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Originalarbeit S. 13 - 18 Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

Georg Augusta<br />

Anton-Proksch-Institut<br />

Die Droge und die Frage<br />

der Unentscheidbarkeit<br />

von Gabe und Gift<br />

(Mauss, Derrida, Lacan)<br />

Zusammenfassung<br />

Die Begriffe Gabe und Gift werden spezifisch verwendet:<br />

während Gabe einen wohlmeinenden Akt bezeichnet, ist<br />

mit Gift eine schädigende Substanz bezeichnet. Der<br />

gemeinsame Ursprung von Gabe und Gift ist verloren<br />

gegangen – im Althochdeutschen wurden Gabe und Gift<br />

synonym verwendet, eine spezifische Wirkung wurde<br />

nicht unterschieden.<br />

Anhand von drei Denkansätzen wird das Verhältnis von<br />

Gabe und Gift analysiert. Mauss findet in einigen archaischen<br />

Kulturen die Gabe, die zur Gegengabe verpflichtet,<br />

als Vorstufe zur Ökonomie des Austausches vor. Diese<br />

der Gabe inhärente Verpflichtung bezeichnet Derrida als<br />

das Gift, welches jeglicher Gabe eigen ist. Für Derrida<br />

muss die Gabe jenseits einer reinen Gabe ohne Eigennutz<br />

und jenseits einer zur Gegengabe verpflichtenden<br />

Gabe gedacht werden. Derrida denkt die Gabe daher als<br />

das Unmögliche. Zwischen Gabe und Gift besteht eine<br />

Unentscheidbarkeit (indécidable).<br />

Ein weiterer Ansatz, die Gabe zu denken, findet sich bei<br />

Lacan, der die Gabe in Verbindung mit der Liebe als<br />

„geben, was man nicht hat“ definiert. Liebe wird durch die<br />

Anerkennung eines Mangels im anderen ermöglicht.<br />

Ein Versuch, die Droge als Gabe zu denken, geht von<br />

der Zweideutigkeit des Begriffs Droge aus, der analog zu<br />

Gabe und Gift zu sehen ist. Die Droge ist sowohl Gabe<br />

und Gift zugleich, lediglich ihre phantasmatische Überhöhung<br />

bewirkt eine Verleugnung des „Gifts“, sprich der<br />

destruktiven Wirkung.<br />

Schlüsselwörter<br />

Gabe, Gift, Droge, Mauss, Derrida, Lacan<br />

1. Der gemeinsame semantische Ursprung von<br />

Gabe und Gift<br />

Der Begriff Gift erscheint uns in seiner Verwendung eindeutig.<br />

Als Gift bezeichnen wir eine Substanz, die, wenn<br />

sie dem Körper zugefügt wird, diesem schadet, also eine<br />

Substanz, die auf die Zerstörung bzw. die Vernichtung<br />

des Körpers ausgerichtet ist.<br />

Richten wir jedoch den Blick auf den semantischen Ursprung<br />

des Wortes Gift, sind wir nicht nur gezwungen,<br />

den Bedeutungskontext des Begriffs Gift zu hinterfragen,<br />

sondern auch die Selbstverständlichkeit, der wir in unserem<br />

„herkömmlichen“ Verständnis erliegen.<br />

Aus dem germanischen Wort „gefti“ formten sich im Althochdeutschen<br />

zwei Worte: „Gift“ und „Gabe“. Diese<br />

wurden gleichbedeutend verwendet und es wurde keine<br />

spezifische Unterscheidung bezüglich ihrer nützlichen<br />

bzw. schädlichen Auswirkung gemacht. Die spezifische<br />

Bedeutung von „Gift“ als schädliche Substanz wurde<br />

wahrscheinlich durch die zunehmende Verwendung des<br />

lateinischen dos (Gabe, Arzneigabe, Giftgabe), griechisch<br />

, im medizinischen Diskurs bewirkt. Ein anderer<br />

Grund für diesen Bedeutungswandel wird in der im<br />

Mittelalter verbreiteten Praxis der Tötung von Feinden<br />

durch vergiftete Getränke vermutet, wobei die Gabe der<br />

Gastfreundschaft zur tödlichen Gefahr werden konnte.<br />

Gerade bei den germanischen Stämmen war die höchste<br />

Gabe der Gastfreundschaft der Willkommenstrunk bzw.<br />

der kreisende Becher bei Festgelagen (vgl. Lintner 2006,<br />

S.37f). Die Änderung der Bedeutung wurde begleitet von<br />

einer Veränderung des Geschlechts: Gabe blieb Femininum,<br />

Gift wurde Neutrum: das Gift (Ausnahme bleibt „die<br />

Mitgift“). Der Begriff Gift im Sinne von Gabe wurde jedoch<br />

noch bis ins 19. Jahrhundert verwendet. 1 Reste der ursprünglichen<br />

Bedeutungseinheit von Gift und Gabe finden<br />

wir im Wort „Mitgift“, jener Gabe, die der Braut in die<br />

Ehe mitgegeben wird, oder im englischen Wort für Gabe:<br />

„gift“.<br />

Parallelen zur Ablösung des Begriffs Gift vom Begriff der<br />

Gabe finden sich aber nicht nur in der deutschen Sprache:<br />

Das englische „poison“ (Gift) und „potion“ (Arzneitrank)<br />

sowie das französische „poison“ (Gift) und „potion“<br />

(Arzneitrank) gehen auf das lateinische potio (Trank)<br />

zurück. Auch das griechische „Pharmakon“ bezeichnete<br />

ursprünglich sowohl die heilende wie die tödliche Arznei. 2<br />

Der berühmte Satz des Paracelsus kann uns als Orientierungspunkt<br />

dieser semantischen Wende dienen: „Jedes<br />

Ding ist Gift und kein Ding ist ohne Gift, allein die Dosis<br />

macht, dass ein Ding kein Gift ist“. Die Dosis bezeichnet<br />

im Griechischen die Gabe () im Sinne einer gemessenen<br />

Arzneimenge. Gabe und Gift können nach Para-<br />

1<br />

2<br />

Über die Entwicklung des Begriffs Gift vgl. „Deutsches Wörterbuch“<br />

der Gebrüder Grimm (1854/1960) http://germazope.<br />

uni-trier.de/Projects/WBB/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?le<br />

mmode=lemmasearch&word=gift<br />

Auf die Mehrdeutigkeit des Begriffs pharmakon weist Derrida<br />

in seiner Dekonstruktion des Begriffs pharmakon in Platons<br />

„Phaidros“ hin. Die Übersetzung von pharmakon mit „Heilmittel“<br />

ist demnach nicht grundsätzlich als falsch zu sehen, die<br />

Ambiguität des Begriffs pharmakon geht dadurch jedoch verloren.<br />

„Nichtsdestoweniger streicht die Übersetzung durch „(Heil)Mittel“<br />

im herausgehen aus der griechischen Sprache den anderen,<br />

im Wort pharmakon vorbehaltenen Pol aus. Sie annuliert die<br />

Ressource an Ambiguität und macht das Verstehen des Kontextes<br />

schwieriger, wenn nicht unmöglich. Im Unterschied zu<br />

„Droge“ und selbst noch zu „Arznei“ besagt (Heil)Mittel die<br />

transparente Rationalität der Wissenschaft, der die Berufung<br />

auf die magische Qualität einer Kraft, deren Effekte man nicht<br />

so richtig zu beherrschen weiß, einer dynamis, die für den, der<br />

sie als Herr und Subjekt in die Hand nehmen möchte, stets<br />

Überraschungen bereithält“ (Derrida 1995, S.108).<br />

13


Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

celsus lediglich unterschieden werden durch die Menge<br />

des Gifts in der Gabe. Die sprachliche Trennung von<br />

Gabe und Gift vollzieht sich hier über den medizinischen<br />

Diskurs. Der Satz des Paracelsus, steht für eine paradigmatische<br />

Wende in der Medizin, aber auch für ein<br />

generelles Verständnis von Gabe und Gift. Jede medizinische<br />

Gabe, jede Arznei ist prinzipiell als Gift zu verstehen,<br />

lediglich der „dosierte“ Einsatz dieses Gifts macht es<br />

zur heilenden Gabe, andererseits ist jede Gabe einer<br />

Substanz dem menschlichen Körper ab einer bestimmten<br />

Dosis schädlich, wird jede Gabe ab einer bestimmten<br />

Menge zum Gift.<br />

Bei Paracelsus können wir von einer Dialektik von Gabe<br />

und Gift sprechen, welche die ursprüngliche semantische<br />

Einheit zugleich erhält („Jede Gabe ist Gift“) und trennt<br />

(„Gift ist die Gabe ab einer spezifischen Dosis“). In jeder<br />

Gabe ist Gift, jede Gabe kann schädigend wirken, lediglich<br />

die Menge der Gabe macht sie zum Gift, sprich zur<br />

spezifischen Gabe, zur vergifteten Gabe, zur Giftgabe,<br />

zur Gabe des Gifts. Gabe bezeichnet ab diesem Zeitpunkt<br />

wiederum einen sozialen Akt: ein Geschenk, eine<br />

Leidenschaft in der Hingabe, eine Übermittlung eines<br />

Dings in der Übergabe etc. – im Zentrum steht eine<br />

wohlwollende, eine gut gemeinte Gabe.<br />

Der semantischen Aufteilung von Gabe und Gift steht die<br />

Unentscheidbarkeit beider Begriffe gegenüber. Ein Beispiel<br />

ist die „Mitgift“: In der Regel wird darunter die Gabe<br />

der Eltern der Braut zur Sicherung der Existenz des<br />

Brautpaars verstanden. In Indien wird die Brautgabe<br />

regelmäßig zur Giftgabe, wenn sich die Eltern der Braut<br />

aufgrund der Ansprüche des Bräutigams und dessen<br />

Familie in der Regel verschulden müssen und damit ihre<br />

Existenz aufs Spiel setzen. Trotz gesetzlichem Verbot ist<br />

diese Praxis noch immer sehr verbreitet.<br />

Die Problematik, die Gabe vom Gift unterscheiden zu<br />

können ist uns gut bekannt, wenn wir an die Praxis des<br />

Schenkens denken. Die spielerische Forderung der Kinder<br />

an die Erwachsenen zu Halloween „Trick or Treat“<br />

bzw. die deutschsprachige Version „Süßes oder Saures“<br />

sind ein augenfälliges Beispiel für die Verschränktheit<br />

von Gabe und Gift: „Gibst du mir keine Gabe, geb’ ich Dir<br />

Gift!“.<br />

Mitunter fällt uns vielleicht auf, dass wir sehr genau prüfen,<br />

ob ein Geschenk „vom Herzen“ kommt oder ob wir<br />

es als bloße Höflichkeitsgeste empfinden. Im Sinne von<br />

„Allein die Intentionalität“ zählt, können wir uns einerseits<br />

freuen, dass uns gegeben wird, unabhängig vom jeweiligen<br />

Geschenk. Das Geschenk bleibt aber dennoch wichtig,<br />

weil es uns, wenn wir es als Gabe „vom Herzen“<br />

erkennen, zur Gegengabe verpflichtet und sei es nur,<br />

dass wir Freude darüber vermitteln – ist diese Freude<br />

eine Verpflichtung? Die Freude über das Geschenk stellt<br />

einen wesentlichen Anteil an der Gegengabe dar und<br />

hängt davon ab, inwieweit ein Geschenk von uns „Besitz<br />

ergreift“, mehr ist, als wir uns gewünscht haben. Andererseits<br />

kennen wir den Ärger über die Person, die uns<br />

„in der Gabe nicht erkennt“, oder der wir unterstellen, zu<br />

geben, weil sie etwas von uns haben will. Gabe und Gift<br />

wollen im Geschenk differenziert werden, dennoch bleibt<br />

ein Rest der Unsicherheit über die Intention bestehen,<br />

sogar als gäbe es etwas im Geschenk, was über die<br />

(wohlwollende oder schädliche) Geste hinausgeht, dem<br />

Geschenk jedoch innewohnt.<br />

2. Die Gabe als Garant sozialer Bindung<br />

In seinem Buch „Die Gabe“ untersucht der Ethnologe und<br />

Soziologe Marcel Mauss die Funktion der Gabe in bestimmten<br />

archaischen Kulturen und versucht, Rückschlüsse<br />

auf die zivilisierte westliche Gesellschaft zu<br />

ziehen.<br />

Die von Mauss untersuchten archaischen Gesellschaften<br />

basieren nicht auf dem Austausch von nützlichen Dingen,<br />

sondern in ihnen „zirkuliert etwas anderes als das Nützliche.<br />

Clans, Altersgruppen und Geschlechter befinden<br />

sich (...) in einem Zustand beständiger wirtschaftlicher<br />

Erregung, die selbst recht wenig Materialistisches an sich<br />

hat, ...“ (Mauss 1990, S.167). Die Überschüsse, die angehäuft<br />

werden, werden als „oft mit reinem Verlust ausgegeben<br />

(...) es werden Zeichen des Reichtums, eine Art<br />

Geld, ausgetauscht“ (ebd., S.166).<br />

Die Gabe ist das Resultat der Überwindung von archaischen<br />

Praxen, einem Feind zu begegnen: sie fungiert<br />

anstatt der kriegerischen Auseinandersetzung als einem<br />

Versuch, den Feind zu vernichten und anstatt der Opfergabe<br />

als den Versuch, den Feind zu beschwichtigen. Die<br />

Möglichkeit zur Gabe ist als Zwischenstufe der Entwicklung<br />

von Gesellschaften anzusehen: ihr voraus geht die<br />

Tötung des Feindes bzw. das Opfer. Die Gabe, die zur<br />

Gegengabe verpflichtet, ist wiederum die Vorstufe des<br />

ökonomischen Modells des Tauschens.<br />

Insbesondere der bei bestimmten nordwestamerikanischen<br />

Indianerstämmen praktizierte Potlatsch illustriert<br />

die Ambivalenz der Gabe zwischen Freiwilligkeit und<br />

Zwang. Der Potlatsch als „System des Geschenkeaustauschs“<br />

beruht auf der Verpflichtung zur gegenseitigen<br />

Beschenkung und bildet dadurch ein komplexes Kreditsystem<br />

aus. Der Potlatsch ist eine feierliche Zeremonie,<br />

bei der die eigene Ehre gesichert bleibt, wenn ohne<br />

Rücksicht auf die eigene Existenz einem anderen Clan<br />

Geschenke gemacht werden. „In einigen Fällen geht es<br />

nicht einmal um Geben und Zurückzahlen, sondern um<br />

Zerstörung, nur um nicht den Anschein zu erwecken, als<br />

legte man Wert auf eine Rückgabe“ (ebd., S.86). Gerade<br />

der Moment der Erwartung der Gegengabe (der Schuld,<br />

des Gewinns) muss unter einer großmütigen und großzügigen<br />

Haltung im Überschuss der Gabe verborgen<br />

gehalten werden.<br />

Wir finden hier eine Gesellschaft vor, welche der Ökonomie<br />

des Tausches vorangeht und die sich definiert über<br />

die Verpflichtung des Gebens, des Nehmens und des<br />

Erwiderns. Ein Häuptling kann z.B. seine Autorität in der<br />

Gesellschaft nur wahren, in dem er seinen Reichtum<br />

„ausgibt, verteilt und damit die anderen demütigt, (...)“<br />

(ebd., S.92). Es gibt kein Recht, eine Gabe abzulehnen<br />

und derjenige, „der das Darlehen oder den Potlatsch<br />

nicht zurückzahlen kann, verliert seinen Rang oder sogar<br />

den Status eines freien Mannes“ (ebd., S.101).<br />

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Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

Die Fähigkeit zur Gabe ermöglicht es nach Mauss Gesellschaften<br />

„einander gegenüberzutreten, ohne sich<br />

gegenseitig umzubringen, und zu geben, ohne sich anderen<br />

zu opfern“ (ebd., S.181f.). Während das Opfer als<br />

Beschwichtigung/Besänftigung/Beruhigung des Zorns des<br />

Anderen dient, sprich den anderen zu „entgiften“, verliert<br />

sich in der Gabe die Bedeutung dieser Besänftigung<br />

zugunsten einer explizit nicht ausgesprochenen, implizit<br />

jedoch geforderten Verpflichtung zur Gegengabe. Der<br />

eigene Wunsch (und die phantasierte Macht), den Anderen<br />

bezwingen zu können, indem man ihn zur Gegengabe<br />

verpflichtet, muss aber demonstrativ negiert werden.<br />

Beim Potlatsch führt dies mitunter dazu, dass die Gaben<br />

zerstört werden, um dem Vorwurf des Eigennutzens an<br />

der Gabe vorzubeugen. „In der Tat werden hier nicht nur<br />

wertvolle Dinge fortgeworfen und Nahrungsmittel im<br />

Übermaß verzehrt, sondern man zerstört um der Zerstörung<br />

willen …“ (ebd., S.170). Die Zerstörung der Gaben<br />

ist so wie die Gabe selbst nicht uneigennützig, beides<br />

etabliert und sichert die Hierarchie: „Geben heißt Überlegenheit<br />

beweisen, zeigen, dass man mehr ist und höher<br />

steht, magister ist…“ (ebd., S.170).<br />

Die Gabe des Potlatsch vernichtet den möglichen Feind<br />

nicht, indem er getötet wird, er wird jedoch symbolisch<br />

zur Unterordnung gezwungen, indem er sich durch die<br />

Annahme der Gabe zur Gegengabe verpflichtet, nämlich<br />

zu geben, was er hat, auch wenn es seine Existenz gefährdet.<br />

Ebenso dient die Gabe als Opfer, nämlich zur<br />

Beschwichtigung des Anderen, nicht zur Waffe zu greifen.<br />

Die Gabe des Potlatsch ist insofern eine symbolische<br />

„Giftgabe“, die als solche das soziale Gefüge sichert. 3<br />

Mauss fordert in seinen Schlussfolgerungen die Rückkehr<br />

zu einer bedingungslosen Ethik des Gebens ein,<br />

nämlich Ehre, Selbstlosigkeit und korporative Solidarität<br />

(vgl. ebd., S.163). Eine weit wesentlichere Aussage seiner<br />

Analyse ist aber die Entkoppelung der Gabe von<br />

einem Austausch des Nützlichen und das damit verbundene<br />

„Eigenleben“ der Gabe. Mauss geht darin soweit,<br />

dass er die Ausdrücke „Gabe“ und „Geschenk“ als inadäquat<br />

für die Prozesse des Potlatsch erachtet (vgl. ebd.,<br />

S.167).<br />

Mauss spricht von einer Kraft jenseits individueller Interessen,<br />

die der Gabe innewohnt und exemplifiziert dies<br />

anhand des Glaubens an das „hau“ der Maori, jenem<br />

Geist, der den Gaben zueigen ist und der deshalb zur<br />

Gegengabe verpflichtet, weil die Gabe selbst kein lebloser<br />

Gegenstand ist, den man besitzen darf (vgl. ebd.,<br />

3<br />

Die Gabe als Bindeglied des Sozialen ist nicht nur unabhängig<br />

vom Tausch sondern auch unabhängig vom Eigennutzen zu<br />

denken. Die Gabe verpflichtet nicht nur zur Gegengabe, die<br />

Gabe ist prinzipiell Verausgabung jenseits jeglicher Nützlichkeit,<br />

auch des Eigennutzens. In seiner Analyse des Potlatsch<br />

als Beispiel für eine Verausgabung, die jeglicher Ökonomie<br />

innewohnt, spricht Bataille von der Enttäuschung des Egoismus:<br />

„Wenn aber die Erfordernisse der Einzelwesen (oder<br />

Gruppen), losgelöst von der Unermesslichkeit des Lebendigen,<br />

ein Interesse bezeichnen, auf das jede Handlung bezogen<br />

ist, so vollzieht sich die allgemeine Bewegung des Lebens<br />

deshalb nicht weniger jenseits der Erfordernisse der Individuen“<br />

(Bataille 2001, S.107).<br />

S.32f). Die Gabe oszilliert als „Hybride“ zwischen dem<br />

egoistischen Eigennutz, wonach die Gabe nur um die<br />

Bedingung einer zu erwartenden Gegengabe gegeben<br />

wird (Ersparnis, Interesse, Nützlichkeit) und der selbstlosen<br />

Vergessenheit (Freigiebigkeit, Großzügigkeit, Verschwendung)<br />

(vgl. ebd., S.168). In jedem Fall verortet<br />

sich die Gabe jenseits der Interessen der Mitglieder einer<br />

Gesellschaft und damit auch außerhalb des Sozialen.<br />

„Mauss situiert (...) die (Pflicht zur) Gabe vor jedem Personen-,<br />

Subjekt-, Selbstbezug und damit zugleich auch<br />

vor jeder Erfahrung der Sache als Sache, Ding oder<br />

Objekt“ (Daimann 2003, S.166). Die Gabe wirkt wie ein<br />

„Ding an sich“, das sich der Erkenntnis seiner Bedeutung<br />

entzieht, aber dennoch wirkt, indem es das Subjekt zu<br />

einer Handlung verpflichtet.<br />

3. Die Gabe als das Unmögliche<br />

Derrida setzt beim Denken der Gabe als Entkoppelung<br />

vom ökonomischen Kreislauf des Tausches an. Für Derrida<br />

ist Bedingung der Gabe, dass sie sich dem Kreislauf<br />

der Ökonomie entzieht, d.h. der Logik der Zirkularität von<br />

Gabe-Gegen-Gabe. Dort, wo die Gabe eine Gegengabe<br />

evoziert, wird sie zum Gift.<br />

„Wo die Gabe den anderen zum Schuldner macht, wird<br />

sie zum Gift. Das Gute, das Gutgemeinte des Geschenks<br />

kann sich leicht in sein Gegenteil umkehren, es „kann als<br />

Gutes zugleich schlecht, böse, giftig sein (Gift, gift), und<br />

zwar von dem Moment an, wo die Gabe den anderen<br />

zum Schuldner macht, so dass geben darauf hinausläuft,<br />

wehzutun, Böses zu tun [faire mal, faire du mal], ganz<br />

abgesehen davon, dass man in einigen Sprachen genauso<br />

gut sagen kann »ein Geschenk geben« wie »eine<br />

Ohrfeige geben« , »das Leben geben« [»donner la vie«],<br />

wie »den Tod geben« [»donner la mort«], mag man dies<br />

nun trennen und entgegensetzen oder identifizieren“<br />

(ebd., S.23).<br />

Die Gabe ist nach Derrida nur dann denkbar, wenn sie<br />

sich der Möglichkeit der Reziprozität verschließt, wenn<br />

sie nicht als Gabe erkannt wird. Dies gilt sowohl für den<br />

Geber als auch für den Gabenempfänger. Die Wahrnehmung<br />

der Gabe als Gabe annulliert die Gabe selbst und<br />

um wirksam zu werden, darf die Gabe nicht zur Kenntnis<br />

genommen werden (vgl. ebd., S.24). Die Ökonomie von<br />

Gabe-Gegen-Gabe führt eine Asymmetrie in das Soziale<br />

ein, in dem sie die Bedingung einer nie auszugleichenden<br />

Schuld am Anderen einführt.<br />

Derrida denkt die Gabe jedoch als unabhängig von der<br />

sozialen Schuld. Die Gabe, so Derrida, ist als das Unmögliche<br />

zu denken. „Damit es Gabe gibt, ist es nötig,<br />

dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, ...“ (ebd.,<br />

S.24). Die Anerkennung, die Wahrnehmung bzw. die<br />

Identifizierung, schließlich die Kenntnisnahme der Intentionalität<br />

des symbolischen Akts durch den Empfänger<br />

scheinen die Gabe als solche zerstören zu können.<br />

„Doch ihr Aussehen selber, das bloße Phänomen der<br />

Gabe annulliert sie als Gabe, verwandelt die Erscheinung<br />

in ein Gespenst und das Ergon [opération] in ein Simulakrum“<br />

(ebd., S.25). Die Gabe als das Unmögliche zu<br />

15


Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

denken: „damit es Gabe gibt, darf die Gabe nicht erscheinen,<br />

sie darf nicht als Gabe wahrgenommen werden,<br />

... sie darf nicht an-genommen, gewahrt, oder bewahrt<br />

werden“ (ebd., S.28).<br />

Es gibt weder eine reine Gabe ohne Schuld noch eine<br />

Gabe, die nur im Kreislauf der Schuld zirkuliert. Damit es<br />

Gabe gibt, muss sie vergessen werden, Derrida spricht<br />

von einem „absoluten Vergessen“ (ebd., S.28), einem<br />

Vergessen, das selbst vergisst, „ohne etwas Präsentes,<br />

Präsentierbares, Bestimmbares, Sinn- und Bedeutungsvolles<br />

zu sein, doch nicht nichts ist“ (ebd., S.29).<br />

Derridas Dekonstruktion der Gabe ist der Versuch eines<br />

Denkens einer Ethik der Gabe 4 und der Möglichkeit von<br />

Gabe, wenn die Gabe selbst nicht als präsent/Präsent<br />

möglich ist. Wie Mauss verortet Derrida die Gabe außerhalb<br />

des Subjekts „vor jedem Selbstbezug des bewussten<br />

oder unbewussten Subjekts“, sie ist aber auch Anstoß<br />

für den Kreislauf der Ökonomie. Derrida bezieht sich<br />

auf Heidegger, der „hinter den Bestimmungen des Seins<br />

als eines substantiellen Seienden, hinter Subjekt und<br />

Objekt zurückgeht“ (ebd., S.37). Die Gabe, die kein Präsentes<br />

oder Seiendes ist und deshalb nur als Unmögliches<br />

denkbar ist, hat dieselbe Struktur wie das Sein,<br />

welches nicht in seinem Wesen erscheinen kann. „Die<br />

Gabe ist denkbar nur als selbst unerwartetes, unvorwegnehmbares,<br />

unkalkulierbares Ereignis; und dieser<br />

Begriff des Ereignisses ist analog zu Bedingungen der<br />

Möglichkeit = Bedingungen der Unmöglichkeit zugleich<br />

als ‚Enteignis’ zu denken“ (Gondek 2006, S.126).<br />

Wenn die Gabe als das Unmögliche gedacht wird, ist das<br />

Gift der Gabe nicht auf eine bewusste oder unbewusste<br />

Intentionalität rückführbar, in dem Gegebenen der Gabe<br />

äußert sich eine Unentscheidbarkeit: „Und wenn alles<br />

das, was Freude zu bereiten (faire plaisir) oder um einem<br />

Wunsch nachzukommen, auch alles das, was man zu<br />

geben verspricht, strukturell ambivalent wäre, wenn das<br />

Geschenk stets derart vergiftet wäre (gift/Gift), dass keine<br />

einfache Logik (Wunsch/Nicht-Wunsch, zum Beispiel)<br />

über die Bedeutung entscheiden könnte?“ (Derrida, zit.<br />

nach Gondek 1996, S.94). In der Gabe ist weder das Gift<br />

inbegriffen, noch ist keine Gabe ohne Gift, wodurch die<br />

Beziehung von Gabe und Gift unentscheidbar bleibt.<br />

4. „Geben, was man nicht hat“ –<br />

die Begabung zur Liebe<br />

Der Mensch, der seinen Mangel an körperlicher Integrität<br />

bei der Geburt und dadurch bedingt seinen Mangel an<br />

Instinkten durch den Eintritt in die Sprache als sprechendes<br />

Wesen zu überbrücken versucht, unterliegt nach<br />

Lacan einer konstitutiven Seinsverfehlung. Der Mensch<br />

ist zunächst ein Mangelwesen, weil er körperlich unreif<br />

geboren wird, er wird zum Sprachwesen, um den körperlichen<br />

Mangel zu überbrücken, wodurch aber die Befriedigung<br />

seiner Bedürfnisse nicht instinktiv erfolgt, sondern<br />

4<br />

16<br />

vgl. hierzu den Sammelband Wetzel, M.; Rabaté, J.-M. (Hrsg.)<br />

(1993): Ethik der Gabe, Denken nach Jacques Derrida. München<br />

über den Weg der Sprache, so dass keine Befriedigung<br />

ohne dass ein Rest verbleibt. Dieser Rest des Realen<br />

entzieht sich der Versprachlichung, ist aber gleichzeitig<br />

der unmögliche Ursprung jeder Subjektivierung in und<br />

durch die Sprache. Lacan nennt diesen Rest das „Objekt<br />

a“, den unmöglichen Ursprung des Begehrens.<br />

Die Liebe als Möglichkeit zur Überwindung des konstitutiven<br />

Mangels ist zunächst von Ansprüchen geprägt, für<br />

den anderen das zu sein, dessen er (vermeintlich) bedarf.<br />

Das Begehren des anderen subvertiert diese Ansprüche<br />

an jener Stelle, wo sein Mangel zur Sprache<br />

kommt, wo der andere mehr begehrt als dass er beansprucht.<br />

Lacan verweist auf die Rede der Diotima an<br />

Sokrates in Platons „Symposion“ (vgl. Lacan 2008, S.158),<br />

wonach die richtige Vorstellung des Eros zwischen Einsicht<br />

und Unverstand zu finden ist, eine richtige Vorstellung,<br />

„ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu können“<br />

(Platon 1994, S.76). Die Liebe ist eine Praxis der<br />

„Reden, Verhaltensweisen, Meinungen“, „die wahr sind,<br />

ohne dass das Subjekt das wissen kann“ (Lacan 2008,<br />

S.158).<br />

Lacan definiert die Gabe als die Bedingung der Liebe, bei<br />

der man „gibt, was man nicht hat“ – „don, qu´on n´a pas“.<br />

Die Gabe ist zunächst das Privileg der Mutter, in ihrer<br />

Liebe die Bedürfnisse ihres Kindes zu befriedigen oder<br />

deren Befriedigung zu versagen, „mit diesem Privileg<br />

antwortet sie auf den Anspruch, von dem Lacan sagt,<br />

dass er Anspruch auf eine Anwesenheit oder auf eine<br />

Abwesenheit (ist)“ (Gondek 1996, S.103). Die Gabe<br />

dessen, was die Mutter nicht hat, ist die Gabe des Mangels.<br />

Die Mutter ermöglicht dem Kind, ihre Abwesenheit<br />

symbolisch zu fassen, d.h. sprachlich zu verorten, als<br />

das, was dem Kind mangelt. Während die Mutter zunächst<br />

symbolisch fungiert, in dem sie dem Kind eine<br />

Struktur von Befriedigung und Nicht-Befriedigung vorgibt,<br />

lernt das Kind, indem es „die Gabe dessen, was die Mutter<br />

nicht hat“ anerkennt, deren Abwesenheit zu symbolisieren,<br />

z.B. dass die Mutter nicht immer dann sofort verfügbar<br />

ist, wenn das Kind ihrer bedarf. Das Kind wird<br />

durch die Frustration/Versagung seiner Bedürfnisse fähig,<br />

sich die Mutter als Mangelnde (z.B. als Abwesende)<br />

vorzustellen. Diese Einführung in die Struktur der Sprache<br />

befähigt das Kind, die Position einzunehmen, Gabe<br />

für die Mutter zu sein, sich als Gabe für die Mutter hinzugeben,<br />

schließlich sich als Gegen-Gabe für die Liebe der<br />

Mutter zu geben.<br />

„Die Frustration bezieht sich auf etwas, dessen Sie beraubt<br />

sind durch jemanden, von dem Sie mit Recht erwarten<br />

konnten, was sie von ihm verlangten. Was so im<br />

Spiel ist, ist weniger das Objekt als die Liebe dessen, der<br />

Ihnen diese Gabe machen kann. Das Objekt der Frustration<br />

ist weniger das Objekt als die Gabe“ (Lacan 2003,<br />

S.115f). Derjenige, der liebt, ist fähig, dem anderen zu<br />

geben, was er nicht hat, aber was der andere sich von<br />

ihm erhofft, ohne dass er dessen bedarf. Der Liebende<br />

entspricht nicht den Ansprüchen des anderen, weil diesen<br />

Ansprüchen nie vollständig entsprochen werden<br />

kann, vielmehr ist die Gabe des Mangels die Bedingung<br />

für die Liebe. „Doch ist es die Grenze seiner eigenen<br />

Gabe und seiner eigenen Liebe, die man, nun ja, beim<br />

anderen erkennt“ (Jurainville 1990, S.526). Die ideale


Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

Liebe ist nicht diejenige, die auf die Befriedigung verzichtet<br />

oder in der Ansprüche versagt werden, sondern die<br />

ideale Liebe generiert sich aus der Möglichkeit der Vorstellung<br />

der Nicht-Befriedigung. Lacans Beispiel dafür ist<br />

die höfische Liebe, in der das geliebte Objekt, die Dame,<br />

niemals zu einem realen Objekt wird, sondern stets imaginär<br />

verbleibt. „Dies ist die eigentliche Ordnung, in der<br />

die ideale Liebe sich entfalten kann – die Stiftung des<br />

Mangels in der Beziehung zum Objekt“ (Lacan 2003,<br />

S.126).<br />

In allen drei vorgestellten Ansätzen, die Gabe zu denken,<br />

bleibt das Verhältnis von Gabe und Gift indifferent, unentscheidbar,<br />

ambivalent, oszillierend. Die Gabe als<br />

Bedingung der sozialen Bindung bedingt das „Gift“ der<br />

Verpflichtung zur Gegengabe. Die Gabe als das Unmögliche<br />

zu denken impliziert eine Unentscheidbarkeit von<br />

Gabe und Gift, schließlich wird die Gabe der Liebe nur<br />

möglich, wenn das „Gift“ des Anspruchs an die geliebte<br />

Person in der Anerkennung des Mangels aufgeht.<br />

5. „Darauf kannst Du Gift nehmen“ –<br />

Die Unentscheidbarkeit von Gabe und Gift<br />

und die vermeintliche Gewissheit der Droge<br />

Der Begriff Droge hat seine etymologische Wurzel im<br />

Niederländischen droog, zu Deutsch trocken. Droog<br />

bezeichnete in den Zeiten der niederländischen Kolonialherrschaft<br />

getrocknete Pflanzen und Pflanzenprodukte.<br />

In der deutschen Sprache findet sich beim Begriff Droge<br />

eine ähnliche Ambivalenz im Sprachgebrauch wie bei<br />

Gabe/Gift. Wenn auch der Begriff der Droge als Arznei<br />

durch die fast ausschließliche Bedeutung von Droge als<br />

selbstschädigender bzw. illegaler Substanz immer weniger<br />

Verwendung findet, bleibt er z.B. im Wort „Drogerie“<br />

gebräuchlich.<br />

Der Begriff Droge bezieht sich auf ein eindeutig abgegrenztes<br />

semantisches Feld. Derrida spricht von einer<br />

„instituierten“ bzw. „institutionellen Definition“ und einer<br />

„expliziten oder elliptischen Rhetorik“. Der Begriff Droge<br />

ist nicht auf eine Natur von spezifischen Giftstoffen zu<br />

reduzieren, er ist nicht wissenschaftlich und seine moralischen<br />

und politischen Bewertungen führen zu einer Verwendung<br />

als „Losungswort“, welches vor allem prohibitiven,<br />

aber auch erhöhenden, „lobpreisenden“ Charakter<br />

annehmen kann. Die Verwendung des Begriffs Droge<br />

setzt eine gewisse Konvention des Verbots voraus (vgl.<br />

Derrida 1998, S.242).<br />

Die Institutionalisierung des Begriffs verdrängt jedoch die<br />

Unentscheidbarkeit des Begriffs Droge zu Gunsten einer<br />

determinierenden und verschleiernden Rhetorik. Dem<br />

verdammenden Diskurs rund um die Droge (z.B. die<br />

Entwertung drogenkranker Personen, der Drogenkonsum<br />

als Weg in die Kriminalität, die Droge als Flucht vor der<br />

Realität etc.) steht eine heimlich idealisierende Faszination<br />

gegenüber (die Süchtigen als Opfer von Verführern,<br />

die Droge als Wirkform verloren gegangener religiöser<br />

Praxen, die Droge als Mittel zur Bewusstseinserweiterung<br />

etc.). Die Droge ist entschieden Gabe oder Gift,<br />

Erhöhung oder Erniedrigung, Erlösung oder Verdammung,<br />

Erweckung oder Verfall, Linderung oder Leiden,<br />

Selbstfindung oder Abhängigkeit. Der Unterscheidbarkeit<br />

vorausgesetzt ist die Gewissheit um die Differenz von<br />

Gabe und Gift in Bezug auf die Droge.<br />

Einige Theorien gehen davon aus, dass die Droge sowohl<br />

schädigende als auch heilende Wirkung hat. In<br />

diesem Zusammenhang wird auch von der Drogeneinnahme<br />

als Selbstmedikation bzw. als Selbstheilungsversuch<br />

gesprochen, als Versuch, schwer zu bewältigende<br />

Lebenssituationen, verwirrende oder widersprüchliche<br />

Gefühle, traumatische Erfahrungen, Defizite etc. erträglicher<br />

zu machen.<br />

In struktural-psychoanalytischer Sicht ist die Droge als<br />

Antwort auf die Versagung zu denken, die das Kind in<br />

Bezug auf die Befriedigung durch die Mutter erfährt. Der<br />

„Entzug“ der Befriedigung durch die Mutter (z.B. das<br />

„Abstillen“) kann je nachdem vorgestellt werden, wie das<br />

Kind die Mutter als symbolische Mutter anerkennen kann,<br />

d.h. als Mutter, die das Kind „zur Sprache bringt“. Der Akt<br />

der Drogeneinnahme ist als Versuch der Gabe zu verstehen,<br />

wobei die Anerkennung der Versagung und die<br />

damit einhergehenden Gefühle verleugnet werden,<br />

gleichzeitig ist diese Gabe aber auch immer als Gift zu<br />

verstehen: Gift für das Selbst bzw. Gift für den Anderen.<br />

Die Droge ist eine als unbedingt und unabdingbar phantasierte<br />

Gabe, die als reale Substanz die Wahrnehmung<br />

beeinflussende Auswirkungen auf Körper, Psyche und<br />

Existenz hat und deren schädigender Charakter verleugnet<br />

wird. Die Droge wird real zur unabdingbaren Gabe,<br />

wenn ihr alle anderen Lebensinteressen untergeordnet<br />

werden, wenn der Konsum als unverzichtbar erlebt wird<br />

und ohne Rücksicht auf Verluste geschieht: Verlust von<br />

intimen Beziehungen, von familiären Bindungen, von<br />

Freundschaften, Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung,<br />

der Freiheit, der Gesundheit – bis hin zum Verlust<br />

des eigenen Lebens. Die Droge steht für das Phantasma<br />

der einen Gabe, die Alles verspricht und Alles zunichte<br />

machen kann, die Alles geben, aber auch Alles nehmen<br />

kann, einer Gabe, die das Absolute und die Absolution<br />

bedeuten will, eine Gabe, welche selbst die Unentscheidbarkeit<br />

von Gabe und Gift verleugnet, also eine<br />

ent-scheidende Gabe, die Gabe und Gift zugleich eint<br />

und zu trennen vermag.<br />

Die Unterscheidung der Droge in Gabe oder Gift folgt den<br />

jeweiligen prohibitiven/permissiven Praktiken eines sozialen<br />

Gefüges. Die Gabe ist in unserem Denken dem medizinischen<br />

Diskurs zugeordnet, sie ist normal, legal und<br />

den Genuss bzw. den Rausch bzw. die Selbstgabe ausschließend.<br />

Gift betrifft dagegen den verbotenen Genuss<br />

bzw. den Rausch, dessen zivilisatorische Eindämmung<br />

nicht restlos zu gelingen vermag, die Droge wird zum<br />

Symptom der Gesellschaft und ihrem jeweiligen Bezug<br />

zum Genießen.<br />

Die Droge in ihrer relativen Unentschiedenheit von Gabe/Gift<br />

zu akzeptieren, heißt die vorgegebene Entschiedenheit<br />

von Droge als „Losungswort“ zu überwinden und<br />

die singuläre Bedeutung für das Subjekt ernst zu neh-<br />

17


Wiener Zeitschrift für Suchtforschung Jg. 31 2008 Nr. 1<br />

men. Die Droge als Symptom zu verstehen heißt die<br />

Unentschiedenheit von Gabe und Gift dem Subjekt zu<br />

eröffnen, um ein Verständnis ob der singulären Bedeutung<br />

für das Subjekt zu ermöglichen.<br />

Summary<br />

The terms Gabe (gift) and Gift (poison) are used distinctively<br />

in German: whereas Gabe means a benevolent act,<br />

Gift signifies a harmful substance. While used synonymously<br />

in Old High German, where in fact they were not<br />

differentiated as to their specific connotation, the common<br />

origin of the two words is nowadays forgotten.<br />

On the basis of three theoretical approaches, the relationship<br />

of Gabe and Gift will be analyzed. Mauss discovers<br />

Gabe as obliging someone to return Gegengabe<br />

(counter-gift) within a number of archaic cultures, as such<br />

representing a precursor of the economy of exchange.<br />

Derrida denominates this obligation as inherent to Gabe<br />

as such. For Derrida, Gabe is to be perceived beyond a<br />

pure gift without selfishness and beyond a gift entailing<br />

counter-gift. He therefore thinks of Gabe as the impossible.<br />

Between Gabe and Gift there remains something<br />

undecidable (indécidable).<br />

Another approach to Gabe can be found with Lacan, who<br />

defines Gabe in connection to love as “to give, what you<br />

don't have”. Love is made possible through acknowledging<br />

lack in the other.<br />

An attempt to think of drug as Gabe is derived from the<br />

ambiguity of the term drug in analogy to that of Gabe and<br />

Gift. A drug is Gabe and Gift at the same time, only the<br />

phantasmatic overglorification causes the denial of the<br />

“Gift”, i.e. the destructiveness of poison.<br />

Grimm, J.; Grimm, W. (1854/1960): Deutsches Wörterbuch.<br />

Leipzig, http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB<br />

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Lintner, M. M. (2006): Eine Ethik des Schenkens. Von<br />

einer anthropologischen zu einer theologisch-ethischen<br />

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Main<br />

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Reinbek bei Hamburg<br />

Wetzel, M.; Rabaté, J.-M. (Hrsg.) (1993): Ethik der Gabe.<br />

Denken nach Jacques Derrida. Berlin<br />

Korrespondenzadresse<br />

Mag. Dr. Georg Augusta<br />

Anton-Proksch-Institut/ Abt. V<br />

Husarentempelgasse 3<br />

A-2340 Mödling<br />

Tel.: +43-(0)2236-22296<br />

E-Mail: augusta@api.or.at<br />

Keywords<br />

gift, poison, drug, Mauss, Lacan, Derrida<br />

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Gondek, H.-D. (2006): Der Zufall der Gabe und die Zukunft<br />

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(Hrsg.): Nach Derrida. Dekonstruktion in zeitgenössischen<br />

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