VI.5. 1945 und wir
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Aus dieser Einsicht in die demokratiepolitisch notwendige Unterscheidung zwischen<br />
privater Erinnerung <strong>und</strong> staatlicher Geschichtsrepräsentation erklären sich die<br />
Stärken wie manche Schwächen jener altb<strong>und</strong>esrepublikanischen "Vergangenheitsbewältigung",<br />
die sich als Gegenentwurf zur fortgesetzten Verdrängung<br />
herausbildete <strong>und</strong> inzwischen selbst schon Historie geworden ist. Wer ihren<br />
gesellschaftlichen Nutzen im Rückblick bewerten möchte, tut gut daran, die<br />
denunziatorische Opposition der Verstockten in Rechnung zu stellen, die in der<br />
kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit über Jahrzehnte hinweg stets<br />
nur eine schwarze Pädagogik der "Umerziehung" erblickten, die den nationalen<br />
Selbstbehauptungswillen der Deutschen unterminiere. 4<br />
Vielleicht spielte das Nachlassen dieser Abwehrhaltung eine Rolle, ganz sicher aber<br />
die veränderte Generationenkonstellation <strong>und</strong> ein die Selbstversöhnung des Alters<br />
suchender Blick auf die eigene Biographie, wenn sich im Laufe der 90er Jahre<br />
manche ihrer ursprünglichen Verfechter vom Ethos der "Vergangenheitsbewältigung"<br />
zu distanzieren begannen.<br />
Jedenfalls war jene Selbstentpflichtung aus dem "Erinnerungsdienst", die Martin<br />
Walser 1998 in der Paulskirche vortrug, nur das spektakulärste Beispiel für sich<br />
wandelnde Positionen. Die Suche nach einem Verhältnis zu unserer Vergangenheit,<br />
das den neuen Konstellationen angemessen scheint, ist seitdem eröffnet. Vielen geht<br />
es dabei, wie Günter Grass 2002 in seiner Novelle über den Untergang der "Wilhelm<br />
Gustloff ", offenbar um mehr Verständnis für die Erfahrungen <strong>und</strong> Zwangslagen des<br />
Einzelnen- <strong>und</strong> um nachgetragene Empathie (auch) für die Opfer unter den<br />
Deutschen. Irritierend an diesem "Krebsgang" bleibt allerdings Grass' rhetorischer<br />
Trick, in der Gestalt des "Alten" sich selbst als Überwinder eines ungerechtfertigten<br />
"Tabus" zu feiern – nämlich der angeblichen Vernachlässigung des Leids der<br />
Vertriebenen. Fast musste man den Eindruck bekommen, als habe der<br />
Nobelpreisträger seine Blechtrommel beiseite gestellt <strong>und</strong> eifere der frivolen<br />
vergangenheitspolitischen Egozentrik seines Altersgenossen Walser nach.<br />
Inzwischen zeichnet sich deutlicher ab, was bereits in der nicht sonderlich großen,<br />
aber signifikanten Gruppe der Soldatensöhne zu beobachten war, die seinerzeit<br />
gegen die Wehrmachtsausstellung demonstrierte: Auch in Teilen der Acht<strong>und</strong>sechziger-Generation,<br />
nicht zuletzt bei denen, die sich einst als Revolutionäre<br />
begriffen, wächst die Bereitschaft zum milderen Urteil, ja zur Revision. Der radikale<br />
Perspektivenwechsel – von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfer<br />
–, wie ihn der vormalige Linksaußen Jörg Friedrich mit seinen expressionistischen<br />
Kaskaden über den Bombenkrieg zelebriert 5 mag immer noch die Ausnahme sein.<br />
Aber wer ein wenig darauf achtet, der vernimmt aus Kreisen, die einstmals alles,<br />
gerade auch das Private, für politisch hielten, unterdessen vielfach erstaunlich<br />
unpolitische Töne einer pri-<br />
4 Vgl. Caspar von Schrenck-Notzing, Charakterwäsche. Die amerikanische Besatzung in Deutschland<br />
<strong>und</strong> ihre Folgen, Stuttgart 1965; Armin Mohler, Der Nasenring. Im Dickicht der Vergangenheitsbewältigung,<br />
Essen 1989.<br />
5 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg, München 2002; ders., Brandstätten. Der<br />
Anblick des Bombenkriegs, München 2003; kritisch dazu: Lothar Kettenacker (Hg.), Ein Volk von<br />
Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2003.