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Originalarbeit S. 5 - 15<br />
Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
Die kulturelle Genese der Sucht<br />
K. WASSENBERG<br />
MISTEL - Hochschule Magdeburg-Stendal<br />
Zusammenfassung:<br />
Der Aufsatz verfolgt die verschiedenen wissenschaftlichen<br />
Modelle zur Erklärung von auffälligem Verhalten seit der<br />
Reformation. Es wird dargestellt, wie die Vorstellungen<br />
individueller Zwanghaftigkeit zuerst in der protestantischen<br />
Theologie entwickelt und später von Medizinern übernommen<br />
wurden. Zentrale These der Arbeit ist, dass die Unterscheidung<br />
zwischen Abhängigkeit und Sucht auf deren<br />
Herkunft aus unterschiedlichen theologischen Quellen zurückzuführen<br />
ist.<br />
Die Beschäftigung mit Suchtkrankheiten vermittelt kein<br />
einheitliches Bild. Im Gegenteil, im ersten Moment eröffnet<br />
sich dem Theoretiker ein scheinbar unübersehbarer Wirrwarr<br />
von verschiedenen Ansätzen und Lehrgebäuden über<br />
Ursachen, Verlaufsformen und Erscheinungsbildern von<br />
drogeninduziertem auffälligen Verhalten. Auffällig aus historischer<br />
Sicht ist vor allem, daß keine Ordnung im Diskurs<br />
herrscht. Mal galoppieren trunkene Elefanten auf der Suche<br />
nach Angegortem durch die Savanne, süchtige Ratten<br />
fressen Kaffeesatz und dann wiederum wird ein Gelegenheitskonsument<br />
harter Drogen vorgestellt, den es theoretisch<br />
gar nicht geben dürfte. Dem Seufzer über das Drogenszenario:<br />
‘Nichts geht mehr’ folgt die theoretische Auflösung<br />
in: ‘Alles geht’. Diese Auflösung ins Beliebige ist die<br />
Quelle der Verzweiflung des Therapeuten, der einem Menschen<br />
helfen will und dem vorgehalten wird, daß die ganze<br />
Gesellschaft süchtig sei; der sich von der Wissenschaft<br />
zwar manche Belehrung gefallen lassen muß, aber nur<br />
selten konkrete Hilfe bekommt.<br />
Trotzdem besitzen die vielen, oft konträren Vorstellungen<br />
auch einige Gemeinsamkeiten. Eine ist, daß das Verhalten<br />
unter Drogeneinfluß kulturbedingt sei; eine gegensätzliche<br />
will Verhalten unter Drogeneinfluß als physische Substanzwirkung<br />
objektivieren. Der vorliegende Aufsatz will auf die<br />
Suche nach kulturellen Ursprüngen gehen und damit vor<br />
allem die erste These prüfen. Denn auch um das wenige<br />
Gemeinsame der Theorie über Drogengebrauch ranken<br />
sich Gemeinplätze und unbewiesene Behauptungen. Ein<br />
solches Gemeinsames ist die Vorstellung, daß Drogengebrauch<br />
bei bestimmten Menschen einen ‘Kontrollverlust’<br />
hervorrufe. Dieser Begriff soll den Verlust der Entscheidungsfähigkeit<br />
gegenüber der Substanz oder sogar einer<br />
Handlung beschreiben. In Kürze gesagt, sind besonders<br />
die kulturwissenschaftlichen Überlegungen zu dem Schluß<br />
gekommen, daß diese Vorstellung des individuellen Kontrollverlustes<br />
aus der Alkoholforschung entsprang, mit<br />
amerikanischen Einflüssen um 1800 aufkam und den Durchbruch<br />
erst mit Jellinek gegen Mitte des 20. Jahrhunderts<br />
fand. Zuvor sei man der Meinung gewesen, daß die Trinker<br />
willentlich trinken würden, als Ziel des Trinkens also der<br />
trunkene Bewußtseinszustand sei; deshalb sei Saufen als<br />
sündig angesehen worden. Daraus läßt sich ableiten, daß<br />
demnach die Trinksünde eine Willensentscheidung gewesen<br />
sein müsse: Wir haben hier einen wichtigen Gemeinplatz<br />
der modernen Alkoholforschung vor uns, der unbewiesen<br />
von den meisten Alkoholforschern übernommen<br />
wurde.<br />
Ich will versuchen aufzuzeigen, daß einige solcher Befunde<br />
nur teilweise richtig sind. Im wesentlichen werde ich mich<br />
auf folgende Quellen berufen: Dem ersten und dem zweiten<br />
adiaphoristischen Streit in den evangelischen Kirchen,<br />
dem parallel dazu beginnenden medizinischen Diskurs des<br />
17. und 18. Jahrhunderts und der medizinischen Übernahme<br />
der Suchtvorstellung im 17. Jahrhundert. Das Vorhaben<br />
ist natürlich für einen Aufsatz zu groß angelegt und<br />
man möge mir verzeihen, daß ich oft Quellen nicht in der<br />
ihnen zustehenden Breite gewürdigt habe.<br />
Die reformatorische Konstruktion des Kontrollverlustes<br />
im Ersten Adiaphoristischen Streit<br />
Will man etwas über die Vorstellungen und Meinungen der<br />
Menschen früherer Zeiten erfahren, findet man wichtige<br />
Quellen in den religiösen Diskursen der Reformationsliteratur<br />
des 16. Jahrhunderts. Hier entwerfen im sog. Ersten<br />
Adiaphoristischen Streit eine Reihe von Autoren Streitschriften,<br />
welche Hinweise zu Gedanken und theologischen<br />
Hintergründen von normativen Einschätzungen über<br />
ausschweifendes Verhalten geben. Adiaphora bedeutet<br />
soviel wie ‘Mitteldinge’ und bezieht sich auf die Frage, ob<br />
Verhaltensweisen, die an sich sittlich indifferent sind wie<br />
etwa Fressen und Saufen, aber auch Singen und Tanzen,<br />
gut oder böse sind. Wichtigstes Merkmal dieser Adiaphora<br />
ist, daß ihre normative Verortung nur indirekt möglich ist.<br />
Ob eine solche Handlung gut oder böse sei, kann nur aus<br />
ihren Folgen geschlossen werden.<br />
Ebenso sind die zu jener Zeit Verbreitung findenden Polizeiordnungen<br />
zu nennen. In den damaligen medizinischen<br />
Schriften findet man hingegen nur sehr wenig über Probleme<br />
der Trunkenheit. Im folgenden will ich kurz einen theologischen<br />
Klassiker mit seinen Ansichten zur Trunkenheit<br />
vorstellen: Sebastian Franck. Zwar ist er keiner der großen<br />
Reformatoren, aber Egon Friedell nennt ihn den ‘größten<br />
protestantischen Mystiker der Lutherzeit’ (Friedell; I:166),<br />
der aus dem Katholizismus heraus zum Luthertum konvertierte<br />
und schließlich konfessionslos blieb. Franck liefert<br />
die bedeutendeste Quelle zum Einblick in eine allerdings<br />
isolierte Meinung über ‘Das greuliche Laster der Trunckenheit’.<br />
Als Exegese interpretiert er die Haltung der Bibel als<br />
Wort Gottes zum Thema Trunkenheit. Ich gehe kurz auf<br />
den Inhalt ein:<br />
Die Trunkenbolde verehren Bacchus als „Gott/ und des<br />
teuffels heyliger geyst/ der hat sie besessen“.<br />
Hier zeigt uns Franck recht klar, daß Gott dem unmäßig<br />
essenden und trinkenden Menschen zürne. Solche könnten<br />
keine Christen sein, und wahre Christen sollten ihrer<br />
meiden. Bald kommt er zu der Einsicht, daß „Thrunckenhayt<br />
verderbet den leyb/ und ist ain ursach viler kranckhait/<br />
und ains unzeytigen tods.“ Auch die Frage, „ob armüt auß<br />
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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
dem trincken kom“ stellt er und antwortet:<br />
„Wer gern frölich ist wirt mangeln/ Und wer wein un öl liebt/<br />
wirt nit reich/ Und am 23.Capitel/ Mein son sey nicht<br />
unndter den sauffern unnd schlemmern/ dann die sauffer<br />
und prasser verarmen/ und ein schlaffer muß zerrissen<br />
klayder tragen/ Ursach/ der wein macht faul und werckloß“.<br />
Als Trinker gehört man also nicht zum christlichen Volke,<br />
nimmt nicht teil an der ‘normalen’ Realitätskonstruktion.<br />
Man verwirkt infolgedessen seine beiden Leben, sein diesseitiges<br />
und sein jenseitiges. Der Ausschluß ist total, aber<br />
nicht nur der individuelle Leib ist gefährdet. Mehr noch<br />
stehen allgemeine Beziehungen, in welche der Mensch<br />
eingebunden ist, im Vordergrund. Der Alkohol ist Repräsentant<br />
eines ganzen Lebensstils: der Fröhlichkeit und der<br />
Sinneslust. Aber er ist nicht bloß Symbol; die Wirkung der<br />
Droge Alkohol wird als unmittelbar sozial begriffen. Ursache<br />
und Symptom verdichten sich hier zu einer analytischen<br />
Einheit: sie sind eins.<br />
„Dann also gewont die natur des sauffens/ das sie immer<br />
zu durst unnd zu trincken muß habenn/ und jhe lenger sie<br />
trinckenn/ jhe lenger sye sauffen. Also plagt sie Gott/ das<br />
sich die natur umbkert/ unnd das tranck sein aigen ampt<br />
an ihn verleyrt/ Wie sapient. am 11. stehet/ unnd am 16.<br />
Capitel/ Wodurch der mensch Sündiget/ dadurch wird er<br />
peiniget/.“<br />
Damit gibt uns Sebastian Franck einen wichtigen Schlüssel<br />
zur Deutung reformatorischen Trinkverhaltens an die Hand:<br />
Der Trinker sei in der aktuellen Trinkhandlung an etwas<br />
ausgeliefert, dem er hilflos gegenübersteht. Ist es hier noch<br />
eine strafende göttliche Macht, so wird es später eine<br />
Eigenschaft, die der Droge Alkohol an sich immanent ist.<br />
Hier ist die Willenlosigkeit noch ‘normal’, schließlich hat der<br />
Trinker es mit Gott selbst zu tun.<br />
„Das sieht man an unserm trincken wol/ das sie allzeyt frü<br />
und spat dürst/ sauffenn biß sie ubergehen/ fahen darnach<br />
wider an/ Und wann sie vol seynd/ und die kandten<br />
nimmer zum maul künden bringen/ so dürst sie allererst/<br />
Das ist der sünd rechte billiche straff/ Wie Esaias schreybt<br />
am 5.Capitel. Wie man gesündt hatt/ also soll auch die<br />
buß und marter sein/ unnd fahet die peyn hie an.“<br />
Der Trinker ist dem Deutungsmuster ‘sündhaftes Trinken’<br />
zufolge also in einen Prozeß eingebunden, in dem der erste<br />
exzessive Trinkakt eine sündige Handlung darstellt. Dadurch<br />
errege er Gottes Zorn. Jener lasse den Trinker nun weitertrinken,<br />
bis er nicht mehr kann. Nach kurzer körperlicher<br />
Erholung quäle Gott den Trinker erneut mit der unmäßigen<br />
Zufuhr von Alkohol. Der Trinker ist demnach in einem<br />
Prozeß gefangen, in dem Trinkmotive eine abnehmende<br />
Bedeutung haben. Er braucht, hat er erst einmal die Trinksünde<br />
begonnen, keinen Anlaß mehr; er trinkt um Gottes<br />
Willen. Er hat demzufolge also keinen Einfluß mehr auf sein<br />
eigenes Trinkverhalten.<br />
Es war von mir schon erwähnt worden, daß die Medizin sich<br />
zu der Zeit nur mit somatischen Wirkungen der Trunkenheit<br />
beschäftigt - Verhaltenszwänge sind ihr bis dahin noch<br />
unbekannt. Der Arzt Stromer hält die Trunkenheit für eine<br />
„willige unsynnickeit“ und lehnt die medizinische Untersuchung<br />
von Lastern als Sache der Philosophen ab. Es<br />
lassen sich demnach durchaus Vorstellungen eines religiös<br />
motivierten Kontrollverlustes finden, jene aber waren<br />
weder medizinisch begründbar, noch wurde sie von allen<br />
Reformatoren übernommen.<br />
Das lag vor allem an den theoretischen Grundannahmen<br />
der Theologen: Luther ging von der sogenannten ‘Rechtfertigungslehre’<br />
aus. Demnach habe Jesus stellvertretend für<br />
die gläubigen Christen die Erbsünde auf sich genommen.<br />
Ein lutherischer Christ kann demnach seine Gnade auch<br />
nach einer begangenen Sünde wiedererlangen, wenn er<br />
Gott aufrichtig darum bittet. Genau aber diese Möglichkeit<br />
ist dem Sünder im Zustand akuter Trunkenheit verschlossen.<br />
Er könne nicht Gott durch den Glauben um Hilfe und<br />
Beistand anrufen, weil „die Seele wird vom Leib beschwert,<br />
wo er mit Trunkenheit überladen ist, [aber...] wo die Seele<br />
wacker und nüchtern ist, da wird auch der Leib mäßig und<br />
geschickt“ (E A 9: 76). Das führt uns zu den Ursachen der<br />
Trunkenheit aus Lutherischer Sicht: „Wo der Leib in Völlerei<br />
liegt, da muß zuvor die Seele ein Trunkenbold seyn, so<br />
Gottes Wort und das Gebet nicht achtet“ (E A 9:76). Für<br />
Luther ist also die Trunkenheit ein seelisches Problem.<br />
Trotzdem kann der lutherische Trinker nicht aus der Gnade<br />
fallen, wenn er Gott reuig um solche bittet.<br />
Der gleiche Problemausgang hatte im Calvinismus ganz<br />
andere Auswirkungen. Auf Max Weber geht die Bemerkung<br />
zurück, daß das Luthertum die kreatürliche Unbefangenheit<br />
des Menschen weniger einschnüre als der Calvinismus.<br />
Der Calvinismus geht von der ‘Prädestinationslehre’<br />
aus, welche besagt, daß Gott eines Menschen Schicksal<br />
von Anbeginn her vorbestimmt habe. Sowohl gute als auch<br />
böse Taten beruhen hier nicht mehr auf menschlichem<br />
Wollen, sondern sind bestenfalls Ausdruck göttlicher Gnade<br />
oder Ungnade. Deshalb griffen reformierte Gemeinden<br />
bei vorliegender Trunkenheit viel härter durch. So wird<br />
denn auf die Frage der Trunkenheit ausdrücklich im Heidelberger<br />
Katechismus, der 1563 veröffentlicht wurde und für<br />
alle Reformierten verbindlich war, Bezug genommen. Demzufolge<br />
sei exzessives Alkoholtrinken kein diffuses Laster.<br />
Ganz im Gegenteil, der Trunkenbold begehe eine Todsünde.<br />
„Können denn die nicht selig werden, die sich von ihrem<br />
undankbaren, unbußfertigen Wandel zu Gott nicht bekehren?“<br />
fragt der Heidelberger Katechismus in seiner 87.<br />
Frage. Die Antwort:“Keineswegs; denn wie die Schrift sagt:<br />
Kein Unkeuscher, Abgöttischer, Ehebrecher, Dieb, Geiziger,<br />
Trunkenbold, Lästerer, Räuber und dergleichen wird<br />
das Reich Gottes erben“ (O.Weber 1986:48).<br />
Fassen wir zusammen: Im 16.Jahrhundert deduzieren religiöse<br />
Wissenschaftler aus der Bibel ein Modell zwanghaften<br />
Trinkens. Der Verlust der Kontrolle über das Trinken<br />
wird ausgelöst entweder durch Versagen der sozialen<br />
Kontrolle der Gemeinde oder aber als Strafe Gottes durch<br />
Mißbrauch. Der Kontrollverlust ist Folge des bösen Tuns.<br />
Einzig Luther glaubt, daß der Trinker bereits vor Eintritt der<br />
bösen Tat prädisponiert sei. Er habe eine Trunkenboldseele.<br />
Bei medizinischen Autoren der Zeit konnte ich etwas<br />
Vergleichbares nicht finden.<br />
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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
Die reformatorische Konstruktion des Kontrollverlustes<br />
im Zweiten Adiaphoristischen Streit<br />
Zwar hat der Erste Adiaphoristische Streit Auswirkungen in<br />
zahlreichen Gemeindeordnungen und Kirchenverordnungen,<br />
aber für das Leben breiter Teile der Bevölkerung bleibt<br />
er doch wohl folgenlos. Das ändert sich erst grundlegend<br />
mit dem Zweiten Adiaphoristischen Streit. Gegen Mitte des<br />
17. Jahrhunderts erregen die Fragen nach den Mitteldingen<br />
wieder die protestantischen Gemüter und initiieren<br />
eine für Laien unübersehbare Zahl von Bewegungen und<br />
Spaltungen. Auf calvinischer Seite finden wir neben vielen<br />
anderen vor allem Gisbert Voet, der als Universitätsprofessor<br />
in Utrecht über Einfluß verfügte. Scharf spricht er sich<br />
gegen sittliche Indifferenz der Mitteldinge aus. Ein ganzes<br />
wissenschaftliches Werk widmet er dem aus reformierter<br />
Sicht sündigen Tanzen und plädiert für Verbote. In einem<br />
anderen Buch gibt er Anweisungen, wie gegessen und<br />
getrunken werden solle. Mit diesen bis ins Einzelne gehenden<br />
Anweisungen dringt der Calvinismus tief ins Alltagsleben<br />
der Bevölkerung ein. Der niederländische Calvinismus<br />
nimmt mit Voetius den Weg der präzisen Verregelung des<br />
Alltagslebens, vor allem beim Essen und Trinken. „Und weil<br />
kein Werk den Menschen mehr zum Tier macht wie Essen<br />
und Trinken, so macht der Mißbrauch von Essen und<br />
Trinken, wie Prassen, Trunkentrinken und Saufen den<br />
Menschen verächtlicher als ein Tier“ (Voet 1641:239).<br />
Schlemmerern wird regelrecht der Appetit verdorben; sie<br />
sollen während des Mahls an ihre christlichen Brüder<br />
denken, die Hunger leiden.<br />
Auf lutherischer Seite fällt der Zweite Adiaphoristische<br />
Streit sanfter aus. Hier sind vor allem Johann Arnd und<br />
Philipp Jakob Spener zu nennen. Die Person des Trinkers<br />
ist bei ihnen eine völlig andere als im Calvinismus.<br />
„Ach du heiliger und gerechter GOtt [...] ich klage dir/ daß<br />
ich offt meinen leib beschweret habe mit überfluß im<br />
essen und trinken/ dadurch ich mich sehr versündiget hab<br />
an dir meinem lieben Gott/ an meinem nechsten/ und an<br />
mir selbst: vergib mir diese sünde und ergerniß/ wende<br />
von mir die schwere straffe/ da du das wehe dräuest den<br />
säuffern“ (Arndt 1650?: 83).<br />
Der Trinker ist ein Gott um Gnade Bittender; er hat keine<br />
eigene seelische Kraft, den Verlockungen des Fleisches zu<br />
widerstehen.<br />
„Gib mir lust und liebe zur mäßigkeit und nüchterkeit/ auf<br />
daß mein gebet nicht verhindert werde behüte mich für<br />
dem bösen laster der trunckenheit/ dadurch sich ein<br />
mensch selbst zum unvernünfftigen viehe macht/ dadurch<br />
deine gaben/ so du uns mehr zu unsers leibes nothdurfft<br />
als zur wollust geschaffen und gegeben hast/ schändlich<br />
und gantz undankbarlich mißbraucht werden“ (Arndt<br />
1650?:84).<br />
Hier ist der Trunkenbold zwar ein Sünder, aber im krassen<br />
Gegensatz zur calvinischen Theologie kann ihm vergeben<br />
werden. Damit ist der Sünde der Trunkenheit ihre Schärfe<br />
genommen. Christian Scriver, Freund und Mitstreiter Speners,<br />
verfaßt sogar ein eigenes Buch über die Frage, ob<br />
Trinken eine Todsünde sei. Ihm war aufgefallen, daß die<br />
Bibel in Hinsicht auf Trunkenheit widersprüchlich ist.<br />
Einerseits sei Wein eine Gabe Gottes, andererseits sei<br />
Trunkenheit sündhaft. Daran angelehnt, entwirft Scriver<br />
einen Unterschied zwischen dem zugelassenen und dem<br />
verbotenen Trunk. „Oder wie einige besser reden/ unter<br />
den geheiligten Freuden-Trunck der Gottesfürchtigen/ und<br />
das Sauffen der Gottlosen“ (1686:4f.).<br />
„Was ist der Unterschied zwischen der verbottenen Sauff-<br />
Freude/ und eigentlichen Trunckenheit/ und zwischen der<br />
zugelassenen/ ja auf gewisse maß/ gebotenen Trinck-<br />
Freude und Ergötzlichkeit?“ (1686:8). Der Unterschied<br />
liege in der Person:<br />
„Ein Mensch/ der in Unbußfertigkeit/ Unglauben/ Sicherheit/<br />
und also ausser dem Stande der Gnaden/ und der<br />
Gemeinschafft JESU lebt/ [dem ist auch] sein Thun/ sein<br />
Essen/ Trincken/ frölich seyn/ weil es mit Unglauben/<br />
Verachtung GOttes/ Unbußfertigkeit gemänget“ (1686:9).<br />
„Ein gottloser Mensch hat kein Recht zu den Gaben und<br />
Gütern GOttes/ weiln das Ebenbild GOttes in ihm nicht<br />
erneuert/ und er kein Kind Gottes ist“ (1686:10).<br />
„Wenn nun ein solcher Mensch isset und trinket/ daß er<br />
frölich wird/ wenn er gleich keinen Excess thäte/ so ists<br />
doch unrein und verwerfflich für GOtt/ wie viel mehr/ wenn<br />
er schlemmet/ und sich mit Speise und Trunck überladet/<br />
daß er voll und truncken wird“ (1686:11).<br />
Befindet sich aber ein Mensch im Stande der Gnade,<br />
„der hat das Recht eines Kindes zu den Gaben und Gütern<br />
GOttes/ sein Essen und Trincken/ seine Freude/ seine<br />
Ergötzligkeit ist geheiliget/ durch den Glauben“ (1686:12).<br />
Selbst wenn sich ein solcher Mensch nach schwerer Arbeit<br />
quasi aus Versehen betrinken sollte, würde ihm solches<br />
nicht als Sünde angerechnet, sondern auf seine kindliche<br />
Erkenntnis und seine demütigste Abbitte hin um Christi<br />
Willen vergeben werden.<br />
Man muß sich diese Zeilen auf der Zunge zergehen lassen.<br />
Der christliche Autor unterscheidet zwischen Trunkenbolden,<br />
die gottlos sind, und Trinkern, die gottesfürchtig wahrscheinlich<br />
die gleiche Menge trinken. Der Unterschied<br />
besteht weniger in der Trinkmenge, sondern in der seelischen<br />
Haltung des Trinkers. Natürlich bedeutet diese Differenzierung<br />
kein Freibriefen für Maßlosigkeiten. Aber trotzdem<br />
wird dem lutherischen Trinker doch eine gewisse<br />
kreatürliche Unbedarftheit zugebilligt. Und diese kann schon<br />
mal einem Glas Wein zum Opfer fallen, aber die Guten<br />
gehen „hernach mit desto mehrer Freudigkeit an die Arbeit<br />
ihres Beruffs [...] und GOTT und dem Nechsten mit Lust zu<br />
dienen“(1686:26). Erst wenn jemand sich mit Lust vollsaufe<br />
um des Saufens Willen, also intentional ein Trinker ist,<br />
dann sei solches Trinken eine Todsünde.<br />
„Eine verdorbene Trunckenheit aber ists/ und ohne Zweifel<br />
eine Tod-Sünde/ wenn ein unbußfertiger irrdischgesinnter<br />
Mensch sich vorsätzlicher weise vollsaufft/ Gelegenheit<br />
zum Sauffen verlanget/ und die begierigst annimmt/<br />
seine Freude und Lust darinn suchet/ die Gesellschafft<br />
ohn Unterscheid und offt/ die/ so am liederlichsten/<br />
oder/ wie er meinet am lustigsten ist/ am meisten beliebet“<br />
(1686:67).<br />
Der Lutheraner Scriver billigt dem bösen Trunkenbold also<br />
durchaus Motive zu. Diese bestehen im lustvollen Hinwenden<br />
zum Rausch. Gerade diese Akzeptanz des Rausches<br />
ist die Sünde. Die bewußte Hinwendung zum sinnlichen<br />
Lebenswandel ist das lutherische Moment, auf das es<br />
Scriver ankommt. Das Gegenteil ist die bewußte Hinwendung<br />
zu Christus. Und jener führt den guten Christen auch<br />
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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
durch ein Rauschabenteuer. Zur Teilnahme daran wird<br />
dem Menschen geraten, daß er sich<br />
„als ein gehorsames liebes Kind/ bey seinem Gott und<br />
Vater anmelde/ [der solle ihn] bey solchem angestelten<br />
Freuden-Mahl/ mit seinem Geist regieren/ für den Stricken<br />
des Satans bewahren/ und durch seine Gnade sein<br />
Hertz also lencken wolle/ daß er die geziemende maß<br />
Christlicher Freude und Ergötzlichkeit nicht überschreite“<br />
(1686:78).<br />
Dem gläubigen Menschen wird hier seine Fähigkeit zum<br />
autonomen Handeln genommen. Zwar hat er eine Entscheidungsfähigkeit<br />
zum Guten oder Bösen, aber auf sich<br />
gestellt ist er unfähig zu guten Werken. Durch den Glauben<br />
an Gott kann er die Trinksituation bestehen. Mit Blick auf<br />
diese besonders dem Luthertum eigenen Innerlichkeit kann<br />
Gott sogar Sünden, die unbeabsichtigt passiert sind, vergeben.<br />
Es ist nur wichtig, ob sie beabsichtigt oder unbeabsichtigt<br />
geschehen sind. Zu diesem Zweck soll man sich<br />
nach einem Trinkabend nicht einfach zu Bett gehen, sondern<br />
vorsichtshalber noch einmal Gott anrufen, sich bei ihm<br />
bedanken und um Vergebung zufällig begangener Sünden<br />
bitten. Solches würde dann unser<br />
„lieber Vater verzeihen/ und was etwa den Tag in sein<br />
Register kommen/ nebst allen unsern andern Sündenschulden<br />
mit dem Blute seines allerliebsten Sohnes durchstreichen<br />
und vertilgen“ (1686:83).<br />
Mit dem Zweiten Adiaphoristischen Streit nehmen sich<br />
religiöse Erweckungsbewegungen vor allem des Trunkenheitsdiskurses<br />
an, die in der Frage seiner Sündhaftigkeit<br />
auf die alten Klassiker der Reformation aufsetzen. Die<br />
calvinische Prädestinationslehre führt direkt in Asketismus,<br />
indem sie auch intimste Lusthaftigkeit und Sinnesfreuden<br />
der Aufmerksamkeit Gottes unterwirft. Eine rigorose<br />
Verregelung des Alltags ist die Folge. Die lutherische<br />
Seite legt ihr Gewicht auf die Rechtfertigungslehre und<br />
vergibt dem gläubigen Trinker seine Ausschweifungen als<br />
kindliche Unschuld. Der dunkle Calvinismus ist zugleich<br />
rational und unbarmherzig. Hier gibt es nichts zu vergeben.<br />
Wer sich unter calvinischer Diktion der Trunkenheit ergibt,<br />
beweist, daß er zur Verdammnis prädestiniert ist. Gleichzeitig<br />
geben die festen Regeln ein Netz zur Unterstützung<br />
maßvollen beherrschten Trinkens. Dem Lutherismus ist<br />
diese Verregelung fremd. Er läßt den Volkssitten viel Freiraum<br />
und interveniert erst bei deutlicher Auffälligkeit. Es ist<br />
dieses aber nicht die einzige Trennlinie zwischen Calvinismus<br />
und Lutherismus. Ebenso die Fragen nach dem Tanzen,<br />
Kartenspielen und Kommödienspielen und sogar Singen<br />
und Sprechen wurden wieder bedeutsam. Immer neigt<br />
der calvinische Ansatz zum Verbot oder zur Verregelung<br />
solcher sinnlicher Freuden. Und es ist auffällig, daß die<br />
meisten dieser Fragen auch in der heutigen Suchttheorie<br />
eine entscheidende Rolle spielen.<br />
Als erstes Charakteristikum soll deshalb gelten, daß der<br />
adiaphoristische Diskurs die sinnlichen, spontanen Affekte<br />
einer rationalen Kontrolle unterwirft. Überschreiten des<br />
rationalen Maßes gilt ihm als sündlich, zumindest unangemessen.<br />
Der Soziologe Norbert Elias verwies darauf, daß<br />
in der westlichen Zivilisation dieses Überschreiten mit<br />
Scham belegt wird. Weil der adiaphoristische Diskurs Mitteldinge<br />
mit Rationalität belegt, will er sie auch gleichzeitig<br />
als vernünftig behandelt wissen: das Individuum kann sich<br />
nun in bestimmbaren Grenzen vernünftig verhalten. Wichtiger<br />
ist aber, daß durch diese Einschränkung Außenbereiche<br />
entstehen, die unvernünftig sind. Sinnlichkeit degeneriert<br />
im Laufe dieses Prozesses tendenziell zu Unvernunft...<br />
und das Individuum lehnt im Umkehrschluß die<br />
Verantwortung für sinnliche Handlungen ab. Ein Graubereich<br />
entsteht.<br />
Als zweites Charakteristikum soll die Einschränkung gelten,<br />
daß die unterschiedlichen Fraktionen des Protestantismus<br />
unterschiedliche Lösungen für dieses Dilemma anbieten.<br />
Während die Lutheraner diese sinnlichen Grauzonen<br />
zwar kenntlich machen, aber nicht sonderlich stark sanktionieren,<br />
umgrenzen die Calvinisten den Garten sinnlichen<br />
Glücks mit hohen Zäunen. Die im nächsten Kapitel dargestellten<br />
Polizeiordnungen zeigen deutlich die soziale Verregelung<br />
des individuell nicht mehr Beherrschbaren. Gleichzeitig<br />
wirkt die Einflußnahme nach innen: Die Menschen in<br />
reformierten Gegenden werden insgesamt reservierter und<br />
affektarmer. Und insgesamt glauben die Menschen im<br />
christlichen Europa, sich auch an diesen Gegensatz der<br />
Körpersprache nonverbal erkennen zu können. Körpersprache<br />
wird im Laufe dieses Kulturprozesses zum Merkmal<br />
regionaler und religiöser Zugehörigkeit.<br />
Die juristische Konstruktion des Kontrollverlustes<br />
Fest steht, daß beginnend im 16. Jahrhundert und zunehmend<br />
im 17. Jahrhundert eine Ansicht Verbreitung findet,<br />
nach der ein Trunkenbold seine Entscheidungsfähigkeit<br />
gegenüber dem Konsum von Bier und Wein verliert. Diese<br />
Ansicht setzt sich besonders in den sogenannten asketischen<br />
Richtungen der Reformation durch. Diese Richtungen<br />
entwickeln Max Weber zufolge einen besonders frühen<br />
und starken Individualisierungsschub. Es soll hier nicht<br />
weiter auf dessen theologischen Hintergrund eingegangen<br />
werden, sondern kurz deren juristische Folgen aufgezeigt<br />
werden.<br />
Als Quellen dienen mir Polizei- und Reichstagsordnungen<br />
der damaligen Zeit. Die evangelischen Gemeinde-, Kirchen-<br />
und Polizeiordnungen dokumentiert E. Sehling (Hrsg.)<br />
in „Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts“.<br />
Dort finden wir Maßnahmen zum Einschränken<br />
des Bier- und Weintrinkens. Diese Regeln beziehen sich<br />
auf die Menge, die getrunken werden darf, auf die Art des<br />
Trinkens, ob zugeprostet oder zum Trinken genötigt werden<br />
darf usw. Meist zeigt sich folgendes Bild: Lutherische<br />
Ordnungen reglementieren das Gemeindegeschehen weit<br />
weniger als calvinische Ordnungen. Im Calvinismus finden<br />
wir deshalb auch umfangreiche Verregelungen des Zechens<br />
und abendlichen Trinkens. Meist herrschen recht<br />
klare Vorstellungen über die Schließungszeiten der Wirtshäuser<br />
und den Umfang des erlaubten Trinkens. Nie habe<br />
ich allerdings direkte Trinkverbote gefunden. In seiner<br />
Arbeit „Vom Recht der Trunkenheit“ faßt Heinrich Bode<br />
1726 die Gesetze zusammen. Dort zitiert er den Reichstag<br />
zu Speyer von 1570:<br />
„Es soll durch den Feld-Marschalch in allen Mißhandlungen,<br />
so voller Weise durch Herren, Junckern, Knecht,<br />
Groß- oder Kleinhauß geschehen, und straffbar sind, die<br />
Trunckenheit zu keiner Entschuldigung oder Milderung<br />
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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
der Strafe angezogen oder angesehen, sondern vielmehr<br />
solche Verbrechung desto schärffer, schwerer, auch gedoppelt<br />
gerechtfertigt, und gestrafft werden, cum quibus<br />
convenit ordin. Cur. ittb. part. 3. tit. 25. Es soll in Schmach<br />
und Schläghändeln der Trunckenheit zu keiner Entschuldigung<br />
verdienter Strafe fürgewandt und angenommen,<br />
besondern gedoppelt und gestalt gestrafft werden, daß<br />
männig verstehen möge, daß die Trunckenheit nicht die<br />
wenigste Ursach der erkandten Straff gewesen“ (s.Bode<br />
1726: 39f.).<br />
Faßt man die Polizeiordnungen und Erlasse des 16. Jahrhunderts<br />
zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: Über<br />
Polizeiordnungen versuchen die städtischen Administrationen<br />
Ordnung zu schaffen. Sie errichten kommunale Interventionssysteme,<br />
die auf rechtlicher Grundlage und aufbauend<br />
auf den Stand der damaligen Wissenschaften,<br />
allen voran der Theologie, die Sitten und Regeln in den<br />
Schankstätten und auf Festen schärfer definieren. Augenscheinlich<br />
halten sie ein trunkenes Individuum immer noch<br />
für strafmündig, jedenfalls ist Trunkenheit kein Grund zur<br />
Milderung von Strafen, im Gegenteil, sie sollen ‘gedoppelt’<br />
werden. Im 17. Jahrhundert kehrt sich das langsam um.<br />
Auch zu dieser Zeit schaffen reformatorisch gesinnte Polizeiordnungen<br />
in erster Linie Ordnung unter einem trunkenen<br />
Volk, aber der Tenor ändert sich langsam. Im 18.<br />
Jahrhundert kommt aber neben den Kampf gegen akute<br />
Trunkenheit auch einer gegen chronische Trunkenheit. So<br />
findet man in der Pfalz unter Christian dem Vierten eine<br />
Verordnung gegen das Laster der Trunkenheit. Zwar kehren<br />
hier die schon bekannten Ausschanksbeschränkungen<br />
wieder und fortgesetzte Auffälligkeit konnte mit „zeitlichund<br />
ewiger Gefängnuß, Karren-Strafe oder Landes Verweisung“<br />
geahndet werden, aber auch Entmündigung war<br />
juristisch möglich. Augenscheinlich hatte man zu dieser<br />
Zeit schon Vorstellungen von einem mangelnden individuellen<br />
Kontrollverhalten und eingeschränkter Geschäftsfähigkeit<br />
chronischer Trinker. Jedenfalls waren die Gefängnisse<br />
jener Zeit voll von Trinkern, ein Eindruck, den Freiherr<br />
von Seld noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts bestätigen<br />
konnte. Allerdings war die ‘juristische Behandlung’ von<br />
Trinkern auch in Zusammenhang mit der Beurteilung einer<br />
Straftat unter Alkoholeinfluß zu sehen. Die alkoholinduzierte<br />
Straftat war als Denkmodell noch nicht bekannt und man<br />
sah noch keinen Grund, die Eigendynamik einer bösen Tat<br />
zugunsten des Täters auszulegen. Auch der göttliche Wille<br />
zum Bösen in der Welt nahm den Menschen nicht die Last<br />
der Strafe. Somit brachte die Jurisprudenz auch keine<br />
Neuerung in der Beurteilung der Trinker; jene ging erst von<br />
einer Medizin aus, die allerdings zuvor ihre Grundlagen<br />
völlig erneuern mußte.<br />
Die medizinische Konstruktion des Kontrollverlustes<br />
Parallel zu den theologischen und juristischen Standpunkten<br />
gab es mehrere Versuche, diese Deutungsmuster ins<br />
Medizinische zu übersetzen. Immer stehen dabei die Mediziner<br />
in bestimmten geistigen Traditionen, und meist war<br />
diese geistige Position den Medizinern auch bewußt. Vor<br />
allem aber ist eine erstaunliche Ungleichzeitigkeit im Fortschritt<br />
medizinischer Theorie zu beobachten. Nicht an allen<br />
geistigen Zentren beschäftigt sich die Medizintheorie mit<br />
Neuem, mit fortschrittlichen Ideen, meist nimmt sie sogar<br />
Gegenpositionen ein. Ein Hinweis, daß die Säkularisierung<br />
ein Prozeß war, der von der Weltdeutung vorangetrieben<br />
wurde und seine Kräfte vor allem aus der Theologie in<br />
unterschiedlicher Intensität bezog. Eine solche Quelle war<br />
der calvinische Pietismus, wie wir ihn bei Gisbert Voet<br />
finden, und die Philosophie Descartes’, besonders sein<br />
Werk über den Menschen. Der Arzt, der sein kurzes Leben<br />
nutzte, diese Systeme in einem umfangreichen Werk zusammenzufügen,<br />
war Cornelius Bontekoe, alias Dekker. Er<br />
schrieb um die Mitte des 17. Jahrhunderts in den Niederlanden<br />
ein umfangreiches Werk über eine neue Art, den<br />
Menschen und seinen Organismus zu verstehen. In aller<br />
Kürze war diese von Bontekoe entwickelte sogenannte<br />
‘Cartesische Medizin’ materialistisch: Der Blutkreislauf erzeuge<br />
einen Nervensaft, der wiederum einzelne Muskeln<br />
aufpumpe und dadurch Bewegung erzeuge. Die Sinnesorgane<br />
würden den Nervensaft je nach äußerer Erregung in<br />
bestimmte Richtungen leiten. Zusammen mit seinem Kollegen<br />
Blancaard verfaßte er zahlreiche Bücher über Drogen;<br />
die Drogen der damaligen Zeit waren Tee, Kaffee,<br />
Nikotin und Alkohol.<br />
Um die einzelnen Positionen exemplarisch darzustellen,<br />
beginne ich mit dem Calviner Bontekoe. Er entwickelt die<br />
ausgereiftesten Vorstellungen einer individuellen Krankheit<br />
„Trunkenheit“. Er nennt sie<br />
„eine Kranckheit des Gehirnes/ und der daraus entstehenden<br />
Empfindung/ die Niemanden als muthwilliger<br />
Weise aus eigener Schuld zustösset: und ist sich zu<br />
verwundern/ daß die Menschen/ ohnerachtet sie ohne<br />
dem den Kranckheiten unterworffen/ und solchen abzuwehren/<br />
Mittel und Sorge genug von nöthen haben/<br />
dennoch eine Gewohnheit machen sich Tag vor Tag<br />
kranck/ oder wie man es zum Unterschied nennet/ truncken/<br />
toll/ und voll zusauffen“ (Bontekoe 1685:198).<br />
Der Krankheitsverlauf sei nicht schlagartig, sondern verlaufe<br />
in Phasen.<br />
„Aber vor der Trunckenheit gehe einige Umbstände noch<br />
her/ welche gleichsam die Leitern seyn/ wobey man<br />
aufsteiget/ ehe der Leib gantz eingenommen wird; und<br />
dieses seyn die Lustigkeit und Fröligkeit/ neue Stärcke/<br />
die Ersinnung allerley Gedancken/ die Veränderung der<br />
Gemüths-Bewegung/ und die Anleitung zu unterschiedenen<br />
Ausgrüblungen.“ (ders. :202).<br />
Die Bontekoe’schen Definitionen verweisen unverkennbar<br />
auf calvinische Grundlagen. Doch trotz der theologischen<br />
Ausrichtung hat die Trunkenheit bei ihm Krankheitsstatus,<br />
denn<br />
„diß ist das zweyte/ das man aufmerken muß/ daß nemlich<br />
die Trunckenheit eine Kranckheit ist gleich wie der Schlag<br />
und Paralysis, wobey noch drittens kommt/ daß sie eine<br />
Ursache ist/ vieler anderen Kranckheiten/ als des Steins/<br />
der Gicht/ Fieber/ und eines frühen und schweren Alters/<br />
ja zuweilen eines gar gehlichen Todes; solcher Gestalt/<br />
daß viele in ihrer Trunckenheit mit Leib und Seele/ welches<br />
wohl zu bedencken ist/ umbkommen“ (ders. : 204).<br />
Dabei entwirft Bontekoe schon Indikatoren zur Beurteilung<br />
von Spiegelalkoholikern. Es gäbe Menschen, die<br />
9
Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
„sich an den Trunck gewehnen und sich nicht wohl befinden<br />
bis die Seele was naß gemachet worden“ (Bontekoe<br />
1685:208). Sein Freund und Mitstreiter Stephan Blankaard<br />
fordert die Bevölkerung zur Abstinenz von alkoholischen<br />
Getränken auf und ist sich sicher, daß das Paradies<br />
auf Erden entstehe, wenn die Gemeinden erst alkoholische<br />
Getränke verbieten würden (s. Blankaart 1707).<br />
Den letzten Schliff an diesem Modell individueller Alkoholkrankheit<br />
legt Heidenreich Overkamp 1705. Er beschreibt<br />
detailliert Einflüsse für eine Disposition zur Trunkenheit.<br />
Diese Einflüsse beziehen sich auf die natürliche Umwelt,<br />
aber auch auf pränatale Bedingungen. Zu Beginn des 18.<br />
Jahrhunderts schildert er Wandlungen der psychischen<br />
Konstitution infolge akuter Alkoholintoxikation:<br />
„Hiermit kommen wir nun zu den schmauß-brüdern/ versoffenen<br />
fliegen und trunckenbolden/ oder mit kurtzen/<br />
die ihr leben und gesundheit/ in wein/ bier oder brantewein<br />
versauffen. Diese gesellschafft ist von so unterschiedener<br />
natur und art/ daß jede zu beschreiben oder zu<br />
erzehlen unmöglich ist. Dann der sich nüchtern vor einer<br />
todten mauß gefürchtet/ will nun in der vollheit sich rauffen<br />
und schlagen. Ein anderer/ der sonst wie ein stock gesessen/<br />
und das maul nicht auffgethan/ will zu reden nicht<br />
aufhören“ (Overkamp 1705:137f.).<br />
Die verschiedenen psychischen Reaktionen der Trinker<br />
auf Alkohol erregen Overkamps Interesse, da augenscheinlich<br />
diese auch unterschiedlichen Gefahren ausgesetzt<br />
sind. Er unterscheidet drei Einflüsse, die den Menschen<br />
prägen. Diese sind zumindest frühkindlich, meist aber<br />
pränataler Natur.<br />
„Unserer geburt nach/ sind wir alle von einander unterschieden/<br />
hernach auch in der aufferziehung/ auch dem<br />
lande nach/ darinnen wir wohnen; wie denn diese drey<br />
allen unsern gliedmassen eine sonderliche art eindrücken/<br />
die so fort ihren sitz in unterschiedlicher bewegung/<br />
und zustand des bluts behält/ wie solches auch fermentiret/<br />
oder in diese und jene mixtur gesetzet ist: Aus diesen<br />
werden hernach die sonderlichen geister gesondert/ und<br />
giebt ein subtiles blut flüchtige/ ein schweres und dickes<br />
aber schwere geister und säffte“ (Overkamp 1705:138f.).<br />
Die frühen Einflüsse bewirken demnach unterschiedliche<br />
somatische Konstitutionen, die wiederum Unterschiede in<br />
der Verarbeitung alkoholinduzierter Zustände bewirken.<br />
Besondere Bedeutung kommt der pränatalen Lebensphase<br />
zu. Ab der Zeugung und vor der Geburt gehe das Kind<br />
eine Symbiose mit der Mutter ein. Je nachdem, was stärker<br />
sei, das Ei oder Sperma, werde das Kind ein Mädchen oder<br />
ein Junge, präge sich die Natur der Mutter oder des Vaters<br />
stärker ein. Aber stärkere Gefühlseindrücke während der<br />
Schwangerschaft hätten auch bleibenden und formenden<br />
Einfluß auf das Kind, da es noch wachse und alles noch<br />
weich und formbar sei.<br />
„Hingegen die mutter/ welcher nerven schon gehärtet und<br />
nicht beyglich/ wie in der frucht/ empfindet keine solche<br />
veränderung des gehirns/ sondern läst allmählig die betrübnis<br />
fahren/ und den mann begraben seyn; sonderlich<br />
wenn sie keine noth hat“ (Overkamp 1705: 140).<br />
Die psychische Prädisposition beruht demnach auf somatischen<br />
Anpassungsreaktionen des Kindes. Jene können<br />
allerdings recht unterschiedlicher Natur sein.<br />
„Also wenn die mutter bey dem schwer-gehen etwan<br />
wegen hintritt ihres mannes ihren lustigen humeur verändert/<br />
lebt bekümmert und betrübt/ so wird dessen die<br />
frucht theilhafftig/ und bekommt solche davon zur nahrung<br />
ein schweres blut/ woraus hernach auch dergleichen<br />
schlechte geistige säffte geschieden werden: Nach dieser<br />
regung und bewegung aber wird das gehirn gestaltet<br />
und maniret/ weilen die nerven zu der zeit noch weich<br />
sind/ und den lauff der geistigen säffte folgen/ oder nach<br />
denenselben sich beugen und krümmen müssen“ (Overkamp<br />
1705:140).<br />
Nach der Geburt kämen erzieherische Familieneinflüsse<br />
als prägend und formend hinzu.<br />
„Es ist aber der kinder gehirn beuglich wie wachs/ alle<br />
gliedmassen sind weich/ und können in jenes allerley<br />
dinge leicht eingedrucket/ und diese hingegen nach willen<br />
gewendet oder gewöhnet werden/ worinnen dann es bey<br />
dem alten sprüchwort bleibt: Wie die alten sungen/ so<br />
zwitschern die jungen [...] Dann die kinder ahmen alles<br />
nach/ reden wie ihre vorgesetzten/ lernen auch also<br />
gehen/ und gewöhnen sich ihre maniren an“ (Overkamp<br />
1705:141).<br />
Wir sehen, auch die sozialen Einflüsse durch Erziehung<br />
oder Milieu haben im Kind einen somatischen Niederschlag.<br />
Selbst die Gewohnheit versteht Overkamp noch als<br />
langsame Formung von Nerven- und Blutadern. Für ihn ist<br />
alles, jede menschliche Handlung, verstehbar aus somatischen<br />
Grunddispositionen.<br />
Der letzte wesentliche Einfluß, der Menschen forme, sei die<br />
natürliche Umwelt.<br />
„Das land/ darinnen wir wohnen/ verändert zum dritten<br />
gleicher gestalt/ mehrentheils den leib/ und die lufft/ so<br />
sich unter das geblüte mengt/ machet auch einen grossen<br />
unterscheid bey den leuten. Denn ob wir wohl speiß und<br />
tranck nach unserer natur anzuordnen wissen/ so gehet<br />
es doch mit der lufft nicht an/ und wenn wir diese meiden<br />
wollen/ müssen wir gar das land räumen. Weil denn nun<br />
die lufft uns so nothwendig und von uns eingezogen<br />
werden muß/ solche aber sehr unterschiedlich / als verursachet<br />
selbige so mancherley fermentationes in dem<br />
geblüt/ und nach solchen sondern sich auch die geister/<br />
nach welchen alle actiones ihre veränderungen haben“<br />
(141).<br />
Diese somatischen Grundkonstitutionen hätten dann erhebliche<br />
Auswirkungen sogar auf die Kultur. Overkamp<br />
gibt uns ein Beispiel. Franzosen hätten dünne Luft; sie<br />
mache ein fröhlicheres Gemüt als bei den Holländern.<br />
„Nemlich jene lufft erhält die geister effervescenz und<br />
dadurch bleiben die höhlgen im gehirn geöffnet/ daß die<br />
geistigen säffte desto eher ungehindert verführet werden/<br />
die nerven auffspannen/ und alle glieder schnell bewegen.<br />
Darum singen/ tantzen und springen die Frantzosen<br />
stets [...] welches die Holländer hingegen und andere mit<br />
einem trunck wein zuwege bringen/ weil denn darvon<br />
geschrieben stehet: Der wein erfreuet des menschen<br />
hertz“ (142).<br />
Wichtig ist für Overkamp aber mehr eine Klassifikation<br />
10
Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
individueller Prädispositionen. So kämen furchtsame Menschen<br />
meist aus der Geburt von einer furchtsamen Mutter<br />
mit schwachem Verstande.<br />
„Dafern aber ein solcher verzagter mensch den wein in<br />
kopff kriegt (...) so fängt das geblüte an zu fermentiren und<br />
zu wallen/ es werden die geister häuffig abgesondert“(143).<br />
Overkamp bleibt aber nicht bei einer Aufreihung von Einzelfällen<br />
stehen, sondern sucht nach einer allgemeinen Erklärung<br />
für alkoholinduzierte Verhaltens- und Befindlichkeitsstörungen.<br />
Diese plaziert er in somatischen Ursachen. Die<br />
psychischen Änderungen seien demnach nur Reaktionen<br />
auf somatische Dispositionen. Die Psyche oder Seele<br />
bekommt sozusagen körperliche Fehlinformationen, da ihr<br />
Kontakt zur realen Welt über Sinnesorgane geschieht.<br />
„Denn die geister mit dem wein veriniget/ eröffnen die hirnhöhlen/<br />
vertheilen sich in den gantzen leib/ spannen<br />
nerven und mäußgen auff; wenn nun diß, als eine ungewöhnliche<br />
Krafft/ die seele bemercket/ dencket sie nicht<br />
mehr in einem ohnmächtigen leibe zu wohnen/ sondern<br />
bildet sich Simsons stärcke ein/ und auff solche sich als<br />
unüberwindlich verlassend/ scheuet sie weder furcht noch<br />
todt“(143).<br />
Augenscheinlich hat der Arzt Erfahrungen mit bestimmten<br />
Berufsgruppen gemacht, denn ein Notar, dem die Glieder<br />
zittern,<br />
„muß erst die hand lernen wieder stille halten/ wenn er<br />
etwann ein testament wieder schreiben soll. Denn auff<br />
vieles brandtwein sauffen folget nach verlust der geister/<br />
welches hiervon geschieht/ ein dickes/ schwer- und<br />
schwachs blut/ wie solches zu sehen/ in deme dergleichen<br />
brandtewein-herrn gemeiniglich geschwollene beine<br />
und auffgelauffene gesichter haben: Wo nun nicht<br />
genugsame geister/ da ist auch keine gleichgewichtige<br />
auffspannung/ sondern ein zittern; derowegen müssen<br />
sich diese darnach des weins bedienen/ als welcher das<br />
schwere blut wieder rege macht und zum auffwallen<br />
bringt/ daß auch geistige kräffte können abgesondert/ und<br />
davon die hirn-röhren ernstlich erweitert werden/ wonach<br />
die geister einfliessen/ und seine gleichwichtige auffspannung<br />
sich wieder ereignet/ in gleichen die musculen ohne<br />
zittern sich gleichmäßig bewegen/ welches dann auch der<br />
brandtewein gleichfalls in etwas verrichten kan“ (146).<br />
Overkamp faßt diese vielen Beispiele zusammen mit dem<br />
Hinweis, daß alkoholische Getränke selbstverständlich<br />
Auswirkungen auf die Entscheidungsfähigkeit von Menschen<br />
haben. Aber der Leib sei wie eine „künstliche Maschine“<br />
und könne ohne Hilfe der Seele am Leben erhalten<br />
werden.<br />
„Wir haben auch oben leute angemercket/ die ihren sinn<br />
und verstand versoffen; es ist dieses nicht schlechthin zu<br />
verstehen/ denn der verstand ist mit der seele verbunden/<br />
und bestehet in keinem cörperlichen wesen: Also meinen<br />
wir nur die gestalt des gehirns/ oder die werckzeuge der<br />
vernunfft und sinnen/ die durch vieles sauffen zerbrochen/<br />
verderbet und unbequem werden“ (148). Diese Seele sei<br />
ein denkendes Wesen, aber kein Geist. „Also ist die<br />
einbildung nicht ein wesentlich stücke von der seele/<br />
sondern die vorstellung ist zugleich nöthig/ welche der<br />
geist erkennet/ [...] Diese vorbildung aber wird vermittelt<br />
der hirn-nerven der seele vorgetragen“ (150).<br />
Die Seele bringt also nichts Eigenes mit, sondern nur, was<br />
sie über den Körper und seine Sinnesorgane empfängt.<br />
Ihre Aufgabe ist deshalb mehr die einer beurteilenden<br />
Instanz,<br />
„wir sagen daher/ daß das sensorium commune die seele<br />
selber sey/ indem diese allein empfindet und fühlet“ (151).<br />
Faßt man die Befunde zusammen, dann wird deutlich, daß<br />
um 1700 im calvinischen Lager eine Medizin entsteht, die<br />
ein damals neues Modell individueller Alkoholdisposition<br />
entwickelt. Trotz individueller Neigung ist der Auslöser der<br />
Symptomatik die alkoholische Substanz. Zwar reagieren<br />
Menschen unterschiedlich schwer, aber die somatische<br />
Wirkung von Alkohol sei grundsätzlich bei allen gleich. Er<br />
entfalte eine selbständig verlaufende Krankheit; er sei<br />
förmlich eine eigene Krankheit mit eigener Symptomatik.<br />
Diese sei stufenweise progredient und führe in ihrer Schlußphase<br />
zu Fehlverhalten. Sowohl die körperlichen als auch<br />
die kognitiv-sinnlichen Fehler könnten vor allem im fortgeschrittenen<br />
Stadien nur noch durch erneute Gaben von<br />
alkoholischen Getränken korrigiert werden. Das Bedürfnis<br />
der Trinker nach erneutem Alkoholkonsum ist demnach<br />
Reflex der somatischen Fehldisposition. Damit ist die Grundlage<br />
für eine Theorie körperlicher und seelischer Alkoholabhängigkeit<br />
in ihren Grundzügen fertig.<br />
Die Medizin auf lutherischer Seite hat nichts Vergleichbares<br />
zu bieten und widerspricht sogar den Grundlagen der<br />
Cartesischen Medizin. Georg Ernst Stahl glaubt, daß die<br />
Seele eine Krankheit auslösen könne und führt die veraltete<br />
Humoralmedizin wieder in Deutschland ein; Friedrich<br />
Hoffmann opponiert gegen die Abstinenzdroge Tee und<br />
kreiert Wein als Heilmittel. Selbst ein Werk von Phillip<br />
Samuel Horn von 1747, ganz dem Thema Trunkenheit<br />
gewidmet, kennt kein eigenes Krankheitsbild Trunkenheit,<br />
sondern konzentriert sich auf die Unterscheidung von Gebrauch<br />
und Mißbrauch von „spirituösen Getränken“. Der<br />
Gebrauch ist, wenn<br />
„nach physiologischen Gründen auf eine Prickelung derer<br />
festen Theile, ein Zusammenziehen derselben erfolget,<br />
hiedurch aber ihre Spannung und Action vermehret wird,<br />
so lässet sich hieraus abnehmen, wie der Körper auch<br />
durch dessen äusserlichen Gebrauch gestärcket, und<br />
warum der Brandwein bey vorhandener Schwäche sowol<br />
derer Augen, als auch anderer Gliedmaßen, mit Nutzen<br />
appliciret werde“ (Horn 1747:10).<br />
Trunkenheit sei demnach ein temporärer Zustand. Dieser<br />
wird von Horn noch in Klassen unterteilt, hat aber keine<br />
eigene pathologische Dynamik. Die um 1750 im deutschsprachigen<br />
Raum herrschende Definition ist simpel:<br />
„Inzwischen ist doch dieses gewiß, daß, „wenn auf des<br />
Trincken eine Trunckenheit erfolget, man zuviel getruncken,<br />
und die Maaße dabey überschritten habe“ (25f.).<br />
Somit erscheint der erste Grad der Trunkenheit auch noch<br />
eher positiv als „Spitzgen“. Erst danach entstehe ein „wirklicher<br />
Rausch“. Bei Horn wird nun auch die Stahl’sche<br />
Humoralpathologie sichtbar, die die Cartesische Medizin<br />
noch bekämpft hatte. Der zufolge sollen sich die vier<br />
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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
Grundcharaktere unterschiedlich auf den Rausch auswirken.<br />
Diese merkwürdige Zurechtbiegung natürlicher und<br />
sozialer Vielfalt hat in Deutschland ihren Einfluß noch bis in<br />
das 20. Jahrhundert erhalten können. Bei Horn gegen Mitte<br />
des 18. Jahrhunderts taucht noch der Begriff der Gewöhnung<br />
auf. Allerdings gebraucht er ihn positiv im Sinne einer<br />
Abhärtung gegen Alkoholika.<br />
Ebenso argumentiert Samuel Schaarschmidt zur selben<br />
Zeit. Auch er hat die Vorstellung, daß Menschen sich an<br />
Wein, Branntwein und starke Biere gewöhnen und sie<br />
ihnen dann weniger schadeten. „Ein Rausch ist gemeiniglich<br />
eine durch Kunst hervorgebrachte, und nur gewisse Zeit<br />
dauernde Narrheit eines sonst vernünfftigen Menschen,<br />
und hat bekanndtermassen seine Stuffen“(52). Die unterste<br />
Stuffe der Trunkenheit ist ihm ebenfalls positiv. Er nennt<br />
sie liebevoll: „ein christlich, oder Jesuiter-Räuschgen“ (Schaarschmidt<br />
1743:54) Es solle alle Monate zur Gesundheit<br />
dienen. Brechen, Schwitzen und Laxieren würden die Unreinigkeiten<br />
aus dem Körper ausscheiden.<br />
Fassen wir die Funde zusammen, dann ergibt sich folgende<br />
Polarisierung: Die adiaphoristischen Streitigkeiten führen<br />
zu einer Verhärtung und Polarisierung der protestantischen<br />
Richtungen der evangelischen Kirche. Aber auch<br />
auf wissenschaftlichem Gebiet haben diese klareren Fassungen<br />
Auswirkungen. Im Schoße der Reformierten Kirche<br />
in den Niederlanden entsteht eine materialistische Medizin,<br />
die sich von der sonst üblichen Humoralmedizin absetzt.<br />
Diese materialistische Medizin revolutioniert das Verständnis<br />
von der Funktion des menschlichen Körpers, indem sie<br />
ihn als Maschine beschreibt. Sie versucht dadurch, menschliches<br />
Handeln allein aus den Körperbewegungen und -<br />
berührungen mit Materie zu deuten. Darin finden wir Spuren<br />
der Prädestinationslehre: Dem Menschen kommt hier<br />
nicht die Freiheit im Handeln zu. So auch die Hinweise auf<br />
langfristige Zwanghaftigkeit bei Alkoholkonsum. Auch hier<br />
schlägt die Sündhaftigkeit des Trinkens in die medizinische<br />
Beurteilung durch und gibt Anlaß zur absoluten Verdammnis,<br />
eben zur Vorherbestimmung des Trinkerschicksals.<br />
Ebenfalls finden wir eine asketische Orientierung in den<br />
calvinisch-medizinischen Modellen zum Trinken, die dem<br />
Luthertum fremd ist. Aber die Ursache der Trinkerkrankheit<br />
ist doch ganz in die Substanz, in die alkoholischen Getränke<br />
gelegt.<br />
Ganz anders reagiert das Luthertum. Hier haben alkoholische<br />
Getränke keine Wirkung über die akute Intoxikation<br />
hinaus. Ihr übertriebener Dauerkonsum mache zwar krank,<br />
aber dem Zustand wird keine Wirkung über die eigentliche<br />
Trunkenheit hinaus zugeschrieben. Weder der lutherische<br />
Pietismus noch die lutherischen Mediziner können ein<br />
Modell chronisch-zwanghafter Trunkenheit vorlegen. Deshalb<br />
muß hier die dauerhafte Auffälligkeit ganz in die Seele<br />
verlegt werden, also wieder zur theologischen Frage werden.<br />
Somit ist die Behandlung der Trunkenheit im Luthertum<br />
auch Aufgabe der Seelsorger, später der Psychologen.<br />
Die beiden Positionen lassen sich heute noch in den<br />
eigenartigen Gegensätzen der Guttempler und der Anonymen<br />
Alkoholiker finden. Erstere glauben an die grundsätzliche<br />
Schädlichkeit des Alkohols, zweite glauben, daß<br />
Trinker prädisponiert seien und die Frage der Kontrolle<br />
ohnehin nur mit Gottes Hilfe zu lösen sei: unverkennbar die<br />
lutherische Position Scrivers. Noch heute bestimmen die<br />
beiden gegensätzlichen Positionen in ihrer Reinform den<br />
eigenartigen Gegensatz von Sucht- und Abhängigkeitstheoretikern,<br />
der allerdings in der gegenwärtigen Drogendiskussion<br />
kaum wahrgenommen wird. Trotzdem haben beide<br />
Positionen erhebliche Auswirkungen auf die Praxis. Das<br />
Abhängigkeitsmodell wird in der Regel benutzt, um die<br />
Verbotspolitik bestimmter Drogen zu legitimieren: Sie sollen<br />
grundsätzlich abhängig machen. Das Suchtmodell hingegen<br />
findet mehr Anwendung auf die Alkoholika, die<br />
angeblich nur besonders disponierte Menschen süchtig<br />
machen. Ebenfalls lassen sich die Unterschiede noch in<br />
sprachlichen Nuancen finden. In den Niederlanden, dem<br />
Herkunftsland der Abhängigkeitstheorie, beschreibt man<br />
drogengebrauchende Menschen als ‘versklavt’ an der Substanz,<br />
geht als ganz von einer Substanzwirkung aus. Bei<br />
uns in Deutschland heißen sie ‘süchtig’. Man geht demnach<br />
mehr von einem aktiven, allerdings pathologischen, <strong>Beitrag</strong><br />
des Dauerkonsumenten aus. Allerdings führt die heutige<br />
Vermischung beider Modelle auch zu der paradoxen<br />
Situation, daß illegale Drogen strafrechtlich sanktioniert<br />
werden, während der Schaden durch legale Drogen wie<br />
Alkohol, Nikotin, Kaffee und wohl auch Tabletten ungleich<br />
höher ist.<br />
Beiden Modellen gemeinsam ist die Pathologisierung von<br />
Verhaltensabweichungen, also von Normenverstößen. Sie<br />
markieren damit das Niveau der sozialen Kontrolle und den<br />
damit korrespondierenden Vorstellungen von Selbstkontrolle.<br />
Die Normenverstöße waren zuvor theologischen<br />
Charakters und beschrieben etwas, was nicht von der<br />
unmittelbare Substanzwirkung hinausging. Durch die Übernahme<br />
der Deutungsmuster durch die Medizin bleibt dieses<br />
Mehr als nur die eigenliche Substanzwirkung erhalten,<br />
auch die Medizin fühlt nach dieser Neudeutung in der Lage,<br />
Normenverstöße zu beschreiben. Sucht oder Abhängigkeit<br />
geht über die Meßbare somatische Natur akuter oder<br />
chronischer Intoxikation hinaus.<br />
Die wirkliche Bedeutung als Kulturprozeß erhält dieser<br />
gesellschaftliche Vorgang, weil nun die ‘soziale Konstruktion<br />
von Wirklichkeit’ einen somatischen, biologischen Faktor<br />
in sich integriert hat. Normenverstöße sind nach Abschluß<br />
diese Prozesses pathologisch beschreibbar und die<br />
Wirklichkeit ist rationaler geworden als zuvor.<br />
Summary:<br />
The essay gives a view of different scientific approaches<br />
towards the explanation of unsusual drinking behaviour<br />
since the reformation. It shows how the idea of compulsive<br />
behaviour in the individual is first developed in protestant<br />
theology and is later shared by physicans (or medical<br />
doctors). The central thesis of the essay says that the<br />
distinction between the terms ‚dependency’ and ‚addiction’<br />
results from the fact that both therms have originated from<br />
different theological sources.<br />
12
Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
GESICHTETE LITERATUR:<br />
Ammersbach, H. 1664: Teutscher Vielfraß/ Des Teufels<br />
Leibpferd/ oder Christliche Betrachtung/ Darinn der itztgen<br />
letzten Freß- und Sauff-Welt treulich gezeiget wird. Jena.<br />
Anonyme Alkoholiker 1983: Ein Bericht über die Genesung<br />
alkoholkranker Männer und Frauen. New York.<br />
Blankaart, S. 1690: Von Würckungen Derer Arzneyen In<br />
dem Menschlichen Leibe. Leipzig.<br />
Blankaart, S. 1699: Cartesianische Academie. Leipzig.<br />
Blankaart, S. 1705: Hanstus Polychresti Oder: Zuverlässige<br />
Gedancken/ Vom Thee, Chocolate, Coffee, und Taback.<br />
Hamburg.<br />
Blankaart, S. 1707: Nieuw-Ligtende Praktyk der Medicinen,<br />
Waar in getoond werd, dat alls ziekten een verdiktheid des<br />
bloeds en sappen zijn, een alleen uit zuur, zout en slym<br />
voorkomen. Amsterdam.<br />
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Bonn 1991.<br />
Bock H. o.J. (1550?): Der vollen Brüder orden. Ohne Ort.<br />
Bontekoe, C. 1680: Dialogue van een groote thee en<br />
tabaccqsuyper, over het wonderlijck hart gevecht voorgevallen<br />
in den Haag tusschen twee moedige Hanen en<br />
Schermers, Johan Fredericq Swetser, alias doctor Helvetius,<br />
en Mennoniste Kees alias Dr. Cornelis Bontekoe. O.O.<br />
Bontekoe, C. 1684: Korte Verhandeling van’s Menschen<br />
Leven, Gesondheid, Siekte, en Dood. Gravenhage.<br />
Bontekoe, C. 1685a: Kurze Abhandlung von dem Menschlichen<br />
Leben/ Gesundheit/ Kranckheit/ und Tod. In Verlegung<br />
Friedrich Arnst/ druckts Andreas Richter.<br />
Bontekoe, C. 1685b: Drie Verhandelingen, I.Over de Natuur.<br />
II.Over de Bevinding. III.over de Sekerheid in den<br />
Genees- en Heel-Kunde. Gravenshage.<br />
Bontekoe, C. 1685c: Een Brief Aan Jan Frederik Swetsertje,<br />
Gesworen vyand van alle reden en verstand, Hoofdlasteraar<br />
van de twee groote mannen Coccejus en Descartes.<br />
Amsterdam.<br />
Bontekoe, C. 1688: Kort En bondig Recept, Of Remedie<br />
tegens het Podagra. Tot Keulen.<br />
Bontekoe, C. 1689: Alle De Philosophische, Medicinale en<br />
Chymische Werken Van Den Heer Corn. Bontekoe. Amsterdam.<br />
Bontekoe, C. 1689a: Omwerp Van ‘t Oud-gestel der Medicyne:<br />
In: Bontekoe C.1689: Alle De Philosophische, Medicinale<br />
en Chymische Werken Van Den Heer Corn. Bontekoe.<br />
Amsterdam.<br />
Bontekoe, C. 1689b: Tractaat Van het Exellenste Kruyd<br />
Thee, Coffi En Chocolate. In: Bontekoe C. 1689: Alle De<br />
Philosophische, Medicinale en Chymische Werken Van<br />
Den Heer Corn. Bontekoe. Amsterdam.<br />
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Georg: Klassiker der Theologie. München 1981.<br />
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dem frühzeitigen Tod und allerhand Arten Kranckheiten<br />
Durch ordentliche Lebens-Art sich verwahren könne. Halle<br />
1715.<br />
Hoffmann, F. 1718: Gründliche Anweisung, wie ein Mensch<br />
Durch vernünfftigen Gebrauch der Haus- und andern Diätetischen<br />
Mittel/ insonderheit des Weins Seine Gesundheit<br />
erhalten/ und sich von schweren Kranckheiten befreyen<br />
könne. IV. Teil Halle.<br />
Hoffmann, F. 1735: Gründlicher Unterricht/ Wie ein Mensch<br />
nach des Gesundheits-Regeln der heil. Schrift und durch<br />
vorsichtigen Gebrauch weniger Außerlesener Artzneyen/<br />
[...] sein Leben und Gesundheit lang conserviren könne.<br />
Ulm.<br />
Hoffmann, F. 1742: Vernünfftige physicalische Theologie<br />
und gründlicher Beweis des Göttlichen Wesens. Halle.<br />
Hoffmann, F. 1696: Eigentliche Untersuchung Der Saeure<br />
13
Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg.24 2001 Nr. 3/4 <br />
und der Schleimes Worinnen die von denen hochberuehmten<br />
Doct. Bontekoe un Blanchard und andern mehr bisshero<br />
auffgefuehrte neue Lehr-Saetze gruendlich widerleget<br />
sind und hingegen behauptet wird Das nicht alle Kranckheiten<br />
und Gebrechen Menschlichen Leibes vom Saur und<br />
Schleim herruehen. Halle in Sachsen 1696.<br />
Horn, P. S. 1747: Abhandlung von der Trunckenheit. Stralsund,<br />
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ergetzen? Und obs schlechter dings eine Todt-Sünde sey/<br />
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Weber, O. 1986: Der Heidelberger Katechismus. Gütersloh.<br />
Korrespondenzadresse:<br />
Dr. Karl Wassenberg<br />
MISTEL - Hochschule Magdeburg-Stendal<br />
Archiv für Temperenz- und Abstinenzliteratur<br />
Brandenburger Straße 9-10<br />
39 104 Magdeburg<br />
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