Hartmut Traub - Die Drei
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Unter dem Titel des Fichte-Beitrags für Schillers<br />
Zeitschrift »<strong>Die</strong> Horen« Über Geist und Buchstab<br />
in der Philosophie (1794) hat David W.<br />
Wood in der Dezember- und Januar-Ausgabe<br />
2012/13 von DIE DREI eine zweiteilige Rezension<br />
meines Buches veröffentlicht. 2<br />
Der Diskussionsbeitrag von Wood freut mich<br />
insbesondere deshalb, weil mit ihm ein ausgewiesener<br />
Fichte-Forscher das Wort ergriffen<br />
hat, der meiner Interpretation der Philosophie<br />
Steiners aus der Tradition des Fichteschen<br />
Idealismus im Wesentlichen zustimmt. Dabei<br />
betrifft Woods Zustimmung nicht nur den<br />
nachhaltigen Einfluss, den Fichtes Wissenschaftslehre<br />
auf Steiner ausgeübt hat, sondern<br />
auch meine These, dass es vor allem Fichtes<br />
Populärphilosophie war, die die philosophische<br />
Weltanschauung Steiners nachhaltig geprägt<br />
hat (W1, 36). Bei so viel Fichte in Woods Rezension<br />
erschien mir das Steiner-Wort »Fichtes<br />
Geist mitten unter uns« als Titel für meine Replik<br />
sehr passend.<br />
Ein weiterer Anlass zur Freude ist Woods<br />
Zustimmung zu der von mir im vierten Teil<br />
meines Buches hervorgehobenen Bedeutung I.<br />
H. Fichtes für die Grundlegung der Anthroposophie.<br />
Dass man hier, wie Wood einwendet,<br />
zwischen einem geistesgeschichtlichen und<br />
wohl auch biografisch begründeten Anstoß I.<br />
H. Fichtes zur anthroposophischen Denkweise<br />
einerseits und ihrer spezifischen Prägung und<br />
Weiterentwicklung durch Steiner andererseits<br />
unterscheiden muss, ist selbstverständlich (W1,<br />
38f.). Insofern tut dieser Hinweis Woods seiner<br />
Zustimmung zu meiner These keinen Abbruch.<br />
Auch der von Wood geforderten Vertiefung des<br />
Herkunftsgedankens der Anthroposophie über<br />
I. H. Fichte hinaus stimme ich ausdrücklich zu.<br />
Auf diese Zusammenhänge weist meine Analyse<br />
auch explizit hin (u.a. T 905).<br />
In dieser breiten Zustimmung durch einen Kenner<br />
des Fichteschen wie des Steinerschen Denkens<br />
sehe ich mit Freude die argumentativen<br />
Grundlinien meines Buches im Ganzen bestätigt<br />
(W1, 35ff.).<br />
Selbstverständlich dienen Rezensionen nicht<br />
dazu, allein die Stärken, sondern auch die<br />
Schwächen der besprochenen Arbeiten zu benennen.<br />
Wenn Wood auch der geistesgeschichtlichen<br />
Argumentationslinie meines Buches<br />
folgt und dessen Verdienste für die Steinerforschung<br />
im Einzelnen ausführlich herausstellt<br />
(W1), so hat er gegenüber einigen Interpretationen,<br />
Thesen und Ergebnissen der Analyse<br />
starke Bedenken. Im ersten Teil seines Essays<br />
entwickelt Wood vor allem methodologische<br />
Kritikpunkte. Im zweiten Teil geht es in fünf, je<br />
mit einer Überschrift versehenen Abschnitten<br />
um inhaltliche Themen.<br />
Ich werde im Folgenden Woods Einwände kurz<br />
benennen und sie dann kritisch würdigen. Im<br />
1 <strong>Hartmut</strong> <strong>Traub</strong>: Philosophie und Anthroposophie.<br />
<strong>Die</strong> philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners<br />
– Grundlegung und Kritik, Stuttgart 2011; im Folgenden:<br />
T.<br />
2 David W. Wood: Über Geist und Buchstabe in der<br />
Philosophie Rudolf Steiners. Zu <strong>Hartmut</strong> <strong>Traub</strong>s Steiner-Studie;<br />
Teil I in: DIE DREI 12/2012, S. 29-39; Teil II<br />
in: DIE DREI 1/2013, S. 47-59, im Folgenden: W1 bzw.<br />
W2.<br />
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Ganzen – so mein Eindruck – ist Woods Kritik<br />
unbegründet. Bei einigen seiner Vorhaltungen<br />
handelt es sich um Missverständnisse, die sich<br />
leicht aufklären lassen. Bei anderen Kritikpunkten<br />
lässt sich durch Hinweise auf weiterführende<br />
Passagen in meinem Buch deren Unbegründetheit<br />
zeigen. Darüber hinaus gibt es in<br />
Woods Kritik auch Behauptungen zu Thesen<br />
des Buchs, die sachlich unzutreffend sind.<br />
<br />
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<br />
Zu Beginn seines Essays (W1, 29ff.) unterstreicht<br />
Wood Fichtes fundamentalen Einfluss<br />
auf Steiner vor allem im Hinblick auf dessen<br />
methodologische Grundideen. <strong>Die</strong>sen Ansatz<br />
entwickelt Wood, um zu zeigen, dass neben<br />
dem von mir nachgewiesenen »Adaptionsansatz«<br />
»auch eine andere Art und Weise [existiert],<br />
das Fichtesche Erbe in der Philosophie<br />
Rudolf Steiners zu verstehen« (W1, 29). Wood<br />
weist auf vier Aspekte Fichteschen Denkens hin,<br />
die er im Sinne einer alternativen Bestimmung<br />
des Verhältnisses Fichte-Steiner versteht. 1. Das<br />
Streben nach Wahrheit als Ideal des Gelehrten,<br />
2. die Sprachkunst, 3. das Prinzip der Multiperspektivität,<br />
4. die Idee der »Kraft des Geistes«.<br />
Über die Punkte 2-4 besteht zwischen mir und<br />
Wood Konsens. Hier haben wir es mit »Fichteschen<br />
Idealen« zu tun, die für Steiner »wesentlich<br />
waren« (W1, 30). Ich kann nicht sehen, dass<br />
diese Aspekte in meinem Buch nicht erörtert<br />
wären. Das Thema »Kraft des Geistes« wird an<br />
mehreren Stellen, etwa in meinen Ausführungen<br />
zu Fichtes und Steiners Ideenlehre, in der Analyse<br />
zum Prinzip des Denkens oder in der Lehre<br />
vom geistigen Sehen ausführlich behandelt. Das<br />
Thema Multiperspektivität findet sich vor allem<br />
in der Klärung der Idee unterschiedlicher Typen<br />
möglicher Weltanschauungen (T, 148 ff./933<br />
ff.). Das Thema Sprachkunst wird im Sinne des<br />
lebendigen und formenreichen Redens unter<br />
dem Stichwort »genetisches Philosophieren«<br />
(T, 932 f.) sowie unter dem Stichwort »Begriffskünstler«<br />
an zahlreichen Stellen erörtert.<br />
<br />
Beim Punkt 1 von Woods »anderer Weise«,<br />
Fichte in Steiner zu entdecken, habe ich allerdings<br />
ein Problem. Und das hat Folgen insbesondere<br />
für die Deutung des Begriffs der<br />
Sprachkunst und der Multiperspektivität. Wood<br />
behauptet, Steiner habe Fichtes »Gelehrten-<br />
Ideal« deswegen »nachstreben wollen«, weil<br />
er sich – wie Fichte – als Wahrheitssuchender<br />
oder als nach Wahrheit Strebender verstanden<br />
habe. Zur Stützung seiner These zitiert Wood<br />
Fichtes Wort aus der Gelehrten-Vorlesung von<br />
1794: »Ich [Fichte] bin ein Priester der Wahrheit;<br />
ich bin in ihrem Solde« (W1, 30). Mein<br />
Problem mit Woods Auslegung besteht darin,<br />
dass er aus Fichtes »Priester der Wahrheit« kurzerhand<br />
einen »nach der Wahrheit Strebenden«<br />
macht. Woraus sich für ihn die Interpretation<br />
des Fichteschen und Steinerschen Denkens als<br />
ein »Streben nach Wahrheit« ableiten lässt.<br />
<strong>Die</strong>ser Deutungsansatz des Gelehrten-Ideals<br />
als Vorbild für Steiners Fichte-Orientierung<br />
ist meines Erachtens unzutreffend. Und nicht<br />
nur das. Überdies ist er auch im Hinblick auf<br />
die beiden von Wood angemerkten Aspekte<br />
der Sprachkunst und der Multiperspektivität<br />
(W1, 32) kontraproduktiv. Zunächst ist bereits<br />
aus der Semantik klar: Ein Priester der Wahrheit<br />
ist etwas anderes als ein nach Wahrheit<br />
Suchender oder Strebender. Der Priester ist<br />
im Besitz der Wahrheit, der Sucher und Strebende<br />
nicht. Und: Der Priester der Wahrheit<br />
ist nicht nur in ihrem Besitz, sondern er kann<br />
sie darüber hinaus in unterschiedlichen Kontexten<br />
zelebrieren und variieren. Das vermag<br />
der Suchende und Strebende ebenfalls nicht.<br />
Und so folgt für Fichtes Theorie des Gelehrtenstandes,<br />
dass es zu dessen conditio sine<br />
qua non gehört, dass er im Besitz der Wahrheit<br />
und »göttlichen Idee« ist. 3 Ein nach Wahrheit<br />
Strebender oder Suchender ist für Fichte<br />
kein Gelehrter, geschweige denn ein »Priester<br />
der Wahrheit«. Er ist Schüler oder Lehrling der<br />
Wahrheit. Fichtes Philosophie ist nicht Wahrheitssuche,<br />
sondern »Wahrheits- und Weisheitslehre«<br />
– und darin, das kann man wohl<br />
3 J. G. Fichte: Sämtliche Werke, Berlin 1845/1846,<br />
Band VI, S. 411-447.<br />
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gut begründet behaupten, kommt ihr der anthroposophische<br />
Steiner sehr nahe.<br />
Woods Hinweis auf Steiners Wie erlangt man<br />
Erkenntnisse höherer Welten? (W1, 30) ist in<br />
diesem Zusammenhang deshalb sehr missverständlich.<br />
<strong>Die</strong>ses Buch ist kein »Suchbuch«,<br />
sondern ein »Lehrbuch«. In ihm tritt der Unterschied<br />
zwischen dem Schüler, als dem Suchenden<br />
und Strebenden, und dem Lehrer, als<br />
dem Wissenden und Eingeweihten, klar hervor<br />
(vgl. T, 934ff.).<br />
Im Hinblick auf Woods These vom variablen<br />
Sprachgebrauch und der Multiperspektivität<br />
(W1, 32f.) hat diese Bedeutungsverschiebung<br />
im Gelehrtenideal eine gravierende Konsequenz.<br />
Denn, weil der Gelehrte nach Fichte,<br />
der Eingeweihte bei Steiner, über das Wahrheitswissen<br />
verfügt, kann der von Wood geforderte<br />
freie Sprachgebrauch bei Fichte und Steiner<br />
eine sprachphilosophische »Begriffskunst«<br />
genannt werden. Ohne klare Orientierung und<br />
Begründung des Wissens in der Wahrheit fehlt<br />
der Sprache und auch der Perspektive das entscheidende<br />
Kriterium für ein Urteil über eine<br />
entweder angemessene oder weniger angemessene<br />
Rede oder über eine umfassende oder verkürzte<br />
Ansicht der Dinge. Dichtung und Wissenschaft<br />
beziehen die Überzeugungskraft ihrer<br />
Sprache aus ihrer Begründung in der Wahrheit.<br />
Ohne diesen Bezug bleiben sie Glasperlenspiele<br />
oder hypothetische Spekulation.<br />
Ich bin deshalb von Woods These nicht überzeugt,<br />
dass es das »Ideal« des Wahrheitsstrebens<br />
war, das Steiner bei Fichte angezogen hat.<br />
Meines Erachtens ist es Fichtes Konzept eines<br />
wahrheitsbegründeten Gelehrtentums, das sich<br />
der Idee einer ganzheitlichen Bildung verpflichtet<br />
weiß, worin Steiner das »Ideal« gesehen hat,<br />
dem er nachzueifern sich als junger Mann entschlossen<br />
hatte (vgl. T, u.a. 32).<br />
<br />
<br />
Der zweite Kritikpunkt im ersten Teil seines Essays<br />
betrifft das Problem der »retrospektiven<br />
Interpretation«. Wood glaubt in meiner eigenen<br />
Argumentation den Fehler entdecken zu können,<br />
den ich der anthroposophischen Steinerdeutung<br />
vorwerfe, nämlich Steiners frühe philosophischen<br />
Schriften im Licht der späteren<br />
Anthroposophie auszulegen (W1, 38). Woods<br />
Kritik stützt sich darauf, dass ich sowohl Steiners<br />
späte Urteile über die Bedeutung Fichtes<br />
für seinen eigenen philosophischen Werdegang<br />
als auch Steiners späte Urteile über seine religiöse<br />
Prägung sozusagen als biografische Tatsachen<br />
verstehe, obwohl sie sich auf Aussagen<br />
Steiners aus Mein Lebensgang (1923-25) stützen.<br />
Für die Kritik an meiner vermeintlich retrospektiven<br />
Interpretation bezieht sich Wood<br />
zum einen auf die Fußnote 329 auf der Seite<br />
530f. und zum anderen auf das Kapitel 9.2.2<br />
im dritten Teil meines Buches. In beiden Fällen<br />
handelt es sich aber nicht um eine retrospektive<br />
Interpretation. Denn im ersten Fall beruhen<br />
meine Analysen nicht allein auf Steiners<br />
Bekenntnissen aus Mein Lebensgang, sondern<br />
an vielen Stellen wird auf den Briefwechsel<br />
Steiners verwiesen, der belegt, dass das, was<br />
Steiner später über sein Verhältnis zu Fichte<br />
geurteilt hat, mit dem übereinstimmt, was er<br />
auch damals, in den frühen 1880er Jahren, geschrieben<br />
hat.<br />
Was die religiöse Sozialisation Steiners betrifft,<br />
geht auch hier der Vorwurf retrospektiver Interpretation<br />
ins Leere. Denn es gibt kaum authentische<br />
Quellen, die mittels retrospektiver<br />
Interpretation umgedeutet werden könnten.<br />
Hier sind wir weitgehend auf Steiners eigene<br />
Lebenserinnerungen angewiesen. Meine Arbeit<br />
zum Kapitel 9.2.2 in Teil 3 bestand nicht in der<br />
Interpretation, sondern in der Ausleuchtung<br />
des von Steiner übermittelten Sozialisationskontextes.<br />
Hier geht es nicht um retrospektive<br />
Interpretation, sondern um eine umfassendere<br />
Würdigung dessen, was Steiner uns über seine<br />
Kindheit mitgeteilt hat. Meine Kritik an der<br />
anthroposophischen Lesart der einschlägigen<br />
Passagen aus Mein Lebensgang besteht darin,<br />
dass sie diese einseitig rezipiert (T, 793ff.). Im<br />
Übrigen halte ich meine Lesart der religiösen<br />
Sozialisation Steiners für »anthroposophiekompatibler«<br />
als die gängige Auffassung vom<br />
technikvernarrten und liberalistisch erzogenen<br />
jungen Steiner. Denn aus meiner Auffassung<br />
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lässt sich dessen Affinität zu Mystik, Kultus<br />
und Esoterik als ein durchgängiges, bereits in<br />
der Kindheit angelegtes Element seiner Weltauffassung<br />
begreifen.<br />
Woods Vorwurf, ich würde selbst retrospektiv<br />
interpretieren, lässt sich somit nicht aufrechterhalten.<br />
<br />
<br />
In diesem Diskussionskontext wirft Wood mir<br />
noch einen weiteren methodologischen Fehltritt<br />
vor. Ich würde Fichte etwas zugestehen, was<br />
ich Steiner verweigere. »Wenn <strong>Traub</strong> Fichte zugesteht,<br />
dass er unabhängig zur johanneischen<br />
Lehre des Christentums gekommen sei – auch<br />
wenn die Anweisung zum seligen Leben und<br />
das Johannes-Evangelium laut Fichte genau<br />
›dieselbe[n] Bilder und Ausdrücke‹ verwenden<br />
–, warum gesteht <strong>Traub</strong> dieselbe Möglichkeit<br />
nicht Steiners Lehre zu? Und umgekehrt: Wenn<br />
man feststellt, dass Steiner bestimmte Elemente<br />
seiner Philosophie Fichtes Anweisung entlehnt<br />
haben muss, muss man konsequenterweise dieselbe<br />
Kritik auf Fichte ausdehnen in Bezug auf<br />
das Johannes-Evangelium – trotz Fichtes Beteuerung,<br />
dass sein Text nicht auf der Autorität und<br />
der ›äußeren Stütze‹ dieses Evangeliums basiert.<br />
Als Alternative könnte man die Möglichkeit offenlassen,<br />
dass beide Philosophen in unabhängiger<br />
Weise zu ihren Lehren vom Chris tentum<br />
gekommen sind« (W1, 37). Hier liegt einiges<br />
schief. Ich habe Fichte nicht zugestanden, »dass<br />
er unabhängig zur johanneischen Lehre des<br />
Christentums gekommen sei«. Es ist Fichte, der<br />
behauptet, dass seine in der Wissenschaftslehre<br />
begründete Religionslehre auf philosophischem<br />
Wege zu denselben Einsichten gelangt, die das<br />
johanneische Christentum unphilosophisch verkündet.<br />
<strong>Die</strong>se von Fichte behauptete Übereinstimmung<br />
versucht seine Anweisung im sechsten<br />
Vortrag in einer originellen Weise plausibel<br />
zu machen. Meine kontextkritische Analyse zu<br />
Steiners Das Christentum als mystische Tatsache<br />
bestreitet nicht die Möglichkeit einer kongenialen<br />
Neuschöpfung christologischer Einsichten.<br />
Sondern: Meine Analyse weist in dieser Sache<br />
<br />
auf Parallelitäten im Denkansatz, in Themen,<br />
Quellen und Interpretationen bei Fichte und<br />
Steiner hin, die unter der Voraussetzung des<br />
erwiesenen – auch von Wood zugestandenen<br />
– Einflusses von Fichtes populärer Religionslehre<br />
auf Steiner nicht zufällig sein können. Dass<br />
Wood nun fordert, den Nachweis der positiven<br />
Abhängigkeit des Steinerschen vom Fichteschen<br />
Text auch auf die Beziehung zwischen Fichtes<br />
Anweisung und dem Evangelium des Johannes<br />
zu führen, ist widersinnig. Denn wenn man die<br />
Anweisung kennt, dann wird man sehr schnell<br />
feststellen, dass eine solche Abhängigkeit zum<br />
Evangelientext weder in der grundlegenden<br />
Thematik noch in den Einzelthemen der Vorträge<br />
besteht. Deswegen kann man in ihnen auch<br />
keine positive Abhängigkeit zum Johannes-<br />
Evangelium nachweisen, wie Wood das fordert.<br />
<br />
Zu einer letzten Kritik aus dem ersten Teil von<br />
Woods Essay möchte ich noch Stellung nehmen.<br />
Sie betrifft die Forschung zu I. H. Fichte.<br />
Wood schreibt, »<strong>Traub</strong> [klassifiziert] etwas<br />
großzügig seine eigene Forschung über I. H.<br />
Fichte als ›Neuland‹ und missachtet damit die<br />
Pionierarbeit von Hermann Ehret und anderen<br />
als unsystematisch und nicht ernstzunehmend«<br />
(W1, 38f.). <strong>Die</strong>ser Fehleinschätzung meiner<br />
Haltung gegenüber der Arbeit von Ehret widerspreche<br />
ich ausdrücklich. Mit dem Nachweis,<br />
dass dieses Urteil unbegründet ist, verbinde ich<br />
drei weitere unrichtige Behauptungen zu Personen<br />
und deren Werken, die ich in meinem<br />
Buch nicht angemessen gewürdigt haben soll:<br />
Aristoteles, Thomas von Aquin, Ernst Haeckel.<br />
Zu Hermann Ehret. Es ist ein abenteuerlicher<br />
Vorwurf, dass ich, wie Wood behauptet, Ehrets<br />
Arbeit als einen nicht ernstzunehmenden Forschungsbeitrag<br />
missachten würde. Durch keine<br />
der von Wood angegeben Textstellen ist diese<br />
Aussage zu rechtfertigen. Was meine Rezeption<br />
von Ehrets Arbeit betrifft, so lässt sich mühelos<br />
zeigen, dass in allen Passagen und Fußnoten<br />
meiner Arbeit, in denen ich Ehrets Arbeit<br />
erwähne, dies mit Respekt gegenüber dessen<br />
Engagement geschieht, sich für das auch von<br />
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renommierten Steiner-Forschern (Lindenberg/<br />
Zander) ignorierte Bekenntnis Steiners zu I. H.<br />
Fichte einzusetzen (T, 901f.). Ehret wird von<br />
mir als die löbliche Ausnahme geschätzt, von<br />
der aus eine Grundlegung der Anthroposophie<br />
aus dem Geist der Philosophie I. H. Fichtes<br />
nachvollzogen werden kann (T, 974).<br />
Mit Bezug auf Aristoteles und Thomas von Aquin<br />
kritisiert Wood: »<strong>Traub</strong>s Studie zu den Wurzeln<br />
der Anthroposophie reicht jedoch nur bis zu<br />
I. H. Fichte und Troxler und verzichtet völlig<br />
auf eine Diskussion dieser beiden frühen Denker«<br />
(W2, 49). Wer sich die Mühe macht, über<br />
das Namensregister meines Buches die Stellen<br />
aufzusuchen, an denen ich auf Aristoteles<br />
und Thomas mit Bezug auf die Entstehungsgeschichte<br />
der Anthroposophie eingehe, wird<br />
feststellen, dass dies bereits ausdrücklich im<br />
Vorwort geschieht (vgl. T, 22). Darüber hinaus<br />
wird zu Thomas und »Steiners Neugründung<br />
der Theologie/Theosophie« mit einigen anthroposophischen<br />
Autoren eine ausführliche Diskussion<br />
über diesen epochalen theologischen<br />
Anspruch geführt (T, 857ff.). Dass ich auf eine<br />
Diskussion über die Bedeutung von Aristoteles<br />
und Thomas im Blick auf die Grundlegung von<br />
Steiners Anthroposophie »völlig verzichtet«<br />
hätte, kann man wohl nicht behaupten. Was<br />
die Textstelle betrifft, auf die sich Wood bezieht,<br />
so ist festzustellen, dass auch an ihr eine<br />
Fundamentalkritik des »völligen Verzichts« auf<br />
Aristoteles und Thomas nicht angebracht ist.<br />
Denn auf derselben Seite, auf der der Satz steht,<br />
den Wood gegen mich verwendet, wird sowohl<br />
der Einfluss »nichtphilosophischer, das heißt<br />
mystischer und esoterischer, europäischer wie<br />
asiatischer Quellen auf die spezifische Ausprägung<br />
der Anthroposophie Steiners« als auch<br />
die Bedeutung von Aristoteles und Thomas<br />
von Aquin erwähnt: »Für die Beurteilung von<br />
Steiners Anthroposophie als philosophische<br />
Position sind sie [Aristoteles und Thomas von<br />
Aquin] – etwa was den Aufbau der Seelenlehre<br />
oder die Theorie von Form und Materie betrifft<br />
– gleichwohl wichtige Referenzpunkte« (T,<br />
905). Woods Kritik, ich hätte auf die Einbettung<br />
der in die europäische und asiatische Geistesgeschichte<br />
sowie auf die spezifischen Referenzen<br />
zu Aristoteles und Thomas »völlig verzichtet«,<br />
halte ich daher für ziemlich überzogen.<br />
Ernst Haeckel: Zu Beginn des zweiten Teils<br />
seines Essays trägt Wood seine Einschätzung<br />
zu Steiners »originellster und dauerhaftesten<br />
philosophischen Errungenschaft« vor. <strong>Die</strong>se<br />
besteht nach Wood darin, Haeckels »materialistische<br />
Evolutionstheorie« mit der »idealistischen<br />
Philosophie von menschlicher Freiheit<br />
und Moral« in Einklang gebracht zu haben (W2,<br />
47). Auf dieses Argument kann ich mich an<br />
dieser Stelle nicht ausführlich einlassen. Dass<br />
ich starke Bedenken gegen die »Krönungszeremonie«<br />
habe, der zufolge Steiners ethischer Individualismus<br />
die Krone dessen sein soll, was<br />
die Evolutionstheorie Darwins und Haeckels<br />
für die Naturwissenschaften angestrebt haben<br />
(GA 4, 200), 4 ist im Kapitel 7.6 des dritten Teils<br />
meines Buches unter dem Titel »<strong>Die</strong> Philosophie<br />
der Freiheit am Abgrund« (T, 766ff.) ausgeführt.<br />
Entscheidend ist Woods Kritik an meiner<br />
»unbegründeten Spekulation« (W2, 48), nämlich,<br />
dass sich Steiner mit seiner Philosophie<br />
der Freiheit dem Haeckelschen Materialismus<br />
auch deswegen angenähert habe, weil er sich<br />
von dem berühmten Professor Unterstützung<br />
für die eigene akademische Karriere versprach.<br />
Wood behauptet nun, es existiere für diese<br />
These keinerlei »Textgrundlage und <strong>Traub</strong> liefert<br />
auch keine« (W2). Zunächst einmal gilt es<br />
festzuhalten, dass ich nicht behauptet habe,<br />
Steiners Karrieredenken sei das einzige Motiv<br />
für seine Annäherung an Haeckel (vgl. T, 792).<br />
Den Vorwurf, dass es für die Stützung dieser<br />
karrierestrategischen Seite der Beziehung von<br />
Steiner zu Haeckel keine Textgrundlage gäbe,<br />
wie Wood behauptet, kann ich nicht nachvollziehen.<br />
Denn, wie ich im Text (S. 792) belege,<br />
bringt Steiner in seinem Brief vom 21. März<br />
1894 5 gegenüber Pauline Specht nicht allein seine<br />
Hoffnung zum Ausdruck, dass er im Kampf<br />
gegen religiöse Vorurteile, sondern dass er auch<br />
persönlich, mit seinen »eigenen Bestrebungen«,<br />
4 GA 4: Rudolf Steiner: <strong>Die</strong> Philosophie der Freiheit<br />
(1894/1918; GA 4), Dornach 1995.<br />
5 Rudolf Steiner: Briefe Band II: 1890-1925 (GA 39),<br />
Dornach 1987, S. 207ff.<br />
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auf Haeckels Unterstützung rechnet (ebd. 209).<br />
Dass diese »eigenen Bestrebungen« zur damaligen<br />
Zeit auch Steiners akademische Karrierepläne<br />
waren, steht außer Zweifel.<br />
Ich komme nun zu den vier anderen thematisch<br />
überschriebenen Kritikpunkten von Woods Essay:<br />
Gefühlsphilosophie, »Seele« in der Philosophie<br />
der Freiheit, Kein Goethe und schließlich<br />
zu Woods Schlussbetrachtung.<br />
<br />
<br />
»Und wenn ich prophetisch reden könnte und<br />
wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse<br />
und hätte allen Glauben, so dass ich Berge versetzen<br />
könnte, und hätte die Liebe nicht, so<br />
wäre ich nichts« (1. Kor. 13,2).<br />
Im Kapitel Gefühlsphilosophie greift Wood zwei<br />
Aspekte meiner Steiner-Auslegung an. Zum einen<br />
geht es um die Frage nach der Stringenz des<br />
argumentativen Aufbaus der Philosophie der<br />
Freiheit und zum anderen um das eigentliche<br />
Thema Gefühlsphilosophie. Wood bestreitet<br />
meine These, dass sich Steiner zur Zeit der Abfassung<br />
der Philosophie der Freiheit der Mängel<br />
seines Buches bewusst war und diese auch offen<br />
eingestanden hat. (T, 36) Woods Antithese<br />
lautet dagegen: »Das Gegenteil davon ist wahr,<br />
Steiner hat stets bekräftigt, dass die Philosophie<br />
der Freiheit nicht nur im höchsten Maße<br />
höchst logisch sei, sondern, ›dass darin etwas<br />
herrsche wie ein mathematisches Denken‹«<br />
(W2, 50). Meine Unterstellung, »Steiner sei ein<br />
diffuser und sprunghafter Denker«, hängt, so<br />
Woods zweite These, mit »meinem Verständnis<br />
der Philosophie der Freiheit als einer Art<br />
Gefühlsphilosophie zusammen.« (W2, 51) Zur<br />
ersten These ist zu sagen, dass Wood selbst<br />
große Schwierigkeiten damit hat, die von mir<br />
aus Steiners Briefwechsel zitierten Zugeständnisse<br />
zu den Schwächen seiner Philosophie<br />
der Freiheit umzudeuten. <strong>Die</strong> Schwierigkeiten<br />
würden noch vergrößert, wenn Wood auch die<br />
anderen Stellen, die im Kontext dieser These<br />
herangezogen wurden, berücksichtigt hätte.<br />
Denn nicht nur gegenüber Mayreder, sondern<br />
auch gegenüber Hartmann gesteht Steiner seine<br />
Unzufriedenheit mit der Darstellung zentraler<br />
Themen seines Buches offen ein. 6 Wood<br />
macht nun dagegen geltend, dass die beiden<br />
Adressaten, Mayreder und Hartmann, positiv<br />
auf das Buch reagiert hätten. <strong>Die</strong> Reaktion der<br />
Adressaten ist aber nicht mein Thema. Meine<br />
These war, dass Steiner selbst ein kritisches<br />
Verhältnis zu seiner Arbeit hatte und dies auch<br />
kommunizierte, was offensichtlich der Fall ist<br />
(vgl. auch: T, 580, 640, 868).<br />
Der zweite Aspekt der Kritik, dass mein Vorwurf<br />
mangelnder Stringenz im Aufbau der<br />
Philosophie der Freiheit mit der Unterstellung<br />
»einer Art von Gefühlsphilosophie« zusammenhängt,<br />
offenbart ein gravierendes Missverständnis<br />
des Rezensenten sowohl in der Sache als<br />
auch im rekonstruierbaren Aufbau der Philosophie<br />
der Freiheit. <strong>Die</strong> von Steiner eingeräumten<br />
»Sprünge« im Argumentationsgang haben mit<br />
dem Thema »Bedeutung des Gefühls« nichts zu<br />
tun. Und zwischen beiden besteht auch kein<br />
kausaler Zusammenhang in meiner Argumentation.<br />
Deswegen ist es abwegig zu behaupten,<br />
mein »Bemühen, Steiner zu einem sprunghaften<br />
und diffusen Denker zu machen« gehe auf mein<br />
»Verständnis der Philosophie der Freiheit als einer<br />
Art von Gefühls philosophie zurück.« Was<br />
bei Wood als Widerlegung meiner Analysen<br />
zur Bedeutung des Gefühls vorgetragen wird,<br />
ist leider keine Sachauseinandersetzung mit<br />
dem für Steiner nicht nur individualitätstheoretisch,<br />
sondern auch lebens-, interpersonalitätsphilosophisch<br />
und kosmologisch relevanten<br />
Thema des Gefühls. Was Wood bietet, ist das<br />
allseits bekannte anthroposophische Mantra<br />
vom reinen Denken als »Ausgangspunkt und<br />
zentrale Funktion in Steiners Weltanschauung«<br />
(W2, 52). <strong>Die</strong> Probleme, die mit dem »wohlbekannten<br />
Worte« Steiners: »der Weg zum Herzen<br />
geht durch den Kopf« und den zu ihrer<br />
Erklärung verwendeten Beispielen, sowie mit<br />
Steiners Gefühlsbegriff überhaupt verbunden<br />
sind, habe ich in meinem Buch ausführlich diskutiert.<br />
(T, 262ff./522ff.)<br />
Im Gegensatz zum Rezensenten halte ich das<br />
verunglückte Statement aus dem 1. Kapitel der<br />
Philosophie der Freiheit (GA 4; 1918) keineswegs<br />
6 Rudolf Steiner: Briefe, a.a.O., S. 222ff.<br />
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für Steiners letztes Wort in Sachen des Gefühls.<br />
Denn zunächst ist im Hinblick auf das Verhältnis<br />
zwischen Denken und Gefühl bei Steiner darauf<br />
hinzuweisen, dass das Denken – auch das<br />
reine – als Selbsterfahrung, auf die es Steiner ja<br />
existenziell ankommt, durch das Selbst-Gefühl,<br />
das heißt durch die Realitätserfahrung des Ichdenke<br />
als erlebte geistige Kraft qualifiziert ist.<br />
Auch Steiners Theorie der Handlungsfreiheit<br />
enthält, da wo sie individuell relevant wird, das<br />
Moment der »Freiheitsempfindung« (T, 771f.).<br />
Dasselbe gilt für die unmittelbare Begegnung<br />
»freier Geister« (T, 843ff.). Darüber hinaus besteht<br />
nach Steiner zwischen Begriff und Gefühl<br />
ein kommunizierendes Verhältnis, in dem – im<br />
Interesse eines ganzheitlichen Menschenseinkönnens<br />
– Gefühle zu Begriffen hinaufgebildet,<br />
Begriffe aber durch Gefühle zu konkretem<br />
Leben »herabgebildet« werden müssen (GA 4,<br />
110, T, 516ff.). Steiners Kritik an einem Leben<br />
im reinen Denken als Status »unterschiedsloser<br />
Gleichgültigkeit« halte ich in dieser Sache für<br />
ebenso einschlägig wie die gelungene Vermittlung<br />
zwischen Individualität und Universalität<br />
durch das Gefühl der »Liebe geistiger Art«. Alle<br />
diese hochinteressanten Themen rangieren in<br />
Woods Kritik unter dem unspezifischen Vorbehalt<br />
einer von mir Steiner unterstellten »Art von<br />
Gefühlsphilosophie«.<br />
Ohne das Gefühl als zentrales Fluidum etabliert<br />
zu haben, wird es eine philosophisch reflektierte<br />
Weltanschauung schwer haben, sich dem<br />
Leben zu vermitteln. Wir wissen und erkennen<br />
viel über die Welt und die Moral. Aber ohne<br />
den Impuls des Gefühls, des Interesses, des<br />
Willens und »der Liebe zur Tat« bleibt das alles<br />
gleichgültige und graue Theorie. Steiner wusste<br />
das. Daher sein vielleicht noch bedeutsameres<br />
Wort: »Wären wir bloß denkende und wahrnehmende<br />
Wesen, so müsste unser ganzes Leben<br />
in unterschiedsloser Gleichgültigkeit dahin<br />
fließen. Wenn wir uns bloß als Selbst erkennen<br />
könnten, so wären wir uns vollständig gleichgültig.<br />
Erst dadurch, daß wir mit der Selbsterkenntnis<br />
das Selbstgefühl, mit der Wahrnehmung<br />
der Dinge Lust und Schmerz empfinden,<br />
leben wir als individuelle Wesen, deren Dasein<br />
nicht mit dem Begriffsverhältnis erschöpft ist,<br />
in dem sie zu der übrigen Welt stehen, sondern<br />
die noch einen besonderen Wert für sich haben«<br />
(GA 4, 109, vgl. T 516ff.).<br />
<br />
Zur Kritik dieses Essaykapitels ist nicht viel<br />
zu sagen. In der Tradition retrospektiver Interpretation<br />
versucht Wood der Philosophie<br />
der Freiheit eine anthroposophische Seelenlehre<br />
einzuhauchen. Der Stein des Anstoßes ist<br />
meine Behauptung, dass sich Steiners »ausgereifte«<br />
Überlegungen zum Seelenerleben, zu<br />
den Seelengebieten und der Methode der Seelenbeobachtung<br />
im Text von 1894 nicht einmal<br />
als Worte, geschweige denn als systematische<br />
Gedanken ausmachen lassen (W2, 53). Zur<br />
Widerlegung dieser Behauptung, die »vernichtend<br />
wäre, wenn sie wahr wäre« – und sie ist<br />
wahr! –, verweist Wood auf drei Stellen in der<br />
ersten Auflage der Philosophie der Freiheit, an<br />
denen seines Erachtens von Steiners Seelenlehre<br />
die Rede sein soll. Sieht man von dem<br />
unspezifischen Ausdruck »Seelenvermögen«,<br />
den Steiner, samt dem dazugehörigen Kapitel<br />
I, zum Zweiten Anhang in der zweiten Auflage<br />
degradiert hat, dann sind die beiden anderen<br />
Stellen, auf die Wood hinweist, eher eine Bestätigung<br />
als eine Widerlegung meiner These.<br />
Denn in beiden Fällen handelt es sich nicht<br />
um Steiners Seelenlehre, sondern um Theorien<br />
anderer, innerhalb derer die Seele eine gewisse<br />
erkenntnistheoretische Funktion innehat. Das<br />
gibt Wood auch offen zu. Denn, wie er zutreffend<br />
feststellt, geht es im zweiten Fall (1894,<br />
S. 115-123) nicht um Steiners Anthroposophie<br />
der Seele, sondern um die Seelenbegrifflichkeit<br />
im »naiven Realismus usw.« Und im ersten<br />
Falle (1894, S. 69-73) ist es nicht anders. Hier<br />
geht es um die Funktion der Seele innerhalb<br />
der »Denkart des kritischen Idealismus« (GA<br />
4a, 74). 7 Meine These, dass sich in der ersten<br />
Auflage der Philosophie der Freiheit keine expliziten<br />
Hinweise auf Steiners anthroposophische<br />
Seelenlehre finden, lässt sich mit Woods an-<br />
7 GA 4a: Rudolf Steiner: Dokumente zur »Philosophie<br />
der Freiheit«, Dornach 1994.<br />
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geführten Textpassagen also nicht widerlegen.<br />
Beide Stellen dokumentieren, dass es sich an<br />
diesen Stellen nicht um anthroposophische Aspekte<br />
der Seelenlehre Steiners handelt.<br />
Liegt also explizit in der ersten Auflage keine<br />
Steinersche Seelenlehre vor, dann ist natürlich<br />
auch die Forderung unsinnig, die (nicht<br />
vorhandene) »Seelenlehre« von 1894 mit der<br />
Seelenlehre von 1918 zu vergleichen (ebd.).<br />
Ebenso haltlos ist dann auch der Vorwurf der<br />
»schwerwiegenden Unterlassung« gegen mich,<br />
diesen Vergleich nicht angestellt zu haben. Abwegig<br />
ist desweiteren die Unterstellung, ich<br />
würde behaupten, dass die zweite Auflage dadurch<br />
zu einer theosophischen Seelenlehre geworden<br />
sei, dass Steiner durch seine Zusätze,<br />
Kommentare und Ergänzungen versucht habe,<br />
die Philosophie der Freiheit in diesem Licht<br />
erscheinen zu lassen. Das Gegenteil ist richtig.<br />
Ich halte diesen Versuch für misslungen.<br />
Ähnlich abenteuerlich ist dann der Schluss von<br />
Woods Kritik. Denn weil ich die Bedeutung des<br />
Gefühls in der Philosophie der Freiheit hervorgehoben<br />
habe, ist sie noch keine Gefühlsphilosophie.<br />
Und nur deswegen, weil die Seele etwas<br />
mit Gefühlen zu hat, wird die Philosophie der<br />
Freiheit noch keine Seelenlehre.<br />
Zu weiteren Konsequenzen des Vergleichs<br />
zwischen erster und zweiter Auflage der Philosophie<br />
der Freiheit sowie zu den von Wood<br />
zitierten Passagen vgl.: T, S. 216-243/426ff./<br />
537ff).<br />
<br />
Woods letzte Kritik nimmt Anstoß an der<br />
Grundtendenz meiner Arbeit, Steiners philosophische<br />
Ambitionen weitgehend ohne den<br />
Einfluss Goethes zu rekonstruieren. Im Grunde<br />
bzw. »auf den ersten Blick« stimmt Wood<br />
meinem Ansatz zu, wenn er schreibt: »insofern<br />
die bisherige Rezeption von Steiners Werken<br />
sich besonderes auf Goethe fokussiert«, hat<br />
sie »vielleicht dazu beigetragen, dass andere<br />
Denker wie J. G. Fichte vernachlässigt worden<br />
sind« (W2, 55f.). Dem stimme ich ohne Wenn<br />
und Aber zu. Seine Zustimmung zu meinem<br />
Forschungsansatz schränkt Wood jedoch durch<br />
<br />
die Forderung ein, dass ich Goethes philosophischen<br />
Einfluss auf die Frühwerke Steiners<br />
hätte untersuchen müssen, anstatt »die Möglichkeit<br />
eines solchen Einflusses Goethes zurück<br />
[-zuweisen], ohne ihn einer ernsthaften<br />
Untersuchung unterzogen zu haben« (W2, 56).<br />
In dieser Forderung liegt ein doppeltes Missverständnis.<br />
Das eine besteht in der Annahme,<br />
ich wollte den Einfluss Goethes auf die Genese<br />
des philosophischen Denkens Steiners grundsätzlich<br />
abstreiten. Das tue ich nicht: »Wenn<br />
ein Geist auf die Entfaltung und Prägung von<br />
Steiners philosophischer Weltanschauung Einfluss<br />
in einem positiven Sinne gehabt hat, dann<br />
ist es Johann Wolfgang Goethe.« (T, 208). Das<br />
Problem ist hier zum einen, dass dieser Einfluss<br />
– wenn überhaupt – dann nur in einem höchst<br />
eingeschränkten Sinne philosophisch genannt<br />
werden kann. Im Großen und Ganzen ist das,<br />
was sich in Steiners Einleitungen zu Goethes<br />
naturwissenschaftlichen Schriften und den<br />
Grundzügen der Goetheschen Weltanschauung<br />
an philosophischem Gehalt findet, Steiners philosophische<br />
Interpretation Goethescher Texte.<br />
Das wird auch von Steiner offen zugestanden.<br />
Zum anderen – und da hat Wood auch Recht<br />
– ist der Gegenstandsbereich Naturerkenntnis/<br />
Erkenntnistheorie selbstverständlich viel zu<br />
eng, um darauf eine philosophisch und existenziell<br />
zufriedenstellende Weltanschauung<br />
zu begründen. Das ist im Verhältnis Steiner-<br />
Fichte gänzlich anders. Hier liegen nicht nur<br />
die geistigen Beziehungen auf derselben (philosophischen)<br />
Wellenlänge, sondern das philosophische<br />
Konzept Fichtes ist darüber hinaus ein<br />
ganzheitliches, alle Grundfragen des menschlichen<br />
Daseins umfassendes.<br />
Das zweite Missverständnis Woods betrifft die<br />
personale Zielrichtung seiner Kritik. Es geht<br />
im Buch nicht um »meine« Goethe-Abstinenz,<br />
sondern um Steiners Ambition, aus dem Schatten<br />
Goethes heraus zu treten, um sich – auch<br />
akademisch – als eigenständiger Denker zu<br />
profilieren. Wenn Steiner die »Tragik« beklagt,<br />
die »in dem Umstande [liegt], dass alle [seine]<br />
bisherigen Publikationen sich in irgendeiner<br />
Weise an Goethe anschließen«, 8 dann lässt<br />
sich vielleicht verstehen, was mit dem Kapitel<br />
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<br />
»Steiner ohne Goethe« (T, 208ff.) gemeint ist:<br />
das Emanzipationsbestreben gegenüber dem<br />
geistigen Übervater Goethe.<br />
<br />
<br />
Woods Schlussbetrachtung kann ich mich nun<br />
weitgehend anschließen. <strong>Die</strong> mir darin noch<br />
einmal vorgehaltenen »schwerwiegenden Mängel«<br />
meines Buches hoffe ich durch meine Ausführungen<br />
als Missverständnisse aufgeklärt<br />
und aufgehoben zu haben.<br />
Mit dem Schlusszitat aus Fichtes Über Geist und<br />
Buchstab (W2, 59) berührt Wood noch einmal<br />
das strittige Thema Gefühl und Geist – dieses<br />
Mal nicht bei Steiner, sondern bei Fichte. Leider<br />
gibt er uns mit der Auswahl dieses Zitats nur<br />
die halbe Wahrheit zum Thema – ja, nicht einmal<br />
diese. Denn sicher trifft es zu, dass eine Berufung<br />
auf das »Wahrheitsgefühl« im Zeitalter<br />
von Zweifel und Skepsis kein sicheres Beweismittel<br />
für die Richtigkeit von Urteilen darstellt.<br />
Es bedarf der Aufklärung und Entwicklung, der<br />
Bestimmung und Beurteilung, der Erhebung<br />
zu deutlichem Bewusstsein, also zu dem, was<br />
Fichte Geist nennt. Sicher ist auch zutreffend,<br />
dass eine trotzige Berufung auf das Gefühl eine<br />
Haltung der Geistlosigkeit offenbart und darin<br />
eine »reichhaltige und nie versiegende Quelle<br />
aller Schwärmerei liegt« (W2). Ebenso wahr<br />
aber sind zwei weitere Aspekte der Bedeutung<br />
des Gefühls in Fichtes – und auch in Steiners<br />
Philosophie. <strong>Die</strong>se Aspekte hier auszubreiten<br />
ist nicht der Ort. Durch einige Zitate kann jedoch<br />
auf diese weitergehenden Bedeutungen<br />
des Gefühls in der Philosophie Fichtes aufmerksam<br />
gemacht werden. <strong>Die</strong> ersten beiden Stellen<br />
verweisen auf das Gefühl als dem notwendigen<br />
Realitätskern des Denkens, um dieses vor der<br />
Gefahr bloßer Spekulation zu schützen und<br />
um theoretische Erkenntnisse wieder ins Leben<br />
einfließen zu lassen. In seiner Wissenschaftslehre<br />
(1805) heißt es kritisch über die Philosophie<br />
Kants: »Kant [...] und alle seine Nachfolger<br />
[haben] bis die[sen] Tag das Gefühl aus der<br />
Spekulation verwiesen. [...] Drum sind diese<br />
Spekulationen insgesammt leer«. 9 Und 1799<br />
schrieb Fichte: »Unsere Philosophie macht<br />
[...] das Leben, das System der Gefühle und<br />
des Begehrens zum Höchsten und lässt der Erkenntniss<br />
überall nur das Zusehen. [...] Wenn<br />
daher durch Philosophie oder Räsonnement<br />
die Realität einer Erkenntnis erwiesen werden<br />
soll, so muss ein Gefühl [...] aufgezeigt werden,<br />
an welches diese Erkenntnis unmittelbar sich<br />
anschließt. Das freie Räsonnement kann den<br />
Inhalt desselben nur durchdringen, läutern, das<br />
Mannigfaltige desselben trennen und verknüpfen,<br />
und den Gebrauch desselben erleichtern,<br />
es in die Gewalt des Bewusstseins bringen; aber<br />
sie [die Philosophie] kann es nicht vermehren,<br />
seinen Stoff vergrößern oder anders machen.<br />
[...] Nur das Unmittelbare ist daher wahr, das<br />
Vermittelte nur, insofern es sich auf jenes gründet;<br />
darüber hinaus liegt das Gebiet der Chimären<br />
und Hirngespinste«. 10<br />
Das folgende Zitat richtet sich auf das Ziel der<br />
(wissenschaftlichen) Erkenntnis im <strong>Die</strong>nst dessen,<br />
was Steiner die existenzielle »Erhöhung<br />
des Daseinswertes« und Fichte das individualitätsbezogene<br />
»selige Leben« genannt hat. Eine<br />
Philosophie, die mehr sein will als Wahrheitserkenntnis,<br />
wird beim Thema »Glückseligkeit«<br />
nicht um die Frage nach dem damit verbundenen<br />
Lebensgefühl herum kommen. Beide<br />
Autoren haben sich dieser Thematik gestellt.<br />
Für Fichte, dem Wood hier das letzte Wort einräumt,<br />
gilt in dieser Frage: »Und so hätten wir<br />
denn die Grundzüge zu dem Gemählde des<br />
seligen Lebens, so weit ein solches Gemählde<br />
möglich ist, in einem Punct vereinigt. <strong>Die</strong> Seligkeit<br />
selbst besteht in der Liebe, und in der ewigen<br />
Befriedigung der Liebe, und ist der Reflexion<br />
unzugänglich: der Begriff kann dieselbe nur<br />
negativ ausdrücken, so auch unsere Beschreibung,<br />
die in Begriffen einhergeht. Wir können<br />
nur zeigen, dass der Selige des Schmerzes, der<br />
Mühe, der Entbehrung frei ist; worin seine Se-<br />
8 Rudolf Steiner: Briefe, a.a.O., S. 93.<br />
9 J. G. Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie<br />
der Wissenschaften, Band II, S. 300; Hervorhebung<br />
H.T.<br />
10 J. G. Fichte: Sämtliche Werke, Berlin 1845/1846,<br />
Band V, S. 352.<br />
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ligkeit selbst positiv besteht, lässt sich nicht beschreiben,<br />
sondern nur unmittelbar fühlen.« 11<br />
Wir sehen bei Fichte also: Das Gefühl hat unterschiedliche<br />
systematische Bedeutungen. Als<br />
Wahrheitsgefühl oder Erkenntnistrieb begründet<br />
und orientiert es Entdeckung und begriffliche<br />
(Re)Organisation unmittelbarer Erfahrung.<br />
Als solches bleibt es darüber hinaus auch stets<br />
Realitätsgarant für abstrakte Reflexionen. Über<br />
das Gefühl (Steiners »Liebe zur Tat«) vermitteln<br />
sich Begriffe mit dem konkreten Leben. Und<br />
als materialqualitativer Zustand charakterisiert<br />
das Lebensgefühl schließlich unterschiedliche<br />
Entwicklungsstufen von Weltanschauungen,<br />
Lebensentwürfen und Existenzvollzügen. 11 J. G. Fichte, a.a.O., S. 549.<br />
Woods Fichte-Zitat ist somit eigentlich keine<br />
Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von<br />
Gefühl und Geist bei Fichte, sondern vielmehr<br />
die Problemeröffnung für die notwendige Erörterung<br />
eines Themas, das für Fichte wie für<br />
Steiner gleichermaßen von grundlegender Bedeutung<br />
ist.<br />
DR. HARTMUT TRAUB ist Studiendirektor am Studienseminar<br />
in Essen und Vorsitzender des wissenschaftlichen<br />
Beirats der Internationalen Johann-Gottlieb-<br />
Fichte-Gesellschaft.<br />
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