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Armutsbewegungen im Mittelalter - Buchhandel.de

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Herbert Gutschera / Joach<strong>im</strong> Maier / Jörg Thierfel<strong>de</strong>r<br />

Geschichte <strong>de</strong>r Kirchen<br />

Ein ökumenisches Sachbuch


Son<strong>de</strong>rausgabe<br />

(2. durchgesehene Auflage)<br />

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany<br />

© Verlag Her<strong>de</strong>r Freiburg <strong>im</strong> Breisgau 2006<br />

www.her<strong>de</strong>r.<strong>de</strong><br />

Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart<br />

Satz: Jörg Eckart, Mainz<br />

Druck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebe 2006<br />

www.fgb.<strong>de</strong><br />

Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier<br />

ISBN 13: 978-3-451-29188-3<br />

ISBN 10: 3-451-29188-6


10<br />

<strong>Armutsbewegungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>:<br />

„Ketzer“ und Heilige<br />

Armut war ein Thema in <strong>de</strong>r Kirche von Anfang an. Jesus war arm wie auch<br />

die Menschen, die sich um ihn scharten. Jesus pries die Armen glücklich (vgl.<br />

Lk 6,20). Er konnte auch von einzelnen Menschen Verzicht auf Reichtum for<strong>de</strong>rn.<br />

In <strong>de</strong>r Urgemein<strong>de</strong> gab es Formen freiwilliger Gütergemeinschaft. Die<br />

ersten Christen nahmen sich bewusst <strong>de</strong>r Armen an.<br />

Das <strong>Mittelalter</strong> kannte zwei Grundformen von Armut, die unfreiwillige<br />

und die freiwillige. War die unfreiwillige Armut eine Folge materieller Lebensbedingungen,<br />

so grün<strong>de</strong>te die freiwillige vor allem in <strong>de</strong>r von Jesus gelebten<br />

und gepriesenen einfachen Lebensweise. Die bei<strong>de</strong>n Formen <strong>de</strong>r Armut<br />

beeinflussten und begegneten einan<strong>de</strong>r in vielfältiger Weise.<br />

Im 12. Jahrhun<strong>de</strong>rt wuchs die Bevölkerung in Europa stark an. Es entstan<strong>de</strong>n<br />

<strong>im</strong>mer mehr Städte. Die wirtschaftliche Entwicklung beruhte nicht<br />

mehr wie bisher hauptsächlich auf Naturalien, son<strong>de</strong>rn auf Geld. Mitten <strong>im</strong><br />

christlichen Europa entstand – als Folge <strong>de</strong>s wirtschaftlichen Wan<strong>de</strong>ls – eine<br />

breite Schicht von Armen. Die<br />

Folgen dieser Entwicklung waren<br />

verschie<strong>de</strong>n. Es kam zu<br />

einzelnen Aufstän<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n<br />

Städten grün<strong>de</strong>te man Fürsorgeeinrichtungen,<br />

die sich um<br />

die Armen kümmerten. In diesem<br />

Zusammenhang entstan<strong>de</strong>n<br />

auch große religiöse Bewegungen,<br />

die die freiwillige Armut<br />

propagierten. Sie griffen<br />

auf das Vorbild Jesu und seiner<br />

Jünger zurück. Sie kritisierten<br />

Franziskus vermählt sich mit Frau<br />

Armut. Das von <strong>de</strong>m italienischen<br />

Maler Giotto (1266–1337) geschaffene<br />

Fresko stammt aus <strong>de</strong>r Unterkirche<br />

von San Francesco in Assisi.<br />

126


Die Wal<strong>de</strong>nser<br />

<strong>de</strong>n wirtschaftlichen Wan<strong>de</strong>l, teilweise auch eine Kirche, die, reich gewor<strong>de</strong>n,<br />

sich in Selbstdarstellung und Machtentfaltung verlor. Die mittelalterliche Kirche<br />

reagierte unterschiedlich auf die religiöse Armutsbewegung. Teile dieser<br />

Bewegung erschienen ihr so gefährlich, dass sie in aller Härte gegen sie<br />

vorging. An<strong>de</strong>re Teile integrierte sie.<br />

Die Wal<strong>de</strong>nser<br />

1177/78 beschloss Petrus Wal<strong>de</strong>s (auch Val<strong>de</strong>s), ein reicher Textilkaufmann<br />

aus Lyon, sein Leben radikal zu än<strong>de</strong>rn. Veranlasst durch die Lektüre <strong>de</strong>r<br />

Heiligen Schrift, gab er seinen Reichtum auf und begann als Wan<strong>de</strong>rprediger<br />

in seiner He<strong>im</strong>atstadt und ihrer Umgebung zu wirken. Er hatte beträchtliche<br />

Resonanz. Viele schlossen sich ihm an, Menschen aus <strong>de</strong>r eigenen Gesellschaftsschicht,<br />

aber auch solche aus <strong>de</strong>r Unterschicht und <strong>de</strong>m verarmten<br />

A<strong>de</strong>l. Die Wal<strong>de</strong>nser wollten wie die Apostel predigen, nicht ansässig wer<strong>de</strong>n,<br />

nichts mitnehmen als einen Stab, kein Brot, keine Tasche und kein Geld (vgl.<br />

Mk 6,7–9). Ihr Armutsi<strong>de</strong>al stand ganz <strong>im</strong> Dienst <strong>de</strong>r Predigtaufgabe. Der<br />

Erzbischof von Lyon ließ die neue Bewegung zu, verbot ihr aber die Predigt.<br />

1179 erschien Wal<strong>de</strong>s mit zwei Begleitern vor <strong>de</strong>m dritten Laterankonzil. Dort<br />

wur<strong>de</strong>n sie einem Glaubensverhör unterzogen: Man machte sich auch lustig<br />

über ihre theologische Unbildung. Nach Anweisung <strong>de</strong>s Konzils durften sie<br />

in Armut leben; auch predigen konnten sie weiter, freilich nur zu best<strong>im</strong>mten<br />

Anlässen und mit Genehmigung <strong>de</strong>s örtlichen Klerus. Nach ihrer Rückkehr<br />

vom Konzil überprüfte man erneut ihre Rechtgläubigkeit, befürchtete man<br />

doch verkappte Ketzerei. Doch Wal<strong>de</strong>s bejahte die Glaubenslehre <strong>de</strong>r Kirche.<br />

Aus <strong>de</strong>m Glaubenbekenntnis <strong>de</strong>s Petrus Wal<strong>de</strong>s<br />

„Wir glauben die eine katholische, heilige, apostolische und unbefleckte Kirche, außerhalb<br />

<strong>de</strong>rer niemand gerettet zu wer<strong>de</strong>n vermag; auch verwerfen wir keinesfalls die Sakramente,<br />

die in ihr gefeiert wer<strong>de</strong>n unter <strong>de</strong>m Beistand <strong>de</strong>r nicht wahrnehmbaren, unsichtbaren<br />

Kraft <strong>de</strong>s Heiligen Geistes, selbst wenn es ein sündiger Priester ist, <strong>de</strong>r sie austeilt, sofern<br />

die Kirche diesen nur ann<strong>im</strong>mt, noch tun wir <strong>de</strong>n von ihm vorgenommenen kirchlichen<br />

Handlungen o<strong>de</strong>r Segnungen Abbruch, son<strong>de</strong>rn nehmen sie in wohlwollen<strong>de</strong>r Gesinnung<br />

an, als wäre er vollkommen rechtschaffen. Wir billigen also die Kin<strong>de</strong>rtaufe , wie wir auch<br />

bekennen und glauben, daß sie [die Kin<strong>de</strong>r] gerettet wer<strong>de</strong>n, wenn sie nach <strong>de</strong>r Taufe sterben,<br />

noch bevor sie Sün<strong>de</strong>n begehen. In <strong>de</strong>r Taufe aber wer<strong>de</strong>n, glauben wir, alle Sün<strong>de</strong>n<br />

vergeben, sowohl jene Ursün<strong>de</strong> als auch die willentlich begangenen [Tatsün<strong>de</strong>n] … Auch<br />

glauben und beteuern wir fest das künftige Gericht, in <strong>de</strong>m je<strong>de</strong>r einzelne Lohn <strong>de</strong>r Strafe<br />

empfangen wird für das , was er hier <strong>im</strong> Fleische getan hat. Wir bezweifeln endlich nicht,<br />

dass Almosen und Meßopfer sowie die übrigen Wohltaten <strong>de</strong>n <strong>im</strong> Glauben Verstorbenen<br />

[<strong>im</strong> Fegfeuer] nützen können.<br />

127


10 <strong>Armutsbewegungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>: „Ketzer“ und Heilige<br />

Und weil <strong>de</strong>r Glaube <strong>de</strong>m Apostel Jakobus zufolge, ohne die Werke tot ist [Jak 2,26], haben<br />

wir <strong>de</strong>r Welt abgesagt und unseren Besitz, wie es <strong>de</strong>r Herr geraten, an die Armen<br />

verschenkt und [selbst] arm zu sein beschlossen, so wie wir uns nicht sorgen um <strong>de</strong>n morgigen<br />

Tag [vgl. Mt 6, 34] noch darum, Gold o<strong>de</strong>r Silber o<strong>de</strong>r etwas <strong>de</strong>rgleichen von irgend<br />

jeman<strong>de</strong>m entgegenzunehmen [vgl. Apg 3,6; 20,33] außer <strong>de</strong>r täglichen Nahrung und Kleidung.<br />

Auch haben wir uns vorgenommen, die evangelischen Räte wie Gebote zu befolgen.<br />

Die aber in <strong>de</strong>r Welt bleiben, ihren Besitz behalten und aus ihrem Eigentum Almosen und<br />

die sonstigen Wohltaten bestreiten, wer<strong>de</strong>n, so bekennen und glauben wir, durchaus gerettet<br />

wer<strong>de</strong>n; befolgen sie doch die Gebote <strong>de</strong>s Herrn.“ 1<br />

1182/1183 been<strong>de</strong>te dann <strong>de</strong>r Erzbischof die Aktivitäten <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser in<br />

Lyon. Er ließ sie exkommunizieren und aus seiner Diözese ausweisen. Ungehorsam<br />

gegenüber <strong>de</strong>m Klerus und falsche Inanspruchnahme <strong>de</strong>s Predigtamtes<br />

warf man ihnen vor. 1215 beschloss das Vierte Laterankonzil: „Weil aber<br />

einige <strong>im</strong> Gewan<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Frömmigkeit … sich die Ermächtigung zur Predigt zusprechen,<br />

sollen – da <strong>de</strong>r Apostel sagt:<br />

,Wie soll aber jemand verkündigen,<br />

wenn er nicht gesandt ist?‘ [Röm 10,15]<br />

– alle, die unerlaubt o<strong>de</strong>r ungesandt<br />

ohne Vollmacht vom Apostolischen<br />

Stuhl o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m rechtgläubigen Bischof<br />

<strong>de</strong>s Wortes sich öffentlich o<strong>de</strong>r<br />

privat das Predigtamt zu usurpieren<br />

vornehmen, in die Fessel <strong>de</strong>r Exkommunikation<br />

geschlagen wer<strong>de</strong>n.“ 2<br />

Das Bild mit <strong>de</strong>m ältesten Wappen <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser<br />

weist auf die ständigen Verfolgungen<br />

und das standhafte Festhalten <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser<br />

an Gottes Wort hin. Der Leuchter <strong>im</strong> Wappen<br />

ist häufi g stehend auf einer Bibel abgebil<strong>de</strong>t.<br />

Die sieben Sterne <strong>im</strong> Halbkreis um <strong>de</strong>n Leuchter<br />

stehen für die Vollzahl <strong>de</strong>r Gemein<strong>de</strong>n Jesu<br />

(nach Offb 2 und 3). Der Leuchter symbolisiert<br />

zu<strong>de</strong>m das Licht, das in die Finsternis scheint.<br />

Der lateinische Wahlspruch <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser<br />

ist als Schriftband um <strong>de</strong>n Leuchter herum<br />

abgedruckt: LUX LUCET IN TENEBRIS (= Das<br />

Licht leuchtet in <strong>de</strong>r Finsternis; Joh 1,15). Die<br />

Wal<strong>de</strong>nser sahen sich als Verfolgte, die in<br />

<strong>de</strong>r Finsternis leben mussten, aber am Wort<br />

Gottes festhielten, das ihnen Trost und Hilfe<br />

spen<strong>de</strong>te. 2<br />

Die Wal<strong>de</strong>nser wur<strong>de</strong>n zu einer Art<br />

Untergrundkirche, die sich in Frankreich,<br />

Italien, Spanien und Deutschland<br />

verbreitete. Die freie Laienpredigt<br />

blieb <strong>im</strong> Mittelpunkt ihrer Aktivitäten.<br />

Sie vertraten einen strengen Biblizismus<br />

und lehnten darum Eid, Krieg,<br />

Blutgerichtsbarkeit und Seelenmessen<br />

ab. Das machte sie auch für die weltliche<br />

Obrigkeit zu einer Gefahr. Ihre<br />

Kritik an <strong>de</strong>r Kirche wur<strong>de</strong> <strong>im</strong>mer<br />

schärfer. Die Kirche kritisierte an <strong>de</strong>n<br />

Wal<strong>de</strong>nsern vor allem <strong>de</strong>n Ungehorsam<br />

gegenüber <strong>de</strong>r kirchlichen Ordnung,<br />

laut <strong>de</strong>r das Predigtamt in <strong>de</strong>n<br />

Aufgabenbereich <strong>de</strong>s Klerus fällt.<br />

128


Die Gegenkirche <strong>de</strong>r Katharer<br />

1231 begannen schwere Verfolgungen <strong>de</strong>r Wal<strong>de</strong>nser in Norditalien und<br />

Deutschland. Die Wal<strong>de</strong>nser konnten sich trotz <strong>de</strong>r Verfolgungen halten, vor<br />

allem in schwer zugänglichen Alpentälern. Im 16. Jahrhun<strong>de</strong>rt bil<strong>de</strong>ten sie sich<br />

unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong>de</strong>r Genfer Reformation zu einer reformierten Kirche um.<br />

Nach <strong>de</strong>r Aufhebung <strong>de</strong>s Toleranzedikts von Nantes <strong>im</strong> Jahr 1685 mussten viele<br />

Wal<strong>de</strong>nser aus <strong>de</strong>n Alpentälern südlich von Genf fliehen. Sie fan<strong>de</strong>n Zuflucht<br />

auch in <strong>de</strong>utschen Län<strong>de</strong>rn, z.B. in Württemberg und Ba<strong>de</strong>n. Noch heute erinnern<br />

Ortsnamen nordwestlich von Stuttgart wie Perouse, Pinache, Großvillars<br />

und Serres an frühere Wal<strong>de</strong>nseransiedlungen <strong>im</strong> Herzogtum Württemberg.<br />

Die Wal<strong>de</strong>nser sind heute eine sehr lebendige Min<strong>de</strong>rheitskirche in Italien.<br />

Die Gegenkirche <strong>de</strong>r Katharer<br />

Seit 1140 traten in Italien und Westeuropa die Katharer auf. Ihr Name stammt<br />

von <strong>de</strong>m griechischen Wort kátharos (= rein). Das <strong>de</strong>utsche Wort Ketzer leitet<br />

sich von Katharer ab. Während die Wal<strong>de</strong>nser aus <strong>de</strong>m katholischen Christentum<br />

hervorgingen, hatten die Katharer wahrscheinlich auch nichtkatholische<br />

Ursprünge. Einflüsse <strong>de</strong>r Bogomilen, einer dualistischen Ketzerbewegung<br />

aus <strong>de</strong>m südöstlichen Europa, sind wohl festzustellen; eine direkte Herleitung<br />

<strong>de</strong>r Katharer von <strong>de</strong>n Bogomilen ist fraglich. 3<br />

Die Anschauungen <strong>de</strong>r Katharer basierten auf <strong>de</strong>m Dualismus zwischen<br />

<strong>de</strong>r jenseitigen unsichtbaren Welt, die von einem guten Gott beherrscht wird<br />

und das Gute verkörpert, und <strong>de</strong>r irdischen materiellen Welt, die von einem<br />

bösen Gott regiert wird und das Böse be<strong>de</strong>utet. Der Sün<strong>de</strong>nfall bestand darin,<br />

dass <strong>de</strong>r Gott <strong>de</strong>r materiellen Welt Engel in sein Reich lockte und in die von<br />

ihm geschaffenen Lebewesen – Mensch und Tier – einsperrte, wobei diese<br />

zugleich ihren Ursprung vergaßen. „Erlösung be<strong>de</strong>utete für die Katharer die<br />

Befreiung <strong>de</strong>r Engel aus <strong>de</strong>r Gefangenschaft und ihre Rückführung in die<br />

jenseitige Welt.“ 4 Die Katharer beriefen sich <strong>im</strong>mer wie<strong>de</strong>r auf die Bibel. Sie<br />

zogen vor allem solche Bibelzitate heran, aus <strong>de</strong>nen sich die Ablehnung <strong>de</strong>r<br />

materiellen Welt, <strong>de</strong>s Reichtums und <strong>de</strong>r Gewalt belegen ließ. Von daher kamen<br />

die Katharer zu einer scharfen Kritik an <strong>de</strong>r mittelalterlichen Kirche. Sie<br />

war mit ihrem Reichtum und ihrer Macht nach Anschauung <strong>de</strong>r Katharer ein<br />

Werk <strong>de</strong>s bösen Gottes und hin<strong>de</strong>rte die Menschen an ihrer Erlösung.<br />

Man kann bei <strong>de</strong>n Katharern zwei Hauptgruppen unterschei<strong>de</strong>n: die perfécti<br />

bzw. perféctae (= die Vollkommenen) und die credéntes (= die Gläubigen).<br />

Die perfecti/perfectae waren die eigentliche religiöse Elite. Durch das consolaméntum<br />

(= Geisttaufe) wur<strong>de</strong> man in <strong>de</strong>n Kreis <strong>de</strong>r Vollkommenen aufgenommen.<br />

Ihre religiöse Praxis bestand vor allem aus einer rigorosen Askese,<br />

aus gottesdienstlichen Handlungen und einer intensiven Missionstätigkeit.<br />

Zur Askese gehörte Verzicht auf Reichtum und Luxus, Nahrungsaskese und<br />

129


10 <strong>Armutsbewegungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>: „Ketzer“ und Heilige<br />

Der Montségur, <strong>de</strong>r sich steil aus <strong>de</strong>r südfranzösischen<br />

Ebene erhebt, war das letzte<br />

Zentrum <strong>de</strong>r Katharer, das 1244 von <strong>de</strong>n<br />

Truppen <strong>de</strong>r französischen Krone gestürmt<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

unbedingte geschlechtliche Enthaltsamkeit.<br />

Ihr Armutsi<strong>de</strong>al verban<strong>de</strong>n<br />

sie freilich nicht mit <strong>de</strong>r For<strong>de</strong>rung<br />

nach völliger Besitzlosigkeit wie die<br />

wal<strong>de</strong>nsischen Prediger. 5 Im Zentrum<br />

<strong>de</strong>s Gottesdienstes stand die Predigt.<br />

Eine wichtige Rolle spielte auch das<br />

Brotbrechen. Der älteste anwesen<strong>de</strong><br />

Katharer teilte dabei Brotstücke an die<br />

Teilnehmer aus.<br />

Die katharischen Vollkommenen bil<strong>de</strong>ten<br />

eine Art elitärer Mönchskirche.<br />

Trotz<strong>de</strong>m entstand eine Kirche mit großer<br />

Gefolgschaft. Das lag an <strong>de</strong>r großen<br />

Gruppe <strong>de</strong>r einfachen Gläubigen, die<br />

ihr alltägliches Leben weiterlebten. Sie<br />

unterstützten die Vollkommenen in<br />

je<strong>de</strong>r Beziehung. Durch einen Vertrag<br />

versprach ein Vollkommener einem<br />

Gläubigen, ihm auf <strong>de</strong>m Totenbett die<br />

Geisttaufe zu erteilen.<br />

In Südfrankreich, ihrem Hauptverbreitungsgebiet,<br />

besaßen die Katharer<br />

Anhänger in <strong>de</strong>n Städten und unter<br />

<strong>de</strong>m A<strong>de</strong>l. Der A<strong>de</strong>l wandte sich auch<br />

<strong>de</strong>shalb <strong>de</strong>n Katharern zu, um die politische<br />

und ökonomische Macht <strong>de</strong>r mittelalterlichen Kirche einzuschränken.<br />

Die mittelalterliche Kirche war zunächst sehr unsicher, wie sie mit <strong>de</strong>n<br />

neuen <strong>Armutsbewegungen</strong> umgehen sollte. Erst unter Papst Innozenz III.<br />

fand sie zu einer einheitlichen Strategie. Innozenz versuchte <strong>de</strong>n „Häresien“<br />

<strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n zu entziehen, in<strong>de</strong>m er kirchentreue <strong>Armutsbewegungen</strong> in die<br />

Kirche integrierte. So bestätigte er die Or<strong>de</strong>nsregel <strong>de</strong>s Franziskus von Assisi<br />

(s.u. S. 133). Zum an<strong>de</strong>ren bemühte er sich, <strong>de</strong>n Klerus theologisch und moralisch<br />

für eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>n „Ketzern“ zu befähigen. Dominikus<br />

und seine Anhänger ermutigte er zu ihrer Mission unter <strong>de</strong>n „Ketzern“<br />

(s.u. S. 135). Er ließ auch Traktate gegen Katharer und Wal<strong>de</strong>nser verfassen.<br />

Weiter versuchte Innozenz III., die weltlichen Gewalten in <strong>de</strong>n Dienst seiner<br />

Pläne zu stellen. 1209 propagierte er einen allgemeinen Kreuzzug gegen die<br />

Albigenser (= ein weiterer Name für die Katharer, die <strong>im</strong> Gebiet von Albi in<br />

Südfrankreich beson<strong>de</strong>rs häufig anzutreffen waren). So hieß es in <strong>de</strong>m päpstlichen<br />

Schreiben:<br />

130


Franziskus von Assisi und seine Min<strong>de</strong>rbrü<strong>de</strong>r<br />

Aus <strong>de</strong>m päpstlichen Kreuzzugsaufruf gegen die Katharer<br />

„Damit die heilige Kirche Gottes ihren grausamsten Fein<strong>de</strong>n, furchterregend und in wohlgeordneter<br />

Schlachtreihe, entgegenziehen könne, um die Anhänger jener ketzerischen<br />

Bosheit, die, schlangengleich, nahezu die ganze Provence wie ein Krebsgeschwür infi ziert<br />

hat, auszurotten, hielten wir es für geboten, die Kommandos christlicher Ritterschaft in<br />

<strong>de</strong>n umliegen<strong>de</strong>n Regionen zusammenzurufen; unsere ehrwürdigsten Brü<strong>de</strong>r, die Bischöfe<br />

von Couserans und Riez, sowie unseren geliebten Sohn, <strong>de</strong>n Abt von Cîteaux, haben wir als<br />

Legaten <strong>de</strong>s Apostolischen Stuhls zu Führern best<strong>im</strong>mt, damit die Verteidiger <strong>de</strong>r Ehre <strong>de</strong>r<br />

heiligen Trinität unter dreifacher meisterlicher Führung obsiegen möchten.<br />

Deshalb hielten wir es für angezeigt, euch insgesamt zu bitten und zu ermahnen, in<strong>de</strong>m<br />

wir es auch durch apostolische Schreiben gebieten und auftragen, ihr möget bei euren<br />

Untertanen durch eifrige Predigt und Ermahnung darauf dringen, daß sie <strong>im</strong> Hinblick auf<br />

ein so heiliges Werk, sowohl für sie selbst als auch für das Ihrige, Gott ergebenen Gehorsam<br />

leisten und <strong>de</strong>r Kirche erwünschte Hilfe bringen; sie mögen sich dabei <strong>de</strong>ssen bewußt<br />

sein, daß Vergebung von Sün<strong>de</strong>n von Gott und seinem Stellvertreter all jenen gewährt<br />

sei, die, vom Eifer <strong>de</strong>s rechten Glaubens entflammt, sich zu einem solchen Glaubenswerk<br />

gewappnet haben, so daß ihnen eine solche heilige Mühe zur ausreichen<strong>de</strong>n [werk]tätigen<br />

Genugtuung für jene Sün<strong>de</strong>n diene, für die sie [zuvor] <strong>de</strong>m wahren Gott eine aufrichtige<br />

Herzensreue und Ohrenbeichte dargebracht haben.“ 6<br />

In <strong>de</strong>n äußerst blutig geführten Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen<br />

(1209–1229) wur<strong>de</strong>n Zehntausen<strong>de</strong><br />

von Menschen umgebracht. Eigentlicher<br />

Sieger war die französische Krone, die<br />

ihre Besitzungen stark vergrößern konnte.<br />

1231 führte Papst Gregor IX. das Amt <strong>de</strong>s<br />

päpstlichen Inquisitors ein. Die Ketzerrichter,<br />

vor allem Dominikaner, sollten die Häresie<br />

ausrotten. (s.u. S. 135)<br />

Franziskus von Assisi und seine<br />

Min<strong>de</strong>rbrü<strong>de</strong>r<br />

Auch hier stand am Anfang die lebensentschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong><br />

Wen<strong>de</strong> eines einzelnen. Giovanni<br />

Bernardone, von seinen Freun<strong>de</strong>n Francesco<br />

Die wohl einzige, noch zu Lebzeiten entstan<strong>de</strong>ne Darstellung<br />

<strong>de</strong>s Franziskus (1224). Franziskus – auf <strong>de</strong>m Bild<br />

FR(ATER) FRA(N)CISCUS – ist noch ohne Heiligenschein<br />

abgebil<strong>de</strong>t. Das Fresko befi n<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Kapelle <strong>de</strong>s<br />

heiligen Gregor <strong>de</strong>s Klosters San Bene<strong>de</strong>tto bei Subiaco<br />

in Italien.<br />

131


10 <strong>Armutsbewegungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>: „Ketzer“ und Heilige<br />

genannt, Sohn eines reich gewor<strong>de</strong>nen Tuchhändlers in Assisi, genoss sein<br />

Leben in vollen Zügen. Doch dann wur<strong>de</strong> er in einer Feh<strong>de</strong> seiner He<strong>im</strong>atstadt<br />

mit Perugia gefangen genommen. Ein Jahr schweren Kerkers brachte<br />

ihn zur Umkehr. Be<strong>im</strong> Gebet in einer halb zerfallenen Kapelle hörte er das<br />

Wort: „Geh und richte meine Kirche wie<strong>de</strong>r auf. Du siehst es ja, sie ist ganz<br />

zerfallen.“ 7 Franziskus verstand <strong>de</strong>n Auftrag ganz wörtlich. Er beschloss, die<br />

Kirche zu restaurieren, mit <strong>de</strong>m Geld <strong>de</strong>s Vaters. Im Konflikt mit seinem<br />

Vater sagte er sich von diesem los. Nun baute Franziskus die Kapelle mit eigenen<br />

Hän<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r auf.<br />

Bei ihrer Einweihung 1208 las <strong>de</strong>r Priester Worte aus <strong>de</strong>r Aussendung <strong>de</strong>r<br />

Jünger durch Jesus (Mt 10,7–20). Plötzlich verstand Franziskus seinen Auftrag.<br />

Er sollte wörtlich <strong>de</strong>m Evangelium nachleben und das Evangelium von<br />

<strong>de</strong>r Armut predigen. Diese Botschaft, glaubwürdig bezeugt durch Franziskus,<br />

stieß auf große Resonanz. Franziskus fand Gefährten. Doch ohne kirchliche<br />

Erlaubnis zu predigen – das war verboten. So zog Franziskus mit Gefährten<br />

nach Rom, um die päpstliche Genehmigung zu erhalten. Der Papst genehmigte<br />

schließlich die Predigt <strong>de</strong>s Franziskus und seiner Anhänger. Dazu half<br />

sicher, dass diese in Glaubenslehre und kirchlicher Ordnung sich ganz <strong>de</strong>m<br />

Papst unterordneten. Und dieser bestätigte die erste (verlorengegangene) Regel,<br />

die Franziskus seinen Gefährten gegeben hatte; sie bestand nur aus Bibelworten.<br />

Der Sonnengesang zeigt in beson<strong>de</strong>rer Weise die Spiritualität <strong>de</strong>s<br />

Franziskus.<br />

Der Sonnengesang <strong>de</strong>s Franziskus<br />

Du höchster, du allmächtiger, guter Herrscher,<br />

Dein sind die Glorie, <strong>de</strong>r Preis, die Ehre und jeglicher Segen,<br />

Dir nur, du Höchster, wen<strong>de</strong>n sie sich entgegen,<br />

Und keiner <strong>de</strong>r Menschen ist würdig, dich zu benennen.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, mit allen geschaffenen Wesen,<br />

Vor allem <strong>de</strong>r Frau Sonne, <strong>de</strong>r Schwester,<br />

Die Tag bringt, und du erleuchtest uns durch sie,<br />

Und schön ist sie und strahlend in hellem Entbrennen –<br />

Sie trägt ja <strong>de</strong>ine Zeichen, du Höchster und Bester.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch Mond und Sterne, die Brü<strong>de</strong>r,<br />

Du hast sie <strong>de</strong>m H<strong>im</strong>mel verliehen als lichte und köstliche Hüter.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, vom Bru<strong>de</strong>r Win<strong>de</strong><br />

Und von <strong>de</strong>n Lüften und Nebeln und trüben Wettern und lin<strong>de</strong>n,<br />

Durch die du <strong>de</strong>inen Geschöpfen Erhaltung gewährst und Hilfe.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch Schwester Quelle,<br />

Ihr Wasser ist nützlich und keusch, <strong>de</strong>mütig und helle.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch Bru<strong>de</strong>r Feuer.<br />

Durch ihn lässt du die Nacht leuchten.<br />

132


Franziskus von Assisi und seine Min<strong>de</strong>rbrü<strong>de</strong>r<br />

Und er ist stark und mächtig und ist uns heilig und teuer.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch unsere Schwester Mutter Er<strong>de</strong>,<br />

Die hilft, uns regieren und nähren.<br />

Und schenkt sie uns vielerlei Früchte, Buntblumen und Kräuter und Ähren.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch sie, die dir zuliebe vergeben<br />

Und Krankheit und Trübsal bestehen.<br />

Ja, selig alle, die in Frie<strong>de</strong>n ertragen:<br />

Sie wer<strong>de</strong>n von dir, du Höchster, die Krone empfangen.<br />

Gepriesen sei, du mein Herr, durch unsern Bru<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>r Leiber;<br />

Dem kann kein leben<strong>de</strong>s Menschenkind enteilen.<br />

Weh allen <strong>de</strong>nen, die sterben in tödlichen Sün<strong>de</strong>n –<br />

Heil allen, die je zu <strong>de</strong>inem heiligsten Willen sich fi n<strong>de</strong>n,<br />

Der zweite Tod wird <strong>de</strong>nen nicht Scha<strong>de</strong>n bringen.<br />

Preist meinen Herrn und spen<strong>de</strong>t ihm Dank und Segen<br />

Und bleibt in großer Demut ihm untergeben. 8<br />

Die franziskanische Bewegung wuchs rasch an. 1223 erhielt <strong>de</strong>r Or<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r<br />

Franziskaner o<strong>de</strong>r Min<strong>de</strong>rbrü<strong>de</strong>r (lateinisch Órdo Frátrum Minórum, abgekürzt<br />

OFM) seine endgültige Regel. Franziskus zog sich am En<strong>de</strong> seines Lebens von<br />

<strong>de</strong>r Leitung <strong>de</strong>s Or<strong>de</strong>ns zurück. Er lebte auf <strong>de</strong>m Alvernaberg und trug, wie<br />

berichtet wird, die Wundmale Jesu an seinem Leib. In seinem Testament beschwor<br />

er seine Mitbrü<strong>de</strong>r, ja nicht von <strong>de</strong>r strengen Regel abzuweichen.<br />

Am Anfang <strong>de</strong>s Wirkens <strong>de</strong>s Or<strong>de</strong>ns<br />

stan<strong>de</strong>n Wan<strong>de</strong>rpredigt und<br />

Arbeit. Später traten an die Stelle<br />

<strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>r Bettel (<strong>de</strong>r Franziskaneror<strong>de</strong>n<br />

wird darum auch als<br />

Bettelor<strong>de</strong>n bezeichnet), und an<br />

Stelle <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rpredigt <strong>im</strong>mer<br />

stärker die Predigt an festen Orten;<br />

freilich blieb die äußere Mission<br />

ein wichtiger Arbeitszweig <strong>de</strong>s<br />

Or<strong>de</strong>ns. Schon Franziskus hatte ja<br />

be<strong>im</strong> fünften Kreuzzug vor Sultan<br />

Al Kamil in Ägypten gepredigt<br />

(s.o. S. 115f.). Vor allem die Städte<br />

wur<strong>de</strong>n das Hauptarbeitsfeld <strong>de</strong>r<br />

Franziskaner. Dort wirkten sie oft<br />

als Pfarrer.<br />

Große Be<strong>de</strong>utung erlangten<br />

die Franziskaner auch an <strong>de</strong>n<br />

Universitäten. Franziskaner wie<br />

Die Anerkennung <strong>de</strong>r ersten Regel durch Papst<br />

Innozenz III. Das ebenfalls von Giotto geschaffene<br />

Fresko befi n<strong>de</strong>t sich in <strong>de</strong>r Oberkirche von San<br />

Francesco in Assisi.<br />

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10 <strong>Armutsbewegungen</strong> <strong>im</strong> <strong>Mittelalter</strong>: „Ketzer“ und Heilige<br />

Bonaventura und Duns Scotus waren be<strong>de</strong>utsame Vertreter <strong>de</strong>r jetzt aufkommen<strong>de</strong>n<br />

Scholastik (s.u. Kap. 11)<br />

Aus <strong>de</strong>r Franziskanerregel von 1223<br />

6. Daß die Brü<strong>de</strong>r sich nichts zu eigen machen sollen; und vom Erbitten <strong>de</strong>r Almosen und<br />

von kranken Brü<strong>de</strong>rn<br />

Die Brü<strong>de</strong>r sollen sich nichts zu eigen machen, we<strong>de</strong>r Haus noch Platz noch irgen<strong>de</strong>in Ding.<br />

Und als Pilger und Fremdlinge in dieser Zeitlichkeit in Armut und Demut <strong>de</strong>m Herren dienend,<br />

mögen sie vertrauensvoll um Almosen ausziehen, und keine Scham gebührt ihnen, da<br />

<strong>de</strong>r Herr sich für uns in dieser Welt arm gemacht hat. Dies ist jene Erhabenheit <strong>de</strong>r tiefsten<br />

Armut, die euch, meine teuersten Brü<strong>de</strong>r, zu Erben und Königen <strong>im</strong> Königreich <strong>de</strong>s H<strong>im</strong>mels<br />

gesetzt, euch arm an Habe gemacht, an Kräften gea<strong>de</strong>lt hat. Dies sei euer Los, das ins Land<br />

<strong>de</strong>r Leben<strong>de</strong>n geleitet. Der sollt ihr, geliebteste Brü<strong>de</strong>r, ganz anhangen und für <strong>de</strong>n Namen<br />

unsres Herrn Jesu Christi auf alle Dauer nichts an<strong>de</strong>res unter <strong>de</strong>m H<strong>im</strong>mel haben wollen.<br />

Und überall, wo Brü<strong>de</strong>r sind und sich treffen, sollen sie sich freundlich zueinan<strong>de</strong>r zeigen,<br />

und sorglos offenbare einer <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>rn seine Not: <strong>de</strong>nn wenn eine Mutter ihren leiblichen<br />

Sohn nährt und liebt, wieviel lieben<strong>de</strong>r muß man seinen geistlichen Bru<strong>de</strong>r lieben und nähren!<br />

Und wenn einer von ihnen in Krankheit fi ele, sollen die an<strong>de</strong>ren Brü<strong>de</strong>r ihm so dienen,<br />

wie sie selbst bedient sein wollen.<br />

9. Von <strong>de</strong>n Predigern<br />

Die Brü<strong>de</strong>r sollen <strong>im</strong> Bistum eines Bischofs nicht predigen, wenn es ihnen von ihm untersagt<br />

ist. Und kein Bru<strong>de</strong>r wage vollends <strong>de</strong>m Volke zu predigen, ehe er vom gemeinsamen<br />

Diener dieser Bru<strong>de</strong>rschaft geprüft und anerkannt und ihm das Amt <strong>de</strong>r Predigt von ihm<br />

verliehen ist. lch mahne zu<strong>de</strong>m und erinnere diese Brü<strong>de</strong>r, daß die Sprache ihrer Predigten<br />

geprüft und keusch sei, zu Nutzen und Erbauung <strong>de</strong>s Volkes, in<strong>de</strong>m sie Laster und Tugen<strong>de</strong>n,<br />

Strafe und Glorie in Kürze <strong>de</strong>r Re<strong>de</strong> ihnen verkün<strong>de</strong>n; <strong>de</strong>nn ein gekürztes Wort hat<br />

<strong>de</strong>r Herr auf Er<strong>de</strong>n gewirkt. 9<br />

In <strong>de</strong>r Folgezeit kam <strong>de</strong>r Or<strong>de</strong>n durch Stiftungen in <strong>de</strong>n Besitz zahlreicher<br />

Klöster und Kirchen. Dies wi<strong>de</strong>rsprach <strong>de</strong>r Regel. Der Or<strong>de</strong>n spaltete sich in <strong>de</strong>r<br />

Armutsfrage in eine mil<strong>de</strong> und eine schroffe Richtung auf. Diese Entwicklung<br />

bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n Hintergrund von Umberto Ecos bekanntem Roman „Der Name <strong>de</strong>r<br />

Rose“. Ein Sieg <strong>de</strong>r schroffen Richtung, <strong>de</strong>r so genannten Spiritualen, hätte eine<br />

weitere Verbreitung <strong>de</strong>s Or<strong>de</strong>ns sehr erschwert. Die Päpste versuchten darum,<br />

<strong>de</strong>r mil<strong>de</strong>n Richtung zur Hilfe zu kommen, sei es in <strong>de</strong>r Weise, dass Ausnahmen<br />

gestattet wur<strong>de</strong>n, sei es, dass die Güter <strong>de</strong>s Or<strong>de</strong>ns als Eigentum <strong>de</strong>r Kurie<br />

bezeichnet wur<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>m Or<strong>de</strong>n nur zur Nutzung übergeben. Einen Höhepunkt<br />

erreichte <strong>de</strong>r Streit <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n Richtungen unter Papst Johannes XXII. Er verhängte<br />

1317 die Inquisition über die Spiritualen und erklärte 1323 eine wichtige<br />

Grundlage <strong>de</strong>s Franziskanertums, dass nämlich Christus und die Apostel kein<br />

gemeinsames Eigentum besessen hätten, für häretisch. Dies rief <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand<br />

fast <strong>de</strong>s ganzen Or<strong>de</strong>ns hervor; doch wenige Jahre später kehrten die meisten<br />

Min<strong>de</strong>rbrü<strong>de</strong>r zum Gehorsam gegenüber <strong>de</strong>m Papst zurück.<br />

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