Das Erdbeben von Lissabon_Bordat.pdf - History-Blog
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<strong>Das</strong> <strong>Erdbeben</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong> war nicht nur eine der größten Katastrophen des Kontinents,<br />
sondern stellt einen paradigmatischen Wendepunkt im theologischen, philosophischen und<br />
naturwissenschaftlichen Denken Europas dar. Es bot den Anlass, die optimistische Lösung<br />
Leibnizens zu überdenken und schließlich zu verwerfen. Alle drei neuen Deutungsmuster<br />
können dabei auf die Rezeption dieses erschütternden Ereignisses durch Immanuel Kant<br />
zurückgeführt werden. Diese Entwicklung möchte ich im vorliegenden Aufsatz nachzeichnen.<br />
In einem ersten Teil soll die Theodizee und ihre Rezeption nach dem <strong>Erdbeben</strong> <strong>von</strong> <strong>Lissabon</strong><br />
kurz dargestellt werden, mit besonderer Berücksichtung der authentischen Theodizee Kants.<br />
In einem zweiten Teil sollen Kants Ansätze einer naturwissenschaftlichen<br />
Katastrophenforschung dargestellt werden, mit der Kant die heute bestimmenden<br />
Deutungsmuster in der Rezeption <strong>von</strong> Katastrophen, die Technodizee und die Anthropodizee<br />
initiierte, weil er zum einen die Grundlagen einer naturwissenschaftlich-technischen<br />
Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen bereitet, zum anderen diese Katastrophen durch<br />
Verweis auf die Rolle des Menschen für ethische Erwägungen und Moralappelle verfügbar<br />
gemacht hat. Besonders deutlich zeigt sich dies im Zusammenhang mit dem Klimawandel als<br />
Katastrophenszenario unserer Tage. Dies soll schließlich in einem dritten Teil angesprochen<br />
werden, in dem die drei auf Kant zurückgehenden Transformationen der Theodizee –<br />
authentische Theodizee, Technodizee und Anthropodizee – als Ausdruck des Wandels der<br />
Interpretamente und der Deutungsmuster in einen Bezug zu aktuellen Fragen der<br />
Kontingenzbewältigung gestellt und der veränderte Zugang zur Frage Unde malum? am<br />
Begriff der Verantwortung verdeutlicht werden.<br />
Die Theodizee Leibnizens als klassisches Deutungsmuster<br />
Gottfried Wilhelm Leibniz hat den Begriff der Theodizee entwickelt – für die Theodizee-<br />
Tradition vor Leibniz vgl. <strong>Bordat</strong> (2007). Leibniz definiert neben den auf Augustinus<br />
zurückgehenden Klassen malum morale und malum physicum eine dritte Art <strong>von</strong> Übel, das<br />
malum metaphysicum, die Unvollkommenheit. Es muss dieses Übel geben, um ein Streben<br />
nach Vollkommenheit zu ermöglichen. Wäre alles schon vollkommen, wäre jedes Streben,<br />
mithin jedes Handeln sinnlos. Ferner würde sich dann kein signifikanter Unterschied<br />
zwischen dem vollkommenen Schöpfer und seiner dann ebenfalls vollkommenen Schöpfung<br />
ergeben, was die Schöpfung an sich als ununterscheidbar <strong>von</strong> Gott und damit als »Nicht-<br />
Schöpfung« entlarven würde, denn die Reproduktion des Gleichen führt nur zur Schaffung<br />
<strong>von</strong> Identitäten. Die Manifestation einer Identität ist jedoch keine schöpferische Leistung,<br />
sondern lediglich die Formulierung der unmittelbarsten, einfachsten und einsichtigsten<br />
Wahrheit.<br />
So sind die Menschen als endliche rationale Wesen, denen Gott im Rahmen der Schöpfung<br />
keine Vollkommenheit zubilligen konnte, dem malum metaphysicum als einer „natürlichen<br />
Begrenzung“ (Platz 1973, 190 f.) des Geschaffen unterworfen, aus dem sich dann die<br />
physischen Übel, die Leiden, und die moralischen Übel, die Sünden, ergeben. Bedeutsam ist<br />
hierbei der Unterschied zwischen schaffen und zulassen (Leibniz 1968, 111): Nach Leibniz<br />
hat Gott das Übel nicht geschaffen, sondern zugelassen (permis), weil es im Plan der besten<br />
Welt notwendig enthalten war. Ebenso ist es wichtig, schon hier im Hinblick auf den noch zu<br />
untersuchenden Verantwortungsbegriff zu bemerken, dass der Mensch zwar keine<br />
Vollkommenheit hat, aber Vervollkommnungsfähigkeit (perfectibilitas).<br />
<strong>Das</strong> malum morale ist unterdessen ein Produkt der Freiheit des Menschen und hätte nur auf<br />
Kosten dieser vermieden werden können, d. h. ein grundsätzlicher Ausschluss des moralisch<br />
Bösen <strong>von</strong> vorne herein bedeutet für Leibniz das Ende der Freiheit. <strong>Das</strong> Böse muss also um