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Susan Neiman Das Banale verstehen - Hannah Arendt in Hannover

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<strong>Susan</strong> <strong>Neiman</strong><br />

<strong>Das</strong> <strong>Banale</strong> <strong>verstehen</strong><br />

Vor zehn Jahren, damals begann ich mit e<strong>in</strong>er Arbeit über e<strong>in</strong>, wie man me<strong>in</strong>te,<br />

nebensächliches Thema – das Böse –, und sprach auf e<strong>in</strong>er Ethik-Tagung mit zwei<br />

Philosophen. Es waren, ich betone, große Gelehrte, Männer deren Beharrlichkeit und<br />

profundes Wissen, die Grundlagen für wirklich neue Deutungen klassischer Texten<br />

legten. Der Begegnung mit e<strong>in</strong>em der beiden sah ich sogar mit Herzklopfen entgegen,<br />

schließlich hatte ich se<strong>in</strong>e kritisch kommentierte Übersetzung e<strong>in</strong>es me<strong>in</strong>er<br />

Liebl<strong>in</strong>gsautoren so oft gelesen, dass der Buchrücken buchstäblich ause<strong>in</strong>anderbrach.<br />

„Und woran arbeiten Sie gerade“, fragte e<strong>in</strong>er der Herren höflich, wie man es<br />

eben <strong>in</strong> den Kaffeepausen e<strong>in</strong>er Tagung zu tun pflegt. „An <strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong>s Eichmann <strong>in</strong><br />

Jerusalem“, sagte ich <strong>in</strong> aller Unschuld, nicht ahnend, welchen Ausbruch ich damit<br />

auslösen sollte. „Abstoßend“, „unmöglich“ und „empörend“ gehörten zu den Worten, die<br />

damals fielen. Im Chor prasselte es Vorwürfe: „Sie hat die Opfer angeklagt“, „Sie hat die<br />

Verbrecher entschuldigt“. Ihre Verb<strong>in</strong>dungen zur deutschen Kultur, ihre Liebesaffäre mit<br />

Heidegger kamen schnell aufs Tapet, ad fem<strong>in</strong>am Erklärungen, die jeden Versuch, den<br />

Text zu analysieren abbügelten – e<strong>in</strong> umso erstaunlicherer Mangel, wenn man bedenkt,<br />

dass e<strong>in</strong>er der Gelehrten <strong>Arendt</strong> persönlich gekannt hat, sie sehr schätzte und sogar<br />

geme<strong>in</strong>sam mit ihr e<strong>in</strong> Sem<strong>in</strong>ar über Platon veranstaltet hatte. Aber das Buch sei<br />

jenseits aller Kritik.<br />

Die Reaktion war mir nicht neu, ich erlebe sie oft bei Leuten, die nicht vom Fach<br />

waren. Was den Abend so denkwürdig machte, war die Tatsache, dass sie von Männern<br />

kam, die anerkannte Meister der Kunst der Interpretation waren. Sie hatten ihr Leben<br />

1


der sorgfältige Interpretation schwieriger Texte aus mehreren Sprachen gewidmet –<br />

doch dieses Buch rief bei ihnen die gröbsten Missdeutungen, die e<strong>in</strong>fachsten Klischees<br />

hervor. Ich fasste mir e<strong>in</strong> Herz und fragte sie, wie sie sich den Widerspruch erklärten,<br />

aber ich bekam ke<strong>in</strong>e erhellende Antwort. Im ersten Teil dieses Vortrags möchte ich auf<br />

den Kontrast e<strong>in</strong>gehen, dass <strong>Arendt</strong> zunehmend mit Ehrungen überhäuft, aber ihr<br />

wichtigstes Buch weiterh<strong>in</strong> abgelehnt wird.<br />

<strong>Arendt</strong> selbst war von der Kontroverse, die ihr Buch auslöste, so verletzt und<br />

verwirrt, dass sie sich mit e<strong>in</strong>em eher billigen Argument aus der Schussl<strong>in</strong>ie zog: <strong>Das</strong><br />

Buch sei ke<strong>in</strong>e theoretische Abhandlung, und es würde auch ke<strong>in</strong> neues Verständnis<br />

des Bösen liefern. Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem sei e<strong>in</strong> journalistisches Werk, es beschreibe<br />

nur, was sie gesehen und gehört habe.<br />

Ich sympathisiere sehr mit <strong>Arendt</strong>, aber damit verbarg sie sich denn doch h<strong>in</strong>ter<br />

e<strong>in</strong>er Naivität, die ihr schlecht stand. Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem ist ke<strong>in</strong> Journalismus, es ist<br />

e<strong>in</strong>es der größten moralphilosophischen Werke des 20. Jahrhunderts. (<strong>Das</strong>s es<br />

ursprünglich für den New Yorker geschrieben worden war, sollte uns nicht irreleiten,<br />

auch Kant schrieb fünfzehn se<strong>in</strong>er wichtigsten Aufsätze für die Berl<strong>in</strong>ische<br />

Monatsschrift, im 18. Jahrhundert das Pendant zur New York Review.) Auch lagen die<br />

Kritiker die me<strong>in</strong>ten, <strong>Arendt</strong> liefere nicht bloß e<strong>in</strong>e Beschreibung, ke<strong>in</strong>eswegs daneben.<br />

<strong>Das</strong>s sie etwas verteidigte war offensichtlich. Die Frage ist nur: Was? Nicht Adolf<br />

Eichmann war der Gegenstand ihrer Bemühungen, sondern e<strong>in</strong>e Welt, <strong>in</strong> der es ihn<br />

geben konnte. Der Holocaust hatte für <strong>Arendt</strong> die Welt selbst vor Gericht gestellt. Mit<br />

dem Buch wollte sie zwar nicht beweisen, dass diese Welt die beste aller Welten ist,<br />

aber immerh<strong>in</strong> doch gut genug, um sie zu lieben. Oder wie sie an Kurt Blumenthal<br />

schrieb: „Ich glaube noch, dass die Welt, wie Gott sie erschaffen hat, e<strong>in</strong>e gute ist.”<br />

2


Wir wissen, dass <strong>Arendt</strong> lange daran dachte, das Buch, das dann unter dem Titel<br />

Vita Activa bekannt wurde, Amor Mundi zu nennen. Den Ausdruck benutzte ihre<br />

Biograph<strong>in</strong> Young-Bruehl mit Recht, um jene Haltung zu beschreiben, die <strong>Arendt</strong><br />

überzeugend <strong>in</strong> ihrem Leben und <strong>in</strong> ihrem Werk e<strong>in</strong>nahm. So konnte ihre enge Freund<strong>in</strong><br />

Mary McCarthy den e<strong>in</strong>sichtsvollsten Kommentar zu Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem abgeben,<br />

der je gemacht wurde. Sie schrieb an <strong>Arendt</strong>, beim Lesen des Buches habe sie e<strong>in</strong>e<br />

Heiterkeit empfunden, die sie sonst nur vom Hören des Figaro oder des Messias kenne,<br />

“die beide mit Erlösung zu tun haben”. <strong>Arendt</strong>s Antwort war sowohl vielsagend als auch<br />

scheu: “Du bist der e<strong>in</strong>zige Leser, der verstanden hat, was ich sonst noch nie<br />

zugegeben habe, daß ich nämlich dieses Buch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em seltsamen Zustand von<br />

Euphorie schrieb. Und seitdem ich es getan habe, b<strong>in</strong> ich über die Sache – nach<br />

zwanzig Jahren – noch fröhlich. Aber sage es niemandem, denn beweist das nicht, daß<br />

ich ke<strong>in</strong>e ’Seele’ habe?”<br />

Vielsagend: <strong>Arendt</strong> me<strong>in</strong>t, McCarthy habe sie als e<strong>in</strong>zige verstanden: Wenn wir<br />

das Buch <strong>verstehen</strong> wollen, sollten wir uns <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung rufen, was wir beim Hören von<br />

Mozart und Händel erleben. McCarthy schreibt, <strong>in</strong> beiden Werke gehe es um Erlösung:<br />

Nennen wir das die Vorstellung, die Welt habe, trotz all ihrer Schrecken, genug Gutes<br />

und Herrliches <strong>in</strong> sich, um uns glauben zu lassen, dass die Schöpfung im Ganzen e<strong>in</strong><br />

Geschenk ist. In mehreren Schriften erwähnt <strong>Arendt</strong> die jüdische Legende, dass immer<br />

36 unerkannte und unbemerkte Gerechte auf der Welt leben und sie zusammenhalten.<br />

Implizit nimmt sie darauf Bezug, als sie von Anton Schmidt sprach, e<strong>in</strong>em deutschen<br />

Feldwebel, der h<strong>in</strong>gerichtet wurde, weil er <strong>in</strong> Polen jüdischen Untergrundkämpfern<br />

geholfen hatte. Gegen Ende von Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem schreibt sie:<br />

„Während der wenigen M<strong>in</strong>uten, die Kovner brauchte, um über die Hilfe e<strong>in</strong>es<br />

3


deutschen Feldwebels zu erzählen, lag Stille über dem Gerichtssaal; es war, als<br />

habe die Menge spontan beschlossen, die üblichen zwei M<strong>in</strong>uten des<br />

Schweigens zu Ehren des Mannes Anton Schmidt e<strong>in</strong>zuhalten. Und <strong>in</strong> diesen<br />

zwei M<strong>in</strong>uten, die wie e<strong>in</strong> plötzlicher Lichtstrahl <strong>in</strong>mitten dichter,<br />

undurchdr<strong>in</strong>glicher F<strong>in</strong>sternis waren, zeichnete e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Gedanke sich ab, klar,<br />

unwiderlegbar, unbezweifelbar; wie vollkommen anders alles heute wäre, <strong>in</strong><br />

diesem Gerichtssaal, <strong>in</strong> Israel, Deutschland, <strong>in</strong> ganz Europa, vielleicht <strong>in</strong> allen<br />

Ländern der Welt, wenn es mehr solche Geschichten zu erzählen gäbe. ... Denn<br />

die Lehre solcher Geschichten ist e<strong>in</strong>fach, e<strong>in</strong> jeder kann sie <strong>verstehen</strong>. Sie lautet,<br />

politisch gesprochen, daß unter den Bed<strong>in</strong>gungen des Terrors die meisten<br />

Menschen sich fügen, e<strong>in</strong>ige aber nicht. So wie die Lehre, die man aus den<br />

Ländern im Umkreis der ‚Endlösung’ ziehen kann, lautet, daß es <strong>in</strong> der Tat <strong>in</strong> den<br />

meisten Ländern ‚geschehen konnte’, aber daß es nicht überall geschehen ist.<br />

Menschlich gesprochen ist mehr nicht vonnöten und kann vernünftigerweise mehr<br />

nicht verlangt werden, damit dieser Planet e<strong>in</strong> Ort bleibt, wo Menschen wohnen<br />

können.“<br />

Ich zitiere diesen Abschnitt so ausführlich, um McCarthys Bemerkungen über die<br />

Erlösung zu unterstreichen. An dieser Stelle gibt <strong>Arendt</strong>s Prosa die ironische Distanz<br />

auf, die viele Leser an ihrer Diskussion Eichmanns so empörte. Ihre Beschreibung<br />

moralischer Helden ist auf e<strong>in</strong>e nüchterne Art erhaben. Es bedarf nur e<strong>in</strong> wenig des<br />

Guten und Herrlichen, um uns zu überzeugen, dass die Welt ke<strong>in</strong> Irrtum ist. Zehn<br />

Gerechte hätten schließlich genügt, um Sodom und Gomorrha zu retten.<br />

An anderer Stelle habe ich argumentiert, Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem käme dem, was<br />

4


das 20. Jahrhundert an moderner Theodizee hervorbr<strong>in</strong>gen konnte, wohl am nächsten.<br />

Die Lektüre des Buches ist auch deshalb so schwierig, weil die Theodizee aus der Mode<br />

gekommen ist. Mehr noch: wir f<strong>in</strong>den auch ke<strong>in</strong>en Geschmack mehr daran. Wenn es,<br />

wie Adorno me<strong>in</strong>t, nach Auschwitz barbarisch ist, Gedichte zu schreiben, muss es dann<br />

nicht erst recht roh se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong>e Theodizee zu schreiben? <strong>Arendt</strong> hätte dem sicherlich<br />

zugestimmt. Wenn e<strong>in</strong>e Theodizee allerd<strong>in</strong>gs so verstanden wird, wie Hegel es im<br />

Anschluss an Leibniz tat: Zu zeigen, dass etwa Auschwitz notwendig zu Gottes Plan für<br />

die beste oder vernünftigste Welt im Ganzen gehört, dann war das e<strong>in</strong> Projekt, das<br />

<strong>Arendt</strong> vehement abgelehnt hätte. Doch suchte sie oft nach der richtigen Formulierung<br />

für die Beziehung, die wir zur Welt haben sollten. „In der Welt zu Hause zu se<strong>in</strong>“, kl<strong>in</strong>gt<br />

für jemanden, der ihre Abgründe kennt, etwas zu gemütlich. Auf der Suche nach e<strong>in</strong>em<br />

Ausdruck muss sie zu dem Schluss gekommen se<strong>in</strong>, dass „die Welt zu lieben“ zu<br />

süßlich nach Pathos oder Kitsch klang. Die gelungenste Formulierung der Aufgabe<br />

f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Widmung an Jaspers: „me<strong>in</strong>en Weg durch die Wirklichkeit zu f<strong>in</strong>den,<br />

ohne me<strong>in</strong>e Seele zu verkaufen, so wie Leute früher ihre Seele an den Teufel<br />

verkauften“. Um ihren Weg durch die Wirklichkeit zu f<strong>in</strong>den, musste sie <strong>verstehen</strong>, wie<br />

es möglich war, dass e<strong>in</strong> Geschöpf wie Eichmann zu ihr gehörte.<br />

Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem ist e<strong>in</strong>e moderne Theodizee und hat e<strong>in</strong><br />

Erlösungsmoment, weil das Buch e<strong>in</strong>e Erklärung für das Böse liefert, von der die<br />

Schöpfung unberührt bleibt. Es gibt gewiss das Böse, aber es ist weder nötig noch tief.<br />

Und es ist daher ebenso wenig e<strong>in</strong> notwendiger Teil der conditio humana: Es gibt ke<strong>in</strong>e<br />

Erbsünde. <strong>Arendt</strong> steht <strong>in</strong> diesem Punkt ganz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er L<strong>in</strong>ie mit Rousseau, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

zweiten Discours e<strong>in</strong>e naturalistische Erklärung für den Abfall vom Naturzustand liefert<br />

(e<strong>in</strong> Zustand, der, entgegen den Karikaturen, sich nicht durch Güte, sondern e<strong>in</strong>fach<br />

5


durch moralische Neutralität auszeichnet). Indem sie e<strong>in</strong>e Reihe sche<strong>in</strong>bar harmloser,<br />

sicherlich gedankenloser Vorgänge schildert, die zum Tiefpunkt der Barbarei führte,<br />

beschreibt <strong>Arendt</strong> die Entwicklung e<strong>in</strong>es Individuums, das zu Beg<strong>in</strong>n nichts Schlimmeres<br />

als e<strong>in</strong> ganz gewöhnlicher Karrierist war, der zum Ingenieur der Endlösung wurde.<br />

Schon e<strong>in</strong>e solche Erklärung anzubieten, ist e<strong>in</strong>e Herausforderung. Denn meist<br />

nehmen wir an, dass das Böse unerklärlich se<strong>in</strong> muss. Aber warum glauben wir, dass es<br />

zu <strong>verstehen</strong> fast schon es zu rechtfertigen heißt? E<strong>in</strong> Grund dafür ist, e<strong>in</strong>e unselige<br />

Aura des Heiligen und Erotischen, die viele Diskussionen über das Böse umgibt. Wenn<br />

das Böse so böse ist, wie es se<strong>in</strong> sollte, dann ist es für das menschliche Verstehen zu<br />

groß und zu tief. Shakespeares Jago ist ja deshalb e<strong>in</strong> Archetyp des Bösen, weil er als<br />

schwarzes Loch dargestellt wird; nicht als leer (die Dichte wird nur suggeriert, ist aber<br />

schw<strong>in</strong>delerregend), sondern als undurchdr<strong>in</strong>glich. Es gibt e<strong>in</strong> Inneres, aber wir können<br />

es nicht sehen. In der klassischen Literatur f<strong>in</strong>den sich aber noch andere Gestalten des<br />

Bösen, für die Leere e<strong>in</strong> wesentliches Merkmal ist, am bemerkenswertesten <strong>in</strong> Bildern<br />

des Teufels selbst. Sowohl der Mephisto im Faust als auch der Teufel <strong>in</strong> den Brüdern<br />

Karamasoff weisen Charakterzüge auf, die so alltäglich s<strong>in</strong>d, dass der Begriff des<br />

Diabolischen sich auflöst. Goethes Geist, der stets verne<strong>in</strong>t, ist ke<strong>in</strong> Rebell, sondern e<strong>in</strong><br />

Pedant. Dostojewskijs Dämon ist e<strong>in</strong> jammernder Kriecher, der sich nicht auf die<br />

Verführung junger Idealisten spezialisiert, sondern darauf, sie lächerlich zu machen.<br />

<strong>Arendt</strong> greift auf diese Tradition zurück, wenn sie Eichmann e<strong>in</strong>en Clown nennt,<br />

und sie wendet ihre ganze Kunst der Ironie auf, um die von Selbstmitleid und<br />

Widersprüchen überfließenden Beschreibungen se<strong>in</strong>er Person und se<strong>in</strong>es Tuns zu<br />

unterstreichen. Miltons Teufel hat genug Reize, um Jünger anzuziehen. Er besitzt Größe<br />

und Mut und die Art von Macht, die Jugendliche „geil“ nennen. Wen aber verlangt es<br />

6


danach, wie Mephisto zu se<strong>in</strong>? Die e<strong>in</strong>zige Gestalt von Format ist Faust selbst – wie<br />

Mephisto, im klugen W<strong>in</strong>selton des Neids, se<strong>in</strong>em Markenzeichen, mehr als e<strong>in</strong>mal<br />

bemerkt. <strong>Arendt</strong> zitiert Brechts These, die Komödie sei besser als die Tragödie dazu<br />

geeignet, das Böse darzustellen, da die Tragödie jene apokalyptische Qualität habe, die<br />

dem Bösen den Anstrich des Erhabenen verleihe. Brecht wie <strong>Arendt</strong> waren prophetisch:<br />

Die Fasz<strong>in</strong>ation des Faschismus, der das Böse mit e<strong>in</strong>er grausigen Industrie verb<strong>in</strong>det,<br />

entspr<strong>in</strong>gt dem Gnostizismus, den <strong>Arendt</strong> – schon 1946! – so brillant als die<br />

gefährlichste, attraktivste und verbreitetste Häresie der Nachkriegswelt beschrieben hat.<br />

Um sie zu bekämpfen, gebrauchte sie die Pilzmetapher <strong>in</strong> dem berühmten Brief an<br />

Gershom Scholem: „<strong>Das</strong> Böse ist weder tief noch dämonisch. Es kann die ganze Welt<br />

überziehen und verwüsten, gerade weil es wie e<strong>in</strong> Pilz die Oberfläche bedeckt.“<br />

<strong>Das</strong> ist Rhetorik der größten Tradition, e<strong>in</strong>gesetzt von jemandem, der die Macht<br />

der Worte und Bilder kennt, um uns zum Besseren oder Schlechteren zu bewegen – vor<br />

allem die sehr Jungen unter uns. Man mag vom Teufel verführt, von e<strong>in</strong>em Dämon<br />

versucht werden, aber wer spürt die Verlockung e<strong>in</strong>es Pilzes? Er ist nicht e<strong>in</strong>mal<br />

mächtig genug, um richtiggehend Ekel zu erwecken und noch weniger Ambivalenz –<br />

man möchte ihn nur so schnell wie möglich loswerden, um zu den eigentlichen<br />

Aufgaben des Lebens zurückzukehren. Wäre nicht viel gewonnen, wenn die Bilder die<br />

Bösen e<strong>in</strong>e solche Reaktion auslösten – etwas, das wir loswerden wollen, um uns den<br />

wichtigen D<strong>in</strong>gen des Lebens zu widmen?<br />

<strong>Das</strong> Böse sollte unerklärlich se<strong>in</strong>, weil es unermesslich tief sei. Aber der<br />

Gegensatz zu banal ist schließlich erhaben; und zwischen Banalität und Erhabense<strong>in</strong>,<br />

sollten wir es dann nicht vorziehen, dass das Böse banal ist? Es gibt aber andere<br />

E<strong>in</strong>wände gegen <strong>Arendt</strong>s These, die auf Schriftsteller wie Voltaire oder Dostojewskij<br />

7


egründet werden könnte. Die Treue zu den Leidenden sche<strong>in</strong>t von uns zu verlangen,<br />

dass wir jeden Versuch, ihr Leiden zu erklären, abweisen, denn alle solche Versuche<br />

sche<strong>in</strong>en ihre Leiden zu verkle<strong>in</strong>ern. Jede Theodizee will zeigen, dass Wirklichkeit noch<br />

mehr ist als die von uns miterlebten Ersche<strong>in</strong>ungen des Elends. Fragt dieser E<strong>in</strong>wand:<br />

Mehr? Kann irgendetwas realer se<strong>in</strong>, als die beim Lissaboner Erdbeben verschütteten<br />

Säugl<strong>in</strong>ge, fragt Voltaire, oder die zu Tode gequälten K<strong>in</strong>der, fragt Dostojewskij.<br />

Verhöhnt es nicht die Opfer, nach Gründen oder Erlösung zu suchen, die realer s<strong>in</strong>d als<br />

ihr Leid? Wenn diese Denker, die Theodizee ablehnen, lehnen sie das Verstehen selbst<br />

ab.<br />

Eben diese Erkenntnis trieb <strong>Arendt</strong> dazu, die Frage der Theodizee wieder<br />

aufzunehmen. Niemand wusste besser als sie, welche Gründe das 20. Jahrhunderte<br />

lieferte, die Theodizee für immer aufzugeben. <strong>Arendt</strong> verstand diesen Impuls, beharrte<br />

aber darauf, dass Verstehen die e<strong>in</strong>zig mögliche Alternative ist. Wir müssen die Welt<br />

lieben, um <strong>in</strong> ihr weiterleben zu können, aber für vernunftbegabte Wesen kann die Liebe<br />

zur Welt nicht bl<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>. Ohne e<strong>in</strong>e theoretische Anstrengung können wir das Böse<br />

nicht verr<strong>in</strong>gern. Politischer Fortschritt hat metaphysische Bed<strong>in</strong>gungen: Zu glauben,<br />

dass die Welt vernünftig se<strong>in</strong> sollte, ist der erste Schritt auf dem Weg dah<strong>in</strong>, sie<br />

vernünftig zu gestalten. Jede Diskussion des Bösen hat zwei Seiten: e<strong>in</strong>ige bestehen<br />

darauf, dass die Moral fordert, das Böse verständlich zu machen, die anderen bestehen<br />

darauf, dass die Moral fordert, es nicht zu tun. Vielleicht hatte <strong>Arendt</strong> die Kraft der<br />

zweiten Richtung anzuerkennen, aber sie hatte Recht, der ersten zu folgen.<br />

Oft spiegeln die Unterschiede zwischen diesen Auffassungen die Unterschiede<br />

zwischen rechts und l<strong>in</strong>ks. Für gewöhnlich aber s<strong>in</strong>d es die Rechten, die darauf<br />

beharren, dass das Böse <strong>verstehen</strong> zu wollen, zuviel Sympathie mit ihm zeigt. Die<br />

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Aufklärung, so behaupten sie, huldige e<strong>in</strong>er übertrieben optimistischen Auffassung von<br />

der menschlichen Natur und verkenne die Tiefe der menschlichen Verworfenheit. <strong>Arendt</strong><br />

ist vielleicht die erste Denker<strong>in</strong>, die sich dieser Herausforderung gestellt hat. Ihr, wenn<br />

auch nicht sehr optimistischer, Glaube an die Realität der Freiheit ließ sie hoffen, und<br />

sie argumentierte, dass die Verworfenheit nicht tief se<strong>in</strong> muss, um real zu se<strong>in</strong>. Nur<br />

wenn wir sie <strong>verstehen</strong>, ja wenn wir sie ause<strong>in</strong>andernehmen, haben wir die Chance, sie<br />

zu überw<strong>in</strong>den. Auf der unermesslichen Tiefe des Bösen zu bestehen heißt nicht nur, es<br />

zu fetischisieren, es bedeutet auch, dass wir uns angesichts des Bösen die Hände<br />

b<strong>in</strong>den.<br />

<strong>Das</strong> erste, was selbst dem wohlwollenden Leser Schwierigkeiten bereitet, ist also<br />

se<strong>in</strong>e Behauptung, dass das Böse verständlich ist. <strong>Das</strong> zweite ist se<strong>in</strong>e Bestreitung,<br />

dass das Böse <strong>in</strong>tendiert se<strong>in</strong> muss. Letzteres ist radikal, und führte zu den schlimmsten<br />

Missverständnissen. Wir gehen davon aus, dass Böses tun bedeutet, es mit Absicht zu<br />

tun. So halten wir <strong>Arendt</strong>s These, Eichmann sei zum Architekten des Holocaust<br />

geworden ohne es zu beabsichtigen, für gleichbedeutend damit, dass sie ihn davon<br />

kommen lässt. Kritiker warfen <strong>Arendt</strong> vor, sie entschuldige Eichmann, <strong>in</strong>dem sie ihn als<br />

gedankenlosen Clown darstelle, den man verachten könne, der aber ke<strong>in</strong> Entsetzen<br />

e<strong>in</strong>flößt. Hier sehen wir e<strong>in</strong>en Mann, der es nicht eigentlich gewollt hat: Er hatte nichts<br />

gegen Juden, lieber wäre es ihm gewesen, nichts mit ihrer Ermordung zu tun zu haben,<br />

und das e<strong>in</strong>e Mal, als er miterlebte, wie andere sie töteten, da sei ihm, schwor er,<br />

schlecht geworden. Dient <strong>Arendt</strong>s Beschreibung, die so wenig mit dem stolzen,<br />

unbarmherzigen Nazi, unserem liebsten Hassobjekt, zu tun hat, nicht als e<strong>in</strong>e<br />

Entschuldigung? (Was ihre Kritiker übersehen ist, dass Goethes und Dostojewskijs<br />

Teufel anders als der Miltons oder des Mittelalters tatsächlich viele Züge haben, die<br />

9


<strong>Arendt</strong> bei Eichmann fand.)<br />

Diese Probleme lassen sich lösen, wenn wir das Buch nicht als e<strong>in</strong>e<br />

theoriegeladene Form von Journalismus lesen, sondern als e<strong>in</strong>e praxisgeladene Form<br />

von Philosophie. <strong>Arendt</strong>s philosophisches Ziel ist der Nachweis, dass nicht Intention,<br />

sondern Urteilsvermögen Herz und Seele des moralischen Handelns ist. Was man<br />

beabsichtigt, ist weit weniger wichtig, als man geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> glaubt. Die Welt wird e<strong>in</strong>en für<br />

das verantwortlich machen, was man tut. Denn nicht das, was man beabsichtigt,<br />

sondern das, was man tut, wirkt sich auf die Welt aus. Mit ihrer Analyse bricht <strong>Arendt</strong><br />

radikal mit dem Kernstück der westlichen Moraltradition. Man denke an Kants These,<br />

dass nur der gute Wille unbed<strong>in</strong>gt gut ist. Als Argument dafür, präsentiert er uns e<strong>in</strong><br />

Beispiel, dass unmittelbar überzeugend wirkt. Zwei Händler beschließen, ke<strong>in</strong>e<br />

Betrügereien zu begehen: ke<strong>in</strong>e falschen Gewichte, ke<strong>in</strong>e Tricks mit Preisen und<br />

Rabatten, nichts als ehrliche, gute Geschäfte, auf die man sich verlassen kann. Doch<br />

der e<strong>in</strong>e tut es, weil es richtig ist, so zu handeln, der andere, weil es gut für das<br />

Geschäft ist. Im Ruf der Ehrlichkeit zu stehen, verschafft ihm mehr Kunden, denn wenn<br />

sie wissen, dass sie nicht betrogen werden, schicken die Leute ihre kle<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>der oder<br />

vergesslichen Großmütter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Laden. Für das Geme<strong>in</strong>wesen s<strong>in</strong>d beide Händler<br />

e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n, und möglicherweise entdecken wir nie den Unterschied zwischen ihnen.<br />

Aber der e<strong>in</strong>e ist moralisch und der andere bloß klug. Der Unterschied, so Kant, liege im<br />

guten Willen, der unsichtbaren Essenz moralischen Handelns. Und auch wenn der gute<br />

Wille tatsächlich nichts bewirkt, so würde er wie Kant schreibt, immer noch wie e<strong>in</strong> Juwel<br />

strahlen – etwas, das se<strong>in</strong>en ganzen Wert <strong>in</strong> sich selbst hat.<br />

Die Moderne hat diese Auffassung als ganz selbstverständlich akzeptiert, und<br />

diese Auffassung wird <strong>in</strong> Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem angegriffen. Wenn wir an den<br />

10


Holocaust denken, wird der gute Wille irrelevant, denn e<strong>in</strong>e erstaunliche Anzahl von<br />

Leuten hatte ihn – ja sogar viele, die an der Endlösung beteiligt waren, hatten e<strong>in</strong>en<br />

Willen, der nur bemerkenswert mittelmäßig war. E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Zahl rassistischer Fanatiker<br />

schlug die Endlösung vor, und e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Zahl Sadisten ergriff die Gelegenheit, die<br />

ihnen die Lager boten. Aber beide Gruppe wären nicht weit gekommen, hätten sie nicht<br />

die Unterstützung von Millionen anderer erhalten, deren Absichten auf der Skala von<br />

relativ niedrig bis deutlich gut reichten. Sehen wir sie uns der Reihe nach an. Wie immer<br />

man Eichmann betrachtet, waren se<strong>in</strong>e Absichten nicht niederträchtig: weder<br />

entsprangen sie Hass oder anderen abscheulichen Motiven, noch waren sie deutlich mit<br />

den Folgen se<strong>in</strong>es Tuns verbunden. Was er wollte war nicht, dass Millionen von Juden<br />

ermordet wurden – er betonte immer wieder, ihm wären andere Lösungen des<br />

„Judenproblems“ lieber gewesen, aber er habe nun mal se<strong>in</strong> Arbeit erledigen müssen.<br />

Se<strong>in</strong>e Augen vor dem Faschismus zu schließen, ja von ihm zu profitieren, ist nicht<br />

dasselbe wie die Kette von Ereignissen zu wollen, die mit Auschwitz endete. Dennoch<br />

ist Auschwitz das Ergebnis von Tausenden von Schritten, unternommen von<br />

gewöhnlichen Menschen, die anders hätten handeln können. Sie haben es wirklich nicht<br />

so geme<strong>in</strong>t – und das ist auch wirklich egal. Umso schlimmer für die Absicht.<br />

(Tucholsky)<br />

Fassen wir zusammen: Der Holocaust wurde von Leute mit trivial schlechten<br />

Absichten wie Eichmanns begangen, der nicht aktiv die Produktion von Leichen<br />

wünschte, aber um se<strong>in</strong>er Karriere Willen bereit war, über e<strong>in</strong>e beliebig hohe Anzahl zu<br />

gehen; die lauwarmen Mitläufer, die ihre Hände rangen und sich <strong>in</strong> die <strong>in</strong>nere Emigration<br />

zurückzogen, als die Katastrophe um sie herum größer wurde; sogar Leute deren<br />

Absichten oft beispielhaft waren, aber die aufgrund ihrer falschen Urteile falsch<br />

11


handelten. Dazwischen liegen noch viele Schattierungen, aber solche Beispielen<br />

zeigen, dass, wo es wirklich drauf ankommt, Absichten überhaupt nicht <strong>in</strong>s Gewicht<br />

fallen. Wenn jemandes guter Wille wie e<strong>in</strong> Juwel strahlen kann, während se<strong>in</strong> Nachbar<br />

deportiert wird, hat guter Wille ke<strong>in</strong>e Bedeutung.<br />

Me<strong>in</strong> Buch <strong>Das</strong> Böse Denken argumentiert, dass die Vorstellung, dass unsere<br />

Absichten wesentlich unsere Ethik entscheiden, sei e<strong>in</strong>e im Gefolge des Erdbebens von<br />

Lissabon 1755 entstandene neuzeitliche Vorstellung. <strong>Das</strong> Erdbeben hat nicht alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

seismische Veränderung im Denken ausgelöst, aber die Überlegungen dazu ließ Denker<br />

zu e<strong>in</strong>em gegenüber dem früheren Begriff engeren Begriff vom Bösen gelangen. Vor<br />

1755 war es üblich drei Formen des Bösen zu unterscheiden: das metaphysisch Böse,<br />

die Tatsache, dass der Stoff, aus dem die Welt ist, höchst unvollkommen ist – also im<br />

Gegensatz zum Gott oder Platons Ideen; das natürliche Böse, D<strong>in</strong>ge wie Erdbeben,<br />

Seuchen und Überschwemmungen; und das moralisch Böse, das was Menschen<br />

e<strong>in</strong>ander antun. Wenn man sich daran er<strong>in</strong>nert, dass das 18. Jahrhundert ke<strong>in</strong>e<br />

Massenvernichtungswaffen besaß, wird es deutlicher, warum das Erdbeben, bei dem <strong>in</strong><br />

zehn M<strong>in</strong>uten um die 15000 Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der damaligen Metropolen umkamen,<br />

die Geister so <strong>in</strong> Aufruhr versetzte. Nur e<strong>in</strong> Erdbeben, vielleicht noch e<strong>in</strong> Vulkan, konnte<br />

<strong>in</strong> so kurzer e<strong>in</strong>e solche Zerstörung anrichten. Die Welt, die jeden Tag verständlicher<br />

erschien, war dennoch, wenn es darauf ankam, völlig undurchdr<strong>in</strong>glich. Die<br />

zunehmende Erkenntnis veranlasste Denker ihren Begriff des Bösen zu revidieren. An<br />

dieser Stelle hatte die Absicht ihren Auftritt. Absichten s<strong>in</strong>d etwas, was Menschen<br />

haben, Felsen und Wasser aber nicht. Sehr viel mehr wollte niemand über Absichten<br />

sagen, aber es genügte, um Tyrannen von Flutwellen zu unterscheiden, und war<br />

<strong>in</strong>sofern e<strong>in</strong> Schritt h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>em nützlicheren, ja fortschrittlicheren Begriff vom Bösen.<br />

12


Was zuvor als natürliches Böses figurierte, war künftig bloß e<strong>in</strong>e Katastrophe – tragisch<br />

für die, die davon betroffen wurden, aber nichts von moralischer oder kosmischer<br />

Bedeutung. <strong>Das</strong> metaphysisch Böse wurde zu der natürlichen Notwendigkeit, die zu<br />

akzeptieren von Erwachsenen erwartet wird, wenn sie erkennen, dass alles, vielleicht<br />

mit Ausnahme Gottes, endlich ist; das natürlich Böse war fortan schieres Pech, und was<br />

blieb, war das moralisch Böse, das, was wir heute böse nennen.<br />

Dadurch wurde das Böse <strong>in</strong> der Welt mittels e<strong>in</strong>er neuen Def<strong>in</strong>ition reduziert. Es<br />

war auch e<strong>in</strong>e Sache des Erwachsenwerdens, die zur reifen Aufklärung dazugehört, so<br />

wie alles Erwachsenwerden bedeutet, Verantwortung für die D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> der Welt zu<br />

übernehmen, die man verändern kann, und mit dem Jammern über den Rest<br />

aufzuhören. Als solche handelte es sich um e<strong>in</strong>e begriffliche Revolution, die die<br />

Bezeichnung Fortschritt verdiente. Man e<strong>in</strong>igt sich weiter auf wenig, außer dass<br />

Absichten nur Menschen zugerechnet werden. <strong>Das</strong> war lange Zeit ke<strong>in</strong> Problem. Böse<br />

Taten wurden von Leuten mit bösen Absichten begangen, und damit fielen Entitäten wie<br />

Erdbeben aus. Es bedurfte nicht nur des Holocaust, sondern Jahrzehnte des<br />

Nachdenkens über ihn, um die Frage zu stellen: Was ist denn, wenn Leute, deren<br />

Absichten nicht die Größe ihrer Versbrechen spiegeln, Böses tun?<br />

<strong>Das</strong> ist die zentrale Frage von Eichmann <strong>in</strong> Jerusalem, und mit ihr löste <strong>Arendt</strong><br />

e<strong>in</strong> moralisches Erdbeben aus, mit dem wir erst noch zurecht kommen müssen. Wir<br />

können den Begriff der Absicht nicht e<strong>in</strong>fach fallen lassen, doch Fälle wie derjenige<br />

Eichmanns machen deutlich, dass er weit weniger leistet, als wir me<strong>in</strong>ten. <strong>Arendt</strong><br />

argumentiert, dass die Richter der größten moralischen und juristischen<br />

Herausforderung des Falles nicht gewachsen waren. Ihr Urteil beruhte auf der<br />

gewöhnlichen Annahme, dass Verantwortung und Schuld an der Absicht festzumachen<br />

13


seien. Ob etwas Mord oder Totschlag war, hängt schließlich davon ab, ob der<br />

Beschuldigte beweisen kann, dass er es nicht beabsichtigt hatte, wobei „es<br />

beabsichtigen“ heißt, dass er weder die Folgen se<strong>in</strong>er Handlung wollte noch aus<br />

niedrigen Beweggründen heraus handelte. „Es ist“, schreibt <strong>Arendt</strong>, „der Stolz<br />

zivilisierter Rechtsprechung, den subjektiven Faktor immer mit <strong>in</strong> Rechnung zu stellen.“<br />

<strong>Das</strong>s man, ohne niederträchtige Gefühle zu haben, nur e<strong>in</strong> Schriftstück unterzeichnen<br />

konnte, ja ohne die Folgen daraus zu wollen oder auch nur <strong>in</strong> aller Ruhe zu betrachten,<br />

und gleichwohl des Mordes schuldig ist, zeigt, dass unsere Kategorien<br />

revisionsbedürftig s<strong>in</strong>d. Die Bedeutung e<strong>in</strong>er Handlung erschöpfte sich im Dritten Reich<br />

nicht <strong>in</strong> ihrer Absichtlichkeit.<br />

Diesen Punkt übersahen Eichmanns Verteidiger, die Richter, die se<strong>in</strong>e<br />

Aufrichtigkeit <strong>in</strong> Frage stellten und Kritiker wie Goldhagen, der beweisen wollte, dass<br />

Deutschland von antisemitischen Leidenschaften von der Art getrieben war, die<br />

Eichmann niemals an den Tag legte. Denn sie alle setzten voraus, dass Schuld von der<br />

subjektiven E<strong>in</strong>stellung abhängt, und je weniger abstoßend diese aussieht, umso<br />

weniger schuldig muss der Verbrecher se<strong>in</strong>. Es ist diese Annahme, welche die heftigen<br />

Angriffe auf <strong>Arendt</strong>s Buch erklärt. Doch weit davon entfernt, Eichmann zu entschuldigen,<br />

argumentiert sie, dass Schuld ke<strong>in</strong>e Frage der subjektiven E<strong>in</strong>stellung, sondern der<br />

objektiven Fakten sei. Wenn die Absichten von Massenmördern e<strong>in</strong>wandfrei se<strong>in</strong><br />

können, sollten wir nicht zu dem Schluss kommen, dass niemand für irgendetwas<br />

verantwortlich ist, sondern die Verantwortung woanders festmachen. Tatsächlich geht<br />

<strong>Arendt</strong> so weit, die Frage von Eichmanns Schuld nicht nur auf die Ermordeten zu<br />

beziehen, sondern „auf e<strong>in</strong> Vergehen gegen das Menschengeschlecht“, für das „die<br />

Erde selbst nach Vergeltung schreit“. Diese Töne s<strong>in</strong>d alles andere als relativistisch, sie<br />

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führen uns auf Konzeptionen e<strong>in</strong>er objektiven, <strong>in</strong> der Welt selbst gründenden<br />

moralischen Ordnung zurück. <strong>Das</strong> zu lesen, lässt e<strong>in</strong>en mehr denn je staunen, dass<br />

diese Arbeit mit soviel Wut rezipiert wurde. Warum sollte es von Bedeutung se<strong>in</strong>, ob<br />

Eichmann beabsichtigte, e<strong>in</strong>en Massenmord zu begehen? Er tat es, wurde dafür<br />

verurteilt und zurecht gehängt – e<strong>in</strong> Urteilsspruch, den <strong>Arendt</strong> anders als viele ihrer<br />

Zeitgenossen völlig gerechtfertigt fand.<br />

E<strong>in</strong> Grund für den heftigen Widerstand gegen <strong>Arendt</strong> ist die Angst vor den daraus<br />

sich ergebenden Folgen. Wenn Eichmann Böses tun konnte, ohne es zu beabsichtigen,<br />

dann könnte ich es auch. Wenn se<strong>in</strong>e Motive nicht besser und nicht schlechter waren<br />

als me<strong>in</strong>e an e<strong>in</strong>em me<strong>in</strong>er unrühmlicheren Tage, woh<strong>in</strong> könnten mich dann me<strong>in</strong>en<br />

Handlungen – oder ihr Unterlassen – führen? <strong>Arendt</strong> wollte, dass wir uns diese Fragen<br />

stellen. Gleichzeitig hat sie vehement den Gedanken verworfen, dass <strong>in</strong> jedem von uns<br />

e<strong>in</strong> Eichmann steckt. <strong>Das</strong> käme nicht nur der Vorstellung von der Erbsünde allzu nahe,<br />

die Vorstellung, dass jeder schuldig ist, kommt der, dass ke<strong>in</strong>er es, gefährlich nahe.<br />

(Zyniker me<strong>in</strong>en, das ist der Hauptgrund, warum Goldhagen <strong>in</strong> Deutschland so beliebt<br />

ist.) Viele, vielleicht die meisten von uns, haben das Potential, sich wie Eichmann zu<br />

verhalten. E<strong>in</strong>ige von uns tun es, und andere nicht, und das ist der ganze moralische<br />

Unterschied. (Es lohnt sich hier anzumerken, dass Bush, nachdem alle Beweisversuche,<br />

dass Saddam Husse<strong>in</strong> Massenvernichtungswaffen besaß, sich <strong>in</strong> Luft aufgelöst hatten,<br />

nach der praktischerweise unbeweisbaren Behauptung griff, Saddam beabsichtigte sie<br />

herzustellen.)<br />

<strong>Arendt</strong> expliziert den Begriff der Absicht nicht vollständig, aber was sie sagt,<br />

reicht me<strong>in</strong>es Erachtens um zu zeigen, dass die Darlegung des moralischen Werts und<br />

der Absicht, die wir seit Kant verwenden, uns nicht sehr hilft. <strong>Arendt</strong> setzt an die Stelle<br />

15


der Absicht das Urteilsvermögen, e<strong>in</strong>en Begriff, an dem sie noch arbeitete, als sie starb.<br />

Auch wenn Urteilsvermögen nicht gelehrt werden kann, so lässt es sich doch zum<strong>in</strong>dest<br />

demonstrieren, was nicht für Absichten gilt, die im Pr<strong>in</strong>zip unzugänglich s<strong>in</strong>d. Zudem<br />

kann man das Urteilsvermögen üben, wodurch wir mehr tun können, als nur zu<br />

wünschen, gut zu se<strong>in</strong>. Wenn das Gutse<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Absicht liegt, bleibt die Frage, wie man<br />

e<strong>in</strong> guter Mensch wird, e<strong>in</strong> Mysterium. <strong>Das</strong>s die Theologie mehr als die Philosophie über<br />

das Mysterium zu sagen hat, überrascht wohl kaum, auch wenn die Antwort sich<br />

weitgehend darauf beschränkt, dass man auf Gnade warten müsse. Wenn das Gutse<strong>in</strong><br />

im Urteilsvermögen liegt, dann haben wir etwas zu tun.<br />

Gut und Böse im Urteilsvermögen und <strong>in</strong> der Würde statt <strong>in</strong> der Absicht zu<br />

suchen hat e<strong>in</strong>en gewissen Preis: Es bedeutet die Suche nach e<strong>in</strong>em allen se<strong>in</strong>en<br />

Ersche<strong>in</strong>ungsformen <strong>in</strong>newohnenden Wesen des Bösen aufzugeben. Von e<strong>in</strong>em<br />

metaphysischen Standpunkt mag es leicht genug se<strong>in</strong>, e<strong>in</strong> Wesen aufzugeben, aber von<br />

e<strong>in</strong>em politischen ist es sehr viel schwerer. <strong>Das</strong> wird besonders deutlich, wenn wir von<br />

Fällen wie demjenigen Eichmanns zu den jüngeren Wellen des Terrorismus übergehen.<br />

Was am 11. September geschah, g<strong>in</strong>g schwerlich auf das Konto gedankenloser<br />

Subjekte, die aus Egoismus oder Selbstmitleid das Entsetzliche verursachten, ohne es<br />

<strong>in</strong> allen Stücken zu wollen. Die Terroristen von Al Qaida wussten ganz genau, was sie<br />

taten. Ihre Absichten und die Sorgfalt, mit der sie sie <strong>in</strong> die Tat umsetzten, waren<br />

allenthalben sichtbar – bis h<strong>in</strong> zu den Piloten, die Flugstunden nahmen, ohne landen zu<br />

lernen. Ihre Ziele waren ebenso berechtigt wie bösartig. <strong>Das</strong>s ihnen e<strong>in</strong>e Ideologie<br />

zugrunde liegt, fällt nicht weiter <strong>in</strong>s Gewicht; schließlich gilt das für die meisten<br />

Handlungen.<br />

Dies paralysierte die Reaktionen vor allem bei den L<strong>in</strong>ken. Wer wollte schon<br />

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Bush und se<strong>in</strong>em fundamentalistischen, dämonischen Begriff des Bösen folgen? Denn<br />

wenn wir ke<strong>in</strong> Kriterium für die Identifizierung des Bösen haben, was sollte dann<br />

verh<strong>in</strong>dern, dass das Wort „böse“ mehr als nur e<strong>in</strong> Trumpf im Kampfgeschrei zwischen<br />

etwa B<strong>in</strong> Laden und Bush ist. Aus Furcht davor, haben immer mehr nachdenkliche<br />

Menschen geme<strong>in</strong>t, wir sollten überhaupt darauf verzichten, das Wort „böse“ <strong>in</strong> den<br />

Mund zu nehmen. Im Grunde, so ihr Argument, würde es nur dämonisieren und auf<br />

diese Weise gefährlich polarisieren. Und wenn wir nicht e<strong>in</strong>mal, wie ich behauptet habe,<br />

e<strong>in</strong>e grundlegende Def<strong>in</strong>ition liefern können, verlassen wir dann mit unseren Berufungen<br />

auf das Böse nicht den Boden jedes verantwortlichen Diskurses?<br />

Problematisch ist e<strong>in</strong> solcher Schluss, weil er die Tatsache übersieht, dass<br />

Menschen moralische Bedürfnisse haben, und e<strong>in</strong>es davon ist e<strong>in</strong> Bedürfnis nach<br />

Klarheit – das nur Gimpel mit E<strong>in</strong>fachheit verwechseln. Was ihnen fehlt, s<strong>in</strong>d jedenfalls<br />

nicht e<strong>in</strong>fache Antworten auf die Lebensprobleme <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er komplexen Welt oder wie man<br />

es sonst herablassen ausdrücken möchte. Wie sich herausstellt, betrifft Brechts These –<br />

erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral – nicht die Ontologie, sondern die<br />

Chronologie. In dem Augenblick, wo unser Bauch gefüllt ist, beg<strong>in</strong>nen wir zu<br />

moralisieren. Zu den klarsten Erkenntnissen der letzten paar Jahre gehört, dass immer<br />

weniger Leute, aus welcher Kultur auch immer, sich am traditionellen Modell<br />

eigennütziger Rationalität orientieren. Die Millionen von Amerikanern, die Bush<br />

unterstützten, obwohl se<strong>in</strong>e Wirtschaftspolitik für sie nachteilig ist; die jungen Männer,<br />

deren reiche Familien aus Saudi-Arabien oder Pakistan ihnen jedes andere Leben<br />

ermöglichen würden als das, sich selbst <strong>in</strong> die Luft zu jagen: diese und andere Fälle<br />

zeigen, wie viel die kapitalistische Konsumkultur von heute nicht zu erklären vermochte.<br />

Wenn wir den Gedanken verwerfen, dass Moralisieren bedeutet, an e<strong>in</strong>e<br />

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abstrakte Essenz von Moral zu appellieren, verliert sich der E<strong>in</strong>druck, dass es nur um<br />

Ideologie geht. Dar<strong>in</strong> ist <strong>Arendt</strong> e<strong>in</strong>e Meister<strong>in</strong>: Sie ist e<strong>in</strong>e Moralist<strong>in</strong>, deren Sensibilität<br />

zu fe<strong>in</strong> und scharf ausgebildet war, um sich vom bloß Politischen blenden zu lassen. Wir<br />

können ihrem Beispiel folgen, <strong>in</strong>dem wir uns die verschiedenen Fälle des Bösen <strong>in</strong> all<br />

ihrer Vielfalt vor Augen führen, und uns bemühen, sie e<strong>in</strong>en nach dem anderen zu<br />

<strong>verstehen</strong>. Die Bereitschaft zum Beispiel se<strong>in</strong> eigenes Leben zu opfern, um andere zu<br />

töten, beschränkt sich nicht auf e<strong>in</strong>e Kultur oder Epoche. Wenn man <strong>verstehen</strong> will,<br />

warum so viele junge Leute heute geneigt s<strong>in</strong>d, es zu tun, dann geht es nicht darum,<br />

Entschuldigungen zu suchen, sondern Schutz. Was hat unsere Gesellschaft zu bieten,<br />

um tiefere Bedürfnisse als materielle zu befriedigen? Die Konzentration der<br />

Konservativen auf den Teufel oder abstrakte Begriffe des Bösen betrachtet <strong>Arendt</strong> als<br />

Formen „die genu<strong>in</strong>e Fähigkeit des Menschen zum Bösen“ nicht sehen zu wollen und<br />

sich um „e<strong>in</strong>e Analyse der menschlichen Natur“ zu drücken. <strong>Das</strong> Böse als etwas<br />

Dämonisches zu behandeln, ist auch e<strong>in</strong>e Weise, der Verantwortung für die eigenen<br />

Taten zu entkommen. Anders als viele Stimmen bei den Rechten me<strong>in</strong>en, ist das Böse<br />

zu <strong>verstehen</strong>, ja gerade e<strong>in</strong>e Weise, Verantwortung für es zu übernehmen.<br />

Aber die L<strong>in</strong>ke muss ihrerseits anerkennen, dass etwas, was wir <strong>verstehen</strong><br />

können, noch immer etwas Böses ist, und ihr Zögern überw<strong>in</strong>den, <strong>in</strong> moralischen<br />

Term<strong>in</strong>i zu reden, die von Rechten bereitwillig verwandt werden. Um es noch e<strong>in</strong>mal zu<br />

sagen, wenn es <strong>in</strong> der Moral um Individuen statt um Essenzen geht, dann ist es leichter,<br />

ohne Dämonisierung auszukommen.<br />

Wer darauf besteht, das Böse auf nur e<strong>in</strong>e Weise zu def<strong>in</strong>ieren, läuft Gefahr,<br />

andere Formen zu verkennen. So behauptete Donald Rumsfeld neulich mit der<br />

sche<strong>in</strong>baren Autorität des Selbstverständlichen: „Was <strong>in</strong> Abu Ghraib passiert ist, war<br />

18


falsch. Aber es ist nicht dasselbe, wie Menschen den Kopf abzuschlagen, und es auf<br />

Video aufzunehmen.“ E<strong>in</strong>mal im Leben möchte ich Rumsfeld zustimmen: Es ist nicht<br />

dasselbe. Daraus folgt jedoch schwerlich, was Rumsfeld gern implizieren möchte: dass<br />

das e<strong>in</strong>e böse <strong>in</strong> Re<strong>in</strong>kultur ist und das anderen e<strong>in</strong>fach nur, na ja, nicht <strong>in</strong> Ordnung. Nur<br />

wer me<strong>in</strong>t, das Böse habe e<strong>in</strong>e Essenz, kann zu diesem Schluss kommen. Denn<br />

tatsächlich ist die e<strong>in</strong>e Form des Bösen sichtbar, und die andere – leider – noch nicht.<br />

Die e<strong>in</strong>e ist das Produkt e<strong>in</strong>es großen und komplexen Systems, das es den Individuen<br />

leicht macht, sich ihrer Verantwortung zu entziehen, und die andere Form unmittelbar<br />

das Produkt e<strong>in</strong>es unbarmherzigen <strong>in</strong>dividuellen Willens. Die e<strong>in</strong>e macht aus Individuen<br />

gesichtslose Körper, die andere beutet unsere Neigung zu Mitleid und Furcht aus und<br />

zeigt uns die verne<strong>in</strong>ten Augen und zitternden Lippen von Erwachsenen, die man <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

bleiches Häufchen, verängstigten Fleisches verwandelt hat. Der entscheidende<br />

Unterschied zwischen den Fällen mag jedoch dieser se<strong>in</strong>: Beide verwenden so<br />

verabscheuenswürdige Methoden, um auf der rechten und l<strong>in</strong>ken Seite eigene Fe<strong>in</strong>de<br />

zu machen. Aber da der e<strong>in</strong>e bedeutend mehr Macht als der andere hat, werden se<strong>in</strong>e<br />

Wirkungen wahrsche<strong>in</strong>lich weitaus länger anhalten. Mit Abu Ghraib ist e<strong>in</strong>e Grenze<br />

überschritten. Es geht nicht darum, dass gr<strong>in</strong>sende Menschen sich fotografieren lassen,<br />

während sie andere quälen. Solche Bilder s<strong>in</strong>d nicht neu. Ähnliche kennen wir von e<strong>in</strong>er<br />

amerikanischen Variante des Mordens, die sich lynch<strong>in</strong>g nennt, und von der deutschen,<br />

die von der Wehrmacht ausg<strong>in</strong>g. <strong>Das</strong> besondere Böse an Abu Ghraib ist der Kontext, <strong>in</strong><br />

dem es geschah. Angesichts der e<strong>in</strong>maligen, weltweiten Opposition gegen den Krieg<br />

hätte man von der Regierung Bush mehr Umsicht bei der Kriegführung erwarten dürfen.<br />

Auch wenn sie die Warnungen nie ernst nahm, e<strong>in</strong> Angriff auf Irak könne den<br />

Terrorismus stärken und damit e<strong>in</strong>en Weltbrand auslösen, hätte m<strong>in</strong>imales Taktieren<br />

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e<strong>in</strong>en anderen als den e<strong>in</strong>geschlagenen Kurs gewählt. Alle nur halbwegs vertretbaren<br />

Ziele – den Aufbau der Demokratie im Nahen Osten, das Festhalten an den Grundlagen<br />

der <strong>in</strong>ternationalen Beziehungen, ja selbst die schiere Lust an Rechthaberei – hätte man<br />

nur mit besonderer Rücksicht auf die Bevölkerung durchsetzen können. Stattdessen<br />

droht das Weiße Haus jüngstens damit, gegen das vom Senat vorgeschlagene<br />

Folterverbot e<strong>in</strong> Veto e<strong>in</strong>zulegen. Doch e<strong>in</strong> Bekenntnis zur Menschenwürde wird für e<strong>in</strong><br />

Folterverbot nicht vorausgesetzt. Zu Beg<strong>in</strong>n der deutschen Besatzung Frankreichs<br />

schrieb ja schon Göbbels: „<strong>Das</strong> tadellose Verhalten unserer Soldaten ist die beste<br />

Propaganda.“ Nun statt darauf zu achten, befleißigt sich die Regierung Bush e<strong>in</strong>er<br />

krim<strong>in</strong>ellen Fahrlässigkeit, von der wir nur wissen, dass wir das Schlimmste noch nicht<br />

wissen. Die Folgen s<strong>in</strong>d nicht alle<strong>in</strong> Folter und Tod e<strong>in</strong>zelner Unschuldiger – ke<strong>in</strong>e allzu<br />

große Seltenheit, da oder dort – sondern Wut und Hass auf Amerika, auf den Westen<br />

und auf jeden, der zukünftig geneigt ist, e<strong>in</strong> wie immer ernst geme<strong>in</strong>tes Wort zur<br />

Verteidigung der Menschenrechte gegenüber Diktatoren zu sagen. Nehmen wir an, die<br />

Absichten, mit denen <strong>in</strong> Abu Ghraib gefoltert wurde, waren besser als die Absichten der<br />

Gruppen, die ausländische Geiseln köpften. Werden diese Intentionen uns helfen, wenn<br />

die Folgen sich als schlimmer herausstellen?<br />

<strong>Das</strong> s<strong>in</strong>d Fragen, die e<strong>in</strong>e notwendige Analyse der verschiedenen Formen von<br />

Gut und Böse anleiten müssen. Als ich von Abu Ghraib sprach, habe ich skizziert, wie<br />

das Word „böse“ als Anfang, nicht als Ende e<strong>in</strong>er Analyse fungieren kann, wie es Teil<br />

e<strong>in</strong>es Projekt, nicht e<strong>in</strong>er Polemik se<strong>in</strong> kann. Unterschiede <strong>in</strong> den Formen des Bösen zu<br />

untersuchen, ist e<strong>in</strong>e Weise, moralischen Begriffen e<strong>in</strong>e reflektierte Tiefe und fe<strong>in</strong>e<br />

Nuancen zu verleihen. Wie ke<strong>in</strong> anderer im 20. Jahrhundert führte <strong>Hannah</strong> <strong>Arendt</strong><br />

exemplarisch vor, wie e<strong>in</strong>e Analyse des Bösen, ohne es zu entschuldigen, wie das<br />

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Halten der Treue gegenüber den Opfern – und die Verh<strong>in</strong>derung neuer Opfer – nicht nur<br />

die Verurteilung, sondern e<strong>in</strong> Verstehen der Verbrecher fordert. Dieses Beispiel ist so<br />

neu und radikal, dass es noch immer missverstanden wird. Und das ist umso mehr e<strong>in</strong><br />

Grund, es <strong>verstehen</strong> wollen, wenn wir mit der Komplexität der Formen des Bösen<br />

zurecht kommen wollen, mit denen das 21. Jahrhundert begonnen hat.<br />

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