlichen Lösungsansätze vergleichbar machen, denn stets müssen Fragen auf drei<br />

Ebenen beantwortet werden: 1. auf der Ebene der Ermöglichungsbedingung. Am Anfang steht<br />

der teleologische Wahlakt, der einer Präferenz obliegt. Wie ist dieser Wahlakt des Schöpfer-

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