Der Tanz - Evangelische Akademie Tutzing
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<strong>Der</strong> <strong>Tanz</strong><br />
"Das Leben ist eine Frau, die tanzt" (Paul Valéry)<br />
<strong>Tanz</strong>en ist eine Liebeserklärung an den élan vital. Sie hält die erotische Spur zum<br />
Anderen. Sie erinnert an Bewegung, motion and emotion, als erste Sprache, die uns<br />
im Leibe steckt Was sagen die Ausdrucksformen, Rhythmen, Körperbilder,<br />
Raumfiguren und Choreographien des Leibes?<br />
<strong>Tanz</strong>en vor Glück oder Verzweiflung, bis zur Raserei, wie die alte mania überliefert ist, tut<br />
einen sinnlichen und geschichtlichen Kosmos auf. Er reicht von der wilden Mimesis der<br />
Antike über ihre disziplinierten Formen der höfischen Zeremonien bis zu den heutigen<br />
Choreographien des Balletts und zeitgenössischen <strong>Tanz</strong>es. Was aber ist es, das Stehblues und<br />
Rap, Walzer und Breakdance, Sterbenden Schwan und Avantgarde eint?<br />
Auf einer Kooperationstagung mit Cornelia Albrecht, Künstlerische Direktorin DANCE 2002,<br />
ging Studienleiter Jochen Wagner den spirituellen Dimensionen des <strong>Tanz</strong>es nach: der Lust im<br />
Leibe an Ausdruck, Motorik und Springen, der Lust, Figuren in Luft und Raum zu malen. Im<br />
<strong>Tanz</strong> wird der Mensch zur biomorphen Letter, macht sich selbst zum wirbelnden Zeichen.<br />
Sabine Leucht verfasste für die Süddeutsche Zeitung den folgenden Bericht:<br />
<strong>Der</strong> Körper als Leer- und Lehrstelle<br />
<strong>Der</strong> Mann ist infiziert. Joachim Schlömer hat Antonin Artaud gelesen und sucht nun nach Wegen,<br />
dem Chaos auf der Bühne Platz zu verschaffen. Da sich der Choreograf nach zehn Jahren Stadt-<br />
Theater ohnehin fragt, ob der <strong>Tanz</strong> auch in Zukunft seine Sprache ist, arbeitet er jetzt – als<br />
Opernregisseur in Stuttgart – an den "ästhetischen Grundwerten" und am liebsten mit Menschen,<br />
die auch eigene Fragen haben.<br />
Von einem Textoeuvre, das sich der Dechiffrierung versagt – einem "Strudel ohne <strong>Tanz</strong>" (Schlömer<br />
über Artaud) – zu einem "neuen" Theater, das am Ende vielleicht weder nach <strong>Tanz</strong> noch nach<br />
Strudel aussieht: Die Kategorien stehen Kopf in der <strong>Evangelische</strong>n <strong>Akademie</strong> <strong>Tutzing</strong>, wo<br />
begleitend zum internationalen Münchner <strong>Tanz</strong>vestival Dance 2002 schlicht über "<strong>Tanz</strong>"<br />
gesprochen wurde. Dass es dabei nicht allein um Bühnentanz ging, macht es schwer, einen roten<br />
Faden durch die beiden Symposiumstage zu ziehen. Wäre da nicht allgegenwärtig der Körper oder,<br />
wie die <strong>Tanz</strong>wissenschaftlerin Gabriele Brandstetter ihn nennt, der "ordnungsstörende" Leib als die<br />
"Leerstelle", um die Sprache und <strong>Tanz</strong> immer kreisen.<br />
Vom Körper, seiner unentrinnbaren Wildheit, aber auch dem Bestreben, diese in Form zu bringen,<br />
war auch Artaud besessen. Und wer ihn verständig liest, spürt fast leibhaftig, wie er damit den Kreis<br />
um besagte Leerstelle enger und enger zieht. Die Welt ist noch in Ordnung, wenn sich ein Goethe<br />
über den "obszönen" Walzer erregt, der seinen Werther bis in den "Taumel des Todes" hinein<br />
verfolgt. Oder wenn Mallarmé, inspiriert von Loie Fullers bewegungsarmem Spiel mit Schleiern<br />
und Licht, den <strong>Tanz</strong> des Körpers rein abstrakt beschreibt. <strong>Der</strong> all diese Gewissheiten hinter sich<br />
lassende Zweifel aber, der Schlömer umzutreiben scheint und der, wie er ahnt, dazu führt, dass bald<br />
"viele Vieles von mir furchtbar finden werden", rührt an ein existenzielles Problem. Und es ist noch<br />
längst nicht ausgemacht, ob seine Lösung dem Genre wirklich auf die Sprünge helfen wird. Hat es<br />
doch <strong>Tanz</strong>, der nicht nur "die Blondine der Bühnenkünste" spielen mag, so die <strong>Tanz</strong>kritikerin Eva-
Elisabeth Fischer (SZ), heute ebenso schwer wie die zur Schau gestellte <strong>Tanz</strong>verweigerung einiger<br />
Künstler, bei denen Bewegung nur noch im Kopf stattfindet. Von Kulturpolitikern und<br />
Feuilletonchefs ohnehin als Quantité négligeable betrachtet, führe das zum "Ende des <strong>Tanz</strong>es".<br />
Aber vielleicht ist auch etwas gewonnen, wenn sich die dritte Sparte herauswagt aus der Nische des<br />
bloß Lustvoll-Ursprünglichen und damit irgendwie "Weiblichen". <strong>Der</strong> <strong>Tanz</strong> ist heute besonders<br />
avanciert, wo es um die Irritation von Rezeptionsgewohnheiten geht. Gruppen wie Rosas von Anne<br />
Teresa de Keersmaekers stellen eine Form der Erotik her, in der Körper nicht mehr Objekte der<br />
Schaulust sind, aber auch keine pure Präsenz behaupten wie etwa im Ausdruckstanz. Im Oszillieren<br />
zwischen diesen Ebenen leisten "körPERformances" (Peter M. Boenisch, München) Pionierarbeit<br />
auf dem Wahrnehmungssektor. Annäherungsarbeit an die Leerstelle, könnte man das wohl auch<br />
nennen.<br />
In seiner Performance "Le dernier spectacle" behauptet der prominente <strong>Tanz</strong>verweigerer Jérộme<br />
Bel: "Ich bin Susanne Linke." Die Bremer Choreografin war ebenfalls in <strong>Tutzing</strong>, um auf Fragen der<br />
Tagungsleiterin Cornelia Albrecht tänzerisch zu antworten. Gebeten, auch einmal Jérộme Bel zu<br />
sein, variierte Linke die Kunst des Stehens und bewies, auf welch vergnügliche Weise der <strong>Tanz</strong> zu<br />
denken versteht. Linkes große Sehnsucht: "Ich will tanzen bis zur Transzendenz. Bis man mich<br />
nicht mehr sieht, nur spürt." Auch eine Form, die Leerstelle Leib zu überwinden.