Title Zarathustras Muhen mit Seinem Ubermenschen ... - HERMES-IR
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VIII.<br />
Wenn wir dennoch von dieser elitistischen und später imperialistischen Tendenz der<br />
Philosophie Nietzsches absehen, bleibt das Problem, dass er die neue Moral und Sozialordnung<br />
aporetisch oder allzu vage bestimmt. Sie bleibt im Bereich des Identitären. Wir stossen hier auf<br />
den wesentlichen Grundirrtum, der nicht nur Nietzsche kennzeichnet, sondern vielen anderen<br />
grossen Kritiken der Modernität eigen ist. Es handelt sich nämlich darum, dass er die<br />
elementar moderne Differenzierung zwischen den Geltungen der Wahrheit, der Moral (oder<br />
Gerechtigkeit) und des Geschmacks (oder der Identität in engerer Bedeutung), eine von Kant<br />
zuerst explizierte Differenzierung, nicht festhält und bearbeitet, sondern unangemessen zu<br />
überwinden glaubt. Nietzsche feiert zwar die Befreiung der Wissenschaften von der<br />
Bevormundung seitens der Religion, dennoch bleibt er an der vormodernen Einheit der drei<br />
Geltungsbereiche hängen, die in den vormodernen Gesellschaften als (von Hegel so genannte)<br />
Sittlichkeit herrscht. Nach dem herakleischen Sturz der alten Sittlichkeit, die in der<br />
Sinnautorität (Gottheiten, Ideen usw.) gründete, versucht Nietzsche eine revolutionär neue<br />
Welt, jedoch wieder in undifferenzierter Einheit, an die Stelle der gestürzten zu setzen; in ihrer<br />
bestimmenden Mitte soll der U»bermensch erstrahlen, wie früher die Gottheiten.<br />
Indem Nietzsche die moderne Differenzierung leugnet, erhebt er den hohen Anspruch,<br />
über die Modernität hinauszukommen. Aber hebt er die Struktur der Modernität wirklich auf<br />
oder fällt er hinter sie zurück in eine romantische Erneuerung einer Struktur der<br />
Vormodernität ? Es sieht eher nach dem letzteren aus. Denn er leistet keine immanente Kritik<br />
der Modernität und ihrer Lehren. Vielmehr mischen sich in der Philosophie des U»bermenschen<br />
der Vorschlag der freien Identität <strong>mit</strong> der ihrem eigenen Anspruch nach höchsten Ethik und<br />
einer simplen Metaphysik des Lebens.<br />
Nietzsche verabscheut die bestehenden Moralen pauschal, weil er sie <strong>mit</strong> einigen ihrer<br />
Besonderungen, nämlich den traditionellen christlichen, zumal <strong>mit</strong> deren letzten Gestalten,<br />
ihren zeitgenössischen, d.i. <strong>mit</strong> der konservativ-kirchenchristlichen, und der bürgerlichen,<br />
liberal-kommerziellen, gleichsetzt. Sein “Immoralismus” sieht nicht, dass selbstverständlich<br />
auch seine eigene U»bermenschenphilosophie moralische Elemente enthält.<br />
Nietzsche hat sich nie <strong>mit</strong> der modernen Ethik und dem modernen Naturrecht, nie <strong>mit</strong><br />
den anspruchsvollen Theorien des Liberalismus und des Demokratismus ernsthaft<br />
auseinandergesetzt. Kants Ethik z.B. kennt er nur oberflächlich, aus der flüchtigen Lektüre<br />
eines Sekundärwerkes. An die Stelle der offensichtlich abgetanen, auch von vielen anderen<br />
Philosophen lange vor ihm kritisierten alten, dekadenten Moral und Sozialordnung des<br />
Kirchenchristentums setzt er daher einen unbegründeten Neoaristokratismus, der aus<br />
mancherlei dubiosen Quellen schöpft. Alles soll demzufolge wieder in eine Einheit der<br />
Lebensform zusammenströmen, in die des machtvollen, faustisch strebenden<br />
Aristokratentums des hohen Geschmacks:<br />
“Dies ist die allgemein herrschende Form der Barbar e i , dass man<br />
noch nichtweiss, Moral ist Geschmack-S ache.” 80<br />
Es ist dies eine spätromantische - oder wenn man will: der Beginn der neuromantischen<br />
Regression in den A»sthetizismus als Ersatzreligion. Der Rückfall, der dem Sozialdarwinismus<br />
80 Fragment 1883, KSA 10, S.263.