Ambivalenz in Psychiatrie und Psychotherapie

Ungewissheit managen: 

Ambivalenz in Psychiatrie und 

Psychotherapie 

Ringvorlesung Psychotherapie 

Universität Konstanz 

Dr. med. Markus Binswanger 

20.06.2013

Ungewissheit „managen“– 

Eine Vignette zum Einstieg 

Il faut qu‘une porte soit 

ouverte ou fermée! 

Bild Marcel Duchamp (1963)

Einführende Fragestellung 

• Ambivalenzbegriff heute noch aktuell? 

• Bedeutung von Ambivalenzkonzepten in der ärztlichen Leitung einer 

psychiatrischen Klinik? 

• Nutzen von ambivalenzorientierten Ansätze in stationärer und 

ambulanter Psychotherapie? 

• Ambivalenzkonzepte: Beitrag zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher 

Herausforderungen unter zeitdiagnostischer Perspektive?

Vortragsübersicht 

1. Geschichte, Anwendungsfelder, Konzepte 

2. Ambivalenz in der Psychiatrischen Organisation 

3. Ambivalenz in der Psychotherapie: Identität und Interaktion 

4. Ambivalenz weiterschreiben: Zur aktuellen Relevanz


Ambivalenz in Psychiatrie und Psychotherapie: 

Eugen Bleuler (1910, 1914): 

Drei Formen von Ambivalenz – affektiv, voluntär, intellektuell 

Pathologische, normale, ubiquitäre Ambivalenz? 

Sigmund Freud (1912): „.. glücklicher, von Bleuler eingeführter Name“. 

Übertragung, Neurosentherapie, Kultur, Religion 

Innerseelische vs. interpersonale Ambivalenz 

Neuere Entwicklungen in Psychoanalyse und Psychotherapie: 

(J. Bowlby, H. Stierlin, O. Knellessen etc.)


Ambivalenz im Alltag 

Ambivalenz in Sozial- und Kulturwissenschaften 

Ambivalenz als „sensibilisierendes Konstrukt“ (K. Lüscher)


Definition Ambivalenz: 

… eine bestimmte Art von (postmodernen) Erfahrungen 

… Menschen auf der Suche nach der Bedeutung von Personen, 

sozialen Beziehungen und Tatsachen, die für ihre Identität und 

dementsprechend für ihre Handlungsbefähigung wichtig sind. 

… oszillieren zwischen unlösbar scheinenden, polaren 

Widersprüchen des Fühlens, Denkens, Wollens oder sozialer 

Strukturen. 

Lüscher K. Ambivalenz weiterschreiben, Forum der Psychoanalyse, 2011


Lüscher K. Ambivalenz weiterschreiben, Forum der Psychoanalyse, 2011


Ambivalenz und Psychotherapie: Arbeiten von K. Lüscher 

Ambivalenz – Belastung – Trauma (2006, Psyche) 

„Homo ambivalens“ – Herausforderungen für 

Psychotherapie und Gesellschaft (2010,Psychotherapeut) 

Über Ambivalenz (2011, Forum der Psychoanalyse) 

Tagung zum „Hundertjährigen Geburtstag“ am 20.11.2010 

am Psychoanalytischen Seminar Zürich (PSZ)


Über Ambivalenz 

(Band 27 / Heft 4 / Dezember 2011) 

Ambivalenz und gleichschwebende 

Aufmerksamkeit (O. Knellessen) 

Ambivalenz in der psychiatrischen 

Organisation (M. Binswanger) 

Das Unheimliche der Ambivalenz (L. Gast) 

Dekonstruktion der Ambivalenz (M. Haller) 

Ambivalenz weiterschreiben (K. Lüscher) 

Tagungsbericht und Kommentar







Variationen von Ambivalenzerfahrungen in der Klinik 

• Ökonomie versus Therapie 

• Klinik als Gesamtorganisation: Herausforderung durch unterschiedliche, 

konkurrenzierende, komplexe therapeutische „Subsysteme“ 

• Widersprüchliche institutionelle Aufgaben und Aufträge: 

Ordnungsauftrag, Sicherheit, Fürsorge versus Therapie, 

Selbstbestimmung, Autonomieentwicklung 

• Psychiatrische Klinik als „Zufluchtsort schwerkranker Patienten in Not“: 

Krise, Spaltungs- und Regressionsphänomene als „Ambivalenztreiber“ 

Ambivalenzorientierter Umgang?


Variationen von Ambivalenzerfahrungen in der Klinik 

• Unklare, widersprüchliche Erwartungen, Versorgungs- und 

Behandlungsaufträge 

• Ambivalenz von Patienten, Angehörigen und Zuweisern gegenüber 

Klinikbehandlung 

• Ethische Ambivalenzkonflikte: Umgang mit Freiheitsentzug, Zwang und Gewalt 

• Ambivalenzfelder in der interdisziplinären Zusammenarbeit unterschiedlicher 

Berufsgruppen 



Identität und Stigma in der Klinik: 

• Unterschiedliche Krankheitskonzepte, Behandlungsansätze und 

Menschenbilder: Das bio – psycho – soziale Paradigma 

• Stigma gegenüber psychiatrischen Krankheiten und Institutionen: 

„gute Psychiatrie“ versus „schlechte Psychiatrie“ – „mad or bad“? 

• Das Spannungsfeld: Psychiatrie versus Psychotherapie 

• Die zwiespältige Berufsidentität der Helfer – das Problem der „narzisstischen 

Balance“ 



Ungewissheit und Unübersichtlichkeit im Klinik- Management: 

• Rasch sich verändernde gesundheitspolitische Rahmenbedingungen: 

Spitalschliessungen, neue Träger, Fusionen, neue Abgeltungs- und 

steuerungsmodelle 

• Staatliche Planung versus freier Wettbewerb 

• Handlungs- und Entscheidungsdruck versus differenzierte Problemanalyse 

• Komplexität, Unübersichtlichkeit, Widersprüchlichkeit und Ungewissheit - 

institutioneller “Normalfall“? 

Der Führungsverantwortliche als „Seiltänzer“? 

Ambivalenztoleranz und –kompetenz als Schlüsselqualifikation?


Achtsamer balancierender Umgang mit zentralen Ambivalenzpolen: 

• Planen und Improvisieren 

• Beschleunigung und Entschleunigung 

• Misstrauen und Vertrauen 

Motto: Führen im „Dazwischen“ – Führen des Sowohl – als- auch …


1. Ambivalenz: Geschichte, Anwendungsfelder, Konzepte 




3. Ambivalenz in der Psychotherapie: 

Identität und Interaktion 

Psychotherapie in der Klinik: Das bipolare Modell (P. Janssen)



Das integrative Modell (Essener Modell)



Kunstbetrachtung: 

Postmoderne Infragestellung und Veränderung von 

Identität: 

Identität im Übergang – 

multiple Identität?



Assoziationen zur Bilderserie: 

um wen oder was handelt es sich?

Cindy Sherman



Welche Schlüsse lassen sich 

– unter Ambivalenzperspektive – 

für Identität und Interaktion ziehen?



Postmoderne Subjektivität und Identität 

• Pluralität von widersprüchlichen Anforderungen an das Subjekt. 

• Chaotisches Nebeneinander und Nacheinander von Teilidentitäten: 

postmoderne, existenzielle Grunderfahrung? 

• Diskontinuität von Identität durch gesellschaftliche Rollenkonflikte? 

Ambivalenzerfahrungen?



Postmoderne Subjektivität und Identität 

• Zusammenhang zwischen persönlicher Identität, 

Gruppenidentität und gesellschaftlicher Identität? 

• Aufbau eines stabilen „Selbst“ in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs? 

• Abschiednahme vom orginären Selbst als einzigartiges reflektierendes 

Subjekt? 




Postmoderne Beziehungsgestaltung 

• Beziehungen oberflächlich und flüchtig: 

Vermeidung langfristiger tiefer gehender Bindungen? 

• Flexible Kontakte im Rahmen von Netzwerken? 

• Stärke schwacher Bindungen? 

• Flexibilität anstelle von Loyalität? 



1. Ambivalenz: Geschichte, Anwendungsfelder, Konzepte 




4. Aktuelle Relevanz: Leitmotive der Postmoderne 

• Globalisierung, Mobilität, Flexibilität: 

Verlust des Ortes - „no sense of place“ 

• Mediatisierung: 

Fiktualisierung und Virtualisierung (TV, Internet, Social Media), 

„Leben aus zweiter Hand“ 

• Zeitverständnis: 

Absage an natürliche Abfolge von Vergangenheit, 

Gegenwart und Zukunft; Enttraditionalisierung 

Ende der „Geschichte“, der „grossen Erzählungen“, 

der „Geschlechter“?

Aktuelle Relevanz: Leitmotive der Postmoderne 

• Differenz, Pluralisierung: 

Verschiedenheit: „Spiel der Differenz“ (Welsch) 

Pluralisierung der Lebensformen und –stile, Individualisierung 

• Verlust von Eindeutigkeit, Gewissheit und Sicherheit: 

Neue Risiken: Ökologische Bedrohung, Terrorismus 

Erosion tragender Lebenskonzepte: 

Exklusion, Prekarität, Mehrdeutigkeit (Ambiguität) 

„Homo ambivalens“ in der Postmoderne?

Ungewissheit „managen“ ? – 

Eine Vignette zum Schluss 

Est - ce qu‘ il faut qu‘une 

porte soit ouverte ou 

fermée? 

Bild Marcel Duchamp (1963)

Ambivalenz in Psychiatrie und Psychotherapie

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