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Gustav Mahler (1860-1911)<br />

Sinfonie Nr. 9 D-Dur<br />

»Ich habe wie<strong>de</strong>r einmal die 9. Sinfonie Mahlers durchgespielt«, schreibt Alban Berg<br />

1912 an seine Frau: »Der erste Satz ist das Allerherrlichste, was Mahler geschrieben<br />

hat. Es ist <strong>de</strong>r Ausdruck einer unerhörten Liebe zu dieser Er<strong>de</strong>, die Sehnsucht, in<br />

Frie<strong>de</strong>n auf ihr zu leben, sie, die Natur, noch auszugießen bis in ihre tiefsten Tiefen<br />

– bevor <strong>de</strong>r Tod kommt. Denn er kommt unaufhaltsam. Dieser ganze Satz ist auf<br />

die To<strong>de</strong>sahnung gestellt. Immer wie<strong>de</strong>r mel<strong>de</strong>t sie sich. Alles irdische Verträumte<br />

gipfelt darin (daher die immer wie neue Aufwallungen ausbrechen<strong>de</strong>n Steigerungen<br />

nach <strong>de</strong>n zartesten Stellen) – am stärksten natürlich bei <strong>de</strong>r ungeheuren Stelle, wo<br />

diese To<strong>de</strong>sahnung Gewissheit wird, wo mitten in die ›höchste Kraft‹<br />

schmerzvollster Lebenslust ›mit höchster Gewalt‹ <strong>de</strong>r Tod sich anmel<strong>de</strong>t – dazu das<br />

schauerliche Bratschen- und Geigensolo und diese ritterlichen Klänge: <strong>de</strong>r Tod in<br />

<strong>de</strong>r Rüstung. Dagegen gibt’s kein Auflehnen mehr. –«<br />

»Es kommt mir«, so immer noch Alban Berg, »wie Resignation vor, was jetzt noch<br />

vor sich geht – immer mit <strong>de</strong>m Gedanken an das ›Jenseits‹, das einem in <strong>de</strong>r Stelle<br />

›misterioso‹ gleichsam wie in ganz dünner Luft – noch über <strong>de</strong>n Bergen – ja, wie im<br />

luftverdünnten Raume erscheint. Und wie<strong>de</strong>r, zum letzten Mal, wen<strong>de</strong>t Mahler sich<br />

<strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> zu – nicht mehr <strong>de</strong>n Kämpfen und Taten, die er gleichsam von sich<br />

abstreift, son<strong>de</strong>rn ganz und nur mehr <strong>de</strong>r Natur. Was ihm und wie lang ihm die Er<strong>de</strong><br />

noch ihre Schätze bietet, will er genießen: er will, fern von allem Ungemach, in<br />

freier, dünner Luft <strong>de</strong>s Semmerings ein Haus schaffen, um diese Luft, diese feinste<br />

Er<strong>de</strong>nluft in sich zu saugen, mit immer tieferen Atemzügen – immer tieferen Zügen,<br />

dass sich das Herz, dieses herrlichste Herz, das je unter Menschen geschlagen hat,<br />

weitet – immer mehr sich weitet – bevor es hier zu schlagen aufhören muss ...«<br />

So sehr <strong>de</strong>r bewegte, bewun<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Alban Berg Mahlers 9. Sinfonie auf <strong>de</strong>ssen<br />

persönliche Situation bezieht – <strong>de</strong>r Bruch mit <strong>de</strong>r Wiener Staatsoper, <strong>de</strong>r Tod <strong>de</strong>r<br />

älteren Tochter, <strong>de</strong>r von einem Landarzt festgestellte, von einem Spezialisten<br />

bestätigte Herzklappenfehler: all das hatte Mahlers ›Lebenseinstellung‹ ja von<br />

Grund auf verän<strong>de</strong>rt: »Ich durchlebe jetzt«, hat er Anfang 1909 an Bruno Walter<br />

geschrieben (<strong>de</strong>r die 1908/09 entstan<strong>de</strong>ne 9. Sinfonie posthum dann uraufgeführt<br />

hat, am 26. Juni 1912 in Wien), »ich durchlebe jetzt so unendlich viel (seit<br />

an<strong>de</strong>rthalb Jahren), kann kaum darüber sprechen. Wie sollte ich die Darstellung<br />

einer solchen ungeheuren Krise versuchen! Ich sehe alles in einem so neuen Lichte,<br />

bin so in Bewegung; ich wür<strong>de</strong> mich manchmal gar nicht wun<strong>de</strong>rn, wenn ich<br />

plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken wür<strong>de</strong>. (Wie Faust in <strong>de</strong>r letzten<br />

Szene.) Ich bin lebensdurstiger <strong>als</strong> je und fin<strong>de</strong> die ›Gewohnheit <strong>de</strong>s Daseins‹ süßer<br />

<strong>als</strong> je ...«; – so sehr Berg <strong>als</strong>o Mahlers Biographie von <strong>de</strong>ssen 9. Sinfonie nicht<br />

ferngehalten sieht, so sehr will ihm gleichzeitig erscheinen, dass das Werk weit über<br />

alles Persönliche hinausgehe. Was, auf an<strong>de</strong>rer Ebene, nichts an<strong>de</strong>res hieße <strong>de</strong>nn:<br />

Mahler fin<strong>de</strong>t einen neuen Stil. O<strong>de</strong>r, wie Mahler selber es Bruno Walter gegenüber<br />

ausgedrückt hat: »Es ist da etwas gesagt, was ich seit längerem auf <strong>de</strong>n Lippen<br />

habe.«<br />

Der Berg-Schüler Theodor W. Adorno nun beschreibt in seiner »Wiener<br />

Ge<strong>de</strong>nkre<strong>de</strong>« auf Mahler, 1960: Der erste Satz <strong>de</strong>r Neunten – »zwei Themen, Dur<br />

und Moll, alternieren dialogisch. Sie holen weit aus zur erinnern<strong>de</strong>n Erzählung von


Vergangenem. Ihre Stimmen verflechten, übertönen sich, rauschen ineinan<strong>de</strong>r, bis,<br />

unterm Ansporn eines dritten Motivs, das Gebil<strong>de</strong> in lei<strong>de</strong>nschaftliche Gegenwart<br />

sich verstrickt, um unter einem Schlag zusammenzubrechen, <strong>de</strong>n man ahnt seit<br />

<strong>de</strong>m Rhythmus <strong>de</strong>s ersten Takts. Nichts bleibt zurück <strong>als</strong> Bruchstücke und die Süße<br />

von schmeichelnd vergeblichem Trost. Das letzte Werk, das Mahler vollen<strong>de</strong>te und<br />

<strong>de</strong>ssen dritter Satz schon Partien einer vom Generalbaßschema wegstreben<strong>de</strong>n<br />

Polyphonie enthält, ist das erste <strong>de</strong>r neuen Musik.«<br />

Für Michael Gielen nun ist gera<strong>de</strong> dieser erste Satz von Mahlers Neunter »<strong>de</strong>r<br />

wichtigste und <strong>de</strong>r empfun<strong>de</strong>nste und <strong>de</strong>r wahrste und <strong>de</strong>r endgültige Satz <strong>de</strong>s<br />

ganzen Mahler. Schon formal, in<strong>de</strong>m die Sonate überwun<strong>de</strong>n wird – ein Schritt, <strong>de</strong>r<br />

gar nicht wichtig genug zu nehmen ist in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Form ›Sinfonie‹, nicht<br />

zuletzt, weil sich das auch in <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Empfindung nie<strong>de</strong>rschlägt: da gibt es<br />

überhaupt keine aka<strong>de</strong>mische Art <strong>de</strong>r Verarbeitung mehr. Die Erinnerung an<br />

Schönes kennzeichnet noch <strong>de</strong>n ersten Komplex, die Ausweglosigkeit <strong>de</strong>n zweiten.<br />

Und <strong>de</strong>r Hauptrhythmus, <strong>de</strong>r gleich zu Anfang, im Vorspann da ist und dann am<br />

Höhepunkt in <strong>de</strong>n Posaunen, das ist ein ›To<strong>de</strong>srhythmus‹: so soll das Herz doch<br />

nicht schlagen, das ist ein Herzfehler, sozusagen, eine Herz-Rhythmus-Störung, auf<br />

die Bühne gebracht. Wie aber nun die bei<strong>de</strong>n Komplexe sich gegenseitig<br />

durchdringen, wie das zu einem Ganzen wird, wie es gelingt, zwei so<br />

kontrastieren<strong>de</strong> Charaktere zu einem Satz zusammenzuzwingen – da kann man ja<br />

wirklich nicht mehr sagen, es sei ein erstes Thema und ein zweites Thema, diese<br />

Dualität gibt es da nicht, son<strong>de</strong>rn es sind Varianten: sie gehören zusammen wie die<br />

ersten zwei Sätze von Mahlers Fünfter, es sind die ›zwei Seelen, ach‹ in seiner<br />

Brust, die erst mal je<strong>de</strong> für sich nach Ausdruck verlangen, bis sich schließlich<br />

herausstellt, dass sie doch nur verschie<strong>de</strong>ne Aspekte <strong>de</strong>rselben Negativität sind.«<br />

Die Mittelsätze dagegen? »Sind eher ein Rückblick auf Gesellschaftliches, auf<br />

Volkstümlichkeit, auf Vulgarität <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rn, auf Negativerfahrungen, auf Träume<br />

auch – <strong>de</strong>r utopische Moment mit <strong>de</strong>r Trompetenmelodie im dritten Satz, <strong>de</strong>r<br />

Burleske, hat etwas Erhabenes, etwas von einem Blick über die Nie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />

an<strong>de</strong>ren Menschen hinweg, vielleicht auch hinweg über Mahlers eigene<br />

Nie<strong>de</strong>rungen.« Das Finale <strong>de</strong>r Neunten schließlich? Zieht mit <strong>de</strong>m ersten Satz<br />

gewissermaßen an einem Strang: »Was sich im Lied von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> auf <strong>de</strong>n letzten<br />

Satz hin entwickelt, <strong>de</strong>r ja ›Abschied‹ heißt und Abschied von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, Abschied<br />

vom Leben meint«, ist fraglos zum »Gesamtinhalt« <strong>de</strong>r Neunten gewor<strong>de</strong>n,<br />

beson<strong>de</strong>rs eben ihrer Außensätze. Freilich: Im Verhältnis zum ersten Satz »ist die<br />

Erfindung im Finale vielleicht weniger neuartig. Der – nach <strong>de</strong>m ersten großen<br />

Komplex in Des-Dur – zweite Einfall, <strong>de</strong>r ja erst nur, ›etwas zögernd‹, ange<strong>de</strong>utet<br />

wird mit <strong>de</strong>m cis-moll-Fagott, ist rein diatonisch und insofern überhaupt nicht<br />

avanciert, und doch in seiner Nacktheit ein beson<strong>de</strong>res Moment. Und wenn er in <strong>de</strong>r<br />

Coda, auf <strong>de</strong>r letzten Partitur-Seite, in Zeitlupe und in Dur kommt und sich dann<br />

verliert, ist er <strong>de</strong>r To<strong>de</strong>stopos in seinem an<strong>de</strong>ren Aspekt, eben nicht in <strong>de</strong>m<br />

erschrecken<strong>de</strong>n Aspekt wie bei <strong>de</strong>n Posaunen im ersten Satz, son<strong>de</strong>rn in einem sich<br />

Öffnen gegenüber einem Unbekannten.«<br />

Pierre Boulez (*1925)<br />

Rituel in memoriam Bruno Ma<strong>de</strong>rna


Daten: Boulez hat die Ge<strong>de</strong>nk-Komposition 1974/75 geschrieben – Bruno Ma<strong>de</strong>rna,<br />

<strong>de</strong>r italienische Komponist und Dirigent, Mitstreiter und Freund, war im Alter von 53<br />

Jahren am 13. November 1973 in Darmstadt gestorben. Uraufgeführt wur<strong>de</strong> das<br />

Rituel am 2. April 1975 in London.<br />

Besetzung: Das Orchester ist unterteilt in acht Gruppen unterschiedlicher Größe –<br />

ein bis sieben Instrumente zählend respektive vierzehn Blechbläser vereinend,<br />

worüber hinaus je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gruppen ein Schlaginstrument beigesellt ist (die<br />

Blechbläser beanspruchen <strong>de</strong>ren zwei). Selbstkommentar: »In ständigem Wechsel<br />

folgen sich gleichsam Psalmverse und Responsorien einer imaginären Zeremonie. Es<br />

ist eine Zeremonie <strong>de</strong>r Erinnerung: daher die vielen Wie<strong>de</strong>rholungen immer gleicher<br />

Formeln, wobei sich <strong>de</strong>nnoch Umrisse und Perspektiven wan<strong>de</strong>ln. Es ist eine<br />

Zeremonie <strong>de</strong>s Erlöschens, ein Ritual <strong>de</strong>s Verschwin<strong>de</strong>ns und Überlebens: so prägen<br />

sich die Bil<strong>de</strong>r in die musikalische Erinnerung ein – sind gegenwärtig und abwesend<br />

zugleich in einem Zwischenreich.«<br />

Vorüberlegung: »Psalmverse« – das geht auf fester gefügte musikalische Formen,<br />

auf ›standfeste‹ Choral-Zeilen in homophon chorischem Satz. »Responsorien«<br />

dagegen sind eher locker gefügt, einstimmig, womöglich beim Gehen gesungen.<br />

Den Klang <strong>de</strong>r »Psalmverse« wer<strong>de</strong>n die Blechbläser bestimmen. Die »Responsorien<br />

« wer<strong>de</strong>n durch die Schlaginstrumente einen hörbaren Puls erhalten.<br />

Beobachtung: Ein Aufbau geht vor sich, <strong>als</strong> Zunahme instrumentaler Quantität bzw.<br />

struktureller Qualität. Ihm folgt, verkürzt spiegelbildlich, ein Abbau. »Dieser<br />

Abgesang«, kommentiert Josef Häusler, »ist <strong>als</strong> eine Art Boulez’scher ›Abschieds-<br />

Sinfonie‹ bezeichnet wor<strong>de</strong>n. Das Wort mag zutreffen im Sinn eines zunehmen<strong>de</strong>n<br />

Verschwin<strong>de</strong>ns von Instrumentalgruppen. Damit aber erschöpft sich die<br />

musikhistorische Assoziation. Denn <strong>de</strong>r Abschied in Rituel ist ein letztes Lebewohl.<br />

Im Verebben gelangt das Werk zu seiner äußersten expressiven Dichte, wird in <strong>de</strong>r<br />

Reduktion zur ›Summe‹.«<br />

Notations für Orchester<br />

I Modéré – Fantasque / II Très vif – Stri<strong>de</strong>nt / III Très modéré / IV Rythmique / VII<br />

Hiératique. Lent<br />

1<strong>94</strong>5 komponiert Boulez, <strong>als</strong> sein »Opus 1«, Douze Notations für Klavier, zwölf<br />

jeweils zwölf Takte lange, von <strong>de</strong>r Zwölftontechnik auf <strong>de</strong>n Weg gebrachte Stücke.<br />

Mitte <strong>de</strong>r 1970er Jahre fragt man bei ihm an, ob er etwas gegen eine Aufführung<br />

<strong>de</strong>r dreißig Jahre alten Klavierstücke einzuwen<strong>de</strong>n hätte, man <strong>de</strong>nke an ein Konzert<br />

mit Kompositionen ehemaliger Messiaen-Stu<strong>de</strong>nten. Boulez macht sich auf die<br />

Suche nach <strong>de</strong>n alten Noten, wird nicht fündig, ließ sie sich schicken – und stellt<br />

bald fest, dass er sein Interesse an <strong>de</strong>n Stücken nicht verloren, wie sehr auch<br />

immer er sich von ihrer Begrenztheit entfernt hat. Zur Aufführung kommt es, die<br />

Drucklegung <strong>de</strong>r Klavierstücke aber wird erst einmal hinausgeschoben.<br />

Bayreuth, Sommer 1976: Boulez probt Wagners »Ring«; bedauert, dass er keine<br />

Zeit zum Komponieren hat; überlegt, ob und wie er seine <strong>als</strong> Dirigent inzwischen


eichlich angesammelten Orchestererfahrungen in eine Komposition einbringen<br />

könnte, in <strong>de</strong>r womöglich »nichts zu komponieren«, bloß Vorhan<strong>de</strong>nes<br />

»auszuarbeiten« wäre – und bleibt an <strong>de</strong>n Notations hängen: die er zuerst schlicht<br />

transkribieren will. Bald aber zeigt sich: das große Orchester, das ihm hinsichtlich<br />

Farben, Timbres, Klangballungen vorschwebt, kann sich an <strong>de</strong>n zumeist gera<strong>de</strong> mal<br />

zwanzig o<strong>de</strong>r dreißig Sekun<strong>de</strong>n langen Stücken allenfalls die Zähne ausbeißen.<br />

Ausweg? »Ich muss die ursprünglichen I<strong>de</strong>en vergrößern.«<br />

1977/78 arbeitet Boulez vier Notations für großes Orchester aus; 1997 – inzwischen<br />

hat er vom Chicagoer Sinfonieorchester <strong>de</strong>n Auftrag zu vier weiteren<br />

Orchesterversionen erhalten – wird Notation VII fertig. Das zuletzt zugrun<strong>de</strong>gelegte<br />

Klavierstück dauert etwas über eine Minute, das Orchesterstück wuchs auf <strong>de</strong>ren<br />

wenigstens acht an, aus <strong>de</strong>n ursprünglich zwölf wur<strong>de</strong>n zweiundsechzig Takte.<br />

Weniger ausführlich noch war <strong>de</strong>n Notations I-IV zugesetzt wor<strong>de</strong>n: sie kommen,<br />

ausgearbeitet, auf acht Minuten nur, nimmt man alle vier zusammen. Die<br />

Uraufführung sowohl <strong>de</strong>r Notations I-IV wie <strong>de</strong>r Notation VII dirigiert Daniel<br />

Barenboim: am 18. Juni 1980 in Paris (es spielt das Orchestre <strong>de</strong> Paris), am 14.<br />

Januar 1999 in Chicago (jetzt spielt das Chicagoer Sinfonieorchester).<br />

Als Boulez später mit Barenboim über seine Notations spricht, erinnert er sich an<br />

seinerzeit gelesene Berichte: wie man in etlichen ägyptischen Gräbern<br />

Getrei<strong>de</strong>samen gefun<strong>de</strong>n, sie in Wasser gelegt und dann in die Er<strong>de</strong> gesteckt und<br />

damit neuerdings zum Keimen gebracht habe. So in etwa sei auch er verfahren,<br />

befin<strong>de</strong>t er jetzt: die Samen waren alt, das Denken und die Entwicklung, die von<br />

ihnen ihren Ausgang nahmen, neu.<br />

Was Boulez aber genauer angestellt hat, hat er selber beschrieben in einem »Die<br />

Transkription und ihre Phantasiegebil<strong>de</strong>« betitelten <strong>Text</strong>, in welchem es schnell zu<br />

<strong>de</strong>m Satz kommt: »Es stellt sich jedoch das Problem einer Neukomposition. « »Das<br />

musikalische Material steht dir zur Verfügung, ist bereits erfun<strong>de</strong>n, du fühlst dich <strong>als</strong><br />

sein Besitzer, <strong>de</strong>nn du hast es ja geformt; das stilistische Profil ist da, tief<br />

verborgen, geschützt durch die Ferne <strong>de</strong>r Jahre, aber aus diesem Kern sind – mehr<br />

o<strong>de</strong>r weniger sprunghaft, mehr o<strong>de</strong>r weniger kontinuierlich – die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Phasen <strong>de</strong>iner Entwicklung hervorgegangen, die du jetzt wie<strong>de</strong>r in ihrem<br />

Zusammenhang siehst. Und so wird in dir <strong>de</strong>r Wunsch wach, diesen Zusammenhang<br />

darzustellen, dieses ursprüngliche Material wie<strong>de</strong>r aufzugreifen und ihm seine<br />

heutige Geschichte zu geben, die es in seiner Urform noch nicht kennen konnte.«<br />

Denn <strong>als</strong>o: »Man geht <strong>de</strong>n alten <strong>Text</strong> durch, macht ihn sich erneut zu Eigen,<br />

ent<strong>de</strong>ckt seine Ursprünge und Wurzeln wie<strong>de</strong>r; man schickt ihn durch das Sieb einer<br />

Analyse, die zunächst von Neugier und Absicht bestimmt ist, dann das Prisma <strong>de</strong>r<br />

Imagination und <strong>de</strong>r Möglichkeiten durchläuft; man erkennt seine Ä<strong>de</strong>rungen, seine<br />

Risse und Brüche, seine Gelenke; man ermittelt die Elemente, die nicht<br />

entwicklungsfähig sind, unverän<strong>de</strong>rt bleiben, und solche, die schrumpfen o<strong>de</strong>r<br />

wachsen sollen; zwischen diesem <strong>Text</strong>, <strong>de</strong>r dir schon gehört und dir noch nicht<br />

gehört, zwischen diesem <strong>Text</strong> und dir webst du Netze <strong>de</strong>s Einvernehmens. Diese<br />

Figur bedarf einer Feineinstellung ihres rhythmischen Profils; bei jener Figur wird<br />

je<strong>de</strong>r einzelne Punkt zum Ort eines Wurzelschösslings, eines Pfropfreises; eine dritte<br />

Figur spiegelt sich in einer Reihe von immer stärker <strong>de</strong>formieren<strong>de</strong>n Spiegeln ...«


Schließlich: »Originaltext und Transkription, vielmehr Neukomposition, weichen<br />

<strong>de</strong>rart voneinan<strong>de</strong>r ab, dass <strong>de</strong>r Originaltext sich zu einer Art Geistererscheinung<br />

wan<strong>de</strong>lt, die in dieser neu erstan<strong>de</strong>nen Welt nur mehr spukhaftes Dasein besitzt.«

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