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II.3 Dezentralisierung - Hannah Arendt in Hannover

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I Der Internationale Terrorismus und das Böse<br />

I.1 Zur Begrifflichkeit<br />

Der al-Qa’ida-Angriff vom 11. September 2001 war für uns Deutsche e<strong>in</strong>e Zäsur des<br />

Schreckens. Viele Muslime empfanden dagegen Genugtuung und bewerteten die<br />

Attentate als Ausgleich für all ihre tatsächlichen oder verme<strong>in</strong>tlichen Opfer und<br />

Erniedrigungen. Die meisten US-Bürger sahen <strong>in</strong> „n<strong>in</strong>e-eleven“ (9/11) e<strong>in</strong>e<br />

Manifestation des Bösen. Aber es ist nicht das „banale Böse“, das <strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong><br />

anlässlich des Eichmann-Prozesses <strong>in</strong> Israel beschrieb (Eichmann, der Architekt des<br />

Grauens und der Endlösung, war Teil dieses banalen Bösen.).<br />

Internationaler Terrorismus und 9/11 s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e neue Form des Bösen, worauf bereits<br />

Susan Neiman <strong>in</strong> Bezug auf <strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong>s Begrifflichkeit h<strong>in</strong>gewiesen hat.<br />

Vielmehr handelt es sich um e<strong>in</strong>e alte, atavistische Ausprägung des Bösen: Das Werk<br />

e<strong>in</strong>er fundamentalistischen Ideologie, die frei ist von den Skrupeln unserer<br />

aufgeklärten Gesellschaft heute. E<strong>in</strong> Böses, das sich nicht wie Eichmann auf Befehl<br />

und Gehorsam beruft, und sich damit herauszureden versucht.<br />

In anderen Worten: Es ist der Angriff e<strong>in</strong>es sowohl politisch als auch religiös<br />

begründeten Gewaltkonzepts, dem die Zweck-Mittel-Relation der europäischen<br />

Aufklärung fehlt. Es ist e<strong>in</strong> Konzept, das Intoleranz zum Programm erhoben hat. Und<br />

es wird <strong>in</strong> Europa und auch <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e Sicherheit geben, bevor nicht e<strong>in</strong>e<br />

Grundfrage von muslimischer Seite geklärt wird: Das Verhältnis zwischen Staat und<br />

Religion sowie die Rechte des E<strong>in</strong>zelnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Staat. E<strong>in</strong>e solche klare<br />

Grundlage benötigt auch der <strong>in</strong>terreligiöse Dialog, wenn er denn Erfolg haben soll.<br />

Die Abgrenzung islamistisch motivierter Terroristen zur westlichen Gesellschaft ist<br />

negativ: „Ihr liebt das Leben, wir aber lieben den Tod“, wie die Madrid-Attentäter<br />

2004 treffend formulierten. Es ist der Kampf gegen die westliche Lebensform und<br />

gegen e<strong>in</strong>e muslimische Aufklärung. Denn nicht nur Christen und Juden s<strong>in</strong>d Opfer<br />

der sogenannten Wahhabiten oder Salafiten, sondern auch sunnitische Kurden,<br />

Freimaurer und Aleviten <strong>in</strong> der Türkei sowie Buddhisten <strong>in</strong> Südost-Asien. Der<br />

Internationale Terrorismus hat das Pr<strong>in</strong>zip des Takfir wa’l Hijra übernommen: Die<br />

Disqualifizierung der zeitgenössischen muslimischen Gesellschaften als ungläubig<br />

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(Takfir) und die <strong>in</strong>nere wie organisatorische Abwendung von diesem Umfeld (Hijra),<br />

um es <strong>in</strong> Nachahmung des Propheten bis zu se<strong>in</strong>er Läuterung zu bekämpfen.<br />

Auch die schiitischen Glaubensbrüder zählen zu den Zielen sunnitischer Terroristen,<br />

wie der Jordanier Abu Mus’ab az-Zarqawi als ihr berüchtigter Exponent im Irak unter<br />

Beweis stellt. Er folgt damit e<strong>in</strong>er langen Tradition, die auch den militanten<br />

Wahhabismus saudischer Prägung und den gebürtigen Saudi B<strong>in</strong> Laden geprägt hat.<br />

Wie haben wir auf das Böse reagiert? Es wurde auf die Ebene e<strong>in</strong>es Kriegsgegners<br />

gehoben, ohne ihm aber rechtlich e<strong>in</strong>en Kombattantenstatus e<strong>in</strong>zuräumen. Die<br />

deutsche RAF hätte sich für e<strong>in</strong>e derartige Aufwertung bedankt. Aber sie war nie<br />

mehr als e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Kadergruppe mit begrenztem Wirkungskreis. Sie bewegte sich <strong>in</strong><br />

national bestimmten Strukturen und hat e<strong>in</strong>e breitere Akzeptanz für ihre Gewalt und<br />

für ihr Morden nicht erreicht. Wir müssen allerd<strong>in</strong>gs unsere damaligen Reaktionen<br />

bedenken, wenn wir über das Vorgehen der USA seit 2001 urteilen wollen. Bislang<br />

hat Deutschland die volle Wucht des Internationalen Terrorismus nicht getroffen.<br />

Aber: Wir haben lediglich Glück gehabt!<br />

Neben al-Qa’ida gab es bekanntlich noch e<strong>in</strong> sogenanntes Böses: „Die Achse des<br />

Bösen“ der „Schurkenstaaten“ Irak, Iran und Nordkorea. Die Sorge, der Internationale<br />

Terrorismus könne sich mit dieser Achse zusammentun und von ihren tatsächlichen<br />

oder vermuteten Beständen an Massenvernichtungswaffen oder Trägerkomponenten<br />

profitieren, war e<strong>in</strong>e der vielfältigen Ursachen für den Irak-Krieg. Der Irak war<br />

zunächst nur e<strong>in</strong> Nebenkriegsschauplatz des Internationalen Terrorismus. Das<br />

laizistische Saddam-Regime unterstützte se<strong>in</strong>erzeit zwar terroristische Gruppierungen<br />

propagandistisch und auch logistisch: So wissen wir von Zahlungen an die<br />

H<strong>in</strong>terbliebenen von Selbstmordattentätern. Wegen se<strong>in</strong>er laizistischen Prägung gab<br />

es aber ke<strong>in</strong>e Unterstützung des Saddam-Regimes für primär islamistisch motivierte<br />

Terrorgruppen.<br />

2003 wurde der Irak dann zum Hauptschlachtfeld des Internationalen Terrorismus<br />

sowohl terroristisch als auch propagandistisch. Al-Qa’ida und viele Muslime sahen<br />

sich <strong>in</strong> ihrer Propaganda über die westlichen „Kreuzzügler“ bestätigt.<br />

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I.2 Die neue al-Qa’ida<br />

Im Zusammenhang mit der Begrifflichkeit des Bösen fällt zwangsläufig auch der<br />

Begriff der sogenannten “Endlösung“, womit auch die E<strong>in</strong>stellung <strong>in</strong>ternationaler<br />

Jihadisten zum Staat Israel umschrieben werden kann. Islamistische Netzwerke<br />

streben danach - wie der iranische Revolutionsführer Khome<strong>in</strong>i und auch der<br />

amtierende iranische Präsident es ausdrückten -, Israel von der Landkarte zu tilgen.<br />

Sie bekämpfen Israel direkt bzw. israelische Interessen weltweit, auch mit<br />

terroristischen Mitteln.<br />

Dieser Kampf kann besonders an der Person des jordanischen Terroristen Zarqawi<br />

festgemacht werden. Am 19. August 2005 attackierten se<strong>in</strong>e Anhänger zwei US-<br />

Kriegsschiffe <strong>in</strong> Aqaba mit Katjuscha-Raketen. Sche<strong>in</strong>bar zufällig schlug e<strong>in</strong>es der<br />

Projektile <strong>in</strong> Eilat, auf israelischem Boden, e<strong>in</strong>. Zufall oder nicht, die Möglichkeit war<br />

gewiss e<strong>in</strong>kalkuliert. Auch wenn der Anschlag scheiterte, wurde erstmals der Staat<br />

Israel auf se<strong>in</strong>em eigenem Territorium derart medienwirksam von al-Qa’ida<br />

angegriffen. Von der libanesischen Hizballah abgesehen, wurde das israelische<br />

Staatsgebiet bislang hauptsächlich Ort terroristischer Anschläge nationaler<br />

paläst<strong>in</strong>ensischer Gruppen, wie etwa HAMAS, Paläst<strong>in</strong>ensischer Islamischer Jihad<br />

oder die Brigaden der al-Aqsa-Märtyrer. Alle drei Organisationen sehen sich primär<br />

dem paläst<strong>in</strong>ensischen Befreiungskampf verpflichtet, den sie unter islamistischen<br />

Vorzeichen führen. E<strong>in</strong>schränkungen gelten hier für die Al-Aqsa-Brigaden, die als<br />

Arm der säkularen Fatah-Organisation das islamistische Element des Widerstandes<br />

weniger betonten.<br />

Während die alte al-Qa’ida Usama B<strong>in</strong> Ladens den israelisch-paläst<strong>in</strong>ensischen<br />

Konflikt lediglich propagandistisch ausbeutete und erst spät begann, israelische bzw.<br />

jüdische Ziele anzugreifen, standen diese stets ganz oben auf der Agenda Zarqawis.<br />

Er ist e<strong>in</strong> Repräsentant der neuen al-Qa’ida. Für ihn geht es ganz unmittelbar auch um<br />

die Zerstörung Israels, um die Befreiung Jerusalems. Nach e<strong>in</strong>em vereitelten<br />

Anschlag gegen das Hauptquartier des jordanischen Geheimdienstes im April 2004<br />

wurde ihm se<strong>in</strong>erzeit die Beimischung von Chemikalien <strong>in</strong> den Sprengstoff<br />

vorgeworfen. E<strong>in</strong> Massentötungsszenario wurde heraufbeschworen. Zarqawi<br />

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dementierte und sagte mit Blick auf Israel: „Gott weiß, dass wir nicht zögern würden,<br />

e<strong>in</strong>e solche Bombe gegen Eilat, Tel Aviv und andere Städte e<strong>in</strong>zusetzen, wenn wir<br />

e<strong>in</strong>e solche Bombe hätten“.<br />

Je länger Zarqawi <strong>in</strong> Irak operieren kann, desto größer wird die Gefahr, dass er<br />

<strong>in</strong>ternationale Anschläge organisiert. Irak ist für Zarqawi die Basis, um den Krieg <strong>in</strong><br />

die Nachbarstaaten zu tragen. Bereits jetzt zeigen sich die Auswirkungen auf deren<br />

Sicherheitslage. Se<strong>in</strong>e F<strong>in</strong>ger im Spiel hatte Zarqawi beim vereitelten Anschlag gegen<br />

israelische Kreuzfahrtschiffe im Süden der Türkei im August 2005 ebenso wie am 09.<br />

November 2005 bei den simultanen Attacken gegen drei <strong>in</strong>ternationale Hotels <strong>in</strong><br />

Amman. Auch diese Terrorakte s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Etappe auf dem Weg zur Befreiung<br />

Jerusalems. Zwar ist Zarqawi ostjordanischer Abstammung, aber viele se<strong>in</strong>er<br />

Anhänger wie <strong>in</strong>sbesondere auch se<strong>in</strong> früherer Mentor Maqdisi stammen aus dem<br />

Westjordan-Land, s<strong>in</strong>d also Jordanier paläst<strong>in</strong>ensischer Herkunft.<br />

Auch wir haben unsere Erfahrungen mit Zarqawi gemacht, und dies bereits 2002:<br />

Damals gab er se<strong>in</strong>en Anhängern der Tawhid-Gruppe <strong>in</strong> Deutschland den Auftrag,<br />

jüdische Ziele anzugreifen. Glücklicherweise konnten die deutschen<br />

Sicherheitsbehörden die Umsetzung der Planungen vereiteln. Die Beispiele zeigen:<br />

Israelische Bürger und Interessen sowie jüdische Bürger gleich welcher Nationalität<br />

s<strong>in</strong>d nahezu überall gefährdet.<br />

Die Prioritäten der al-Qa’ida lagen zunächst anders, auch wenn die Rhetorik gegen<br />

Israel immer e<strong>in</strong> wichtiges Mittel der Mobilisierung war. Vor 2001 war B<strong>in</strong> Laden auf<br />

die Ause<strong>in</strong>andersetzung mit den USA fixiert. Wash<strong>in</strong>gton hatte <strong>in</strong> den Augen B<strong>in</strong><br />

Ladens mit se<strong>in</strong>er Militärpräsenz <strong>in</strong> Saudi-Arabien 1990/91 die Heiligen Stätten<br />

Mekka und Med<strong>in</strong>a entweiht. Für ihn waren daher Angriffe gegen den US-Fe<strong>in</strong>d<br />

vordr<strong>in</strong>glich: 1998 der Doppelschlag <strong>in</strong> Afrika gegen die beiden US-Vertretungen <strong>in</strong><br />

Nairobi und Daressalam sowie der Angriff gegen die USS-Cole im Jahr 2000 im<br />

jemenitischen Hafen von Aden. Ende 2002 schließlich griffen al-Qa’ida-Zellen <strong>in</strong><br />

Ostafrika israelische Ziele im kenianischen Mombasa an. Terroristen fuhren e<strong>in</strong> mit<br />

Sprengstoff beladenes Fahrzeug <strong>in</strong> die Lobby e<strong>in</strong>es Hotels, <strong>in</strong> das gerade israelische<br />

Touristen e<strong>in</strong>gecheckt hatten. Fast zeitgleich schossen Komplizen zwei<br />

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schultergestützte Flugabwehr-Raketen (SA-7) auf e<strong>in</strong> aufsteigendes Flugzeug ab,<br />

vollbesetzt mit israelischen Touristen. Dieser Angriff misslang glücklicherweise.<br />

I.3 Die quantitative Entwicklung des „Bösen“<br />

Das Böse <strong>in</strong> Gestalt terroristischer Anschläge hat <strong>in</strong>zwischen nahezu überall se<strong>in</strong>e<br />

Spuren h<strong>in</strong>terlassen, auch <strong>in</strong> Statistiken. Bei e<strong>in</strong>er quantitativen Würdigung des<br />

Phänomens sollte man jedoch nicht der Tonnenideologie verfallen: Zahlen<br />

verschleiern manchmal wichtige Aspekte des Phänomens und schieben menschliche<br />

Schicksale <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Als e<strong>in</strong> Gradmesser des Bösen gelten Statistiken zum Internationalem Terrorismus,<br />

die zwar nicht nur islamistisch motivierte Terrorakte umfassen, aber dennoch e<strong>in</strong>en<br />

E<strong>in</strong>druck über die Entwicklung vermitteln. International bedeutet <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang, dass bei e<strong>in</strong>em Attentat Bürger oder die Territorien von mehr als<br />

e<strong>in</strong>em Staat betroffen s<strong>in</strong>d. Das US-Außenm<strong>in</strong>isterium hat bis e<strong>in</strong>schließlich 2003 <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Bericht „Patterns of Global Terrorism“ mehr oder m<strong>in</strong>der präzise mit<br />

derartigen Zahlen gearbeitet, den israelisch-paläst<strong>in</strong>ensischen Konflikt aber qua<br />

Def<strong>in</strong>ition weitgehend ausgeklammert.<br />

Der Bericht für das Jahr 2000 weist 423 <strong>in</strong>ternationale Terrorakte aus, gegenüber 392<br />

im Vorjahr. Die Zahl der Toten verdoppelte sich fast von 233 auf 405. Damals war<br />

der Anteil islamistischer Attentate vergleichsweise ger<strong>in</strong>g (u.a. USS Cole). 2001<br />

reduzierten sich zwar die Attentate auf 346, die Zahl der Opfer stieg aber wegen 9/11<br />

auf 3.295 an. Seitdem wird e<strong>in</strong> anhaltender Trend zu hohen Opferzahlen beobachtet,<br />

wobei 2001 e<strong>in</strong> Ausnahmejahr war. 2002 kamen bei 198 Attentaten 725 Menschen<br />

ums Leben. 2003 starben bei 208 Terrorakten 625 Menschen. Die meisten<br />

Terroraktivitäten im Irak s<strong>in</strong>d jedoch nicht berücksichtigt: Registriert wurden<br />

Anschläge gegen ausländische Non-Kombattanten. Das National Counterterrorism<br />

Center <strong>in</strong> den USA zählte auf anderer Berechnungsgrundlage für das Jahr 2004 651<br />

Angriffe mit 1.907 Toten. Darunter entfielen auf Irak 201 Terrorakte im Vergleich zu<br />

22 im Jahr zuvor.<br />

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Mit der Fortdauer des Irakkonfliktes nahmen die Anschlagsaktivitäten demnach<br />

signifikant zu. Problematisch bleibt die Differenzierung der monatlich rund 2.500 bis<br />

3.000 sicherheitsrelevanten Zwischenfälle <strong>in</strong> Irak e<strong>in</strong>erseits und die Trennschärfe zu<br />

re<strong>in</strong>en Terroranschlägen andererseits. So lassen sich nur vere<strong>in</strong>zelte Attentate<br />

e<strong>in</strong>deutig verschiedenen Terrorgruppierungen zuordnen, die nicht zum breiten<br />

Spektrum militanter irakischer Oppositioneller zählen.<br />

Die Opferzahlen auf Seiten der Koalition, der irakischen Sicherheitskräfte und<br />

<strong>in</strong>sbesondere der Zivilisten s<strong>in</strong>d alarmierend. Während zu Beg<strong>in</strong>n des Konfliktes ab<br />

Mai 2003 primär die Soldaten der Koalition im Fokus der Militanten standen, fallen<br />

mit der Konsolidierung des politischen Prozesses und dem forcierten Aufbau der<br />

irakischen Exekutive immer mehr nationale irakische Sicherheitskräfte und Zivilisten<br />

Anschlägen zum Opfer. Seit Kriegsbeg<strong>in</strong>n zählt die Koalition <strong>in</strong>sgesamt über 2.300<br />

Opfer <strong>in</strong>folge von Gewalte<strong>in</strong>wirkung („killed <strong>in</strong> action“). Des weiteren s<strong>in</strong>d über<br />

3.000 irakische Polizisten und Soldaten getötet worden. Statistische Angaben zu<br />

zivilen Opfern des Irak-Konfliktes schwanken erheblich und s<strong>in</strong>d nach hiesiger<br />

Bewertung häufig nicht belastbar. Mit der Zunahme gezielter Selbstmordattentate auf<br />

die zivile Bevölkerung liegen seit dem 01. Januar 2005 auch verlässliche Zahlen über<br />

zivile Opfer von Anschlägen vor, die mit über 5.200 Getöteten und 9.100<br />

Verwundeten e<strong>in</strong> erschreckendes Ausmaß annehmen.<br />

Auch wenn die diversen Zahlenwerke von unterschiedlichen Voraussetzungen<br />

ausgehen und <strong>in</strong> ihren Aussagen mit Vorsicht zu bewerten s<strong>in</strong>d, lässt sich e<strong>in</strong><br />

niederschmetternder Trend herauslesen: Die Terrorismus-Problematik hat sich nach<br />

2001 nicht abgeschwächt; der Kampf gegen den Terror ist von e<strong>in</strong>em Sieg noch weit<br />

entfernt.<br />

II<br />

Elemente der Strukturentwicklung der al-Qa’ida<br />

Die Internet-Suchmasch<strong>in</strong>e Google meldet über sechs Millionen E<strong>in</strong>träge bei dem<br />

Begriff „al-qaida“; je nach Schreibweise werden sogar über acht Millionen Treffer<br />

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angezeigt. Dies vermittelt den E<strong>in</strong>druck, es gebe e<strong>in</strong> vielfältiges und gesichertes<br />

Wissen zu diesem Phänomen. Auch wenn die Kenntnisse seit 2001 erheblich<br />

zugenommen haben, bleiben „weiße Flecken“. Außerdem bef<strong>in</strong>den sich al-Qa’ida und<br />

ihre Ideologie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ständigen Wandlungsprozess. Sie passen sich unter dem<br />

Verfolgungsdruck an, wie auch wir uns den Herausforderungen durch den<br />

<strong>in</strong>ternationalen Terrorismus anpassen - besser noch: ihnen vorgreifen - müssen.<br />

In den 1970er und 1980er Jahren beschränkten sich islamistisch motivierte Terroristen<br />

weitgehend darauf, Anschläge im eigenen Land auszuführen (Beispiel Libanon,<br />

Ägypten). Vor allem nationalistische Paläst<strong>in</strong>ensergruppen machten auf<br />

<strong>in</strong>ternationaler Ebene von sich Reden. In den 1990er Jahren, mit der Entstehung des<br />

islamistisch motivierten Internationalen Terrorismus, <strong>in</strong>ternationalisierte sich auch der<br />

Aktionsradius. Usama B<strong>in</strong> Laden konnte bereits <strong>in</strong> den 1990er Jahren auf e<strong>in</strong>e solide<br />

und vernetzte transnationale Anhängerschaft <strong>in</strong> Pakistan und auf der Arabischen<br />

Halb<strong>in</strong>sel vertrauen. Das Netzwerk hatte Ausläufer <strong>in</strong> Europa und e<strong>in</strong>e Zelle <strong>in</strong><br />

Ostafrika. Nach Südostasien gab es enge Verb<strong>in</strong>dungen zur Jemaah Islamiyah.<br />

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Probeläufe für die Katastrophe des 11.<br />

September: Das Komplott gegen das World Trade Center 1993 und die<br />

Anschlagsplanungen gegen den <strong>in</strong>ternationalen Luftverkehr 1994/95 <strong>in</strong> Manila.<br />

Beteiligt waren damals Ramzi Yussef und se<strong>in</strong> Onkel, der spätere 9/11-Planer Khaled<br />

Sheikh Mohammed.<br />

Nach 9/11 s<strong>in</strong>d zwar ke<strong>in</strong>e Anschläge mehr <strong>in</strong> den USA realisiert worden. Dafür aber<br />

konzentrierte sich nach e<strong>in</strong>er langen Pause das Geschehen wieder <strong>in</strong> Saudi-Arabien,<br />

darüber h<strong>in</strong>aus <strong>in</strong> Kuwait, Jemen, <strong>in</strong> Nordafrika, <strong>in</strong> der Türkei, auf Bali, <strong>in</strong> Madrid, <strong>in</strong><br />

London und natürlich auch im Irak. Die deutliche Ausweitung auf bisher noch nicht<br />

betroffene Staaten und Regionen muss auch als Folge e<strong>in</strong>er <strong>Dezentralisierung</strong><br />

betrachtet werden. Zu ihm sah sich der <strong>in</strong>ternationale Jihad gezwungen, nachdem die<br />

USA und ihre Verbündeten seit Ende 2001 gegen die Operationsbasis der al-Qa’ida <strong>in</strong><br />

Afghanistan vorgegangen waren. E<strong>in</strong> weitergehendes Ausgreifen des Internationalen<br />

Terrors ist noch nicht abgeschlossen. Weitere, bislang unberührte Regionen s<strong>in</strong>d<br />

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edroht. Und: Es gilt bereits als Erfolg im Kampf gegen den Terrorismus, dass es al-<br />

Qa’ida bislang nicht gelungen ist, <strong>in</strong> den letzten Jahren e<strong>in</strong>en islamistischen Aufstand<br />

gegen die Regierungen <strong>in</strong> Pakistan und Saudi-Arabien herbeizuführen.<br />

Was also war al-Qa’ida im Jahr 2001 und was ist al-Qa’ida heute? Zur Beantwortung<br />

dieser Frage folgt – nach e<strong>in</strong>em kurzen Rückblick auf die Struktur bis 2001 – e<strong>in</strong>e<br />

Kurze<strong>in</strong>schätzung zu den wichtigsten Entwicklungstendenzen des islamistisch<br />

motivierten Terrorismus. Sie konzentriert sich auf folgende Punkte:<br />

o Entwicklung der al-Qa’ida von e<strong>in</strong>er Organisation zu e<strong>in</strong>er Ideologie.<br />

o <strong>Dezentralisierung</strong>.<br />

o Herausbildung neuer Mobilisierungs- und Rekrutierungsmethoden.<br />

o Entstehung neuer terroristischer Strukturen aus den Fragmenten des al-<br />

Qa’ida—Netzwerkes.<br />

II.1 Die Struktur der al-Qa’ida vor dem 07. Oktober 2001<br />

Mit der e<strong>in</strong>mütigen Verurteilung der Anschläge vom 11. September 2001 durch die<br />

Generalversammlung und den Sicherheitsrat der Vere<strong>in</strong>ten Nationen durch Resolution<br />

1368 vom 12. September 2001 wurde der Boden für e<strong>in</strong>e weltweit verstärkte<br />

Bekämpfung des Internationalen Terrorismus bereitet. Die Resolution 1373 vom<br />

28. September 2001 sowie die weiteren darauf folgenden Anti-Terrorismus-<br />

Resolutionen zielten vor allem darauf, terroristischen Organisationen weltweit die<br />

logistischen und f<strong>in</strong>anziellen Grundlagen ihrer Aktivitäten zu entziehen.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus begann am 7. Oktober 2001 die Operation Endur<strong>in</strong>g Freedom der<br />

Anti-Terror-Koalition <strong>in</strong> Afghanistan. Ziel war vor allem die Zerstörung des<br />

symbiotischen Verhältnisses zwischen dem Staat der Taleban und der<br />

Terrororganisation al-Qa’ida. Gerade dieses Verhältnis hatte bis dah<strong>in</strong> die Stärke al-<br />

Qa’idas ausgemacht. Die Taleban ihrerseits profitierten von e<strong>in</strong>em anderen<br />

symbiotischen Verhältnis: Aus geostrategischen Gründen wurden sie von<br />

pakistanischen Stellen, hier vor allem dem Nachrichtendienst ISI (Inter Services<br />

Intelligence), unterstützt. Die Unterstützung erfolgte <strong>in</strong> Form von Geld, Waffen und<br />

Munition für den <strong>in</strong>nerafghanischen Bürgerkrieg. Im Kaschmirkonflikt spielte der<br />

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pakistanische Nachrichtendienst und damit die pakistanische Armee e<strong>in</strong>e wichtige<br />

Rolle bei der Ausbildung und Ausrüstung der dort gegen <strong>in</strong>dische Interessen<br />

operierenden kaschmirischen Gruppen. Somit gewann al-Qa’ida e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>direkte quasistaatliche<br />

Unterstützung, die es ihr erlaubte, von äußeren Fe<strong>in</strong>den abgeschirmt zu<br />

agieren.<br />

E<strong>in</strong>e Professionalisierung, wie al-Qa’ida sie durchlaufen hat, ist nicht ganz ohne<br />

staatliche Freiräume und staatliches Know-how zu haben. Das war auch bei den<br />

deutschen bzw. europäischen terroristischen Organisationen der Fall, wie z.B. die<br />

Ausbildung von RAF-Kadern se<strong>in</strong>erzeit im Jemen oder <strong>in</strong> den paläst<strong>in</strong>ensischen<br />

Lagern Libanons gezeigt hat.<br />

Erst die Militärschläge der Anti-Terror-Koalition beendeten die unheilige Allianz<br />

zwischen al-Qa’ida, Taleban und pakistanischen Sicherheitskreisen. Beim Verlust des<br />

afghanischen Freiraums Ende 2001 befand sich dieser Zentralisierungsprozess der al-<br />

Qa’ida noch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em frühen Stadium. Er hatte 1996/97 begonnen, mit dem<br />

Bündnisschluss zwischen dem gebürtigen Saudi Usama B<strong>in</strong> Laden und se<strong>in</strong>em<br />

heutigen ägyptischen „Stellvertreter“ Ayman az-Zawahiri. E<strong>in</strong> erstes Projekt<br />

zwischen 1991 und 1996 im Sudan war abgebrochen worden, nachdem B<strong>in</strong> Laden auf<br />

Druck der US-Regierung das Land verlassen musste. Zu dem Zeitpunkt waren bereits<br />

se<strong>in</strong>e Zellen <strong>in</strong> Ostafrika etabliert, die 1998 <strong>in</strong> Kenia und Tansania zuschlagen sollten.<br />

Der Umzug nach Afghanistan war für B<strong>in</strong> Laden e<strong>in</strong>e Rückkehr zu den Wurzeln und<br />

e<strong>in</strong>e für ihn glückliche Fügung. Dort hatte er <strong>in</strong> den letzten Kriegsjahren gegen die<br />

sowjetischen Invasoren die Anerkennung der <strong>in</strong>ternationalen Mujahed<strong>in</strong> gewonnen<br />

und se<strong>in</strong> organisatorisches Geschick unter Beweis gestellt.<br />

Zwischen 1996 und 2001 bauten B<strong>in</strong> Laden und Zawahiri das zunächst sehr lose<br />

organisierte Bündnis von Gotteskriegern zu e<strong>in</strong>er schlagkräftigen Organisation aus. In<br />

diesen Jahren versuchte al-Qa’ida, die Kontrolle über alle E<strong>in</strong>richtungen arabischer<br />

Exilanten <strong>in</strong> Afghanistan und <strong>in</strong> Pakistan zu gew<strong>in</strong>nen. Hierzu gehörten vor allem die<br />

Ausbildungslager <strong>in</strong> Afghanistan selbst. Ab 1996 entstanden Komitees mit genau<br />

def<strong>in</strong>ierten Aufgaben, wie etwa für F<strong>in</strong>anzen, militärische und terroristische<br />

Ausbildung oder Religionsfragen. Arabische Mujahed<strong>in</strong>, die bisher weitgehend<br />

unabhängig agiert hatten, konnten e<strong>in</strong>gebunden werden. Bekanntestes Beispiel ist<br />

Seite 9 von 21


Khaled Sheikh Mohammed, der zum Organisator der Anschläge des 11. September<br />

avancierte. Abu Mus’ab az-Zarqawi konnte im west-afghanischen Herat dagegen e<strong>in</strong>e<br />

gewisse Unabhängigkeit wahren und leistete erst 2004 se<strong>in</strong>en Eid auf B<strong>in</strong> Laden, als<br />

er sich formell mit dem al-Qa’ida-Kommando im Irak betrauen ließ.<br />

II.2<br />

Von der Organisation zur Ideologie<br />

Im W<strong>in</strong>ter 2001 fiel zwar Afghanistan für al-Qai’da, ihr globales Netzwerk konnte<br />

damit jedoch nicht zerstört werden. Es war ihr weiterh<strong>in</strong> möglich, terroristische<br />

Anschläge zu planen, zu f<strong>in</strong>anzieren und ihre Durchführung zu überwachen.<br />

Verhaftungen und der Tod wichtiger Persönlichkeiten schwächten die operative<br />

Schlagkraft der Organisation allerd<strong>in</strong>gs beträchtlich. Es wurde immer schwieriger, mit<br />

den e<strong>in</strong>zelnen Zellen und Anhängern weltweit zu kommunizieren. Dennoch gelang es<br />

al-Qa’ida-Angehörigen und verbündeten Gruppierungen weiterh<strong>in</strong>, verheerende<br />

Attentate zu verüben. An die Stelle der Organisation al-Qa’ida traten e<strong>in</strong>e Reihe von<br />

neuen Organisationsformen, deren Angehörige oft nur noch mittelbar mit Usama B<strong>in</strong><br />

Laden und Ayman az-Zawahiri <strong>in</strong> Kontakt standen.<br />

Auch wenn die al-Qa’ida-Führung im pakistanisch-afganischen Grenzgebiet derzeit<br />

nur noch e<strong>in</strong>e begrenzte operative Rolle bei den weltweiten, islamistisch motivierten<br />

Attentaten zu spielen sche<strong>in</strong>t, bef<strong>in</strong>det sich ihre Ideologie im Aufschwung. Auf<br />

Term<strong>in</strong>ologie, Ideologie und den Namen al-Qa’ida greifen <strong>in</strong>ternationale Terroristen<br />

zurück, um sich zu def<strong>in</strong>ieren und zu legitimieren. Das Steuerungs-Instrument B<strong>in</strong><br />

Ladens und Zawahiris s<strong>in</strong>d Audio- und Videobotschaften, <strong>in</strong> denen auch Strategien<br />

und Ziele vorgegeben werden. Sie dokumentieren damit, dass sie trotz der<br />

militärischen Überlegenheit ihrer Fe<strong>in</strong>de ungebrochen s<strong>in</strong>d und stärken so die<br />

Motivation ihrer islamistischen Anhänger. Ihre Botschaft wird aufgegriffen, variiert<br />

und weiter verbreitet. Die mediale Präsenz erweckt dabei den E<strong>in</strong>druck, es gelänge<br />

der al-Qa’ida, mit ihrem Hauptfe<strong>in</strong>d, den USA, auf Augenhöhe zu kommunizieren. So<br />

stärken sie die <strong>in</strong> der islamischen Welt verbreitete Perzeption, es handele sich bei<br />

diesem Konflikt tatsächlich um e<strong>in</strong>en „Krieg“ zweier gleichberechtigter Akteure. Die<br />

schmerzliche Opferbilanz der USA im Irak und die Fokussierung der islamistischen<br />

Terroranschläge auf den Irak unterstreichen diesen Ansatz.<br />

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Auch wenn es schwierig ist, die Wirkungen dieser Propaganda umfassend zu<br />

bewerten, ist es offensichtlich, dass sich al-Qa’idas Weltsicht unter jungen Muslimen<br />

ausbreitet. Ihre Präsenz <strong>in</strong> den Medien sche<strong>in</strong>t junge Muslime zu <strong>in</strong>spirieren, eigene<br />

terroristische Zellen zu bilden und Anschläge auszuführen. Al-Qa’idas ideologischer<br />

E<strong>in</strong>fluss hat mit dem Radikalisierungseffekt des Irak-Konflikts weiter zugenommen.<br />

Und das gilt nicht nur für Islamisten im Mittleren Osten, die das Gros der<br />

ausländischen Kämpfer im Irak darstellen, sondern auch für Islamisten <strong>in</strong> Europa. In<br />

Europa lässt sich e<strong>in</strong> direkter operativer E<strong>in</strong>fluss al-Qa’idas oder anderer<br />

transnationaler Organisationen häufig nicht mehr nachweisen. Die Anschläge von<br />

Madrid im März 2004 s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> Beispiel <strong>in</strong> dieser H<strong>in</strong>sicht: Bis heute sieht es so aus,<br />

als habe jene Zelle eigenständig agiert, ohne jegliche Führung durch e<strong>in</strong>en<br />

„Masterm<strong>in</strong>d“, ohne jegliche Verb<strong>in</strong>dung zu e<strong>in</strong>er Kommandozentrale oder<br />

Kontroll<strong>in</strong>stanz.<br />

Bei den Londoner Anschlägen vom Juli 2005 ist die Sachlage wegen der vielfältigen<br />

Pakistan-Bezüge schwieriger: E<strong>in</strong>er der Attentäter, Mohammed Siddiq Khan, betonte<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anfang September 2005 ausgestrahlten Videoaufnahme, dass er „<strong>in</strong>spiriert<br />

wurde von B<strong>in</strong> Laden, Ayman az-Zawahiri und Abu Mus’ab az-Zarqawi“. Auch ohne<br />

Berücksichtigung abschließender Ermittlungsergebnisse zu den London-Anschlägen<br />

ist der Trend zu eigenständigen terroristischen Aktivitäten europäischer Muslime<br />

besonders beunruhigend: Sie s<strong>in</strong>d im Vorfeld kaum zu entdecken und erschweren<br />

damit vorbeugende nachrichtendienstliche und polizeiliche Maßnahmen.<br />

Dessen ungeachtet darf nicht vergessen werden, dass die verbliebene al-Qa’ida-<br />

Führung weiter bemüht ist, eigene Angriffsplanungen unter Ausnutzung all ihrer<br />

E<strong>in</strong>flussmöglichkeiten und Kontakte voranzutreiben.<br />

<strong>II.3</strong><br />

<strong>Dezentralisierung</strong><br />

Mit dem Fall Afghanistans flüchteten viele al-Qa’ida-Angehörige nach Pakistan und<br />

später <strong>in</strong> ihre Heimatländer. Die Handlungsmöglichkeiten der Gesamtorganisation<br />

waren stark e<strong>in</strong>geschränkt, da ihr die Koord<strong>in</strong>ation weltweit zerstreuter Personen und<br />

Kle<strong>in</strong>zellen nicht möglich war. Zwar blieben e<strong>in</strong>zelne Kommunikationsverb<strong>in</strong>dungen<br />

bestehen, doch entwickelten sich zunächst e<strong>in</strong>mal lokal und regional orientierte<br />

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Gruppen. Islamistischer Terrorismus wurde <strong>in</strong> der Konsequenz wieder e<strong>in</strong> regionales<br />

Phänomen des Mittleren Ostens. Dieser Trend wurde verstärkt durch den Krieg im<br />

Irak, wo den islamistischen Terroristen die Möglichkeit eröffnet wurde, direkt gegen<br />

die USA zu kämpfen. Als Folge wurde der Mittlere Osten <strong>in</strong>stabiler als vor dem 11.<br />

September, wie aktuelle terroristische Anschläge <strong>in</strong> Jordanien, auf der Arabischen<br />

Halb<strong>in</strong>sel und <strong>in</strong> Ägypten gezeigt haben.<br />

Seit Anfang 2004 jedoch gehen islamistische Terroristen verstärkt dazu über, neue<br />

Medien zur Mobilisierung und Rekrutierung zu nutzen, allen voran das Internet.<br />

Damit verfolgt die al-Qa’ida u. a. e<strong>in</strong>e Strategie, die der amerikanische<br />

Rechtsextremist Louis Beam 1983 e<strong>in</strong>mal „leaderless resistance“ nannte. Ziel ist es,<br />

bei großen Verlusten auch langfristig aktiv bleiben zu können. So fanden sich im<br />

Internet vor allem Publikationen des saudi-arabischen Flügels der al-Qa’ida, dessen<br />

Angehörige sich auf der Arabischen Halb<strong>in</strong>sel aufhalten. Über e<strong>in</strong> „virtuelles<br />

Tra<strong>in</strong><strong>in</strong>gscamp“ schulten sie ihre Anhänger. Aus ihrem Umkreis stammte auch das im<br />

Internet publizierte „Strategiepapier“ zum Konflikt <strong>in</strong> Irak, <strong>in</strong> dem spanische Truppen<br />

als vorrangiges Ziel von Angriffen genannt wurden und das e<strong>in</strong>e Inspiration für die<br />

Attentäter von Madrid gewesen zu se<strong>in</strong> sche<strong>in</strong>t.<br />

Bilder, wie die von den Misshandlungen irakischer Gefangener <strong>in</strong> Abu Ghraib, waren<br />

Wasser auf die Mühlen der im Entstehen begriffenen islamistischen<br />

Propagandamasch<strong>in</strong>erien. Sie mobilisierten die muslimische Jugend, sorgten für<br />

Rekruten und dienen immer noch zur Bemäntelung eigener Grausamkeiten. Nach dem<br />

Präzedenzfall des US-Journalisten Daniel Pearl <strong>in</strong> Pakistan, der 2002 <strong>in</strong> Geiselhaft<br />

ermordet wurde, bedienen sich <strong>in</strong>ternationale Jihadisten seit 2004 verstärkt e<strong>in</strong>er<br />

besonders brutalen Variante der Öffentlichkeitsarbeit: Ermordung e<strong>in</strong>er Geisel vor<br />

laufender Kamera. Im Fall des am 11. Mai 2005 <strong>in</strong> Irak enthaupteten US-<br />

Staatsbürgers Nick Berg wurde dies auch <strong>in</strong> Teilen der US-Öffentlichkeit mit der<br />

Misshandlung irakischer Gefangener durch US-Soldaten <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht.<br />

E<strong>in</strong>e derart archaisch anmutende Tötung, die Zarqawi selbst zugeschrieben wurde,<br />

ruft im Westen große Ängste hervor, zeugt aber von e<strong>in</strong>er Tendenz zu professioneller<br />

und effektiver Vorgehensweise. Denn der <strong>in</strong>ternationale Terrorismus lebt von der<br />

Steigerung se<strong>in</strong>er medialen Präsenz und Wirkung. Die Reaktion der Gegenseite wird<br />

genau berechnet; der logistische Aufwand ist überschaubar.<br />

Seite 12 von 21


II.4<br />

Mobilisierung- und Rekrutierung<br />

Mit der vielfältigen und professionellen Nutzung der Medien gel<strong>in</strong>gt es al-Qa’ida, die<br />

Rekrutierungsbemühungen ihrer Anhänger weltweit zu unterstützen. Seit Ende 2001<br />

gelangen al-Qa’ida und ihren verbündeten Gruppierungen e<strong>in</strong>e Vielzahl neuer<br />

Rekrutierungen. Dies zeigte sich besonders deutlich an dem Anschlag <strong>in</strong> Casablanca<br />

2003. Die überwiegende Mehrzahl der jugendlichen Attentäter war nie nach<br />

Afghanistan gereist, sondern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em lokalen Armenviertel rekrutiert worden. Hier<br />

lief die Rekrutierung noch auf traditionelle Weise ab: E<strong>in</strong> Afghanistan-Rückkehrer<br />

begeisterte lokale Jugendliche für den Märtyrertod im Kampf gegen den Westen.<br />

Der Trend zu e<strong>in</strong>er stärker lokal und regional orientierten Vorgehensweise zeigte sich<br />

beispielhaft 2003 auch bei den Mai- und November-Anschlägen auf <strong>in</strong>ternationale<br />

Ziele <strong>in</strong> Riad. Im November 2003 schließlich griffen türkische Mudjahed<strong>in</strong> britische<br />

Ziele <strong>in</strong> Istanbul an. In allen diesen Fällen verübten e<strong>in</strong>heimische Terroristen <strong>in</strong> ihren<br />

jeweiligen Heimatländern Attentate. Bei den London-Attentätern vom 7. Juli 2005 ist<br />

die al-Qa’ida-Handschrift – wie bereits angedeutet – aufgrund der vielfältigen Bezüge<br />

nach Pakistan möglicherweise deutlicher.<br />

Der Vorbildcharakter al-Qa’idas als kämpfender religiöser Organisation und der<br />

Mythos Usama B<strong>in</strong> Ladens generiert darüber h<strong>in</strong>aus Resonanzaktivitäten völlig<br />

eigenständiger Gruppen. Sie passen sich den strategischen L<strong>in</strong>ien des Netzwerkes an<br />

und adaptieren die modi operandi. Als Beispiele seien hier vor allem die S<strong>in</strong>ai-<br />

Anschläge gegen Tourismus-E<strong>in</strong>richtungen im Oktober 2004 und Juli 2005 genannt.<br />

Die Rückkehr zum dezentralen, fast autonomen Ansatz er<strong>in</strong>nert an die deutschen<br />

Terrorismuserfahrungen mit dem Netzwerk der Revolutionären Zellen (RZ), deren<br />

Ausbreitungsansätze dem klandest<strong>in</strong>en Charakter der RZ ebenso zu entsprechen<br />

hatten wie das Erlernen der Militanz <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en Schritten.<br />

Seite 13 von 21


II.5<br />

Die Entstehung neuer terroristischer Netzwerke<br />

Als Folge der Isolierung der Führung von al-Qa’ida <strong>in</strong> der afghanisch-pakistanischen<br />

Grenzregion haben neue Organisationen ihren Platz im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Avantgarde des<br />

islamistischen Terrorismus übernommen. Diese standen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er mehr oder weniger<br />

<strong>in</strong>timen Beziehung zu Usama B<strong>in</strong> Laden, aber haben es nie akzeptiert, von ihm oder<br />

se<strong>in</strong>er Organisation kontrolliert zu werden.<br />

Das beste Beispiel für diesen Trend ist die Organisation von Abu Mus’ab az-Zarqawi.<br />

Um ihn hat sich e<strong>in</strong> wachsendes Netzwerk gebildet, das die Terroristen logistisch<br />

unterstützt und neue Kämpfer zuführt. An der Ausgestaltung e<strong>in</strong>er eigenen<br />

Organisation hatte Zarqawi bereits vor se<strong>in</strong>en Aktivitäten <strong>in</strong> Irak gearbeitet und - wie<br />

das al-Tawhid-Verfahren <strong>in</strong> Düsseldorf gezeigt hat - auch mit Ausformungen nach<br />

Deutschland. Aber erst mit dem Irak-Krieg erlangte er Bedeutung als Führer der<br />

Medien-wirksamsten terroristischen Gruppe <strong>in</strong>nerhalb der irakischen Aufständischen.<br />

Se<strong>in</strong> Netzwerk hat spürbar an Bedeutung gewonnen und wirkt auf viele <strong>in</strong>ternationale<br />

Jihadisten wie e<strong>in</strong> Magnet. Es ist lockerer und diffuser strukturiert als al-Qa’ida,<br />

zudem gut vernetzt <strong>in</strong> die irakische Gesellschaft. Sicherheit hat für Zarqawi höchste<br />

Priorität. Es ist ziemlich wahrsche<strong>in</strong>lich, dass der Kern se<strong>in</strong>es Netzwerks im Irak<br />

heutzutage überwiegend aus Irakern besteht, woh<strong>in</strong>gegen Ausländer e<strong>in</strong>en großen Teil<br />

der Rekrutierten für Selbstmordanschläge darstellen.<br />

In e<strong>in</strong>er Phase hoher publizistischer Aktivitäten verkündete Zarqawi Ende 2004 se<strong>in</strong>e<br />

Gefolgschaft gegenüber B<strong>in</strong> Laden und al-Qa’ida, ohne dabei jedoch se<strong>in</strong>e<br />

Unabhängigkeit e<strong>in</strong>zubüßen. Zarqawis spezifische Agenda wie auch se<strong>in</strong>e<br />

Selbstdarstellung und Taktik unterstreichen se<strong>in</strong>e ungebrochene Eigenständigkeit.<br />

Gleichwohl ist Zarqawi nur e<strong>in</strong> Beispiel für die katalytische Wirkung des Irak-<br />

Krieges. Ansar al-Sunna, bekannt auch als Ansar al-Islam, ist e<strong>in</strong> weiteres Beispiel für<br />

e<strong>in</strong>e Organisation, die durch den Irak-Krieg <strong>in</strong>s Rampenlicht geriet. Diese irakischkurdischen<br />

Terroristen kooperieren mit Zarqawi wie auch mit anderen Teilen des<br />

irakischen Widerstands.<br />

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III<br />

Herausforderungen für Deutschland und den Westen<br />

Die Wahrnehmung von terroristischer Bedrohung durch Gesellschaft und Politik folgt<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er offenen demokratischen Gesellschaft u.a. auch den "medialen Gesetzen des<br />

Marktes". Anschläge mit deutschen Opfern <strong>in</strong> unserem Land entwickeln e<strong>in</strong>e stärkere<br />

dauerhafte Bedrohungsperzeption als Anschläge mit deutschen Opfern außerhalb<br />

Europas. Dass bislang Anschlagsvorbereitungen unterbunden und organisatorische<br />

Ansätze zerschlagen werden konnten, bietet ke<strong>in</strong>e Garantie für die Zukunft.<br />

Deutschland oder deutsche Interessen zählen zum Zielspektrum islamistisch<br />

motivierter Terroristen. Dies haben sowohl die al-Qa’ida-Führer B<strong>in</strong> Laden und<br />

Zawahiri als auch die Unterstützer-Szene <strong>in</strong> der Vergangenheit hervorgehoben.<br />

Letztlich hat al-Qa’ida e<strong>in</strong>e Blanko-Legitimation für Attentate gegen die Interessen<br />

jedes westlichen Staates erteilt, der sich <strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Weise am Anti-Terror-Kampf<br />

beteiligt.<br />

Deutschlands Engagement im Rahmen der Operation „Endur<strong>in</strong>g Freedom“, se<strong>in</strong>e<br />

Beteiligung an Mandaten <strong>in</strong> Afghanistan, Horn von Afrika und Balkan, aber auch<br />

unser besonderes Verhältnis zu Israel machen uns <strong>in</strong> den Augen islamistischer<br />

Netzwerke zu e<strong>in</strong>em Teil der Koalition gegen den Islam und zu e<strong>in</strong>em der wichtigsten<br />

Verbündeten der USA auf dem europäischen Festland. H<strong>in</strong>zuweisen ist <strong>in</strong> diesem<br />

Zusammenhang nicht nur auf den schweren Anschlag gegen deutsche Touristen 2002<br />

auf Djerba, sondern auch auf die Anschläge gegen deutsche ISAF-Soldaten 2003 und<br />

2005 <strong>in</strong> Afghanistan.<br />

Die Bedrohungslage durch den islamistisch motivierten Terrorismus wird sich auch<br />

künftig nicht von der Entwicklung der Konflikte der Region trennen lassen. Die<br />

Konfliktlage im Nahen Osten ist durch den Afghanistan-Krieg und den Irak-Krieg<br />

facettenreicher geworden. Sie wird sich <strong>in</strong> den arabischen Staaten zuspitzen<br />

angesichts der demographischen Entwicklung und der daraus resultierenden sozioökonomischen<br />

Folgen. Wachsender Anti-Amerikanismus bei hohem<br />

Bevölkerungswachstum bietet islamistischen Rekrutierungsbemühungen gute<br />

Rahmenbed<strong>in</strong>gungen auch für die Zukunft.<br />

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Die Rezepte zur Problembewältigung <strong>in</strong> den muslimischen Staaten s<strong>in</strong>d<br />

unterschiedlich: Von der bed<strong>in</strong>gungslosen Repression bis h<strong>in</strong> zu Versuchen, auf<br />

gemäßigte Islamisten zuzugehen, um das Betätigungsfeld des Internationalen<br />

Terrorismus e<strong>in</strong>zuengen, s<strong>in</strong>d viele Varianten zu beobachten. Die Probleme <strong>in</strong> Saudi-<br />

Arabien und Pakistan, den islamistischen Terrorismus e<strong>in</strong>zugrenzen, s<strong>in</strong>d nicht zu<br />

übersehen. Die verschärfte Repression gegen islamistische Strukturen und<br />

E<strong>in</strong>zelpersonen nach Jahren der Gleichgültigkeit oder Halbherzigkeit führt zu <strong>in</strong>neren<br />

Spannungen. Es gibt darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e Reihe von Staaten mit muslimischer<br />

Bevölkerungsmehrheit oder beachtlichen M<strong>in</strong>derheiten, <strong>in</strong> denen Tendenzen fragiler<br />

Staatlichkeit deutlich hervortreten.<br />

Der Irak-Konflikt und der mit ihm e<strong>in</strong>hergehende Anti-Amerikanismus verstärken die<br />

Legitimationsdefizite vor allem der Staaten des muslimischen Krisenbogens, die den<br />

USA besonders verbunden s<strong>in</strong>d. Die offenkundigen Schwierigkeiten der USA im Irak,<br />

Sicherheit und Ordnung wieder herzustellen und die daraus gezogene Konsequenz,<br />

durch Nichtpräsenz Angriffsflächen abzubauen, könnte zu falschen<br />

Schlussfolgerungen führen: Sicherheit kehrt zurück, wenn sich die USA<br />

zurückziehen. Damit wächst der Druck auf arabische und islamische Regierungen, ihr<br />

Engagement zugunsten der USA oder die Anwesenheit von US-Truppen bzw.<br />

Beratern zu überdenken und zu reduzieren.<br />

Die aufgezeigten <strong>in</strong>ternationalen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen verh<strong>in</strong>dern, dass es <strong>in</strong><br />

absehbarer Zeit zu e<strong>in</strong>er Implosion des islamistisch motivierten Terrors kommt. Es<br />

fehlt der Schalter, mit dem sich e<strong>in</strong>e terroristischen Organisation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e politisch<br />

berechenbare Kraft transformieren lässt. Dieser e<strong>in</strong>e Hauptschalter, der etwa mittels<br />

e<strong>in</strong>er mutigen politischen Entscheidung betätigt werden könnte, existiert allenfalls bei<br />

klar def<strong>in</strong>ierten, regional begrenzten Phänomenen. Der Internationale Terrorismus hat<br />

<strong>in</strong>zwischen zahlreiche Metastasen produziert und ist an so viele Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

geknüpft, dass der entscheidende Druckpunkt für den Schaltmechanismus fehlt.<br />

Damit entziehen sich diese Netzwerke auch der Kalkulierbarkeit. Sie s<strong>in</strong>d nicht Teil<br />

unserer politischen Rationalität e<strong>in</strong>schließlich der Ziel-Mittel-Relation bisheriger<br />

terroristischer Organisationen. Islamistische Netzwerke folgen ihrer eigenen Ziel-<br />

Mittel-Relation, sie denken und planen <strong>in</strong> mehreren Generationen und unterscheiden<br />

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sich damit deutlich von sozial-revolutionär motivierten Gruppen, mit denen wir <strong>in</strong> den<br />

1970er und 1980er Jahren konfrontiert waren.<br />

IV E<strong>in</strong>e neue Bedrohung für Europa und Deutschland<br />

Die aktuelle Welle terroristischer Zwischenfälle im Mittleren Osten und <strong>in</strong> Europa<br />

zw<strong>in</strong>gt uns, die Bedrohung, die von islamistisch motivierten Terroristen ausgeht, neu<br />

zu bewerten und zu betrachten. Die Anschläge auf die Züge <strong>in</strong> Madrid vom März<br />

2004 und <strong>in</strong> London vom 7. Juli 2005 haben verdeutlichen, dass europäische Staaten<br />

zu den wichtigsten Zielen dieser Netzwerke zählen. In Madrid zielten die <strong>in</strong> Spanien<br />

wohnhaften nordafrikanischen Attentäter direkt auf den Abzug spanischer Truppen<br />

aus dem Irak. In London erwarteten die Selbstmordattentäter ke<strong>in</strong>en Rückzug der<br />

Briten, aber sie protestierten gegen die Rolle Großbritanniens im Irak. Italien steht als<br />

Kriegsteilnehmer ebenso auf der Liste wie die Niederlande oder andere am Irak-<br />

Konflikt direkt beteiligte Staaten <strong>in</strong> Osteuropa.<br />

Wir müssen uns <strong>in</strong> dem Zusammenhang jedoch vor Augen halten, dass der<br />

Terrorismus nicht zwangsläufig nach Europa importiert wird, sondern an Ort und<br />

Stelle entsteht. Drei der vier Londoner Selbstmordattentäter pakistanischer Herkunft<br />

waren <strong>in</strong> Großbritannien geboren. Auch im Raum Paris haben sich junge Franzosen<br />

maghreb<strong>in</strong>ischer Herkunft für den Irak-Krieg begeistern lassen. Im November 2005<br />

hat e<strong>in</strong>e konvertierte Belgier<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Selbstmordanschlag <strong>in</strong> Irak verübt.<br />

Die sogenannte Hofstad-Gruppe <strong>in</strong> den Niederlanden, <strong>in</strong> deren Reihen sich der<br />

Mörder des Filmemachers Theo von Gogh (November 2004) bewegte, setzt sich<br />

zusammen aus marokkanisch-stämmigen jungen Menschen und Konvertiten, die <strong>in</strong><br />

den Niederlanden geboren waren. Besonders erschreckend ist der Fall e<strong>in</strong>es<br />

<strong>in</strong>zwischen 19-jährigen, der sich bereits 2003 für den Jihad begeisterte und dem<br />

Anschlagsplanungen <strong>in</strong> den Niederlanden vorgeworfen wurden. Ermittlungsverfahren<br />

haben ihn bislang von se<strong>in</strong>en mutmaßlichen Planungen ansche<strong>in</strong>end nicht abhalten<br />

können.<br />

Alle diese Ereignisse zeigen verschiedene Trends auf:<br />

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o Die zunehmende Bedeutung der europäischen Muslime als Rekrutierungspool.<br />

o Die Auto-Radikalisierung sche<strong>in</strong>bar assimilierter Muslime.<br />

o Die verstärkten Terroraktivitäten mit Ziel Europa.<br />

Die muslimische Diaspora ist offensichtlich e<strong>in</strong> verstärkender Faktor <strong>in</strong>nerhalb<br />

islamistisch motivierter Terrornetzwerke. Seit den 1990er Jahren hat die Bedeutung<br />

des muslimischen Diaspora-Elements für die terroristischen Netzwerke zugenommen.<br />

Nehmen wir zum Beispiel die Hamburger Zelle des 11. September um Mohammed<br />

Atta: Diese Hamburger Zelle stellte drei der vier Piloten, die für den „Erfolg“ der<br />

Operation unabd<strong>in</strong>gbar waren. Gleichwohl war die überwiegende Mehrheit der<br />

Flugzeugentführer saudischer Herkunft, die nie außerhalb der islamischen Welt gelebt<br />

hatten.<br />

Seit London ist jedem klar, dass es tatsächlich sche<strong>in</strong>bar assimilierte Briten<br />

pakistanischer Herkunft gibt, die auch der Ideologie al-Qa’idas verfallen s<strong>in</strong>d. Wenn<br />

das der Fall ist, müssen wir uns fragen, ob nicht auch andere muslimische<br />

M<strong>in</strong>derheiten <strong>in</strong> Europa von der al-Qa’ida-Ideologie angezogen werden. Wenn al-<br />

Qa’ida Erfolg haben sollte, ihre Anziehungskraft auch auf Nicht-Araber auszuüben,<br />

dann wird die Bedrohung für deutsche Ziele <strong>in</strong> der nahen Zukunft zunehmen. Wenn<br />

sich Diaspora-Muslime radikalisieren, trifft dieser Trend <strong>in</strong> logischer Konsequenz<br />

auch e<strong>in</strong>e zunehmende Zahl von Konvertiten: Auf ihnen lastet stärker noch der Druck,<br />

ihre Glaubensfestigkeit unter Beweis zu stellen.<br />

Neben der durch traditionelle Terrorgruppen wie Ansar al-Sunna/Ansar al-Islam<br />

organisierten Unterstützung für den Jihad im Irak gibt es auch E<strong>in</strong>zelpersonen oder<br />

kle<strong>in</strong>e Gruppen europäischer Muslime, die sich eigenständig <strong>in</strong>s Kriegsgebiet begeben<br />

haben. Vor allem Nordafrikaner fallen <strong>in</strong> diesem Zusammenhang auf.<br />

Radikale Zellen <strong>in</strong> Europa werden versuchen, sich <strong>in</strong> größeren Netzwerken zu<br />

organisieren, um - wie ihre Glaubensbrüder <strong>in</strong> muslimischen Staaten - den Jihad im<br />

Irak aktiv zu unterstützen. In den vergangenen Jahren haben sich <strong>in</strong> Europa Strukturen<br />

aus irakischen Kurden und Arabern entwickelt, um die kurdisch-irakische<br />

Organisation Ansar al-Islam/Ansar al-Sunna zu f<strong>in</strong>anzieren oder <strong>in</strong> anderer Weise zu<br />

unterstützen. Bereits Ende 2003 haben italienische Behörden e<strong>in</strong>e Zelle <strong>in</strong> Mailand<br />

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aufgedeckt, die Geld gesammelt und Kämpfer über Syrien <strong>in</strong> den Irak geschmuggelt<br />

hatte. Andere Zellen operierten u.a. von Deutschland und Skand<strong>in</strong>avien aus. Dabei<br />

verdient e<strong>in</strong> Punkt besondere Beachtung: Obwohl Deutschland seit Beg<strong>in</strong>n des Irak-<br />

Krieges ke<strong>in</strong>es der Hauptziele islamistisch motivierter Terroristen ist, musste im<br />

Dezember 2004 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e - noch dilettantische - Anschlagsplanung vereitelt<br />

werden. In Deutschland lebende Mitglieder der Ansar al-Islam/Ansar al-Sunna hatten<br />

geplant, den damaligen irakischen M<strong>in</strong>isterpräsidenten Iyad Allawi während se<strong>in</strong>es<br />

Besuches <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> zu töten. Deutschland wurde zum geplanten Anschlagsort, weil<br />

sich dort gerade zufällig e<strong>in</strong> passendes Ziel geboten hatte.<br />

Wir können nur schätzen, wie viele Jihad-Freiwillige aufgebrochen s<strong>in</strong>d. Außerdem<br />

wissen wir auch nicht, ob e<strong>in</strong>e nennenswerte Zahl wieder nach Europa zurückkehren<br />

wird. Wir müssen aber nach den Erfahrungen mit den Afghanistan-Veteranen damit<br />

rechnen, dass auch Irak-Veteranen aus muslimischen Staaten nach Europa ausweichen<br />

werden, wenn e<strong>in</strong>e Rückkehr <strong>in</strong> ihre Heimat und e<strong>in</strong> Verbleib dort von örtlichen<br />

Behörden verh<strong>in</strong>dert wird. Und wir wissen: E<strong>in</strong>e ger<strong>in</strong>ge Zahl von Irak-Veteranen <strong>in</strong><br />

Europa, die entweder als Multiplikator wirken oder selbst <strong>in</strong> Europa aktiv werden,<br />

reicht bereits aus, um verheerende Anschläge durchzuführen. Al-Qa’ida und das<br />

Zarqawi-Netzwerk könnten diese Irak-Heimkehrer dazu nutzen, den Terrorismus<br />

verstärkt nach Europa zu tragen.<br />

V<br />

Fazit<br />

Die Zeit nach dem 11. September hat uns gelehrt, dass al-Qa’ida oder, um e<strong>in</strong>en<br />

allgeme<strong>in</strong>eren Begriff zu gebrauchen, transnationale terroristische Netzwerke<br />

lernende (lernfähige) Organisationen s<strong>in</strong>d. Das heißt: Sie s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Lage, sich an<br />

ausgesprochen fe<strong>in</strong>dliche Rahmenbed<strong>in</strong>gungen anzupassen. Das zw<strong>in</strong>gt uns, die<br />

Bedrohung, die von islamistischen Terroristen <strong>in</strong> Europa oder die vom Irak nach<br />

Europa zurückgekehrten Jihadisten ausgeht, zu überdenken.<br />

Wenn wir davon ausgehen, dass die Verb<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong>nerhalb der terroristischen<br />

Netzwerke lockerer und undurchsichtiger werden, wenn es kaum H<strong>in</strong>weise auf e<strong>in</strong>e<br />

Befehls- oder Kontrollstruktur gibt, müssen die Nachrichtendienste sich auch darauf<br />

konzentrieren, radikale E<strong>in</strong>zelpersonen ausf<strong>in</strong>dig zu machen und nicht nur die bereits<br />

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ekannten Gruppen und ihre Kommunikationsmittel. In unserem Fokus sollten<br />

durchsetzungs- und überzeugungsstarke Extremisten stehen, die sich Zugang zu den<br />

nötigen operativen Mitteln wie Sprengstoffe und Waffen verschaffen können und<br />

günstige Gelegenheiten abpassen.<br />

Die Polizeien und die Nachrichtendienste haben bereits Schritte <strong>in</strong> die richtige<br />

Richtung getan. Mit der E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Geme<strong>in</strong>samen Terror-Abwehrzentrums<br />

(GTAZ) <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Treptow wurden Ende 2004 zudem die Voraussetzungen für<br />

bessere Kommunikation und Analysefähigkeit aller mit der Herausforderung des<br />

Internationalen Terrorismus befassten Behörden geschaffen. Die Erfahrungen aus den<br />

Anschlägen von London, Madrid und der Ermordung des Filmemachers van Gogh<br />

zeigen, dass wir auch noch auf anderen Ebenen vorgehen müssen.<br />

Dazu zählt e<strong>in</strong>e verstärkte Kooperation mit den muslimischen Geme<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

Deutschland. Sie müssten e<strong>in</strong> Eigen<strong>in</strong>teresse daran haben, die Entstehung von Gräben<br />

zwischen der muslimischen und nicht-muslimischen Bevölkerung zu verh<strong>in</strong>dern. Sie<br />

wären wie niemand sonst <strong>in</strong> der Lage, Radikalisierungsprozesse unter jungen<br />

Muslimen frühzeitig festzustellen und ihnen lokal entgegenzusteuern. Wenn die<br />

Prävention versagt, können sie uns dabei helfen, junge Militante zu identifizieren. Sie<br />

müssen ihren Mitgliedern verdeutlichen, dass dies ke<strong>in</strong>en „Verrat“ an ihrer Religion<br />

bedeutet. Das Gegenteil wäre der Fall: Passivität angesichts von<br />

Radikalisierungstendenzen belastet das Zusammenleben, zerstört erfolgreiche<br />

Integrationsansätze und gefährdet letztlich auch unsere Tradition der Liberalität. Wir<br />

müssen aufpassen, dass unsere Gesellschaft weiterh<strong>in</strong> das bleibt, was sie bisher ist:<br />

e<strong>in</strong>e freiheitliche demokratische Grundordnung, die ihre Grundsätze des Umgangs mit<br />

den Rechten des E<strong>in</strong>zelnen hat, aber auch nicht wehrlos ist.<br />

Die Kooperation zwischen muslimischen Geme<strong>in</strong>schaften und den Regierungen <strong>in</strong><br />

Europa wird von al-Qa’ida durchaus als Bedrohung wahrgenommen. In e<strong>in</strong>er am<br />

01.09.2005 ausgestrahlten Videobotschaft greift Zawahiri die britischen Muslim-<br />

Führer an, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger Weise die Anschläge von London verurteilt hatten:<br />

„Warum zogen diejenigen, die sich um das britische Parlament sammelten, um die<br />

geopferten Mujahed<strong>in</strong>, die verantwortlich für die Londonanschläge s<strong>in</strong>d, anzugreifen,<br />

nicht auch vor das „House of Commons“, als die Moscheen von den Führern der<br />

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Götzendiener <strong>in</strong> Afghanistan zerbombt wurden und als die Bomben der Kreuzzügler<br />

Frauen und K<strong>in</strong>der <strong>in</strong> Falluja töteten?“<br />

Diese Kritik zeigt, dass e<strong>in</strong> Nerv getroffen wurde und dass die Kooperation mit den<br />

Muslimen <strong>in</strong> Europa e<strong>in</strong>en wesentlichen Teil unserer Sicherheit darstellt. Folglich ist<br />

der Kampf gegen neue terroristische Netzwerke nicht nur e<strong>in</strong> polizeilicher oder<br />

nachrichtendienstlicher, sondern auch e<strong>in</strong> politischer und gesellschaftlicher Kampf,<br />

der auf e<strong>in</strong>er neuen Beziehung zu den muslimischen Geme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> Europa<br />

basiert. Premierm<strong>in</strong>ister Blair und die britischen Moslemführer haben das ebenso wie<br />

andere Akteure <strong>in</strong> Europa verstanden. Auch deutsche Behörden stehen <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Dialog mit dem Zentralrat der Muslime <strong>in</strong> Deutschland e.V. (ZMD) und der<br />

Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V. (DITIB). Auch wenn beide<br />

Organisationen nur e<strong>in</strong>en Teil der deutschen Muslime vertreten, ist e<strong>in</strong> Anfang<br />

gemacht. Wichtig ist, wie bereits zu Beg<strong>in</strong>n der Ausführungen erwähnt, dass wir e<strong>in</strong>e<br />

geme<strong>in</strong>same Sprache und Grundlage f<strong>in</strong>den, die das Recht des E<strong>in</strong>zelnen im Staat<br />

ebenso respektiert wie e<strong>in</strong>e klare Abgrenzung zwischen Staat und Religion.<br />

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