Die Grippe vom Altertum bis zur Spanischen Grippe - infekt.ch
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Therapeutis<strong>ch</strong>e<br />
Ums<strong>ch</strong>au Band 64, 2007<br />
Heft 11<br />
606<br />
weisen. Zum ersten Mal wurde 1387 eine «Pandemie»<br />
in Venedig und vielen deuts<strong>ch</strong>en Städten bes<strong>ch</strong>rieben.<br />
In der Straßburger Chronik lesen wir über<br />
das Jahr 1387: «…da kam ein gemeine si<strong>ch</strong>tage (Seu<strong>ch</strong>e)<br />
in alle lant von dem husten und floße kelen (fließende<br />
Kehlen)». Au<strong>ch</strong> die hohe Morbidität über 10%<br />
wurde erwähnt «…under zehen kume (kaum) eine gesunt<br />
bliep…» wobei damals vorwiegend betroffen<br />
waren die «…alten lüte, die disen si<strong>ch</strong>tagen von alter<br />
und von swa<strong>ch</strong>eit nüt mö<strong>ch</strong>tent überwinden».<br />
Pandemien in Europa<br />
Interessant ist, dass diese erste bes<strong>ch</strong>riebene Pandemie<br />
in die Fastenzeit fiel, als man ledigli<strong>ch</strong> Geflügel<br />
aber kein Fleis<strong>ch</strong> essen durfte. Mögli<strong>ch</strong>, dass der<br />
intensive Kontakt zwis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong> und Geflügel<br />
damals s<strong>ch</strong>on eine wi<strong>ch</strong>tige Voraussetzung für die<br />
Entstehung neuer Virustypen war, wie wir es für die<br />
Situation der Vogelgrippe aktuell aus Südostasien nur<br />
zu gut kennen.<br />
Natürli<strong>ch</strong> hatten die Mens<strong>ch</strong>en aus der damaligen<br />
Zeit ni<strong>ch</strong>t ahnen können, dass sie ihre Krankheit ni<strong>ch</strong>t<br />
den offenen Fenstern und dem Wind zuzus<strong>ch</strong>reiben<br />
hatten sondern viel mehr dem Zustand der Straßen<br />
vor ihren Häusern. Aus Pestberi<strong>ch</strong>ten ist bekannt,<br />
dass seit dem 14. Jahrhundert die Straßenfronten von<br />
mittelalterli<strong>ch</strong>en Städten von S<strong>ch</strong>weineställen umgeben<br />
waren und au<strong>ch</strong> das Geflügel trieb si<strong>ch</strong> rund um<br />
die Häuser auf.<br />
Überhaupt war die Kälte immer wieder als Ursa<strong>ch</strong>e<br />
der Grippalen Infekte vermutet worden. Besonders<br />
interessant lesen si<strong>ch</strong> die Bere<strong>ch</strong>nungen des Mathematikers<br />
und Jesuit Roger Joseph Boscovi<strong>ch</strong> aus dem<br />
18. Jahrhundert. Er hat drei grippe-ähnli<strong>ch</strong>e Epidemien<br />
bes<strong>ch</strong>rieben (1732, 1742, 1762) wel<strong>ch</strong>e er als<br />
«Erkältung» aufgefasst hat:<br />
«Febris catarrhalis weist ein sprunghaftes Anwa<strong>ch</strong>sen<br />
der Erkrankungszahl am häufigsten unmittelbar<br />
na<strong>ch</strong> der Weihna<strong>ch</strong>ts- Karnevals- und Osterzeit auf.<br />
Das stundenlange Verweilen in den kalten, ungeheizten<br />
Kir<strong>ch</strong>en, das häufige Knien auf den eiskalten<br />
Steinplatten während des Gottesdienstes sowie das<br />
zügellose Treiben während der Karnevalszeit und<br />
au<strong>ch</strong> anderer Feiertage führen dur<strong>ch</strong> Erkältung zu<br />
einer s<strong>ch</strong>nellen Ausbreitung von febris catarrhalis<br />
unter den zusammengeströmten Massen».<br />
Englis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>weiß<br />
Zwis<strong>ch</strong>en den Jahren 1427 <strong>bis</strong> 1557 war es in Europa<br />
ruhig in Bezug auf <strong>Grippe</strong>-Epidemien. Do<strong>ch</strong> in<br />
England wütete in regelmäßigen Abständen der sogenannte<br />
«Englis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>weiß». Zunä<strong>ch</strong>st wurde die<br />
Erkrankung ni<strong>ch</strong>t mit der Febris catarrhalis in einen<br />
Zusammenhang gebra<strong>ch</strong>t, do<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ilderungen<br />
der Erkrankung und die Intervalle der Epidemien lassen<br />
vermuten, dass es si<strong>ch</strong> um dieselbe Krankheit gehandelt<br />
haben muss. Es ist au<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>, dass die<br />
Epidemien in Europa in den Jahren des «Englis<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>weißes» einfa<strong>ch</strong> von den hiesigen Historikern<br />
ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tet oder wahrgenommen wurden. Im Jahre<br />
1518 s<strong>ch</strong>ien die Epidemie nämli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on viele Europäis<strong>ch</strong>e<br />
Städte befallen zu haben, bevor sie England<br />
errei<strong>ch</strong>te, wie wir aus einem Brief von Erasmus<br />
wissen:<br />
«Genau am Himmelfahrtstag (13. Mai) bin i<strong>ch</strong> unversehrt<br />
na<strong>ch</strong> Basel gekommen, na<strong>ch</strong> einer ziemli<strong>ch</strong><br />
bes<strong>ch</strong>werli<strong>ch</strong>en Reise. In ganz Deuts<strong>ch</strong>land wütet eine<br />
neue Art Pest, mit Husten und Kopfs<strong>ch</strong>merz, was<br />
si<strong>ch</strong> bei man<strong>ch</strong>en zu Gehirnentzündungen steigert.»<br />
<strong>Die</strong> Vernunft setzt si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />
Es gibt wohl keinen Zweifel, dass diese <strong>Grippe</strong>-Epidemien<br />
Europas au<strong>ch</strong> ein Korrelat auf anderen Kontinenten<br />
fanden, do<strong>ch</strong> es fehlen uns <strong>bis</strong>lang historis<strong>ch</strong>e<br />
Angaben zum pandemis<strong>ch</strong>en Ausmaß der<br />
Epidemien. Gut dokumentiert ist eine Pandemie im<br />
Jahre 1762, wel<strong>ch</strong>e als Kardinalsymptom mit Heiserkeit<br />
einherging. <strong>Die</strong> nä<strong>ch</strong>ste Pandemie aus dem<br />
Herbst 1781 und den folgenden Monaten errei<strong>ch</strong>te<br />
dann erneut den ganzen Erdball. Als «Chinesis<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit» errei<strong>ch</strong>te sie Sibirien und Russland, von<br />
wo sie dann als «russis<strong>ch</strong>er Pips/Catarrh» oder «Morbo<br />
russo» ganz Europa heimsu<strong>ch</strong>te. Emmanuel Kant,<br />
selbst 1782 erkrankt, vermutete, dass die Krankheit<br />
von Amerika her über Alaska (das no<strong>ch</strong> den Russen<br />
gehörte) auf den Asiatis<strong>ch</strong>en Kontinent gelangte.<br />
Kant war einer der ersten, der die «kontagionistis<strong>ch</strong>e<br />
Ansi<strong>ch</strong>t» der Krankheitsübertragung dur<strong>ch</strong> den Handel<br />
vermutete. Selbst ni<strong>ch</strong>t epidemiologis<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ult,<br />
hat er im Jahr na<strong>ch</strong> der Herausgabe «Kritik der reinen<br />
Vernunft» (1781) die Ausbreitung der Epidemie<br />
systematis<strong>ch</strong> untersu<strong>ch</strong>t. Kant vermutete kleinste Insekten<br />
(der Begriff Viren war damals no<strong>ch</strong> in weiter<br />
Ferne), wel<strong>ch</strong>e dur<strong>ch</strong> die Handelsreisenden übertragen<br />
wurden und erntete mit dieser «neuen Theorie»<br />
bei der Ärztes<strong>ch</strong>aft viel Kritik. Ja man ma<strong>ch</strong>te si<strong>ch</strong><br />
lustig über den «Chinesen von Königsberg» dass es<br />
ihm nun au<strong>ch</strong> gelungen sei, das «Ding an si<strong>ch</strong>» der<br />
Influenza zu erkennen!<br />
Do<strong>ch</strong> wenn wir aus der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te lernen können,<br />
dann viellei<strong>ch</strong>t die Tatsa<strong>ch</strong>e, dass es besser ist, Beoba<strong>ch</strong>tungen<br />
und Messungen (Evidenz) zu vertrauen,<br />
als den eigenen althergebra<strong>ch</strong>ten «Glaubensbekenntnissen».<br />
So hat Kant nämli<strong>ch</strong> beoba<strong>ch</strong>tet, dass<br />
si<strong>ch</strong> die Epidemie nie s<strong>ch</strong>neller ausgebreitet hat, als<br />
mit der Ges<strong>ch</strong>windigkeit von Postkuts<strong>ch</strong>en.<br />
Verkehr und Pandemieausbreitung:<br />
immer s<strong>ch</strong>neller!<br />
<strong>Die</strong>se Beoba<strong>ch</strong>tung Kants hat au<strong>ch</strong> für unsere Zeit<br />
wi<strong>ch</strong>tige Implikationen. Wenn wir heute eine Ausbreitung<br />
einer Influenza-Pandemie bere<strong>ch</strong>nen wol-