Katholisches Wort in die Zeit 41. Jahr Juni 2010 - Der Fels
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Jürgen Lim<strong>in</strong>ski:<br />
Gerät Europa aus den Fugen?<br />
Wir brauchen e<strong>in</strong>e Wiederbelebung der Kultur des Maßes / E<strong>in</strong> Essay<br />
Währungs- und F<strong>in</strong>anzkrisen<br />
wegen der Gier der<br />
Menschen und ihrer Spekulationen<br />
s<strong>in</strong>d nichts Neues <strong>in</strong> der<br />
Geschichte. Es gab <strong>die</strong> Tulpenkrise<br />
1637, als e<strong>in</strong>e Tulpe, <strong>die</strong> Semper<br />
Augustus, e<strong>in</strong> <strong>Jahr</strong> lang so viel wert<br />
war, wie e<strong>in</strong> Durchschnittsholländer<br />
<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em halben Leben ver<strong>die</strong>nen<br />
konnte, oder knapp hundert <strong>Jahr</strong>e<br />
später <strong>die</strong> Papiergeldkrise, als John<br />
Law das Papiergeld e<strong>in</strong>führte, und <strong>die</strong><br />
Spekulation damit zu e<strong>in</strong>er Blase mit<br />
Inflation und e<strong>in</strong>er veritablen Wirtschaftskrise<br />
<strong>in</strong> Europa führte. Und es<br />
gab Kriege, <strong>die</strong> Europa ru<strong>in</strong>ierten und<br />
völlig neue Währungssysteme nötig<br />
machten. Auch <strong>die</strong> jetzige Krise hat<br />
mit der Gier e<strong>in</strong>iger weniger zu tun.<br />
Nach Paul Kirchhof ist aber nicht das<br />
Geld <strong>die</strong> Ursache der Krise – „Geld ist<br />
e<strong>in</strong> Mittel der Freiheit“ –, sondern der<br />
Verlust des Maßes. Man müsse sich,<br />
wie Aristoteles schon sagte, um e<strong>in</strong>e<br />
Kultur des Maßes bemühen.<br />
Das Erhard‘sche <strong>Wort</strong> vom Maßhalten<br />
hat <strong>in</strong> der Tat e<strong>in</strong>e tiefe Bedeutung.<br />
Es geht nicht nur um das rechte<br />
Maß zwischen Geldwert und Gütern.<br />
Es geht um e<strong>in</strong>e Haltung, <strong>die</strong> von<br />
der Kard<strong>in</strong>altugend der temperantia,<br />
eben des rechten Maßes oder von<br />
Zucht und Maß, geprägt ist. Wenn<br />
<strong>die</strong>se Haltung verloren geht, dann<br />
ist auf Dauer Gefahr im Verzug. Das<br />
ist der Fall <strong>in</strong> Griechenland, wo man<br />
seit <strong>Jahr</strong>zehnten über <strong>die</strong> Verhältnisse<br />
der Wirtschaft lebte und das Maß<br />
für gerechten Lohn verloren hat. Das<br />
ist auch der Fall <strong>in</strong> anderen europäischen<br />
Ländern, wo der Kapitalismus<br />
entfesselt e<strong>in</strong>er Profitmaximierung<br />
nachstrebt, <strong>die</strong> ohne Rücksicht auf<br />
das Allgeme<strong>in</strong>wohl Länder an den<br />
Rand des Ru<strong>in</strong>s treibt, ohne an <strong>die</strong><br />
politischen Folgen zu denken. Diese<br />
Folgen können fatal se<strong>in</strong>. Altbundeskanzler<br />
Kohl sprach jüngst <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />
Zusammenhang von der Gefahr des<br />
Krieges <strong>in</strong> Europa. Sie sei durch <strong>die</strong><br />
geme<strong>in</strong>same Währung im Zaum gehalten<br />
worden.<br />
In der Tat erlebt Europa seit dem<br />
Zweiten Weltkrieg <strong>die</strong> längste Friedensepoche<br />
se<strong>in</strong>er Geschichte. Das<br />
ist das Werk e<strong>in</strong>iger mutiger Männer,<br />
fast alle Katholiken, <strong>die</strong> vor sechzig<br />
<strong>Jahr</strong>en zuerst <strong>die</strong> Versöhnung zwischen<br />
Frankreich und Deutschland<br />
anbahnten, <strong>in</strong>dem sie der Wirtschaft<br />
das Maß der Geme<strong>in</strong>samkeit anlegten.<br />
In Deutschland war es vor allem<br />
Konrad Adenauer, der anders als se<strong>in</strong>e<br />
Gegenspieler Jakob Kaiser (CDU)<br />
und Kurt Schumacher (SPD) <strong>die</strong> Zukunft<br />
Deutschlands <strong>in</strong> der Integration<br />
<strong>in</strong> und mit Europa sah. Dar<strong>in</strong> traf<br />
er sich kongenial mit se<strong>in</strong>em Freund<br />
Robert Schuman und mit Jean Monnet.<br />
Monnet war es, der das Instrument<br />
dafür fand: Die Montanunion,<br />
<strong>die</strong> Zusammenlegung der deutschen<br />
und französischen Stahl-und Kohleproduktion<br />
unter e<strong>in</strong>er Hohen Behörde.<br />
Diese Fusion machte es materiell<br />
unmöglich, dass <strong>die</strong> beiden Staaten<br />
gegene<strong>in</strong>ander arbeiteten. Es war e<strong>in</strong><br />
Paradigmenwechsel von e<strong>in</strong>er nationalstaatlichen<br />
Machtpolitik h<strong>in</strong> zu<br />
e<strong>in</strong>er Verhandlungs-und Konsenspolitik.<br />
Und es ist <strong>die</strong>se Grundidee, <strong>die</strong><br />
auch der geme<strong>in</strong>samen Wirtschaftsund<br />
Währungsunion zugrunde liegt.<br />
In der Geme<strong>in</strong>samkeit liegt e<strong>in</strong> Maß,<br />
das nationalistische und egoistische<br />
Verheißungsvoller Auftakt: Mit der Unterzeichnung<br />
der Römischen Verträge am<br />
25. März 1957 durch <strong>die</strong> Benelux-Staaten,<br />
Italien, Frankreich und Deutschland<br />
wurde <strong>die</strong> Europäische Wirtschaftsgeme<strong>in</strong>schaft,<br />
der Kern der EU gegründet.<br />
In der Mitte des Tisches: Konrad<br />
Adenauer (fünfter von l<strong>in</strong>ks), neben ihm<br />
Walter Hallste<strong>in</strong>, der spätere Kommissionspräsident.<br />
174 DER FELS 6/<strong>2010</strong>