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Thomas von Aquin Die Tapferkeit [De fortitudine] - Hoye.de

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<strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Tapferkeit</strong><br />

[<strong>De</strong> <strong>fortitudine</strong>]<br />

Summa theologiae, Teil II-II, Frage 123<br />

1. Artikel<br />

Ist <strong>Tapferkeit</strong> eine Tugend?<br />

1. Gegenargument: <strong>De</strong>r Apostel sagt 2 Kor 12,9: „<strong>Die</strong><br />

Tugend [Kraft] kommt in <strong>de</strong>r Schwachheit zur Vollendung“.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Tapferkeit</strong> [Stärke] steht aber in Gegensatz zur<br />

Schwachheit. Also ist <strong>Tapferkeit</strong> keine Tugend.<br />

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2. Gegenargument: Wenn sie eine Tugend ist, dann ist sie<br />

entwe<strong>de</strong>r eine göttliche, eine Verstan<strong>de</strong>s- o<strong>de</strong>r eine sittliche<br />

Tugend. <strong>Tapferkeit</strong> aber ist we<strong>de</strong>r unter <strong>de</strong>n göttlichen<br />

Tugen<strong>de</strong>n enthalten noch unter <strong>de</strong>n Verstan<strong>de</strong>stugen<strong>de</strong>n<br />

(I–II 57,2; 62,3: Bd. 11), noch scheint sie eine sittliche Tugend<br />

zu sein. <strong>De</strong>nn einige scheinen tapfer zu sein aus<br />

Unwissenheit o<strong>de</strong>r auch aus Erfahrung, wie die Kriegsleute,<br />

was mehr in <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r Kunst fällt als <strong>de</strong>n<br />

<strong>de</strong>r sittlichen Tugend. Wie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re heißen tapfer aus<br />

irgen<strong>de</strong>iner Lei<strong>de</strong>nschaft heraus, z. B. aus Furcht vor Drohungen<br />

o<strong>de</strong>r Entehrung o<strong>de</strong>r auch aus Trauer o<strong>de</strong>r Zorn<br />

bzw. Hoffnung (Aristoteles). <strong>Die</strong> sittliche Tugend aber ist<br />

nicht aus Lei<strong>de</strong>nschaft, son<strong>de</strong>rn aus freier Wahl tätig (I–II<br />

59, 1: Bd. 11). Also ist <strong>Tapferkeit</strong> keine Tugend.<br />

3. Gegenargument: <strong>Die</strong> menschliche Tugend ist vornehmlich<br />

in <strong>de</strong>r Seele; <strong>de</strong>nn sie ist eine „gute Beschaffenheit<br />

<strong>de</strong>s Geistes“ [Lombardus] (I–II 55,4: Bd. 11). Nun scheint<br />

aber <strong>Tapferkeit</strong> [Stärke] im Leib zu sein o<strong>de</strong>r min<strong>de</strong>stens<br />

<strong>de</strong>r Verfassung <strong>de</strong>s Leibes zu folgen. Also scheint es, daß<br />

<strong>Tapferkeit</strong> keine Tugend sei.<br />

An<strong>de</strong>rseits zählt Augustinus die <strong>Tapferkeit</strong> unter <strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n<br />

auf.<br />

Ich antworte: „Tugend ist das, was <strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r sie hat, gut<br />

macht und sein Werk gut macht.“ Daher „ist die Tugend<br />

<strong>de</strong>s Menschen“, <strong>von</strong> <strong>de</strong>r wir jetzt sprechen, „das, was<br />

<strong>de</strong>n Menschen und sein Werk gut macht“ (Aristoteles).<br />

Das Gute <strong>de</strong>s Menschen aber besteht darin, gemäß <strong>de</strong>r<br />

Vernunft zu sein (Dionysius). Und darum gehört es zur<br />

1. Was be<strong>de</strong>utet es, ein guter Mensch zu sein?


2. Warum ist <strong>Tapferkeit</strong> eine Tugend?<br />

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2 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

menschlichen Tugend, daß sie <strong>de</strong>n Menschen und sein<br />

Werk gemäß <strong>de</strong>r Vernunft sein läßt. – Das ist auf dreifache<br />

Weise möglich: einmal, insofern die Vernunft selbst<br />

recht ausgerichtet wird [rectificatur], was durch die verstandhaften<br />

Tugen<strong>de</strong>n geschieht; zum an<strong>de</strong>ren, insofern<br />

die Rechtheit [rectitudo] <strong>de</strong>r Vernunft im menschlichen Leben<br />

erstellt wird, was zur Gerechtigkeit gehört; drittens,<br />

insofern die Hin<strong>de</strong>rnisse zur Erstellung dieser Rechtheit<br />

im menschlichen Leben beseitigt wer<strong>de</strong>n. – Nun wird<br />

<strong>de</strong>r menschliche Wille in zweifacher Weise gehin<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>r<br />

Rechtheit [rectitudo] <strong>de</strong>r Vernunft zu folgen. Einmal dadurch,<br />

daß er <strong>von</strong> etwas Lustbringen<strong>de</strong>m zu an<strong>de</strong>rem verlockt<br />

wird, als die Rechtheit <strong>de</strong>r Vernunft es for<strong>de</strong>rt; und<br />

dieses Hin<strong>de</strong>rnis wird durch die Tugend <strong>de</strong>r Maßhaltung<br />

beseitigt. Auf an<strong>de</strong>re Weise [wird <strong>de</strong>r Wille gehin<strong>de</strong>rt]<br />

durch das, was <strong>de</strong>n Willen <strong>von</strong> <strong>de</strong>m zurückdrängt, was<br />

gemäß <strong>de</strong>r Vernunft ist, nämlich wenn eine Schwierigkeit<br />

sich in <strong>de</strong>n Weg stellt. Und zur Beseitigung dieses Hin<strong>de</strong>rnisses<br />

ist die <strong>Tapferkeit</strong> <strong>de</strong>s Geistes erfor<strong>de</strong>rlich, durch die<br />

er [<strong>de</strong>r Wille] solchen Schwierigkeiten Wi<strong>de</strong>rstand leistet,<br />

wie <strong>de</strong>r Mensch ja auch kraft körperlicher Stärke körperliche<br />

Hin<strong>de</strong>rnisse überwin<strong>de</strong>t und zurückstößt. Darum ist<br />

es offensichtlich, daß <strong>Tapferkeit</strong> eine Tugend ist, sofern sie<br />

<strong>de</strong>n Menschen gemäß <strong>de</strong>r Vernunft sein läßt.<br />

Zu 1. <strong>Die</strong> Kraft <strong>de</strong>r Seele wird nicht in <strong>de</strong>r Schwachheit<br />

<strong>de</strong>r Seele vollen<strong>de</strong>t, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Schwachheit <strong>de</strong>s Fleisches,<br />

<strong>von</strong> welcher <strong>de</strong>r Apostel sprach. Daß aber jemand<br />

die Schwachheit <strong>de</strong>s Fleisches tapfer ertrage, gehört zur<br />

<strong>Tapferkeit</strong> <strong>de</strong>s Geistes und ist Sache entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Tugend<br />

<strong>de</strong>r Geduld o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong>. Und daß ein Mensch<br />

seine eigene Schwachheit erkenne, gehört zu <strong>de</strong>r Vollkommenheit,<br />

welche <strong>De</strong>mut genannt wird.<br />

3. Wie kommt es, daß Menschen gleichsam tapfer han<strong>de</strong>ln, ohne<br />

die Tugend <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> zu besitzen?<br />

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Zu 2. <strong>Die</strong> äußerliche Tat einer Tugend vollbringen gelegentlich<br />

einige, die die Tugend nicht besitzen, aus irgen<strong>de</strong>inem<br />

an<strong>de</strong>ren Grun<strong>de</strong> als <strong>de</strong>r Tugend. Und darum<br />

stellt Aristoteles fünf Weisen [<strong>de</strong>ssen] auf, wie Menschen<br />

auf Grund einer Ähnlichkeit tapfer genannt wer<strong>de</strong>n, die<br />

gleichsam tapfer han<strong>de</strong>ln, ohne die Tugend [<strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong><br />

zu besitzen]. Das ist auf dreifache Weise möglich.<br />

Erstens weil sie gegen das Schwierige anstürmen, als<br />

wenn es nicht schwierig wäre. Das wird in drei Arten<br />

unterteilt. Bisweilen nämlich geschieht es aus Unwissenheit,<br />

weil ein Mensch die Größe <strong>de</strong>r Gefahr nicht erfaßt.<br />

Bisweilsen aber geschieht es, weil <strong>de</strong>r Mensch guter Hoffnung<br />

ist, die Gefahren zu überwin<strong>de</strong>n, z. B., wenn er die<br />

Erfahrung gemacht hat, öfter Gefahren entgangen zu sein.<br />

Bisweilen endlich geschieht es wegen irgen<strong>de</strong>ines Wissens<br />

und einer Kunst, wie es bei Soldaten <strong>de</strong>r Fall ist, die auf<br />

Grund ihrer Waffenerfahrung und Übung die Gefahren<br />

<strong>de</strong>s Krieges nicht für schwer erachten, in <strong>de</strong>r Überzeugung,<br />

daß sie sich durch ihre Kunst dagegen verteidigen<br />

können, wie Vegetius erklärt: „Noch niemand fürchtete zu<br />

tun, was gut gelernt zu haben er vertraut.“ – Auf an<strong>de</strong>re<br />

Weise han<strong>de</strong>lt jemand tapfer ohne Tugend wegen <strong>de</strong>s


<strong>Tapferkeit</strong> (Sum. th., II-II, q. 123) 3<br />

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Ansturmes <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft, sei es <strong>de</strong>r Traurigkeit, die<br />

er vertreiben will, sei es <strong>de</strong>s Zornes. – Drittens aus freier<br />

Wahl, freilich nicht [aus <strong>de</strong>r Entscheidung] das geschul<strong>de</strong>te<br />

Ziel anzustreben, son<strong>de</strong>rn einen zeitlichen Vorteil zu<br />

erwerben, wie Ehre, Lust o<strong>de</strong>r Gewinn, o<strong>de</strong>r einen Nachteil<br />

zu vermei<strong>de</strong>n, wie Ta<strong>de</strong>l, Bedrängnis o<strong>de</strong>r Scha<strong>de</strong>n.<br />

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Zu 3. Man spricht <strong>von</strong> <strong>Tapferkeit</strong> [Stärke] <strong>de</strong>r Seele –<br />

die als Tugend (Antw.) erklärt wird – entsprechend <strong>de</strong>r<br />

körperlichen Stärke. Und trotz<strong>de</strong>m wi<strong>de</strong>rspricht es <strong>de</strong>m<br />

Wesen <strong>de</strong>r Tugend nicht, daß jemand aus natürlicher Verfassung<br />

heraus eine natürliche Hinneigung zur Tugend<br />

besitzt (I–II 63, 1: Bd. 11).<br />

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12. Artikel<br />

Ragt die <strong>Tapferkeit</strong> unter <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Tugen<strong>de</strong>n hervor?<br />

1. Gegenargument: Ambrosius sagt: „<strong>Die</strong> <strong>Tapferkeit</strong> ist<br />

gleichsam die erhabenere unter <strong>de</strong>n übrigen [Tugen<strong>de</strong>n].“<br />

2. Gegenargument: <strong>Die</strong> Tugend vollzieht sich im Bereich<br />

<strong>de</strong>s Schwierigen und Guten [Aristoteles]. <strong>Tapferkeit</strong> aber<br />

vollzieht sich im Bereich <strong>de</strong>s Schwierigsten. Also ist sie<br />

die höchste Tugend.<br />

3. Gegenargument: <strong>Die</strong> Person <strong>de</strong>s Menschen ist würdiger<br />

als seine Habe. <strong>Tapferkeit</strong> betrifft aber die Person <strong>de</strong>s<br />

Menschen, die jemand um <strong>de</strong>s Gutes <strong>de</strong>r Tugend willen<br />

<strong>de</strong>r To<strong>de</strong>sgefahr aussetzt; die Gerechtigkeit dagegen und<br />

die an<strong>de</strong>ren sittlichen Tugen<strong>de</strong>n betreffen <strong>de</strong>n Bereich <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren äußeren Dinge. Also ist die <strong>Tapferkeit</strong> die vorzüglichste<br />

unter <strong>de</strong>n sittlichen Tugen<strong>de</strong>n.<br />

An<strong>de</strong>rseits sagt Cicero: „Auf <strong>de</strong>r Gerechtigkeit <strong>de</strong>r Tugend,<br />

durch die Männer gut gemacht wer<strong>de</strong>n, ruht höchster<br />

Glanz.“<br />

2. Aristoteles sagt: „Notwendigerweise müssen diejenigen<br />

Tugen<strong>de</strong>n die höchsten sein, welche für an<strong>de</strong>re im<br />

höchsten Maße nützlich sind.“ Nun scheint aber die Freigebigkeit<br />

[für an<strong>de</strong>re] nützlicher zu sein als die <strong>Tapferkeit</strong>.<br />

Also ist sie die höhere Tugend.<br />

Ich antworte: Augustinus sagt: „Im Bereich <strong>de</strong>s nicht<br />

durch Masse Großen ist Größersein dasselbe wie Bessersein.“<br />

Also ist die Tugend um so größer, je besser sie ist.<br />

Das Gut <strong>de</strong>r Vernunft ist aber das Gut <strong>de</strong>s Menschen (Dionysius).<br />

<strong>Die</strong>ses Gut liegt aber wesenhaft bei <strong>de</strong>r Klugheit,<br />

die die Vollendung <strong>de</strong>r Vernunft ist. <strong>Die</strong> Gerechtigkeit aber<br />

verwirklicht dieses Gut, insofern es zu ihr gehört, in allen<br />

menschlichen Verhältnissen die Ordnung <strong>de</strong>r Vernunft<br />

durchzusetzen. <strong>Die</strong> an<strong>de</strong>rn Tugen<strong>de</strong>n hingegen bewahren<br />

dieses Gut, insofern sie die Lei<strong>de</strong>nschaften mäßigen,<br />

4. Was ist unrichtig an diesem Argument?<br />

5. Wie verhält sich Klugheit zum Gut <strong>de</strong>s Menschen?<br />

6. Wie verhält sich Gerechtigkeit zum Gut <strong>de</strong>s Menschen?


4 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

7. Wie verhält sich <strong>Tapferkeit</strong> zum Gut <strong>de</strong>s Menschen? 5<br />

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8. Wieso ist Klugheit die vorzüglichste <strong>de</strong>r Kardinaltugen<strong>de</strong>n?<br />

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damit sie <strong>de</strong>n Menschen nicht vom Gut <strong>de</strong>r Vernunft abdrängen.<br />

Und in <strong>de</strong>ren Ordnung nimmt die <strong>Tapferkeit</strong><br />

einen vorzüglichen Platz ein, weil die Furcht vor To<strong>de</strong>sgefahren<br />

am meisten wirksam ist, <strong>de</strong>n Menschen vom Gut<br />

<strong>de</strong>r Vernunft zurückweichen zu lassen. Nach ihr wird die<br />

Maßhaltung eingeordnet, weil auch die Lust <strong>de</strong>s Tastsinnes<br />

unter <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren am meisten das Gut <strong>de</strong>r Vernunft<br />

verhin<strong>de</strong>rt. – Dasjenige aber, was wesenhaft genannt wird,<br />

ist vorzüglicher als das, was <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Wirkung ausgesagt<br />

wird, und dieses wie<strong>de</strong>rum ist vorzüglicher als das, was<br />

unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Bewahrung ausgesagt wird<br />

im Sinne <strong>de</strong>r Beseitigung <strong>de</strong>s Hin<strong>de</strong>rnisses. Darum ist unter<br />

<strong>de</strong>n Kardinaltugen<strong>de</strong>n die Klugheit die vorzüglichere,<br />

die zweite die Gerechtigkeit, die dritte die <strong>Tapferkeit</strong>,<br />

die vierte die Maßhaltung. Und nach diesen die übrigen<br />

Tugen<strong>de</strong>n.<br />

Zu 1. Ambrosius zieht die <strong>Tapferkeit</strong> <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Tugen<strong>de</strong>n<br />

vor unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt ihrer allgemeinen<br />

Nützlichkeit, sofern sie nämlich sowohl im Krieg als im<br />

Hauswesen nützlich ist. Darum schickt er selbst ebenda<br />

voraus. „Nun wollen wir <strong>von</strong> <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> han<strong>de</strong>ln, die<br />

gleichsam als die erhabenere unter <strong>de</strong>n übrigen eingeteilt<br />

wird in die Bereiche <strong>von</strong> Krieg und Hauswesen.“<br />

9. Was lehrt <strong>Thomas</strong> über die Relevanz <strong>de</strong>r Schwierigkeit in bezug<br />

auf ein tugendhaftes Leben?<br />

10. Wieso kann gesagt wer<strong>de</strong>n „<strong>Tapferkeit</strong> ohne Gerechtigkeit ist<br />

Mutterbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Unrechts“?<br />

11. Warum ist <strong>Tapferkeit</strong> besser als Freigebigkeit?<br />

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Zu 2. Das Wesen <strong>de</strong>r Tugend besteht mehr im Guten als<br />

im Schwierigen. Darum ist die Größe <strong>de</strong>r Tugend mehr<br />

<strong>von</strong> <strong>de</strong>r Bewandtnis <strong>de</strong>s Guten her zu bestimmen als <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>r Bewandtnis <strong>de</strong>s Schwierigen.<br />

Zu 3. <strong>De</strong>r Mensch setzt seine Person nur um <strong>de</strong>r zu<br />

wahren<strong>de</strong>n Gerechtigkeit willen To<strong>de</strong>sgefahren aus. Und<br />

darum hängt das Lob <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> irgendwie <strong>von</strong> <strong>de</strong>r<br />

Gerechtigkeit ab. <strong>De</strong>swegen sagt Ambrosius: „<strong>Tapferkeit</strong><br />

ohne Gerechtigkeit ist Mutterbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Unrechts; je stärker<br />

sie ist, um so rascher ist sie bereit, <strong>de</strong>n Schwächeren<br />

zu bedrücken.“<br />

Zu 4 [An<strong>de</strong>rseits 1] stimmen wir zu.<br />

Zu 5 [An<strong>de</strong>rseits 2]. Freigebigkeit ist nützlich im Bereich<br />

persönlicher Wohltaten. <strong>Die</strong> <strong>Tapferkeit</strong> hingegen besitzt<br />

allgemeine Nützlichkeit zur Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r gesamten<br />

Ordnung <strong>de</strong>r Gerechtigkeit. Und darum sagt<br />

Aristoteles: „<strong>Die</strong> Gerechten und die Tapferen wer<strong>de</strong>n am<br />

meisten geliebt, weil sie sowohl im Krieg wie im Frie<strong>de</strong>n<br />

am meisten nützlich sind.“<br />

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Frage 129<br />

3. Artikel<br />

Ist die Großgesinntheit eine Tugend?<br />

1. Gegenargument: Je<strong>de</strong> sittliche Tugend hat ihr Sein in<br />

<strong>de</strong>r Mitte. <strong>Die</strong> Großgesinntheit aber hat ihr Sein nicht in<br />

<strong>de</strong>r Mitte, son<strong>de</strong>rn im Größten; <strong>de</strong>nn „er [<strong>de</strong>r Großgesinnte]<br />

hält sich <strong>de</strong>s Größten für würdig“ (Aristoteles). Also


<strong>Tapferkeit</strong> (Sum. th., II-II, q. 129) 5<br />

ist die Großgesinntheit keine Tugend.<br />

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2. Gegenargument: Wer eine Tugend besitzt, besitzt alle<br />

(I–II Fr. 65: Bd. 11). Jemand kann aber eine bestimmte<br />

Tugend besitzen, <strong>de</strong>r die Großgesinntheit nicht besitzt.<br />

Aristoteles sagt nämlich: „Wer nur kleiner Dinge würdig<br />

ist und sich selbst nur dieser für würdig hält, ist maßvoll,<br />

nicht aber großgesinnt.“ Also ist die Großgesinntheit keine<br />

Tugend.<br />

3. Gegenargument: Tugend ist eine „gute Beschaffenheit<br />

<strong>de</strong>s Geistes“ (I–II 55,4: Bd. 11). <strong>Die</strong> Großgesinntheit hat<br />

aber einige körperliche Merkmale. Aristoteles sagt nämlich:<br />

„<strong>Die</strong> Bewegung <strong>de</strong>s Großgesinnten ist gemessen, die<br />

Stimme tief, die Re<strong>de</strong> ruhig.“ Also ist die Großgesinntheit<br />

keine Tugend.<br />

4. Gegenargument: Keine Tugend ist einer an<strong>de</strong>ren Tugend<br />

entgegengesetzt. Nun aber ist die Großgesinntheit<br />

<strong>de</strong>r <strong>De</strong>mut entgegengesetzt; <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Großgesinnte hält<br />

sich großer Dinge für würdig und verachtet die an<strong>de</strong>ren<br />

(Aristoteles). Also ist die Großgesinntheit keine Tugend.<br />

5. Gegenargument: <strong>Die</strong> Eigenschaften einer je<strong>de</strong>n Tugend<br />

sind lobenswert. <strong>Die</strong> Großgesinntheit weist aber einige<br />

ta<strong>de</strong>lnswerte Eigenschaften auf. Erstens ist er [<strong>de</strong>r Großgesinnte]<br />

„nicht <strong>de</strong>r Wohltaten einge<strong>de</strong>nk“; zweitens ist er<br />

„langsam und bedächtig“; drittens braucht er „<strong>de</strong>r Menge<br />

gegenüber Ironie“; viertens „kann er nicht mit an<strong>de</strong>ren<br />

zusammenleben“; fünftens „ist es ihm mehr zu tun um<br />

<strong>de</strong>n Besitz <strong>de</strong>ssen, was Vorteile bringt“. Also ist die Großgesinntheit<br />

keine Tugend.<br />

An<strong>de</strong>rseits heißt es zum Ruhm einiger 2 Makk 14,18: „Nikanor<br />

hörte <strong>von</strong> <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> <strong>de</strong>r Begleiter Judas und<br />

<strong>de</strong>r Größe ihrer Gesinnung, mit <strong>de</strong>r sie für das Vaterland<br />

kämpften ...“ Nun aber sind nur Werke <strong>de</strong>r Tugend zu<br />

loben. Also ist die Großgesinntheit, zu <strong>de</strong>r es gehört, eine<br />

große Gesinnung zu haben, eine Tugend.<br />

Ich antworte: Es gehört zum Wesen menschlicher Tugend,<br />

das Gut <strong>de</strong>r Vernunft, das eigentliche Gut <strong>de</strong>s Menschen,<br />

in menschlichen Dingen zu bewahren. <strong>Die</strong> Ehren nehmen<br />

aber unter allen äußeren menschlichen Gütern einen<br />

vorzüglichen Platz ein (Art. 1). Und darum ist die Großgesinntheit,<br />

welche im Bereich <strong>de</strong>r großen Ehren das Maß<br />

<strong>de</strong>r Vernunft erstellt, eine Tugend.<br />

Zu 1. „<strong>De</strong>r Großgesinnte stellt in bezug auf Größe ein<br />

Äußerstes dar“, sofern er nämlich nach Größtem strebt;<br />

„durch ein rechtes Verhalten aber ein Mittleres“, insofern<br />

er nämlich nach <strong>de</strong>m Größten vernunftgemäß strebt;<br />

„<strong>de</strong>nn er bewertet sich selbst nach seiner Wür<strong>de</strong>“ (Aristoteles),<br />

weil er sich nicht nach Größerem [an Ehre]<br />

ausstreckt, als er würdig ist.<br />

Zu 2. <strong>Die</strong> Verknüpfung <strong>de</strong>r Tugen<strong>de</strong>n ist nicht hinsichtlich<br />

<strong>de</strong>r Akte zu verstehen in <strong>de</strong>m Sinne, daß je<strong>de</strong>m die<br />

Akte aller Tugen<strong>de</strong>n zukommen. Darum kommt <strong>de</strong>r Akt<br />

12. Worin besteht das Gut <strong>de</strong>s Menschen?<br />

13. Warum ist die Großgesinntheit eine Tugend?<br />

14. Inwiefern kann man sagen, daß Großgesinntheit ihr Sein in<br />

<strong>de</strong>r Mitte hat?


15. Inwiefern sind alle Tugen<strong>de</strong>n miteinan<strong>de</strong>r verknüpft, so daß,<br />

wer eine Tugend hat, alle hat?<br />

16. Wieso kann jemand großgesinnt sein, obwohl er nie etwas<br />

Großgesinntes getan hat?<br />

17. Wieso wi<strong>de</strong>rsprechen sich Großgesinntheit und <strong>De</strong>mut nicht?<br />

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6 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

<strong>de</strong>r Großgesinntheit nicht je<strong>de</strong>m Tugendhaften zu, son<strong>de</strong>rn<br />

nur <strong>de</strong>n Großen. Aber <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Grundlagen <strong>de</strong>r<br />

Tugen<strong>de</strong>n her, nämlich Klugheit und Gna<strong>de</strong>, sind alle<br />

Tugen<strong>de</strong>n verknüpft, insofern sie als Gehaben – entwe<strong>de</strong>r<br />

im Vollzug o<strong>de</strong>r in unmittelbarer Bereitschaft – zugleich<br />

in <strong>de</strong>r Seele bestehen. Und so kann jemand, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Akt<br />

<strong>de</strong>r Großgesinntheit nicht zukommt, das Gehaben <strong>de</strong>r<br />

Großgesinntheit besitzen, durch das er bereitet ist, einen<br />

solchen Akt auszuführen, wenn es ihm seiner Lage nach<br />

zukäme.<br />

Zu 3. Körperliche Bewegungen wer<strong>de</strong>n nach <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen<br />

Wahrnehmungen und Gemütsregungen <strong>de</strong>r<br />

Seele unterschie<strong>de</strong>n. Und <strong>de</strong>mgemäß folgen <strong>de</strong>r Großgesinntheit<br />

gewisse Eigenschaften im Bereich <strong>de</strong>r Körperbewegungen.<br />

<strong>Die</strong> Raschheit <strong>de</strong>r Bewegung kommt<br />

nämlich daher, daß <strong>de</strong>r Mensch vieles beabsichtigt, was er<br />

sich zu verwirklichen beeilt; <strong>de</strong>r Großgesinnte hingegen<br />

beabsichtigt nur Großes, und das ist nur weniges, was<br />

überdies großer Sorgfalt bedarf, und darum hat er langsame<br />

Bewegungen. In ähnlicher Weise kommt die schrille<br />

Stimme und die Schnelligkeit [<strong>de</strong>s Sprechens] hauptsächlich<br />

<strong>de</strong>nen zu, welche über alles mögliche streiten wollen.<br />

Das aber kommt <strong>de</strong>n Großgesinnten nicht zu, die sich nur<br />

auf Großes einlassen. Und wie die genannten Merkmale<br />

<strong>de</strong>r Körperbewegungen <strong>de</strong>n Großgesinnten gemäß ihren<br />

Gemütsverfassungen zukommen, so fin<strong>de</strong>n sich auch bei<br />

<strong>de</strong>n <strong>von</strong> Natur aus zur Großgesinntheit Veranlagten solche<br />

Merkmale <strong>von</strong> Natur aus.<br />

Zu 4. Im Menschen fin<strong>de</strong>t sich etwas Großes, das er als<br />

Geschenk Gottes besitzt, und ein Mangel, <strong>de</strong>r ihm aus <strong>de</strong>r<br />

Schwachheit <strong>de</strong>r Natur zukommt. <strong>Die</strong> Großgesinntheit bewirkt<br />

aber, daß <strong>de</strong>r Mensch sich großer Dinge für würdig<br />

hält [Aristoteles] im Hinblick auf die Gaben, die er <strong>von</strong><br />

Gott besitzt. So bewirkt die Großgesinntheit, daß jemand,<br />

<strong>de</strong>r große Kraft <strong>de</strong>s Geistes besitzt, nach vollkommenen<br />

Werken <strong>de</strong>r Tugend strebt. Und entsprechend verhält es<br />

sich mit <strong>de</strong>m Gebrauch je<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>ren Gutes, etwa <strong>de</strong>r<br />

Wissenschaft o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r irdischen Habe. <strong>Die</strong> <strong>De</strong>mut hingegen<br />

bewirkt, daß <strong>de</strong>r Mensch sich selbst geringschätzt im<br />

Hinblick auf <strong>de</strong>n eigenen Mangel. – In ähnlicher Weise<br />

verachtet die Großgesinntheit an<strong>de</strong>re, sofern sie <strong>von</strong> <strong>de</strong>n<br />

Gaben Gottes abfallen. <strong>De</strong>nn sie schätzt die an<strong>de</strong>ren nicht<br />

so sehr, daß sie für sie etwas Ungeziemen<strong>de</strong>s tun wür<strong>de</strong>.<br />

<strong>Die</strong> <strong>De</strong>mut hingegen ehrt die an<strong>de</strong>ren und achtet sie höher<br />

[Phil 2,3], insofern sie in ihnen etwas <strong>von</strong> <strong>de</strong>n Gaben<br />

Gottes erschaut. Darum heißt es Ps 15 (14),4 vom gerechten<br />

Manne: „In seinen Augen gilt <strong>de</strong>r Bösewicht nichts“,<br />

was sich auf die Verachtung durch <strong>de</strong>n Großgesinnten<br />

bezieht; „die aber <strong>de</strong>n Herrn fürchten, rühmt er“, was sich<br />

auf die Ehrung durch <strong>de</strong>n <strong>De</strong>mütigen bezieht. – Und so<br />

sind offensichtlich Großgesinntheit und <strong>De</strong>mut keine Gegensätze,<br />

obwohl sie auf Gegensätzliches hinauszulaufen<br />

scheinen; <strong>de</strong>nn sie gehen aus verschie<strong>de</strong>nen Hinsichten<br />

hervor.<br />

Zu 5. Jene Eigenschaften sind, soweit sie <strong>de</strong>m Großgesinnten<br />

zugehören, nicht ta<strong>de</strong>lnswert, son<strong>de</strong>rn über alles Maß


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<strong>Tapferkeit</strong> (Sum. th., II-II, q. 129) 7<br />

hinaus lobenswert. Wenn nämlich an erster Stelle vom<br />

Großgesinnten gesagt wird, „er ge<strong>de</strong>nke nicht <strong>de</strong>rer, <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>nen er Wohlttaten empfängt“, so ist das dahin zu verstehen,<br />

daß es ihm keine Freu<strong>de</strong> bereitet, <strong>von</strong> irgendwem<br />

Wohltaten zu empfangen, ohne ihm mit Größerem wie<strong>de</strong>r<br />

zu vergelten. Das gehört zur vollen<strong>de</strong>ten Dankbarkeit, in<br />

<strong>de</strong>ren Vollzug er wie auch im Vollzug <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Tugen<strong>de</strong>n<br />

das Allerhöchste leisten will. – In ähnlicher Weise<br />

heißt es zweitens: Er ist „langsam und bedächtig“, nicht<br />

als ob er in <strong>de</strong>r ihm zukommen<strong>de</strong>n Arbeit versagte, son<strong>de</strong>rn<br />

weil er sich nicht beliebigen zukommen<strong>de</strong>n Arbeiten<br />

widmet, son<strong>de</strong>rn nur <strong>de</strong>n großen, wie sie ihm gebühren.<br />

– Es heißt drittens, daß er sich <strong>de</strong>r Ironie bediene, nicht<br />

sofern sie <strong>de</strong>r Wahrheit wi<strong>de</strong>rstreitet, etwa so daß er Niedriges<br />

<strong>von</strong> sich aussage, was nicht zutrifft, o<strong>de</strong>r Großes<br />

leugne, welches zutrifft, son<strong>de</strong>rn weil er nicht seine ganze<br />

Größe zeigt, vor allem nicht vor <strong>de</strong>r Menge <strong>de</strong>r Geringeren.<br />

<strong>De</strong>nn es ist Art <strong>de</strong>s Großgesinnten, „groß zu sein<br />

bei <strong>de</strong>nen, die in Wür<strong>de</strong>n und Reichtum stehen, hingegen<br />

beschei<strong>de</strong>n zu sein bei Leuten mittleren Stan<strong>de</strong>s“ (Aristoteles).<br />

– Viertens heißt es auch, daß „er mit an<strong>de</strong>rn nicht<br />

zusammenleben kann“, nämlich in vertraulicher Weise,<br />

„es sei <strong>de</strong>nn mit Freun<strong>de</strong>n“. <strong>De</strong>nn er vermei<strong>de</strong>t um je<strong>de</strong>n<br />

Preis Schmeichelei und Verstellung, die Zeichen eines kleinen<br />

Geistes sind. Doch lebt er mit allen zusammen, mit<br />

Großen und Kleinen, wie es sich gehört. – Fünftens heißt<br />

es endlich, er bevorzuge, was keinen Gewinn einbringt,<br />

aber nicht alles dieser Art, son<strong>de</strong>rn „das Gute“, d. h. das<br />

Edle. <strong>De</strong>nn in allem zieht er das Edle als Größeres <strong>de</strong>m<br />

Nützlichen vor. Das Nützliche nämlich wird gesucht, um<br />

irgen<strong>de</strong>inem Mangel abzuhelfen; und ein solcher wi<strong>de</strong>rstreitet<br />

<strong>de</strong>r Großgesinntheit.<br />

18. Wieso hat <strong>de</strong>r Großgesinnte es schwer, mit an<strong>de</strong>rn zusammenzuleben?<br />

19. Woher kommt es, daß <strong>de</strong>r Großgesinnte in allem das Edle<br />

als Größeres <strong>de</strong>m Nützlichen vorzieht?<br />

35<br />

40<br />

45<br />

50<br />

Frage 129<br />

5. Artikel<br />

Ist die Großgesinntheit ein Teil <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong>?<br />

1. Gegenargument: Dasselbe ist nicht Teil seiner selbst.<br />

Nun aber scheint Großgesinntheit dasselbe zu sein wie<br />

<strong>Tapferkeit</strong>. Ps.-Seneca (Martin v. Bracara) sagt nämlich:<br />

„Wenn die Großgesinntheit, welche auch <strong>Tapferkeit</strong> genannt<br />

wird, <strong>de</strong>inem Geist innewohnt, wirst du mit großem<br />

Vertrauen leben.“ Und Cicero sagt: „Wir wollen, daß die<br />

tapferen Männer großgesinnt sind, Freun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Wahrheit<br />

und in keiner Weise trugvoll.“ Also ist die Großgesinntheit<br />

kein Teil <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong>.<br />

2. Gegenargument: Aristoteles sagt: „<strong>Die</strong> Großgesinnte<br />

ist nicht “, d. h. Liebhaber <strong>de</strong>r Gefahr. Nun<br />

¤ <br />

aber gehört es zum Tapferen, sich Gefahren auszusetzen.<br />

¢¡ £ ¤ ¥§¦ ¨ © ¨<br />

Also kommt die Großgesinntheit nicht mit <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong><br />

überein, so daß sie <strong>de</strong>ren Teil genannt wer<strong>de</strong>n könnte.<br />

3. Gegenargument: <strong>Die</strong> Großgesinntheit sieht auf das<br />

Große in <strong>de</strong>n zu erhoffen<strong>de</strong>n Gütern, die <strong>Tapferkeit</strong> aber<br />

sieht auf das Große in zu fürchten<strong>de</strong>n o<strong>de</strong>r kühn anzuge-<br />

20. Inwiefern unterschei<strong>de</strong>t sich <strong>Tapferkeit</strong> <strong>von</strong> Großgesinntheit?


8 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

21. Warum kann man nicht dahin gehend argumentieren, daß die<br />

Großgesinntheit <strong>de</strong>shalb eine größere Tugend als die <strong>Tapferkeit</strong><br />

ist, weil das Gute mächtiger ist als das Übel?<br />

reifen<strong>de</strong>n Übeln. Nun aber ist das Gute mächtiger als das<br />

Übel. Also ist die Großgesinnteit eine mächtigere Tugend<br />

als die <strong>Tapferkeit</strong>. Also ist sie nicht <strong>de</strong>ren Teil.<br />

An<strong>de</strong>rseits geben Macrobius und Ps.-Andronicus die<br />

Großgesinntheit als Teil <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> an.<br />

22. Inwiefern darf die Großgesinntheit als Teil <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> angesehen<br />

wer<strong>de</strong>n?<br />

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30<br />

Ich antworte: Es ist Aufgabe einer Haupttugend, eine allgemeine<br />

tugendgemäße Verhaltensweise in einem Hauptbereich<br />

zu verwirklichen (I–II 61,3: Bd. 11). Unter <strong>de</strong>n<br />

verschie<strong>de</strong>nen allgemeinen tugendgemäßen Verhaltensweisen<br />

ist eine die Festigkeit <strong>de</strong>s Geistes. <strong>De</strong>nn sich unerschütterlich<br />

fest zu verhalten ist Erfor<strong>de</strong>rnis je<strong>de</strong>r Tugend<br />

(Aristoteles). Vornehmlich wird dieses bei <strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n<br />

gerühmt, die auf etwas Schwieriges zielen, bei <strong>de</strong>nen es<br />

im Höchstmaße schwerfällt, die Festigkeit zu wahren. Je<br />

schwerer es nun fällt, sich bei etwas Schwierigem unerschütterlich<br />

fest zu verhalten, um so mächtiger ist die<br />

Tugend, welche in diesem Bereich <strong>de</strong>m Geiste Festigkeit<br />

verleiht. Es fällt aber schwerer, sich in To<strong>de</strong>sgefahren unerschütterlich<br />

fest zu verhalten, in <strong>de</strong>nen die <strong>Tapferkeit</strong> <strong>de</strong>n<br />

Geist festigt, als bei noch so hohen Gütern, die man erhofft<br />

o<strong>de</strong>r zu erlangen trachtet, bei <strong>de</strong>nen die Großgesinntheit<br />

<strong>de</strong>n Geist festigt. Wie nämlich <strong>de</strong>r Mensch sein eigenes<br />

Leben am meisten liebt, so flieht er auch am meisten die<br />

To<strong>de</strong>sgefahren. So kommt also die Großgesinntheit offensichtlich<br />

mit <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> überein, insofern sie <strong>de</strong>n<br />

Geist festigt gegenüber etwas Schwierigem; sie kommt<br />

jedoch nicht an sie heran, insofern sie <strong>de</strong>n Geist in einem<br />

Bereich festigt, in welchem es leichter ist, die Festigkeit<br />

zu wahren. Darum wird die Großgesinntheit als Teil <strong>de</strong>r<br />

<strong>Tapferkeit</strong> angegeben, weil sie ihr verbun<strong>de</strong>n ist wie die<br />

Begleittugend <strong>de</strong>r Haupttugend.<br />

23. Inwiefern ist Großgesinntheit dasselbe wie <strong>Tapferkeit</strong>?<br />

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45<br />

50<br />

Zu 1. Das Fehlen <strong>de</strong>s Übels wird als etwas Gutes aufgefaßt<br />

(Aristoteles). Von einem schweren Übel, z. B. <strong>von</strong> To<strong>de</strong>sgefahren,<br />

nicht überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n, wird daher gleichsam<br />

als Erreichen eines großen Gutes aufgefaßt; das erste <strong>von</strong><br />

diesen bei<strong>de</strong>n ist Aufgabe <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong>, das zweite <strong>de</strong>r<br />

Großgesinntheit. Unter diesem Gesichtspunkt können<br />

Tapfekeit und Großgesinntheit als dasselbe aufgefaßt wer<strong>de</strong>n.<br />

Weil jedoch die Bewandtnis <strong>de</strong>r Schwierigkeit in<br />

bei<strong>de</strong>n Tugen<strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>n ist, darum wird die Großgesinntheit<br />

<strong>von</strong> Aristoteles im eigentlichen Sinne als <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> unterschie<strong>de</strong>ne Tugend angegeben.<br />

Zu 2. Liebhaber <strong>de</strong>r Gefahr wird genannt, wer sich unterschiedslos<br />

Gefahren aussetzt. Das scheint Sache <strong>de</strong>ssen<br />

zu sein, <strong>de</strong>r vieles unterschiedslos als Großes auffaßt,<br />

was gegen das Wesen <strong>de</strong>s Großgesinnten verstößt. <strong>De</strong>nn<br />

niemand scheint sich um irgen<strong>de</strong>ines Zieles willen Gefahren<br />

auszusetzen, wenn er dieses nicht für groß hält. Für<br />

dasjenige aber, was wahrhaft groß ist, setzt sich <strong>de</strong>r Großgesinnte<br />

bereitwilligst Gefahren aus, weil er das Große<br />

im Akt <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> wie auch in <strong>de</strong>n Akten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren<br />

Tugen<strong>de</strong>n wirkt. Darum sagt auch Aristoteles: „<strong>De</strong>r Großgesinnte<br />

ist nicht “, d. h. für Kleines sich<br />

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in Gefahr ¢ £ ¤<br />

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begebend, son<strong>de</strong>rn „ “, d. h. für


5<br />

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<strong>Tapferkeit</strong> (Sum. th., II-II, q. 131) 9<br />

Großes sich in Gefahr begebend. Und Ps.-Seneca (Martin<br />

v. Bracara) sagt: „Du bist großgesinnt, wenn du we<strong>de</strong>r als<br />

Verwegener Gefahren begehrst noch als Furchtsamer vor<br />

ihnen zurückschreckst. <strong>De</strong>nn nur eines macht <strong>de</strong>n Geist<br />

furchtsam: Das Bewußtsein eines ta<strong>de</strong>lnswerten Lebens.“<br />

Zu 3. Das Übel als solches ist zu fliehen. Daß man ihm<br />

aber wi<strong>de</strong>rstehen müsse, ergibt sich aus einem hinzukommen<strong>de</strong>n<br />

Umstand, insofern man zur Bewahrung <strong>de</strong>s<br />

Guten Übel ertagen muß. Das Gute hingegen ist an sich<br />

zu erstreben, und daß man vor ihm flieht, ergibt sich nur<br />

aus <strong>de</strong>m hinzukommen<strong>de</strong>n Umstand, daß man <strong>de</strong>r Auffasssung<br />

ist, es übersteige die Fähigkeit <strong>de</strong>s Verlangen<strong>de</strong>n.<br />

Immer ist das, was an sich ist, mächtiger als das, was<br />

durch einen hinzukommen<strong>de</strong>n Umstand ist. Und darum<br />

wi<strong>de</strong>rstreitet das Schwierige im Bereich <strong>de</strong>s Übels <strong>de</strong>r<br />

Festigkeit <strong>de</strong>s Geistes mehr als das Schwierige im Bereich<br />

<strong>de</strong>s Guten. Und darum ist die Tugend <strong>de</strong>r <strong>Tapferkeit</strong> gewichtiger<br />

als die Großgesinntheit. Obwohl nämlich das<br />

Gute schlechthin gewichtiger ist als das Übel, so ist doch<br />

das Übel unter diesem Gesichtspunkt gewichtiger.<br />

24. Aus welchem allgemeinen Grund muß man manchmal das<br />

Übel ertragen?<br />

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Frage 131<br />

1. Artikel<br />

Ist Ehrgeiz Sün<strong>de</strong>?<br />

1. Gegenargument: Ehrgeiz schließt Begier<strong>de</strong> nach Ehre<br />

ein. Ehre ist aber an sich ein Gut und unter <strong>de</strong>n äußeren<br />

Gütern das größte. Darum wer<strong>de</strong>n auch jene, die sich<br />

nicht um Ehre sorgen, geta<strong>de</strong>lt. Also ist Ehrgeiz keine<br />

Sün<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn eher etwas Lobwürdiges, insofern Gutes<br />

auf lobwürdige Weise erstrebt wird.<br />

2. Gegenargument: Je<strong>de</strong>r kann, ohne zu sündigen, das<br />

anstreben, was ihm als Lohn gebührt. Nun aber ist Ehre<br />

Lohn <strong>de</strong>r Tugend (Aristoteles). Also ist Ehrgeiz keine<br />

Sün<strong>de</strong>.<br />

3. Gegenargument: Dasjenige, wodurch <strong>de</strong>r Mensch zum<br />

Guten angeeifert und vom Bösen zurückgehalten wird, ist<br />

keine Sün<strong>de</strong>. Nun aber wer<strong>de</strong>n die Menschen durch die<br />

Ehre zum Tun <strong>de</strong>s Guten und zur Vermeidung <strong>de</strong>s Bösen<br />

angeeifert. So sagt Aristoteles: „<strong>Die</strong> Tapfersten scheinen<br />

sich dort zu fin<strong>de</strong>n, wo <strong>de</strong>n Furchtsamen Unehre, <strong>de</strong>n<br />

Tapferen aber Ehre zuteil wird.“ Und Cicero sagt: „Ehre<br />

ist die Nahrung <strong>de</strong>r Künste.“ Also ist Ehrgeiz keine Sün<strong>de</strong>.<br />

An<strong>de</strong>rseits heißt es 1 Kor 13,5: „<strong>Die</strong> Liebe ist nicht ehrgeizig,<br />

sie sucht nicht das Ihre.“ Nichts aber wi<strong>de</strong>rstreitet <strong>de</strong>r<br />

Liebe als die Sün<strong>de</strong>. Also ist Ehrgeiz Sün<strong>de</strong>.<br />

45<br />

50<br />

Ich antworte: Ehre schließt eine gewisse Achtung ein,<br />

die jeman<strong>de</strong>m zum Zeugnis seines Vorranges erwiesen<br />

wird. Nun aber sind im Hinblick auf <strong>de</strong>n Vorrang eines<br />

Menschen zwei Dinge zu beachten. Erstens: Dasjenige,<br />

wodurch <strong>de</strong>r Mensch hervorragt, hat er nicht aus sich<br />

selbst, vielmehr ist es gleichsam etwas Göttliches in ihm.<br />

Und darum gebührt nicht ihm hauptsächlich die Ehre,


25. In welchen drei Weisen kann Ehrgeiz Sün<strong>de</strong> sein?<br />

26. Unter welcher Bedingung ist ein Streben nach Ehre Sün<strong>de</strong>?<br />

27. Was ist <strong>de</strong>r Lohn <strong>de</strong>r Tugend?<br />

28. Inwiefern kann man die Ehre als Lohn <strong>de</strong>r Tugend bezeichnen?<br />

29. Wieso kann Aristoteles sagen, daß diejenigen nicht wahrhaft<br />

tapfer sind, die um <strong>de</strong>r Ehre willen Tapferes tun?<br />

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10 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

son<strong>de</strong>rn Gott. – Zweitens ist zu beachten: Das, worin <strong>de</strong>r<br />

Mensch hervorragt, wird ihm <strong>von</strong> Gott gegeben, damit er<br />

damit an<strong>de</strong>ren nützlich sei. Darum soll ihm das Zeugnis<br />

seines Vorranges, das ihm <strong>von</strong> an<strong>de</strong>ren erwiesen wird, insoweit<br />

Freu<strong>de</strong> bereiten, als ihm dadurch <strong>de</strong>r Weg eröffnet<br />

wird, an<strong>de</strong>rn zu nützen.<br />

Das Streben nach Ehre kann also in dreifacher Weise<br />

ungeordnet sein. Einmal, insofern jemand ein Zeugnis<br />

eines Vorranges anstrebt, <strong>de</strong>n er nicht besitzt, d. h. Ehre<br />

anstreben über das eigene Maß hinaus. Sodann, insofern<br />

jemand für sich Ehre begehrt, ohne sie auf Gott hinzuordnen.<br />

Drittens, insofern sein Streben in <strong>de</strong>r Ehre selbst<br />

zur Ruhe kommt, ohne sie auf <strong>de</strong>n Nutzen an<strong>de</strong>rer hinzuordnen.<br />

Nun aber schließt Ehrgeiz ungeordnetes Streben<br />

nach Ehre ein. Daher ist <strong>de</strong>r Ehrgeiz offensichtlich immer<br />

Sün<strong>de</strong>.<br />

Zu 1. Das Streben nach einem Gut muß <strong>von</strong> <strong>de</strong>r Vernunft<br />

sein Maß erhalten; überschreitet es dieses Maß,<br />

so ist es sündhaft. Und in diesem Sinne ist es sündhaft,<br />

wenn jenand die Ehre nicht <strong>de</strong>r Vernunft entsprechend<br />

anstrebt. <strong>Die</strong>jenigen nun wer<strong>de</strong>n geta<strong>de</strong>lt, die sich um<br />

die Ehre nicht in <strong>de</strong>r Weise sorgen, wie es die Vernunft<br />

vorschreibt, daß sie nämlich das vermei<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>r Ehre<br />

wi<strong>de</strong>rstreitet.<br />

Zu 2. Für <strong>de</strong>n Tugendhaften selbst ist die Ehre nicht Lohn<br />

<strong>de</strong>r Tugend, so daß er sie als Lohn erstreben sollte; als<br />

Lohn erstrebt er vielmehr die Seligkeit, welche das Ziel<br />

<strong>de</strong>r Tugend ist. Man sagt aber, die Ehre sei <strong>de</strong>r Lohn <strong>de</strong>r<br />

Tugend <strong>von</strong> seiten <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren, haben sie doch nicht Größeres,<br />

mit <strong>de</strong>m sie <strong>de</strong>m Tugendhaften vergelten könnten,<br />

als die Ehre, die gera<strong>de</strong> darin ihre Größe hat, daß sie <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>r Tugend Zeugnis ablegt. Daher ist sie offenbar kein<br />

ausreichen<strong>de</strong>r Lohn (Aristoteles).<br />

Zu 3. Wie durch das Streben nach Ehre – wird sie auf rechte<br />

Weise erstrebt – einige zum Guten angeeifert und vom<br />

Bösen abgehalten wer<strong>de</strong>n, so kann die Ehre – wird sie auf<br />

ungeordnete Weise erstrebt – <strong>de</strong>m Menschen Anlaß wer<strong>de</strong>n,<br />

viel Böses zu tun, sofern er sich nicht darum sorgt, auf<br />

welche Weise immer er Ehre erlangt. Darum sagt Sallust:<br />

„<strong>De</strong>r Gute und <strong>de</strong>r Faule wünschen sich bei<strong>de</strong> in gleicher<br />

Weise Ruhm, Ehre und Herrschaft; doch jener“, nämlich<br />

<strong>de</strong>r Gute, „strengt sich auf <strong>de</strong>m rechten Wege an; dieser“,<br />

nämlich <strong>de</strong>r Faule, „müht sich mit Listen und Täuschungen<br />

ab, weil ihm die guten Mittel und Wege abgehen.“ –<br />

Und trotz<strong>de</strong>m sind diejenigen, die nur um <strong>de</strong>r Ehre willen<br />

Gutes tun o<strong>de</strong>r Böses mei<strong>de</strong>n, nicht tugendhaft. Das wird<br />

durch Aristoteles offensichtlich, wo er da<strong>von</strong> spricht, daß<br />

diejenigen nicht wahrhaft tapfer sind, die um <strong>de</strong>r Ehre<br />

willen Tapferes tun.<br />

50


<strong>Tapferkeit</strong> (Sum. th., II-II, q. 133) 11<br />

Frage 133<br />

1. Artikel<br />

Ist Kleinmut Sün<strong>de</strong>?<br />

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1. Gegenargument: Durch je<strong>de</strong> Sün<strong>de</strong> wird man böse, wie<br />

man durch je<strong>de</strong> Tugend gut wird. Nun aber ist <strong>de</strong>r Kleinmütige<br />

nicht böse (Aristoteles). Also ist Kleinmut keine<br />

Sün<strong>de</strong>.<br />

2. Gegenargument: Aristoteles sagt: „Am meisten scheint<br />

<strong>de</strong>rjenige kleinmütig zu sein, <strong>de</strong>r großer Ehren wert ist<br />

und sich ihrer nicht wert erachtet.“ Nun ist aber nur <strong>de</strong>r<br />

Tugendhafte großer Ehren wert, weil „<strong>de</strong>r Wahrheit nach<br />

nur <strong>de</strong>r Gute zu ehren ist“ (Aristoteles). Also ist <strong>de</strong>r Kleinmütige<br />

tugendhaft. Also ist Kleinmut keine Sün<strong>de</strong>.<br />

3. Gegenargument: „Anfang je<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> ist <strong>de</strong>r Hochmut“<br />

(Sir 10,15). Nun aber geht Kleinmut nicht aus Hochmut<br />

hervor, weil <strong>de</strong>r Hochmütige sich über das erhebt,<br />

was er in Wirklichkeit ist, <strong>de</strong>r Kleinmütige aber sich <strong>de</strong>m<br />

entzieht, <strong>de</strong>ssen er würdig ist. Also ist Kleinmut keine<br />

Sün<strong>de</strong>.<br />

4. Gegenargument: Aristoteles sagt: „Wer sich geringerer<br />

Dinge für würdig hält, als er würdig ist“, wird kleinmütig<br />

genannt. Bisweilen aber halten sich heilige Männer geringerer<br />

Dinge für würdig, als sie würdig sind, wie das bei<br />

Moses und Jeremias offenkundig ist. <strong>Die</strong>se waren <strong>de</strong>s Amtes<br />

würdig, zu <strong>de</strong>m sie <strong>von</strong> Gott berufen wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nnoch<br />

haben es bei<strong>de</strong> <strong>de</strong>mütig abgelehnt (Ex 3,2; Jer 1,6). Also ist<br />

Kleinmut keine Sün<strong>de</strong>.<br />

An<strong>de</strong>rseits ist im sittlichen Bereich nichts zu mei<strong>de</strong>n außer<br />

<strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>. <strong>De</strong>r Kleinmut ist aber zu mei<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn<br />

es heißt Kol 3,21: „Ihr Väter, erbittert eure Kin<strong>de</strong>r nicht,<br />

damit sie nicht kleinmütig wer<strong>de</strong>n.“ Also ist Kleinmut<br />

Sün<strong>de</strong>.<br />

Ich antworte: Alles, was <strong>de</strong>r naturhaften Neigung wi<strong>de</strong>rstrebt,<br />

ist Sün<strong>de</strong>, weil es <strong>de</strong>m Naturgesetz wi<strong>de</strong>rstreitet.<br />

Nun wohnt aber je<strong>de</strong>m Ding eine naturhafte Neigung inne,<br />

eine Tätigkeit auszuüben, die seinem Vermögen genau<br />

entspricht, wie das bei allen Naturdingen offenkundig<br />

ist, sowohl bei <strong>de</strong>n belebten als bei <strong>de</strong>n unbelebten. Wie<br />

aber jemand durch Vermessenheit das Maß seines Vermögens<br />

überschreitet, wenn er nach Größerem trachtet, als<br />

er [vollbringen] kann, so fällt auch <strong>de</strong>r Kleinmütige <strong>von</strong><br />

<strong>de</strong>m ab, was seinem Vermögen entspricht, wenn er sich<br />

sträubt, sich um das zu bemühen, was seinem Vermögen<br />

angemessen ist. Und wie nun die Vermessenheit Sün<strong>de</strong> ist,<br />

so auch <strong>de</strong>r Kleinmut. Daher kommt es, daß <strong>de</strong>r Knecht,<br />

<strong>de</strong>r das <strong>von</strong> seinem Herrn empfangene Geld in die Er<strong>de</strong><br />

vergrub und nicht damit arbeitete, wegen kleinmütiger<br />

Furcht vom Herrn bestraft wird (Mt 25,14 ff.; Lk 19,12 ff.).<br />

Zu 1. Aristoteles nennt diejenigen böse, die ihrem Nächsten<br />

Scha<strong>de</strong>n zufügen. In diesem Sinne heißt <strong>de</strong>r Klein-<br />

30. Worin liegt <strong>de</strong>r Fehler im 2. Gegenargument?<br />

31. Warum ist alles, was <strong>de</strong>r naturhaften Neigung wi<strong>de</strong>rstrebt,<br />

Sün<strong>de</strong>?<br />

32. Warum ist Kleinmut unmoralisch?<br />

33. Wieso ist <strong>de</strong>r Kleinmütige böse, obwohl er nieman<strong>de</strong>m Scha<strong>de</strong>n<br />

zufügt?


12 <strong>Thomas</strong> <strong>von</strong> <strong>Aquin</strong><br />

34. Wie kann Kleinmut aus <strong>de</strong>m Hochmut entstehen?<br />

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mütige nicht böse, weil er nieman<strong>de</strong>m Scha<strong>de</strong>n zufügt,<br />

es sei <strong>de</strong>nn beiläufig, insoweit er nämlich bezüglich <strong>de</strong>r<br />

Tätigkeiten versagt, durch die er an<strong>de</strong>ren helfen könnte.<br />

Gregor sagt nämlich: „<strong>Die</strong>jenigen, die sich scheuen, das<br />

Wohl <strong>de</strong>s Nächsten durch ihre Predigt zu för<strong>de</strong>rn, stehen –<br />

wenn sie streng beurteilt wer<strong>de</strong>n – für so viele Menschen<br />

unter Anklage, als die Zahl <strong>de</strong>rer beträgt, <strong>de</strong>nen sie durch<br />

ihr öffentliches Auftreten nützen konnten.“<br />

Zu 2. Es kann sehr wohl jemand, <strong>de</strong>r das Gehaben <strong>de</strong>r<br />

Tugend besitzt, sündigen; [sündigt er] in läßlicher Weise,<br />

dann bleibt das Gehaben sogar bestehen; [sündigt er] aber<br />

durch Todsün<strong>de</strong>, dann wird das Gehaben <strong>de</strong>r unverdient<br />

geschenkten Tugend zerstört. Und darum kann es vorkommen,<br />

daß jemand auf Grund seiner Tugend würdig<br />

ist, etwas Großes zu tun, was großer Ehre würdig ist, und<br />

<strong>de</strong>nnoch dadurch sündigt, daß er sich nicht darum müht,<br />

seine Tugend zu gebrauchen, und zwar zuweilen läßlich,<br />

zuweilen aber durch eine Todsün<strong>de</strong>.<br />

O<strong>de</strong>r: <strong>De</strong>r Kleinmütige ist großer Dinge würdig auf Grund<br />

seiner Eignung zur Tugend, die ihm entwe<strong>de</strong>r durch eine<br />

gute Veranlagung seiner Natur innewohnt o<strong>de</strong>r durch<br />

Wissen o<strong>de</strong>r durch äußeres Glück; und wenn er diese<br />

[Vorzüge] nicht im Sinne <strong>de</strong>r Tugend einsetzt, erweist er<br />

sich als kleinmütig.<br />

Zu 3. Auch <strong>de</strong>r Kleinmut kann irgendwie aus <strong>de</strong>m Hochmut<br />

entstehen, nämlich wenn sich jemand allzusehr auf<br />

seine eigene Meinung verläßt, nach <strong>de</strong>r er sich für unzulänglich<br />

hält hinsichtlich <strong>de</strong>ssen, wozu er fähig ist. Darum<br />

heißt es Spr 26,16: „<strong>De</strong>r Träge dünkt sich weiser als sieben<br />

Männer, die Lehrsprüche verkün<strong>de</strong>n.“ Es steht nämlich<br />

nichts im Wege, daß er sich in bezug auf einiges unterschätzt<br />

und in bezug auf an<strong>de</strong>res sich hoch überhebt.<br />

Darum sagt Gregor <strong>von</strong> Moses: „Er wäre vielleicht hochmütig<br />

gewesen, wenn er die Führung <strong>de</strong>s Volkes ohne<br />

Zittern übernommen hätte; und wie<strong>de</strong>rum wäre er hochmütig<br />

gewesen, wenn er sich geweigert hätte, <strong>de</strong>m Gebot<br />

<strong>de</strong>s Schöpfers zu gehorchen.“<br />

Zu 4. Moses und Jeremias waren <strong>de</strong>s Amtes, zu <strong>de</strong>m sie<br />

<strong>von</strong> Gott her erwählt wur<strong>de</strong>n, durch die Gna<strong>de</strong> Gottes<br />

würdig. Sie selbst aber weigerten sich in Anbetracht <strong>de</strong>s<br />

Unvermögens <strong>de</strong>r eigenen Schwäche, jedoch nicht hartnäckig,<br />

um nicht <strong>de</strong>m Hochmut zu verfallen.

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