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ianus 13/1992

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Inhalt<br />

Vorwort....S. 1<br />

I. Konfliktfall Gerechtigkeit. Zum Stand der philosophischen Diskussion über den zentralen Begriff der politischen<br />

Ethik ....S. 2<br />

Zusammenfassung ....S. 2<br />

1. Vertragstheorie der Gerechtigkeit (John Rawls) ....S. 2<br />

1.1. Der Urzustand ....S. 2<br />

1.2. Die Grundsätze der Gerechtigkeit ....S. 3<br />

1.3. Vorzüge und Grenzen der Theorie der Gerechtigkeit ....S. 5<br />

2. Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat (Otfried Höffe) ....S. 6<br />

2.1. Ausgangspunkte und Grundgedanken ....S. 6<br />

2.2. Gerechte Herrschaft ....S. 8<br />

2.2.1. Lehren aus Platon und Aristoteles. Das Kooperationsmodell und seine Grenzen ....S. 8<br />

2.2.2. Die Begründung der Herrschaft aus dem Konflikt. Das Gedankenexperiment des Naturzustandes ...S. 9<br />

2.2.3. Sicherung der Freiheit in sozialen Institutionen ....S. 10<br />

2.2.4. Gerechtigkeitstheorie als Freiheitstheorie. Mittlere Prinzipien der Gerechtigkeit und Menschenrechte... S. 10<br />

2.3. Zum Stand der Diskussion ....S. 11<br />

3. Gerechtigkeit und Gemeinschaft: Die Kommunitarismus-Debatte ....S. 11<br />

3.1. Kommunitarismus ....S. 11<br />

3.2. Rekonstruktion der aristotelischen Tugendlehre (A. MacIntyre) .... S. 12<br />

3.2.1. Was ist Praxis? ....S. <strong>13</strong><br />

3.2.2. Was ist die narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens? ....S. <strong>13</strong><br />

3.2.3. Was ist moralische Tradition? ....S.14<br />

3.3. Offene Fragen ....S. 14<br />

4. Ungerechtigkeit und Befreiung (Enrique Dussel) ....S.15<br />

4.1. Der historische Kontext ....S. 15<br />

4.2. Die Wirklichkeit ....S. 16<br />

4.3. Die Deutungskategorien ....S. 17<br />

4.4. Die befreiende Praxis ....S. 19<br />

5. Perspektiven der Gerechtigkeit ....S. 21<br />

5.1. Die Provokation der Befreiungsethik ....S. 22


1<br />

Vorwort<br />

Der Beitrag "Konfliktfall Gerechtigkeit. Zum Stand der philosophischen Diskussion über den zentralen Begriff der<br />

politischen Ethik" ist aus einem Vortrag entstanden, den ich im Frühjahr <strong>1992</strong> bei der Hessischen Stiftung für<br />

Friedens- und Konfliktforschung gehalten habe. Der Aufsatz ''Wege zum dauerhaften Frieden" steht im Zusammenhang<br />

kontinuierlicher Auseinandersetzungen mit friedensethischen Positionen; in der vorliegenden Form soll<br />

er in den "Friedensanalysen 25" veröffentlicht werden.<br />

Beide Aufsätze möchten die Einsicht fördern, daß der Friede ohne die Herbeiführung gerechter Weltverhältnisse<br />

nicht zu haben sein wird.


3<br />

Von den Menschen im Urzustand wird zweitens angenommen, daß sie einen Gerechtigkeitssinn haben. Damit ist<br />

nicht eine inhaltlich bestimmte Form von Gerechtigkeit gemeint, sondern ein "rein formaler GerechtigkeitssinnlI:<br />

Wenn bestimmte Regeln von allen gemeinsam - Mehrheitsbeschlüsse sind nicht vorgesehen - beschlossen worden<br />

sind, dann können sie sich darauf verlassen, daß alle sich streng nach ihnen richten werden. (6)<br />

Ein drittes Merkmal des Urzustandes besteht darin, daß die Menschen sich llhinter einem Schleier des Nichtwissens<br />

befinden" (7). Damit ist nicht gemeint, daß sie gar keine Kenntnisse besitzen. Im Gegenteil, sie verfügen über<br />

ein recht umfangreiches allgemeines Wissen: zum Beispiel über wirtschaftliche Zusammenhänge, soziale und psychologische<br />

Fragestellungen. Der Schleier des Nichtwissens verbirgt allerdings Einzeltatsachen: Keiner kennt seine<br />

Klassen- oder Schichtzugehörigkeit, seine Begabungen und seine psychischen Besonderheiten, seine Zugehörigkeit<br />

zu einer bestimmten Generation; die Parteien wissen nicht um ihre besondere politische und wirtschaftliche Lage<br />

oder den Entwicklungsstand ihrer Gesellschaft. (8) Die Annahme, daß a1l diese Einzelkenntnisse fehlen, ermöglicht<br />

ein faires Verfahren zur Aufstellung von Grundsätzen der Gerechtigkeit. (9)<br />

Die vierte Annahme besteht darin, "daß die Menschen im Urzustand gleich seien. Das heißt, sie haben bei der<br />

Wahl der Grundsätze alle die gleichen Rechte; jeder kann Vorschläge machen, Gründe für sie vorbringen usw."<br />

(10)<br />

Schließlich sei auf eine fünfte Annahme aufmerksam gemacht. Die Partner im Urzustand sind "Dauerpersonen",<br />

nicht Einzelpersonen. Sie werden gedacht als Familienhäupter oder Nachkommenlinien. Auf diese Weise wird sichergestellt,<br />

daß die Gerechtigkeitsgrundsätze auch die Gesichtspunkte der Gerechtigkeit zwischen den Generationen<br />

beachten. (11)<br />

Der Leitgedanke von Gerechtigkeit als Fairness besteht darin, daß die Grundsätze der Gerechtigkeit in einer fairen<br />

Ausgangssituation einstimmig ausgehandelt werden. (12) Diese Grundsätze lassen sich nach dem Gesagten<br />

formal bestimmen "als diejenigen, auf die sich vernünftige Menschen, die ihre Interessen verfolgen, als Gleiche einigen<br />

würden, wenn von keinem bekannt ist, daß er durch natürliche oder gesellschaftliche Umstände bevorzugt<br />

oder benachteiligt ist" (<strong>13</strong>). Auf welche Inhalte werden sich nun die Partner im Urzustand einigen können?<br />

1.2. Die Grundsätze der Gerechtigkeit<br />

Der erste Grundsatz, den alle Mitglieder im Urzustand annehmen würden, lautet: "Jeder Person hat ein gleiches<br />

Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit dem entsprechhenden System von Freiheiten<br />

für alle vereinbar ist." (14) Die Liste der Grundfreiheiten umfaßt die politischen Freiheiten (aktives und<br />

passives Wahlrecht), die Rede- und Versammlungsfreiheit, die Gewissensfreiheit, die persönlichen Freiheiten<br />

(Unverletzlichkeit der Person), das Recht auf persönliches Eigentum und der Schutz vor willkürlicher Festnahme<br />

und Haft. "Diese Freiheiten sollen für jeden gleich sein." (15)<br />

Die Parteien könnten sich dagegen nicht auf das Prinzip der Mehrung des Nutzens der Allgemeinheit einigen. Die<br />

Annahme des Nutzenprinzips würde die Freiheit der Einzelnen von der Berechnung des gesellschaftlichen Nut-


5<br />

Die Grundsätze der Gerechtigkeit stellen den ersten Schritt in einem ''Vier-Stufen-Gang'' dar, in dem die Mitglieder<br />

des Urzustandes nun auch die Institutionen einer gerechten Gesellschaft erarbeiten müssen. (23) In einem<br />

zweiten Schritt konstituieren sie sich deshalb als verfassungsgebende Versammlung, 'die ausgehend von den Gerechtigkeitsgrundsätzen<br />

das Grundgesetz oder die Verfassung des gerechten Staates entwirft und verabschiedet.<br />

Dies ist die Voraussetzung dafür, daß drittens die verfassungsmäßigen Körperschaften die notwendigen gesetzgeberischen<br />

Maßnahmen einleiten und viertens - z.B. durch Gerichte - die Anwendung von Verfassung und Gesetz<br />

in konkreten Einzelfällen geklärt wird. Es ist offensichtlich: "Die wichtigsten Institutionen dieser Grundstruktur<br />

sind die einer konstitutionellen Demokratie." (24)<br />

1.3. Vorzüge und Grenzen der Theorie der Gerechtigkeit<br />

Ausgangspunkt von RawIs' Überlegungen ist eine intuitive Vorstellung, die des Urzustands, von der aus mit der<br />

Methode des Überlegungs-Gleichgewichts die beiden Grundsätze der Gerechtigkeit entfaltet werden. Das Verhältnis<br />

von "moralischen Intuitionen" und "abwägender Vemunft" läßt sich noch weiter klären. Bezeichnet man<br />

mit Moral die Regeln des Verhaltens und mit Ethik die Begründung dieser Regeln, dann ist Moral das Primäre.<br />

Sie ist schon da, wenn Ethik einsetzt. Was die Ethik betrifft, ist eine Unterscheidung zwischen Entlarvung und Begründung<br />

angebracht. Geschichtlich früher noch als die Begründung moralischer Regeln ist der Aufweis des wirklichen<br />

Grundes der herrschenden Moral, z.B. Machterhalt und -durchsetzung, wodurch die Moral als Unmoral<br />

entlarvt wird. Beginnt die Entlarvung der Moral mit den Sophisten im fünften Jahrhundert v.ehr. - und wird besonders<br />

wirksam in Bezug auf die bürgerlich-christliche Moral bei K. Marx, F. Nietzsche und S. Freud -, so setzt<br />

die Begründung der moralischen Regeln später ein: in Platons "Staat", in den Ethiken des Aristoteles, - und wird<br />

in der Gegenwart besonders betont bei Karl-Otto Apel in seiner Letztbegründung der Kommunikationsethik. (25)<br />

Die Theorie der Gerechtigkeit ist mit ihren intuitiven Vorstellungen eines Urzustandes an Erfahrungen von Freiheit<br />

und Fairness, Gleichheit und Brüderlichkeit sowie Vemünftigkeit orientiert. Diese Erfahrungen gehen in die<br />

Beschreibung des Urzustandes ein. Mit der Methode des Überlegungs-Gleichgewichts wird überprüft, welche<br />

Prinzipien den Intuitionen entsprechen und auf welche die Partner im Urzustand sich einigen könnten. (26) Die<br />

Theorie der Gerechtigkeit erweist sich als eine eher explikative Theorie; sie entfaltet den Gedanken der Gerechtigkeit,<br />

begründet ihn letzten Endes aber nicht. Dieser Begründungsaufgabe unterzieht sich Otfried Höffe in<br />

seinem Buch "Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat". (27)<br />

Das Gedankenexperiment des Urzustands konzipiert diesen als Idealzustand; d.h. er abstrahiert von den Widrigkeiten<br />

der Realität, den Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Menschen und ihren gesellschaftlichen<br />

Institutionalisierungen. Dies wird bewußt in Kauf genommen, um möglichst klar das Ideal der verteilenden<br />

Gerechtigkeit in den Grundnormen herausarbeiten zu können. Das Verfahren hat seine Vorteile in Gesellschaften,<br />

in denen Gleichheit prinzipiell zugestanden und das Gefälle sozialer Ungerechtigkeit begrenzt ist. Es wird ja in<br />

der Tat eine demokratische und soziale Grundordnung entwickelt, die kritische Anfragen an die bürgerliche Gesellschaft<br />

enthält. Das Unterschiedsprinzip mit seinem Grundsatz sowohl der Brüderlichkeit als auch des Sparens<br />

ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig. Hier erweist sich die Theorie von John RawIs als Reformkonzept,<br />

das "einigermaßen günstige" soziale Bedingungen als bereits verwirklicht voraussetzt. Sie hat Zustände im Auge,<br />

wie sie in den westlichen Industrienationen bestehen. (28) Was soll aber dort gelten, wo fast ausschließlich die


7<br />

ordnung und kam in den politisch-religiösen Bürgerkriegen zum. Ausdruck. Sie führte zu einer Entideologisierung<br />

des Staates, zur Erkenntnis, daß die Autorität - und nicht die Wahrheit - das Gesetz begründet ("auctoritas, non<br />

veritas facit legem ll ), und damit zum Rechtspositivismus. Für ihn ist die philosophische Legitimationsfrage ohne<br />

Bedeutung.<br />

Die zweite Grunderfahrung war die Radikalkritik der politischen Verhältnisse, durch die Menschen ausgebeutet<br />

und unterdrückt, in denen ihnen die Menschenrechte verweigert werden. Ausgehend von diesen Erfahrungen wird<br />

Herrschaftsfreiheit als Gesellschaftsprinzip gefordert. Die Konsequenz ist der Anarchismus, der die philosophische<br />

Legitimationsfrage von Recht und Staat verneint.<br />

Für denjenigen, der den Rechtspositivismus für unzureichend, weil unkritisch, und den Anarchismus für unrealistisch<br />

hält, stellt sich die Aufgabe einer Legitimation von Recht und Staat in Auseinandersetzung mit diesen beiden<br />

(negativen) Positionen. Hinzu kommt die Diskussion des Utilitarismus als der vielleicht einflußreichsten<br />

(positiven) ethischen Legitimationstheorievon Recht und Staat. Dabei will O. Höffe außerdem zwei Defizite der<br />

zeitgenössischen Ethik-Debatte im Auge behalten: Für die herrschaftsfreien Diskurstheorien (K.-O. Ape~ J. Habermas)<br />

spielt zumindest in ihrem theoretischen Ansatz die Frage nach den politischen Zwangsbefugnissen keine<br />

Rolle, während sich die ethikfreien Institutionstheorien (Th. Hobbes, A. Gehlen, H. Schelsky, N. Luhmann) nicht<br />

in der Lage sehen, diese Zwangsbefugnisse zu kritisieren. (36)<br />

In seiner politischen Fundamentalphilosophie fragt O. Höffe also nach der Legitimität von Recht und Staat<br />

schlechthin, "ob Recht und Staat überhaupt in die Freiheit des einzelnen und in das Spiel der gesellschaftlichen<br />

Kräfte (den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen "Markt") eingreifen dürfen"(37). Der Begriff der Handlungsfreiheit<br />

ist für die Theorie der politischen Gerechtigkeit zentral. Sie ist der Ausgangspunkt der Legitimationsüberlegungen,<br />

z.B. bei der Frage nach dem Naturzustand, und bleibt das entscheidende Überprüfungskriterium,<br />

z.B. bei den mittleren Prinzipien der Gerechtigkeit.<br />

Eine vorläufige semantische Bestimmung der Gerechtigkeitsperspektive führt zu den folgenden Ergebnissen. Mit<br />

dem Prädikat "gerecht" drücken wir eine Wertschätzung aus, die wir nicht subjektiv, sondern objektiv verstanden<br />

wissen wollen. Gegenstand einer solchen Beurteilung ist die menschliche Praxis, genauer sozial relevante Handlungen<br />

und gesellschaftliche Beziehungen. Gerechtigkeit drückt also eine soziale Verbindlichkeit aus. Dabei lassen<br />

sich verschiedene Stufen von Verbindlichkeit unterscheiden. Auf einer ersten Stufe bezeichnen wir etwas als gut<br />

und empfehlen es, weil es der Erreichung eines wünschenswerten Ziels - z.B. Wohlstand oder Umweltqualität ­<br />

dient; es handelt sich um die Stufe der Zweckrationalität, auf der eine Handlung als "gut für etwas" genannt wird.<br />

Die zweite Stufe ist die der pragmatischen Orientierung, die entweder individual- oder sozialpragmatisch sein<br />

kann; hier wird nach dem gefragt, was "gut für jemanden" ist. (Der Utilitarismus ist eine sozialpragmatische Theorie.)<br />

Die dritte Stufe ist die der sittlichen Beurteilung. Hier ist die Frage nach der Gerechtigkeit angesiedelt: Die<br />

zweckrationalen und die pragmatischen Orientierungen werden im Hinblick auf ihre Legitimität befragbar: ist das,<br />

was gut für etwas oder für jemanden ist, auch gerecht? Gerechtigkeit ist also eine Kategorie der sittlichen Beurteilung.<br />

(38)<br />

Verbindet man den zentralen Gedanken der menschlichen Handlungsfreiheit mit dem zentralen Legitimations-


9<br />

Unrecht in der Familie (Mann-Frau-, Eltem-Kind-, Herr-Sklave-Verhältnis), in den (Sippen-) Gemeinschaften<br />

und in der polis. Aristoteles vertieft und erweitert also das Kooperationsmodell. Was das Konfliktmodell betrifft,<br />

so deuten sich Ansätze an. Dies gilt besonders für die Feststellung, daß derjenige, der ohne Gesetz lebe, "gierig<br />

nach Krieg" sei. (42)<br />

Als Fazit hält O. Höffe fest: Das Kooperationsmodell zeigt, warum der Mensch die Gemeinschaft und sogar ausdifferenzierte<br />

Gemeinschaftsformen sucht und braucht; es reicht aber nicht aus, um Recht und die Sanktion von<br />

Recht durch Herrschaft zu begründen. Dazu ist das Konfliktmodell nötig. Platon wie Aristoteles sehen die Konfliktgefahren.<br />

Ersterer sieht sie in einer anthropologisch variablen Begehrlichkeit, letzterer eher in der Konfliktnatur<br />

des Menschen begründet. Wirkungsgeschichtlich blieb allerdings das Kooperationsmodell im Vordergrund.<br />

Beide Modelle verbinden sich in dem Begriff I. Kants von der "ungeselligen Geselligkeit", dem Hang der Menschen,<br />

"in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaften<br />

beständig zu trennen droht, verbunden ist" (43). Kant nennt dies einen Antagonismus. Es stellt sich demnach jetzt<br />

die Aufgabe, Recht und Staat in einem Konfliktmodell zu begründen.<br />

2.2.2. Die Begründung der Herrschaft aus dem Konflikt. Das Gedankenexperiment des Naturzustandes<br />

Bei dem Gedankenexperlment des Naturzustandes unterscheidet O. Höffe die Versuchsanordnung und die Versuchsdurchführung.<br />

In der Versuchsanordnung werden die Voraussetzungen des Versuchs festgelegt. Es ist der entscheidende Schritt<br />

des Gedankenexperiments. Da Höffe seinen philosophischen Gerechtigkeitsdiskurs mit dem entschiedensten<br />

Gegner von Recht und Staat, dem strengen Anarchismus, führen will, ist bei der Beschreibung des Naturzustandes<br />

hauptsächlich der Gedanke leitend, keine Annahmen zu machen, die der Anarchist nicht akzeptieren könnte.<br />

Deshalb kommt weder ein Gerechtigkeitssinn (J. Rawls) noch eine Glücksvorstellung (Aristoteles), aber auch<br />

nicht "a war of every man against every man" (Tb. Hobbes) für die Bestimmung des Naturzustandes in Frage. Positiv<br />

gewendet: Gerade weil es um die Auseinandersetzung mit dem Anarchismus geht, wird für die Versuchsanordnung<br />

die Freiheitsannahme zentral. Dabei wird Freiheit als Handlungsfreiheit - und ~cht etwa als Autonomie<br />

des Willens (I. Kant) - verstanden und zusätzlich angenommen, daß sie sozial unbegrenzt ist, d.h. nicht durch andere<br />

Menschen eingeschränkt wird. Eine solche Freiheit darf sich begehrend aufjeden Gegenstand richten. Begrenzt<br />

werden kann sie nur durch die eigene Entscheidung oder durch die äußere Natur, z.B. durch die Gefahren,<br />

die mit dem Erwerb eines begehrten Gegenstands verbunden sind. Eine solche Versuchsanordnung macht deutlich,<br />

daß die Gerechtigkeitstheorie als Freiheitstheorie - und nicht als Glückstheorie - konzipiert werden soll.<br />

Der VersuchsanordnungJolgt die Versuchsdurchtührung. Was spielt sich ab, wenn die uneingeschränkte Freiheit<br />

einer Person auf die ebenso uneingeschränkte Freiheit einer anderen Person trifft? Das Gedankenexperiment<br />

kommt schnell und einleuchtend zu einem ersten Resultat: "Bei einer Koexistenz freier Personen in derselben Außenwelt<br />

muß ständig mit Konflikten gerechnet werden; die Handlungsfreiheit des oder der einen muß stets durch<br />

die Handlungsfreiheit des oder der anderen begrenzt werden", sei es durch Verhandlung, durch Nachgeben oder<br />

durch Kampf; "das heißt: sie kann nicht mit ihr zusammen bestehen." (44) Die menschliche Sozialnatur ist - und


11<br />

der jeweiligen Person(engruppe) ein geringeres Gewicht haben, so kann A, dem das Leben über alles geht, der<br />

aber an Glauben und Ehre nicht sonderlich interessiert ist, dem B die Glaubensfreiheit und dem C die Freiheit vor<br />

Beleidigungen anbieten, wenn er jeweils im Gegenzug deren Tötungsverzicht erhält. Diesen Verzicht erhält er<br />

aber, weil seine Tauschpartner das Angebot, den Verzicht auf Beeinträchtigungen der Religionsausübung (für B)<br />

bzw. der Ehre (für C), für wertvoller halten als ihr eigenes Angebot, den Tötungsverzicht." (47)<br />

Auf diese Weise entsteht ein System von Freiheitsverzichten und Freiheitsanerkennungen (z.B. Schutz für Leib<br />

und Leben, Religionsfreiheit, Schutz der Ehre, Selbstbestimmungsrecht), die aus der Perspektive der einzelnen<br />

Subjekte den Charakter von Menschenrechten haben, wobei die einzelnen für sich die einzelnen Rechte unterschiedlich<br />

gewichten werden. (48)<br />

2.3. Zum Stand der Diskussion<br />

Handelt es sich bei der Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls um eine Explikation des Gerechtigkeitsgedankens,<br />

so konzentriert sich Otfried Höffe auf die Legitimation von Recht und staatlicher Gerechtigkeit. Beide kommen<br />

darin überein, daß sie ihre Gerechtigkeitstheorie als Freiheitstheorie entwickeln, daß Regeln und Prinzipien<br />

innerstaatlicher Gerechtigkeit im Vordergrund ihres Interesses stehen und daß ihre Argumentation der Tradition<br />

der europäischen AuOdärung verpflichtet ist. Sie argumentieren ausgehend von einem vergleichbaren Modell, dem<br />

Urzustand bzw. Naturzustand; in beiden Fällen wird durch Abstraktion von realen Verhältnissen im Gedankenexperiment<br />

eine Situation herzustellen versucht, in der das vernünftige Argument sich entfalten kann.<br />

Die Stärken dieser Ansätze verbinden sich mit Schwächen. Die Gerechtigkeit in der Lebenswelt zwischen Individuen<br />

und Staat wird nicht oder nur wenig thematisiert. Dies gilt besonders für J. Rawls. Dagegen entwickelt O.<br />

Höffe ausdrücklich eine Institutionstheorie, die aber nicht zu einer Theorie der Gemeinschaften weiterentwickelt<br />

wird. Diesen Mangel jedenfalls nimmt der amerikanisehe Kommunitarismus wahr und reagiert darauf.<br />

Die Sphäre jenseits des Staates, also die zwischenstaatlichen Beziehungen und damit die Fragen der internationalen<br />

Gerechtigkeit kommen nicht in den Blick. Dies hängt mit den Abstraktionen und Definitionen eines Naturzustandes<br />

zusammen. Die durch den Nord-Süd-Konflikt und durch die ökologische Krise gekennzeichnete Weltlage<br />

wird deshalb nicht thematisiert. Diese Perspektiven aber vermissen die (lateinamerikanischen) Befreiungsethiken,<br />

die zudem das Konzept der Gerechtigkeitstheorie als Freiheitstheorie in Frage stellen.<br />

3. Gerechtigkeit und Gemeinschaft: Die Kommunitarismus-Debatte<br />

3.1. Kommunitarismus<br />

Kommunitarismus ist die Sammelbezeichnung für eine Argumentations- und Forschungsrichtung bestimmter<br />

amerikanischer Soziologen, Politologen und Philosophen, die übereinstimmen in der Kritik des Individualismus in<br />

der amerikanischen Gesellschaft, zum Teil auch in der Kritik des Rationalismus einer (mißverstandenen) Aufklärung,<br />

und die für eine Wiederbesinnung aufden Begriff der Gemeinschaft plädieren. (49) So wenden sich z.B.<br />

Robert N. Bellah und Mitarbeiter/innen gegen ein Verständnis von Freiheit, das nicht mehr bedeutet als das<br />

Recht, allein und von den Forderungen anderer unbehelligt gelassen zu werden. Sie plädieren für die weiterge-


<strong>13</strong><br />

bieten kann -, schlägt A. MacIntyre eine Rekonstruktion der aristotelischen TugendJehre vor. Dazu seien drei<br />

Fragen zu beantworten: Was istPraxis? Was ist die narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens? Was<br />

ist moralische Tradition? (62)<br />

3.2.1. Was ist Praxis?<br />

Praxis meint nicht eine einzelne Handlung, sondern eine zusammenhängende und komplexe Tätigkeit; Praxis bezieht<br />

sich nicht nur auf die Tätigkeit von Einzelnen, sondern auf einen sozialen und kooperativen Zusammenhang.<br />

Deswegen ist Mauem noch keine Praxis, "wohl aber die Architektur. Rüben-Setzen ist keine Praxis, wohl aber die<br />

Landwirtschaft." (63) Ein weiterer, wichtiger Gesichtspunkt kommt noch hinzu. A. MacIntyre erläutert ihn am<br />

Beispiel eines Kindes, dem er - obwohl es wenig Begeisterung zeigt - Schachspielen beibringen möchte. Um das<br />

Kind zu motivieren, verspricht er ihm als Belohnung für jedes Schachspiel eine Süßigkeit, im Fall daß es gewinnt,<br />

noch eine Zugabe. In Erwartung der Belohnung wird das Kind spielen, und - wenn möglich - auch einmal betrügen,<br />

wenn dies den erwünschten Sieg und damit die zusätzliche Vergütung einbringt. Dies ändert sich in dem Augenblick,<br />

wo das Kind Freude am Schachspielen selbst gewinnt. Dann steht nicht mehr der Sieg im Vordergrund,<br />

sondern das Spielen und die Verbesserung der eigenen Fähigkeit, Schach zu spielen, - der Betrug scheidet von nun<br />

an als Möglichkeit aus. In der ersten Phase ist die Aufmerksamkeit des Kindes auf etwas gerichtet, das außerhalb<br />

des Schachspieles liegt, auf äußere Güter. Danach geht es um das Schachspielen selbst und die Vervollkommnung<br />

dabei, um die Förderung der "Vortrefflichkeit" beim Schachspielen, also um der Tätigkeit "inhärente" Werte.<br />

Praxis als kohärente, komplexe, soziale und kooperative menschliche Tätigkeit ist auf solche inhärenten Werte angewiesen,<br />

wie sie im Beispiel erläutert wurden. Bei Aristoteles heißen sie Tugenden. Äußere Güter werden hergestellt<br />

und erworben; Über ihren Besitz kann es Streit geben. Inhärente Güter dagegen ermöglichen kooperative<br />

und kommunikative Praxis; es sind dies: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Tapferkeit (als Einsatz- oder<br />

Widerstands-bereitschaft). So läßt sich etwa am Beispiel des Lehrer-Schüler-Verhältnisses in einer Klasse leicht<br />

nachvollziehen, wie die kooperative Tätigkeit des Lehrens und Lernens darunter leidet, wenn die Gerechtigkeit,<br />

die Gleichbehandlung fordert, von Seiten des Lehrers verletzt wird. (64)<br />

3.2.2. Was ist die narrative Ordnung eines einzelnen menschlichen Lebens?<br />

Bekanntlich war Aristoteles der Meinung, daß ein Mensch dann gut ist, wenn er "ein volles Leben hindurch" wahrhaftig,<br />

gerecht und tapfer ist; "denn wie eine Schwalbe und ein Tag noch keinen Sommer macht, so macht auch ein<br />

Tag oder eine kurze Zeit noch niemanden glücklich und selig." (65) Das Leben eines Menschen besteht aus einer<br />

Abfolge von Tätigkeiten. Jede einzelne Tätigkeit hat einen oder auch mehrere "Rahmen". Der Bauer z.B., der<br />

einen sehr alten Bergbofbewirtschaftet, handelt im Rahmen einer Geschichte, die seine Familie übergreift, und<br />

gleichzeitig im Rahmen seiner Familie, für die er sorgt. Zwei und mehr Geschichten laufen in seinem Handeln zusammen,<br />

er verbindet sie zu seiner Vorstellung von einem guten menschlichen Leben. So stellt sich die Einheit des<br />

menschlichen Lebens als narrative Geschichte dar, die sowohl die Geschichte des Handelnden als auch die Geschichte<br />

des Rahmens, in dem der Handelnde eine Rolle spielt, ist. In dieser Geschichte wird ein narrativer Begriff<br />

des Selbst entfaltet, der zwei Dimensionen umfaßt: Das Selbst ist das Subjekt einer Erzählung, die von der<br />

Geburt bis zum Tod reicht, das verantwortlich ist für die Handlungen und Erfahrungen, aus denen erzählbares


15<br />

weis auf die lebendigen Traditionen des Gemeinsinns in sozialen Bewegungen und Gemeinschaften - diese Lücke<br />

zu schließen. Mindestens zwei wichtige Fragen allerdings bleiben offen, jedenfalls bei MacIntyre. Die eine Frage<br />

lautet: Um welche Gemeinschaften handelt es sich denn? Welche Geschichten sind von ihnen zu erzählen? Wie<br />

läßt sich das "richtige" Erzählen vom falschen, die "wahre" Gerechtigkeit von der deformierten unterscheiden? Es<br />

gibt ja die beschönigenden und verherrlichenden Erzählungen auf der einen Seite, die "praktisch-befreienden", sogar<br />

"gefährlich-befreienden" Erzählungen auf der anderen Seite. (71) Das zweite Problem: Es wird bei weitem<br />

nicht deutlich genug, daß die Gemeinschaften keinesfalls nur die eigenen Gesellschaften zu "wohlgeordneten", also<br />

gerechten Gesellschaften prägen, sondern diese Gesellschaften auch über sich hinaus öffnen müßten, damit<br />

Gerechtigkeit und Partnerschaft nicht nur als innerstaatliche, sondern als intemationale Gestaltungsprinzipien<br />

verwirklicht werden können.<br />

Für die Dimension der Gerechtigkeit ist die Befreiungsethik besonders sensibel. Deshalb ist es an dieser Stelle<br />

sinnvoll, sich mit ihren Herausforderungen auseinanderzusetzen.<br />

4. Ungerechtigkeit und Befreiung (Enrique Dussel)<br />

4.1. Der historische Kontext<br />

Die Befreiungsethik - wie auch die Befreiungstheologie - entstand in Lateinamerika in der zweiten Hälfte der sechziger<br />

Jahre. (72) Die in der Entwicklungsarbeit Engagierten mußten sich mit der Erfahrung auseinandersetzen,<br />

daß die Maßnahmen der ersten Entwicklungsdekade keine Bessemng in der Situation der Armen gebracht hatten;<br />

im Gegenteil: die Lage wurde immer bedrückender. Damit standen sie vor der Frage, ob die beiden Strategien des<br />

Assistentialismus (Brot für die Hungernden, Medikamente für die Kranken ...) und des Reformismus<br />

(Verbesserung der Infrastruktur z.B. durch Straßenbau, Industrialisierung, Modernisierung der Landwirtschaft)<br />

zur Lösung der Probleme der Armen geeignet waren.<br />

Wamm also sind die Armen arm? Drei Antworten wurden diskutiert. (73) Die erste, empiristische Erklärung<br />

führt die Armut auf menschliche Unzulänglichkeiten zurück, auf Trägheit zum Beispiel, Unwissenheit und Ungenauigkeit;<br />

kurz: Armut ist eine Folge des (individuellen) Lasters. Wie falsch diese Antwort ist, erfuhren diejenigen,<br />

die mit den Armen lebten und arbeiteten. So konnte das Massenphänomen, das ständig noch zunahm, nicht gedeutet<br />

werden. Politische und gesellschaftliche Faktoren mußten eine Rolle spielen. Dies beachtete die zweite,<br />

funktionalistische Antwort. Sie interpretierte Armut als Rückständigkeit und empfahl mehr "Fortschritt": mehr<br />

Schulen, mehr Technologie, mehr Produktion, mehr Konsum. Diese Erklärung und diese Strategie förderten zwar<br />

die wirtschaftliche Macht von Ländern in der Dritten Welt; die sozialen Verhältnisse innerhalb dieser Länder aber<br />

wurden immer katastrophaler.<br />

Als am ehesten zutreffend wurde schließlich die dritte, strukturelle Erklärung akzeptiert: Armut ist die Folge von<br />

jahrhundertewährender und in der Gegenwart fortbestehender Stmkturen der politischen, ökonomischen und<br />

kulturellen Abhängigkeit der kolonisierten Länder von den Kolonialmächten, der Länder der Dritten Welt von<br />

den Industrienationen, der Peripherie vom Zentrum. Dabei bilden die Länder des Zentrums in denen der Peripherie<br />

ihre Agenturen, die Subzentren, aus, sodaß sich das Abhängigkeitsverhältnis Zentrum - Peripherie in den


17<br />

das Mädchen des anrüchigen Viertels dem armen Arbeiter der Peripherie der Großstädte ... und fordert von seiner<br />

aristokratischen Frau 'Unberührtheit' und Keuschheit". Auf diese Weise entschlüsselt sich die modeme Rationalität<br />

als männliche Rationalität: "Das praktische 'Ich erobere' und das ontologische (das Sein als das System<br />

denkende, W.B.) 'Ich denke' ist das Wort des männlichen Unterdrückers, der - wie das bei Descartes<br />

psychoanalytisch zu sehen ist - seine Mutter, seine Geliebte und seine Tochter verleugnet." (79) Das Extrem der<br />

Unmoralität ist der Mädchen- und der Frauenmord.<br />

Zu der politischen und der erotischen, meist sexuellen Zwangsherrschaft kommt auf der dritten Ebene die pädagogische<br />

Herrschaft. Seit Aristoteles (80) sehen die Eltern die Kinder als Teil ihrer selbst an und wollen sie zu<br />

demselben machen, was sie sind. In einer patriarchalen Ordnung heißt dies: Der Vater weitet sein Ich aus. In der<br />

kolonisatorischen Ordnung bedeutet dies, dem Anderen, - dem Afrikaner, dem Asiaten, dem Volk, dem Arbeiter­<br />

, die eigene Kultur, die eigene Religion, die eigene Moral aufzuzwingen. Das modeme pädagogische System ist<br />

durch die Kommunikations- und Massenmedien auf raffinierte Weise verfeinert und effizient. Es formt den Alltagsmenschen.<br />

"Der ideologisch-kulturelle Imperialismus übersteigt heute alle anderen Arten früheren Kultureinflusses<br />

und genießt die Unterstützung der Wissenschaften und derer, die Chomsky 'intellektuelle Soldaten' nennt,<br />

die in Harvard, Yale und anderswo geformte Elite." (81)<br />

Dieses System dreifacher Ungerechtigkeit hat Fetisch-Charakter angenommen. Die heilige Doktrin der "nationalen<br />

Sicherheit" schützt das politisch-ökonomische System. Gott kann nur ein Mann sein, nur Männer können seine<br />

Stelle vertreten; das sichert diesen die Herrschaft. Nur die aufgeklärte Kultur - mit ihrer Dominanz der logischen<br />

und ökonomischen Rationalität - ist die wahre Kultur. Multikulturalität ist als Folklore interessant, Aufklärung<br />

aber das universale pädagogische Angebot. (82)<br />

Mit dieser Analyse der Wirklichkeit sind bereits die Dimensionen benannt, in denen die Praxis der Befreiung sich<br />

bewähren muß. Zuvor aber ist auf die Deutungskategorien der Philosophie der Befreiung einzugehen.<br />

4.3. Die Deutungskategorien<br />

Mit ihnen erarbeitet sich E. Dussel die Möglichkeit der reflexiven Durchdringung derwahrgenommenen Wirklichkeit,<br />

grenzt sich gleichzeitig von der abendländischen und modemen europäischen Philosophie ab und<br />

entfal~et so die eigene Philosophie mit ihren Perspektiven befreiender Praxis. Es handelt sich vor allem um die<br />

Kategorien von Proxemie und Proximität, von Totalität und Exteriorität und schließlich um die ganz zentrale<br />

Kategorie des Anderen. (83) Dazu gebe ich einige kurze Erläuterungen.<br />

Die europäischen Kulturen thematisieren Philosophie unter dem Gesichtspunkt der "Proxemie", was bei E. Dussel<br />

soviel wie "natürliche Nähe" bedeutet. Damit ist gemeint, daß sie sich auf das Verhältnis von Mensch und Natur,<br />

Person und Seiendes, Erkenntnis und Sein konzentrieren. Im Mittelpunkt stehen Subjekt-Objekt-Verhältnisse und<br />

damit Herrschafts- und Kontrollbeziehungen. Die Philosophie der Befreiung dagegen wendet sich dem Verhältnis<br />

von Mensch zu Mensch, der "Proximität" zu. Diese ist ursprüngliche, allem anderen vorausliegende Proximität,<br />

weil jeder Mensch von einem anderen Menschen geboren wird und von ihm Geborgenheit vrfährt. "Wenn wir<br />

nicht Lebendgebärende ... im Gegensatz zu Fischen wären, könnte man sagen, daß die Erf~g der Proxemie,


19<br />

diese Epiphanie ist eine realer, bestürzender Vorgang. Er kann sich noch in der äußersten Entfremdung des<br />

Gefängnisses und der Folter ereignen, wenn der vom System total Entwürdigte schreit: "Ich bin ein Anderer; ich<br />

bin ein Mensch; ich habe Rechte." (90) Er ereignet sich in der alltäglichen Wirklichkeit, wenn einer sagt: "Ieh bin<br />

hungrig." Es ist die Existenzbeschreibung dessen, der vom System negiert ist. Das Sytem drängt die Hungrigen an<br />

den Rand, ins Abseits - vor den Regierenden, die sich zum Beispiel in Rio de Janeiro versammelten, werden sie<br />

regelrecht zu einem Nichts gemacht, selbst vor dem Papst, wenn er die Dritte Welt bereist -, weil sie zwar als Andere<br />

die Hölle ffir das ungerechte System sind, gleichzeitig ffir die Gerechten der Anfang der Zukunft einer neuen<br />

Welt. "Der Hunger an sich ist die praktische Exteriorität oder die am meisten subversive innere Transzendentalität<br />

gegen das System; das totale und unüberbietbare "Außerhalb"." (91) Das Antlitz der Armen, "ihre Person ist durch<br />

ihre reine Selbstoffenbarung die Provokation und das Urteil ... über das System" (92). Dieses Antlitz ist gleichzeitig<br />

Ausdruck der Geschichte eines Volkes: der lateinamerikanischen Mestizen, der chinesischen Kulis, der afrikanischen<br />

Sklaven.<br />

Allerdings gilt es auch zu beachten: Was sich im Hungernden am offenbarsten zeigt, kennzeichnet als Möglichkeit<br />

jede freie Person: Ihr kommt die innere Transzendentalität gegenüber dem System zu. Das "Außerhalb" gegenüber<br />

dem System wird von E. Dussel also nicht absolut verstanden. Keine Person ist nur Teil des Systems. Selbst<br />

die Person des Unterdrückers kann ein Anderer werden. Damit verbinden sich Hoffnungen - und Konsequenzen<br />

für den Umgang mit den Unterdrückern nach dem Sturz des Systems.<br />

4.4. Die befreiende Praxis<br />

Die Befreiungsethik ist als die begleitende Reflexion einer Praxis von Basisgemeinschaften entstanden, die sich<br />

dem herrschenden System widersetzte. Sie kann deshalb ihren Ansatzpunkt nicht innerhalb des Systems finden,<br />

sondern in dem "Außerhalb". In der Sprache der theologischen Tradition macht es E. Dussel ganz deutlich: "Die<br />

reformistischen Moralsysteme fragen sich: Wie kann man gut sein in Ägypten? (und sie legen Normen, Tugenden<br />

usw. als Antwort vor, akzeptieren jedoch Ägypten als das geltende System). Mose hingegen fragt sich: Wie kann<br />

man aus Ägypten ausziehen? Doch um "auszuziehen", muß man sich beWUßt sein, daß es eine Totalität gibt, in der<br />

ich drin bin, und ein Draußen, in das ich ausziehen kann." (93) Das Wort Moral bleibt demnach den Normensystemen<br />

vorbehalten, die innerhalb des herrschenden sozio-ökonomischen Systems denken. Die Ethik der Befreiung<br />

dagegen wird herausgefordert vom "Anderen", der "jenseits" des Horizonts des Systems erscheint, und der Gerechtigkeit<br />

verlangt. In der lateinamerikanischen Wirklichkeit ist es der Mensch in der Randsituation, der<br />

Campesino, die Frau des Minenarbeiters, der Indio ... Diese Provokation führt unmittelbar zu dem absoluten und<br />

zugleich konkreten Imperativ, der für jede menschliche Situation und gegenüber jedem System gilt: "Befreie den<br />

Armen und Unterdrückten!" (94). Die Befreiungsethik kommt von der Bejahung des konkreten Anderen als'des<br />

Armen zur Negation der Negation, zur Negation der Totalität oder des Systems. (95)<br />

Ethisch betrachtet beinhaltet der Begriff des Armen und Unterdrückten dreierlei. Es besteht eine Totalität in Gestalt<br />

des herrschenden Moralsystems innerhalb des Gesellschaftssystems. Es gibt einen Unterdrücker, von dem die<br />

Repression, das Böse, ausgeht. Und es gibt einen gerechten Menschen - mindestens in der Beziehung, daß er andere<br />

nicht unterdrückt, sondern selbst ungerecht behandelt wird. Davon ausgehend, läßt sich etwas genauer sagen,<br />

was "befreien" heißt: "die Mechanismen der etablierten moralischen Totalität beachten, ... die ethische Pflicht,<br />

diese Mechanismen außer Kraft zu setzen, ... die Notwendigkeit, den Ausweg aus dem System zu finden, und die


21<br />

5. Perspektiven der Gerechtigkeit<br />

5.1. Die Provokation der Befreiungsethik<br />

Der europäische Kritiker der Befreiungsethik befmdet sich in einer mißlichen Situation: Er entbehrt die Erfahrung<br />

dessen, der in den Ländern der Dritten Welt mit den Armen lebt und arbeitet - bis hin zu der erlittenen Bedrohung<br />

des eigenen Lebens und dem miterlittenen Brudermord. (103) Einige Besuche reichen nicht aus, um aus<br />

der Perspektive einer ganz anderen Erfahrung reflektieren zu können. Dennoch können einige Fragen gestellt<br />

werden, die die theoretischen Instrumente der Interpretation der Erfahrung betreffen.<br />

Die Befreiungsethik geht bei ihrer sozialpolitischen Analyse von der Dependenztheorie als wichtigstem Erklärungsmodell<br />

aus. Es handelt sich um ein bipolares Deutungsmuster, das Beherrschen und Ausbeuten dem Zentrum,<br />

Unterdrückt- und Ausgebeutetwerden der Peripherie zuordnet. Die Theorie wird zunächst dadurch differenziert,<br />

daß diese Bipolarität nicht nur zwischen den Ländern des Zentrums und denen der Peripherie herrscht,<br />

sondern sich sowohl in den Ländern der Peripherie, in denen es städtische Subzentren gibt, die ihre Provinzen<br />

ausbeuten, als auch in den Ländern des Zentrums, in denen es immer größer und ärmer werdende marginale<br />

Schichten gibt, vorfindet. Diese Differenzierung ist für den "Zentristen" und "Eurozentristen" hilfreich, weil sie ihm<br />

Vergleichsmöglichkeiten zwischen seiner gesellschaftlichen Lage und derjenigen in Ländern der Dritten Welt eröffnet.<br />

Sie verhindert auch ein moralisierendes Mißverständnis der Abhängigkeitstheorie: ''Wir in der Dritten Welt<br />

sind die Ausgebeuteten und Unterdrückten. Ihr seid die Ausbeuter und Unterdrücker." Dies führt im übrigen zur<br />

Abwehr - so bei Kardinal J. Höffner: "Unser Volk lebt nicht von der Ausbeutung anderer Länder, sondern von der<br />

Arbeit" - und/oder zum Mitleid, zum Assistentialismus - derselbe Kardinal in derselben Rede: "Ankämpfen gegen<br />

Armut, Hunger, Elend, Krankheit und Ausbeutung ist christliche Pflicht", im Sinn eines wirksamen christlichen<br />

Zeugnisses "am Armen und Unterdrückten". (104) Es gibt Formulierungen in der Befreiungsethik. selbst, die ein<br />

solch assistentialistisches Verständnis hervorrufen können. Dies gilt sogar für ihr oberstes Prinzip: "Befreie den<br />

Armen und Unterdrückten." Das klingt so, als ob die Armen und Unterdrückten die Objekte des Befreiungsprozesses<br />

wären. Sie sind aber die Subjekte. Die "Option der Armen" ist die primäre und lautet: ''Wir wollen uns aus<br />

Armut und Unterdrückung befreien!" Die "Option für die Armen" - die Option derer, die in der Position der Reichen<br />

sind, aber den Armen als den ganz Anderen und zwar den Gerechten wahrnehmen und sich kraft ihrer<br />

"inneren Transzendentalität" auf den Weg der Gerechtigkeit machen wollen -lautet: ''Wir wollen mit den Armen<br />

solidarisch sein und zusammen mit ihnen kämpfen!"<br />

Noch eine Bemerkung zur Dependenztheorie. Sie ist in ihrem Erklärungswert für den Entwicklungsprozeß umstritten,<br />

seit die erdölfördernden Länder und die ostasiatischen Schwellenstaaten aus der Reihe der Dritte-Welt­<br />

Länder ausscheren konnten und andererseits der Differenzierungsprozeß in die extremste Not der "Vierten Welt"<br />

fortgeschritten ist. Deshalb werden ergänzende Theorien, die zum Beispiel die internen Faktoren von Unterentwicklung<br />

oder Entwicklung stärker berücksichtigen, notwendig sein. (105) Bei E. Dussel wird eine Erweiterung<br />

der dependenztheoretischen Sicht insofern vorgenommen, als er Abhängigkeit und Unterdrückung nicht nur auf<br />

der ökonomisch-politischen Ebene, sondern auch auf der erotischen und pädagogischen Ebene analysiert.<br />

Die entscheidende Provokation der Befreiungsethik ergibt sich allerdings von ihren zentralen philosophischen


GesellschaftenIl gelöst werden können. Die IIvollkommenen GesellschaftenIl, die alle Mittel selbst besitzen, um die<br />

Lebensbedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen, gibt es nicht mehr. Die staatlich organisierten Gesellschaften<br />

sind durch vielfache Abhängigkeiten - von den wirtschaftlichen bis zu den ökologischen - miteinander verflochten.<br />

Weder das Problem der nicht realisierten Gerechtigkeit der Distribution noch das der nicht überall und ausreichend<br />

verwirklichten Gerechtigkeit der Partizipation können im jeweils staatlichen Rahmen allein, sondern nur<br />

unter gleichzeitiger Berücksichtigung der internationalen Beziehungen gelöst werden. Insofern ist der Blickwinkel<br />

der meisten llliberal-reformistischen ll Gerechtigkeitstheorien sehr eingeschränkt, wenn sie nur die innergesellschaftliche<br />

und nicht die zwischenstaatliche Dimension beachten.<br />

23<br />

Allerdings ergibt sich aus dem theoretischen Ansatz von J. Rawls kein Grund dagegen, diese Erweiterung ausdrücklich<br />

vorzunehmen. Wir können den Urzustand so konstruieren, daß die Menschen in ihm nicht nur aus den<br />

verschiedensten Schi~ten, Klassen und Generationen, sondern auch aus den verschiedensten Regionen der Erde<br />

kommen. Sie würden sowohl das Prinzip gleicher Freiheiten wie auch das Unterschiedsprinzip beschließen. Letzteres<br />

gewinnt dann - gewissermaßen bei Tage besehen, nachdem der Schleier des Nicht-wissens hinweggenommen<br />

ist - angesichts des Nord-Süd-Gefälles eine revolutionäre Bedeutung: Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten<br />

darf es nur unter der Bedingung geben, daß sie den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen,<br />

und: Ämter und Positionen müssen allen in fairer Chancengleichheit offenstehen. Die Argumentationsstrategie<br />

der Mitglieder des Nordens würde nun darauf abstellen zu zeigen, daß die Aufrechterhaltung der fmanziellen<br />

und sonstigen Potenz der Industrieländer gerade die Bedingung für eine Besserstellung der Entwicklungsländer<br />

ist. Ganz einfach dürfte dieser Nachweis nicht sein.<br />

Dennoch ist dem Rawls'schen Konzept das der Diskursethik vorzuziehen. Sie sieht folgende Diskursregeln vor:<br />

"1. Jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen. 2.a) Jeder darfjede Behauptung<br />

I<br />

problematisieren. b) Jeder darfjede Behauptung in den Diskurs einführen. c) Jeder darf seine Einstellungen,<br />

Wünsche und Bedürfnisse äußern. 3. Kein Sprecher darf durch innerhalb oder außerhalb des Diskurses<br />

herrschenden Zwang daran gehindert werden, seine in 1. und 2. festgelegten Rechte wahrzunehmen." (112) Die<br />

Überprüfung der vorgetragenen Gesichtspunkte und Argumente erfolgt anband des Universalisierungsgrundsatzes:<br />

Jeder muß bei der Verständigung über eine Norm die Perspektivealler Betroffenen einnehmen.<br />

(1<strong>13</strong>) Dies impliziert, daß der Diskurs herrschaftsfrei geführt wird. Ein solcher Diskurs unterscheidet sich<br />

erheblich von der Beratungssituation im Urzustand. Der Diskurs legt die Interessen und die Betroffenheiten offen.<br />

Er berücksichtigt die Unterschiede in den Ausgangslagen der Diskursteilnehmer. Die Idee des Diskurses über<br />

weltweite Gerechtigkeit fordert, daß neben den Interessen der zwanzig Prozent Reichen die Forderungen der<br />

achtzig Prozent Armen angemessen zur Sprache kommen. Probeweise stelle man sich vor, das Gremium der für<br />

diesen Diskurs ausgewählten Repräsentanten werde diesem Verhältnis entsprechend zusammengesetzt. Dasselbe<br />

gelte für die diesem entscheidenden Gremium zuarbeitenden Expertenkommissionen für Finanzen, Wirtschaft,<br />

Technologie, Kultur etc. (114) Ein atemberaubender Prozeß des Umdenkens und reformerischen oder<br />

revolutionären Umgestaltens käme in.Gang.<br />

E. Dussel macht in diesem Zusammenhang allerdings auf ein gravierendes Problem aufmerksam. Die historischreale<br />

Kommunikationsgemeinschaft, in der Gedanke und Praxis des Diskurses entstanden, ist eingebettet in und<br />

abhängig von der jenigen historisch-realen Lebensgemeinschaft, die die Ausgebeuteten seit fünfhundert Jahren


werden solche Normen nur, wenn entsprechende gesellschaftliche Strukturen und Institutionen geschaffen<br />

werden. Dies gilt jedenfalls für den Mittelbereich (z.B. Produktion, Verteilung, Konsum; Arbeit und Freizeit; Erziehung,<br />

Bildung, Information) und den Fernbereich (internationale Beziehungen; globale Sicherung der Lebensbedingungen)<br />

verantwortlichen menschlichen Handelns. Von diesen Strukturen der Gerechtigkeit soll nun noch<br />

die Rede sein.<br />

25<br />

Von U. Beck stammt die kritische Diagnose der halbierten Demokratie. Er meint damit die Tatsache, daß demokratische<br />

Rechte im politischen Bereich zugesichert, im wirtschaftlichen und unternehmerischen Bereich dagegen<br />

nicht vorhanden bzw. höchst unterentwickelt sind, obgleich dort inzwischen Entscheidungen von höchster Relevanz<br />

für die Gestaltung gegenwärtiger und künftiger Lebensverhältnisse fallen. (119) Dieser Zustand ist ungerecht,<br />

weil er die Möglichkeiten der EinOupnahme aller Betroffenen aufdie gemeinsamen Lebensbedingungen ungerecht<br />

verteilt. Vor allem Bürgerinitiativen haben darauf sensibel reagiert und Partizipationsrechte eingeklagt und<br />

zum Teil durchgesetzt. In den Parlamenten wächst das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer gesellschaftlich<br />

verantwortbaren Wissenschafts- und Technologiepolitik. Dabei geht es einerseits um Grenzziehungenmit dem<br />

Ziel, potentielle Gefahren von den Bürgern abzuwenden - ein Beispiel ist das Gentechnikgesetz -, andererseits um<br />

Anreize für Entwicklungen von menschen- und gemeinwohlgerechter Technik - ein Beispiel hierfür könnte die<br />

Solartechnik werden.<br />

Wenn das Parlament als Repräsentant aller Betroffenen diese Aufgabe kompetent wahrnehmen will, benötigt es<br />

die wissenschaftliche und technische Expertise nicht nur über "Chancen und Risiken" einer bestimmten, schon<br />

etablierten Technik, sondern auch über die Möglichkeiten alternativer Entwicklungspfade. Neben und in den Institutionen<br />

der Innovationsforschung muß die Alternativen-Erforschung, selbstverständlich auch die Risiko-Erforschung<br />

institutionalisiert werden. Dies ist noch kaum erfolgt. Als ein Beispiel dafür kann das Öko-Institut in<br />

Freiburg und Dannstadt gelten. Die Einrichtung eines Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag<br />

(TAB) ist ein weiterer Schritt in die gleiche Richtung. (120)<br />

Übrigens wird das Parlament diese Aufgabe als Repräsentant aller Betroffenen nur dann wahrnehmen können,<br />

wenn die Bürger sich selbst besser über ihre Bedürfnisse - über das, was für jeden das Seine ist - aufklären wollen<br />

und ihnen dazu auch die Möglichkeiten gegeben werden. Bedürfnisklärung statt Bedarfsweckung wäre hierfür das<br />

Stichwort.<br />

Eine Stärkung der Partizipationsrechte in anderen Bereichen ist dringend erforderlich. Dies gilt zum Beispiel für<br />

Betriebe und Unternehmen. Es reicht nicht aus, daß die Vertreter der Sozialpartner, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände,<br />

Rahmenbedingungen und Tarife für Arbeit und Lohn aushandeln. Das Problem des<br />

angemessenen Lohns ist sicher eine wichtige Frage der Tausch- und Verteilungsgerechtigkeit. Damit sind aber die<br />

Fragen der partizipativen Gerechtigkeit noch nicht berührt. Arbeitenden als autonomen Personen wird erst dann<br />

ihr volles Recht zuteil, wenn sie die unternehmerischen Entscheidungen mitgestalten und die<br />

Unternehmensleitung mitlegitimieren können. Diese Forderung einer qualifizierten Mitbest~ung im<br />

Unternehmen, einer arbeitsorientierten Unternehmensverfassung oder der Wirtschaftsdemokratie gründet in der<br />

Einsicht, "daß die Unterwerfung unter fremde Leitungs- und Organisationsgewalt mit der Würde des Menschen<br />

nur dann vereinbar ist, wenn dem Betroffenen die Möglichkeit der Einwirkung.auf die Gestaltung der Leitungs-


27<br />

Anmerkungen<br />

1 Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979<br />

(Originalausgabe: A Theory ofJustice, 1971), S.12<br />

2 A.a.O., S. 39.<br />

3 A.a.O., S. 166.<br />

4 A.a.O., S. 31.<br />

5 Vgl. a.a.O., S.168.<br />

6 Vgl. a.a.O., S. 168f.<br />

7 A.a.O., S. 159.<br />

8 Vgl. a.a.O., S. 161.<br />

9 Im übrigen ist Rawls überzeugt, daß auch Kants Moralphilosophie implizit einen Schleier des Nichtwissens<br />

voraussetzt. Autonom handelt der, der dem allgemeinen praktischen Gesetz seiner Vernunft folgt; heteronom<br />

verhielte sich derjenige, der seine Entscheidungen von seinen Wünschen, von den Besonderheiten seiner gesellschaftlichen<br />

oder wirtschaftlichen Lage u.ä. abhängig machen würde. A.a.O., S. 284.<br />

10 A.a.O., S. 36. (Hervorhebung von mir.)<br />

11 Vgl. die Liste der Bestimmungen des Urzustandes, a.a.O., S. 170f.<br />

U Vgl. a.a.O., S. 28f.<br />

<strong>13</strong> Vgl. a.a.O., S. 37.<br />

14 Ders.: Der Vorrang der Grundfreiheiten, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989.<br />

Frankfurt a.M.: Suhrkamp <strong>1992</strong>. S. 160. Vgl. ders.: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Fi'ankfurta.M.: Suhrkamp<br />

1979. S. 336.<br />

15 A.a.O., S. 82.<br />

16 Vgl. a.a.O., S. 238-240.<br />

17 A.a.O., S. 283; vgl. S. 336f. - Aus dem Zusammenhang ist deutlich, daß der Satz vom Vorrang der Freiheit sich<br />

nicht auf die Freiheit als solche, sondern auf die Liste der Grundfreiheiten bezieht. Vgl. Rawls, John: Der<br />

Vorrang der Grundfreiheiten, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989. Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp <strong>1992</strong>. S. 159-254, hier S. 161.<br />

18 A.a.O., S. 336. - Vgl. S. 81 (erste Formulierung), 104 (zweite Formulierung).<br />

19 A.a.O., S. 127.<br />

20 A.a.O., S. 322.<br />

21 A.a.O., S.108. - Rawls unterscheidet vollkommene, unvollkommene und reine Verfahrensgerechtigkeit. Bei<br />

der vollkommenen Verfahrensgerechtigkeit gibt es einen unabhängigen Maßstab für gerechte Verteilung und<br />

ein sicheres Verfahren, um das. gerechte Ergebnis zu erreichen; bei der unvollkommenen Verfahrensgerechtigkeit<br />

gibt es zwar einen gerechten Maßstab, aber kein absolut sicheres Verfahren. Reine Verfahrensgerechtigkeit<br />

liegt vor, wenn es keinen unabhängigen Maßstab, wohl aber ein Verfahren gibt, das - korrekt<br />

angewandt - in jedem Fall zu einem fairen Ergebnis führt.<br />

22 Vgl. a.a.O., S. 126f.<br />

23 Vgl. a.a.O., S. 223-229.<br />

24 A.a.O., S. 223.<br />

25 Vgl. Spaemann, Robert: Die zwei Grundbegriffe der Moral, in: ders.: Zur Kritikder politischen Utopie. Zehn


29<br />

MUS und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln: Bund 1987 (Originalausgabe: Habits of the<br />

Heart. Individualism and Commitment in american Life, 1985). - Dies.: The Good Society. New York: Knopf<br />

1991. - MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart. Frankfurt a.M.:<br />

Campus 1987 (Originalausgabe: After Virtue. A Study in Moral Theory, 1981). - Walzer, Michael: Sphären<br />

der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit. Frankfurt a.M.: Campus <strong>1992</strong> (Originalausgabe:<br />

Spheres ofJustice. A Defense of Pluralism and Equality, 1983).<br />

50 Vgl. Bellah, Robert N. u.a.: The Good Society. New York: Knopf 1991. S. 9. - Dies.: Gewohnheiten des Herzens.<br />

Köln: Bund 1987. S. 47.<br />

51 Vgl. dies.: Gewohnheiten des Herzens. Köln: Bund 1987. S. 49.<br />

52 Dies.: The Good Society. New York: Knopf 1991. S. 6.<br />

53 Sie beziehen sich dabei auf die Analyse der Beziehung zwischen Charakter und Gesellschaft in Amerika, die<br />

der französische Sozialphilosoph Alexis de Tocqueville verfaßt hat. In seinem Buch "Democracy in America"<br />

nannte er die Sitten und Bräuche des amerikanischen Volkes gelegentlich "Gewohnheiten des Herzens". Vgl.<br />

dies.: Gewohnheiten des Herzens. Köln: Bund 1987. S. 16.<br />

54 A.a.O., S.185-188. 319-321.<br />

55 A.a.O., S.322.<br />

56 Vgl. a.a.O., S. 323.<br />

57 Vgl. a.a.O., S. 334.<br />

58 Siehe Anm. 49.<br />

59 Nozick, Robert: Anarchie - Staat - Utopia. München 1976. (Originalausgabe: Anarchy, State and Utopia,<br />

1974).<br />

60 Robert Nozick zit. nach Maclntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt a.M.: Campus 1987. S. 330.<br />

61 Vgl. a.a.O., S. 325-339.<br />

62 Vgl. a.a.O., S. 250f.<br />

63 A.a.O., S. 252.<br />

64 A.a.O., S. 251-263.<br />

65 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes, herausgegeben von<br />

Günther Bien. Hamburg: Meiner 1972. S. 12.<br />

66 Vgl. MacIntyre, Alasdair: Der Verlust der Tugend. Frankfurt a.M.: Campus 1987. S. 273-293. - Zur narrativen<br />

Ethik vgl. Bender, Wolfgang: Ethische Urteilsbildung. Stuttgart: Kohlhammer 1988. S.160-162.<br />

67 MacIntyre, Alasdair, a.a.O., S. 292f.<br />

68 A.a.O., S. 295 (Hervorhebungen von mir).<br />

69 A.a.O., S. 294.<br />

70 A.a.O., S. 350.<br />

71 Vgl. Bender, Wolfgang: Ethische Urteilsbildung. Stuttgart: Kohlhammer 1988. S.162.<br />

72 Vgl. die Darstellung von Gutierrez, Gustavo: Theologie von der Rückseite der Geschichte her, in: ders.: Die<br />

historische Macht der Armen. München-Mainz: Kaiser-Grünewald 1984 (Originalausgabe: La fuerza hist6rica<br />

de los pobres, 1984). S.125-189, besonders S.167-170. - Vgl. auch das erste umfassende Buch von Gutierrez,<br />

Gustavo: Theologie der Befreiung. Mainz: Grünewald, 2. Aufl.1976 (Originalausgabe: "Theologia de la<br />

Liberaci6n", 1972). - Siehe ferner die Einleitung von RaUl Fornet-Betancourt in: Dussel, Enrique: Philosophie<br />

der Befreiung. Hamburg: Argument 1989 (Originalausgabe: Filosofia de la Liberaci6n, 1977). S. 5-10.


31<br />

87 A.a.O., S. 808.<br />

88 Adomo, Theodor W.: Gesammelte Schriften. Bd.4 (Minima Moralia). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980. S. 55.<br />

89 Dussel, Enrique: Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument 1989. S. 64.<br />

90 A.a.O., S. 56.<br />

91 A.a.O., S. 56.<br />

92 A.a.O., S. 58.<br />

93 Ders.: Befreiungsethik. Grundlegende Hypothesen. In: Concilium, 20. Jg. (1984), S.<strong>13</strong>5. (Hervorhebungen von<br />

mir.)<br />

94 A.a.O., S. <strong>13</strong>5f. - Vgl. ders.: Läßt sich "eine" Ethik angesichts der geschichtlichen "Vielheit" der MoraIen legitimieren?<br />

In: Concilium, 17. Jg. (1981), S. 810f.<br />

95 Darin unterscheidet sich die Befreiungsethik von der kritischen Theorie Tb.W. Adornos wie H. Marcuses, VOn<br />

der Auffassung E. Blochs wie G. Lukacs über den revolutionären Prozeß. Dussel ergänzt die (negative) Dialektik<br />

durch die philosophisch Wie theologisch konzipierte "Analektik": ''Wir wollen mit Ana- (griech.) auf etwas<br />

hinweisen, das "jenseits" des ontologischen Horizonts (des Systems, ...) liegt, "jenseits" des Seins oder es<br />

transzendierend. Dieser Logos (Ana-Logos) dieser Diskurs, ~er von der ~ranszendierungdes Systems ausgeht,<br />

enthält die Originalität der hebräisch-christlichen Erfahrung. Wenn "am Anfang Gott schuf' (Gen. 1,1),<br />

dann deshaIb, weil der andere selbst dem Beginn der Welt, dem System, dem "Fleisch" zeitlich vorausgeht."<br />

(Ders.: Befreiungsethik. A.a.O., S. <strong>13</strong>8).<br />

96 Ders.: Läßt sich "eine" Ethik angesichts der geschichtlichen "Vielheit" der MoraIen legitimieren? In: Concilium,<br />

17. Jg. (1981), S. 811.<br />

97 Ders.: Ethik der Gemeinschaft. Düsseldorf: Patmos 1988. S. 83f.<br />

98 Ders.: Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument 1989. S. 167.<br />

99 L. und Cl. Boff berichten die Antwort einer Frau aus Pemambuco, nachdem sie als "Arme" angesprochen<br />

worden war: "Arm? Nein! Arm sind die Hunde. Wir sind mittellos, aber wir kämpfen." (Boff, Leonardo - Boff,<br />

Clodovis: Wie treibt man Theologie der Befreiung? Düsseldorf: Patmos 1986. S. 42. Vgl. Gutierrez, Gustavo:<br />

Die historische Macht der Armen. MÜDchen-Mainz: Kaiser-GrÜDewald 1984.)<br />

100 Dussel, Enrique: Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument 1989. S. 80.<br />

101 A.a.O., S. 82.<br />

102 Vgl. a.a.O., S. 93f.. 1QO-103.111f.<br />

103 Vgl. a.a.O., S.112.194.<br />

104 Joseph Kardinal Höffner: Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung. Eröffnungsreferat bei der<br />

Herbsvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofkonferenz<br />

1984. S. 32. 8.<br />

105 Vgl. Boeckh, Andreas: Entwicklungstheorien, Weltmarkt und das Problem der Gerechtigkeit, in: Eicher, Peter<br />

- Mette, Norbert (Hrsg.): Auf der Seite der Unterdrückten? Theologie der Befreiung im Kontext Europas.<br />

Düsseldorf: Patmos 1989. S. 90-111. - Rottländer, Peter: Dependenztheorie in der Diskussion. Entwicklungstheoretische,<br />

politische und theologische Aspekte. A.a.O., S. 112-<strong>13</strong>2.<br />

106 Dussel, Enrique: Philosophie der Befreiung. Hamburg: Argument 1989. S. 28.<br />

107 Kerstiens, Ferdinand: Besuch der kleinen Leute. Partnerschaft konkret. In: Orientierung, 54. Jg. (1990). S.<br />

255-259.<br />

108 Vgl. Lutz, MatthiasiAutorenkollektiv: Arm in einer reichen Stadt - Zur Armutssituation in Frankfurt. Frank-


Ausgewählte Literatur<br />

33<br />

Armut in Deutschland - Armut im Wohlstand. Dokumentation der Fachkonferenz am IJuli <strong>1992</strong>. Herausgegeben<br />

vom Vorstand der SPD, Referat Öffentlichkeitsarbeit, Ollenhauer Str.l, 5300 Bonn 1.<br />

BeUah, Robert N. - Madsen, Richard - Sullivan, William M. - Swidler, Ann • Tipton, Steven M.: The Good Society.<br />

New York: Alfred A. Knopf Inc.1991.<br />

dies.: Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in der amerikanischen Gesellschaft. Köln:<br />

Bund 1987 (Originalausgabe: Habits of the Heart. Individualism and Commitment in American Life,<br />

1985).<br />

Boeckh, And.reas: Entwicldungstheorien, Weltmarkt und das Problem der Gerechtigkeit. In: Eicher, Peter - Mette,<br />

Norbert (Hrsg.): Auf der Seite der Unterdrückten? Theologie der Befreiung im Kontext Europas. Düsseldorf:<br />

Patmos 1989. S. 90-111.<br />

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35<br />

11. Wege zum dauerhaften Frieden<br />

Zusammenfassung<br />

Ausgehend von einem Verständnis von Friedensethik als Prozeß ethischer Urteilsbildung wird zunächst die Weltlage<br />

in ihren ethisch relevanten Problembereichen und Spannungsfeldern skizziert. Diese Weltlage macht die Besinnung<br />

auf elementare menschliche Lebensbedingungen notwendig, deren Mißachtung friedens- und überlebensgefährdend<br />

ist. Mit dem Abschnitt über ethische Traditionen und Positionen tritt die Untersuchung in die Auseinandersetzung<br />

mit der Lehre vom "gerechten Krieg" ein, die eine der wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Konzeptionen<br />

innerhalb der Friedensethik - bis hin zur Rechtfertigung des Golfkrieges - ist, und neuerdings noch in<br />

das Modell einer "gerechten Abschreckung ll hinein übertragen wurde. Als konsequente Friedensethik unter den<br />

Bedingungen einer Weltlage, für die Verfügbarkeit der nuklearen Waffen unhintergehbar ist, stellt sich die "Ethik<br />

zum nuklearen Frieden" dar, auf die mit dem Entwurf von Perspektiven eines dauerhaften Friedens, der auf den<br />

nuklearen Schild verzichten könnte, geantwortet wird.<br />

1. Friedensethik als Prozeß ethischer Urteilsbildung<br />

Spannungen bis hin zu Gegensätzen kennzeichnen die friedensethische Diskussion. Dies gilt für die Frage nach<br />

dem negativen oder positiven Begriff des Friedens, für das Problem der Rangordnung von Werten wie Frieden,<br />

Freiheit und Gerechtigkeit, für die Einschätzung von Wehrdienst und Kriegsdienstverweigerung sowie der Friedensbewegung,<br />

für die Lehre vom gerechten Krieg und ihrer Abwandlung im Konzept gerechter Abschreckung bis<br />

hin zu den anspruchsvollen Versuchen, das Paradigma einer zeitgemäßen Ethik als "Ethik zum nuklearen Frieden"<br />

zu entwerfen, gegenüber denen (nuklear-)pazifistische Optionen v~hementenWiderspruch anmelden müssen. (1)<br />

In einer solchen durch die Komplexität der Sachverhalte wie durch den Pluralismus der moralischen Einstellungen<br />

und ethischen Einsichten geprägten Situation, in der gleichwohl alle mit Recht Mündigkeit und Autonomie für<br />

sich in Anspruch nehmen, sollte Ethik als gemeinsamer, immer wieder zu erneuernder Prozeß ethischer Urteilsbildung<br />

verstanden werden. (2) Ethische Urteilsbildung bedenkt die Positionen und Argumente der anderen in<br />

gleicher Weise wie die eigenen und traut dem menschlichen Einfühlungs- und Denkvermögen die Fähigkeit zu,<br />

Verständigung erreichen zu können. Ein solches Konzept ist in seinem Ansatz und in seinem Fortgang bereits<br />

Verwirklichung von Friedensethik.<br />

Beim Prozeß ethischer Urteilsbildung lassen sich fünf Elemente oder Dimensionen unterscheiden: 1. Die Analyse<br />

der Situation, die zu Handlungen oder zur Unterlassung von Handlungen herausfordert. 2. Die Kenntnisnahme<br />

von elementaren Lebensbedingungen, die durch die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte mit ihren Existenzbedrohungen<br />

der Menschheit stärker ins Bewußtsein treten. 3. Die Auseinandersetzung mit ethischen Traditionen und<br />

Positionen, die alle, die sich am ethischen Urteilsbildungsprozeß beteiligen, in unterschiedlicher Weise mitbringen<br />

und die in ihre Urteile - bewußt oder unbewußt - eingehen. 4. Die Urteilsfindung und Entscheidung, die den<br />

Urteilsbildungsprozeß in einem vorläufigen, aber für jetzt bestmöglichen Urteil beenden und 5. zu Folgerungen für<br />

die persönliche und gemeinsame Lebenspraxis führen.


37<br />

Aufrüstung in den Entwicklungsländern bindet sie naturwissenschaftlich-technische Kompetenz und finanzielle<br />

Ressourcen, die dringend zur Lösung der anderen Weltprobleme gebraucht würden. Sie trägt zur Verschärfung<br />

dieser Probleme direkt bei. Gleichzeitig erhöht deren Zuspitzung die Gefahr militärischer Auseinandersetzungen<br />

um natürliche Ressourcen (z.B. Wasser) (6), um eine gerechtere Verteilung von Risiken (z.B. aufgrund der klimatischen<br />

Veränderungen und der mit ihnen verbundenen Verluste von Anbauflächen durch Überschwemmung oder<br />

Versteppung) und Gütern.<br />

Die Spannungen und Konflikte zwischen den Staaten sind Ausdruck, Ursache oder Folge der genannten Probleme.<br />

Zwar ist inzwischen der Ost-West-Konflikt beendet worden. Dadurch werden Abrü8tungsmaßnahmen im<br />

Bereich der NATO und des ehemaligen Warschauer Pakts in unerwartetem Ausmaß ermöglicht. Das tatsächlich<br />

Erreichte hält sich bislang allerdings in bescheidenen Grenzen. Der Vertrag über die Abschaffung der Mittel- und<br />

Kurzstrecken-Raketen (INF-Vertrag) aus dem Jahr 1987 leitete deren Abbau und Verschrottung ein. Im Rahmen<br />

der Gespräche über die Reduzierung strategischer Waffen (START) sind gewisse Fortschritte erzielt worden; im<br />

wesentlichen liegen aber bislang nur Absichtserklärungen (Präsident G. Bush am 27.09.1991 und 28.01.<strong>1992</strong>, Präsident<br />

M. Gorbatschow am 05.10.1991, Präsident B. Jelzin am 29.01.<strong>1992</strong>) vor. China, Frankreich und Großbritannien<br />

bauen ihr Atomwaffenpotential weiter aus. Das nukleare Abschreckungspotential besteht also - als overkill­<br />

Potential- weiter, obwohl die politische Konfrontation der Kooperation gewichen ist. Hinzu kommt, daß wirtschaftliche<br />

und politische Unsicherheiten in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Fragen hinsichtlich der sicheren<br />

Kontrolle der Atomwaffen, hinsichtlich der Weitergabe atomwaffenfähigen Materials, Trägersystemen und<br />

zugehörigem wissenschaftlich-technischem Know-how aufwerfen. (7) Zugleich brechen unterdrückt gehaltene Nationalitätenkonflikte<br />

auf und werden militärisch - oft mit erschreckender Brutalität - ausgetragen.<br />

Der komplexe Nord-Söd-Konflikt gerät über all dem zeitweise aus dem Blick. Er wird die nächsten Jahre und<br />

Jahrzehnte zunehmend bestimmen. Dabei wird auch immer deutlicher werden, daß der Nord-Süd-Konflikt nicht<br />

nur wirtschaftliche und finanzielle, technologische und kulturelle, sondern auch rüstungs- und militärpolitische<br />

Dimensionen - bezogen sowohl auf die Nord-Süd- als auch die darin verwickelten Süd-Süd-Spannungsfelder - hat.<br />

Die Gefahr einer neuartigen und im Vergleich zum zweipoligen Ost-West-Konflikt ungleich schwerer kontrollierbaren<br />

Spirale des Wettrüstens deutet sich an und verknüpft sich mit nahezu unlösbar erscheinenden Problemen<br />

eines an und für sich notwendigen Wissenschafts- und Technologietransfers in die Entwicklungsländer.(8)<br />

Wissenschaften und Technologien sind in diese risiko- und konfliktträchtige Welt- und Gesellschaftssituation verstrickt.<br />

Betrachtet man den historischen Prozeß, der zu der jetzigen Lage geführt hat, so wird deren ambivalente<br />

Rolle überdeutlich. Die Nuldeartechnik ist der beredeste Ausdruck dafür. Betrachtet man die Gegenwart und die<br />

Herausforderungen der Zukunft, so ist die Janusköpfigkeit der WISsenschaften und Technologien ebenfalls nicht<br />

zu übersehen. Sie können die Krisenlagen verschärfen, sie können aber auch zur Minderung der Risiken und zur<br />

Entschärfung der Konflikte beitragen. (9)<br />

3. Elementare Lebensbedingungen<br />

Seit der Mitte unseres Jahrhunderts, seit der Explosion der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki im Au­<br />

, gust 1945, kommt die naturwissenschaftlich-technische Zivilisation zu einem neuen Bewußtsein. Der Preis des


nauere Bestimmungen im fortschreitenden Prozeß der Überwindung der Negativzustände möglich, wobei die Bezugnahme<br />

auf Erfahrungen und Einsichten früherer Epochen und anderer Kulturen nicht nur hilfreich, sondern<br />

unerläßlich ist. (17)<br />

Bisher war von Lebensbedingungen ausgehend von physischen Existenzbedrohungen die Rede. Der Mensch ist<br />

allerdings als Natur- und Kulturwesen auch ein soziales Wesen. Ohne menschliche Beziehungen - Zuwendung,<br />

Liebe, Anregung - kann er sich nicht entfalten; je nach den Umständen kann er aggressiv und destruktiv werden,<br />

oder sich in sich zurückziehen und verkümmern, im schlimmsten Fall gänzlich lebensunfähig werden. Kommunikation,<br />

in der die Identitätund Integrität der Personen geachtet und gefordert wird, erweist sich als elementare Lebensbedingung<br />

und psycho-soziale Voraussetzung für Friedensfähigkeit. (18)<br />

39<br />

Was hier mit Blick auf menschliche Individuen angedeutet worden ist, gilt auch vergleichsweise für gesellschaftliche<br />

Gruppen, kulturelle Gemeinschaften, Rassen und Nationalitäten. Sie benötigen die Spielräume zur Ausprägung<br />

ihrer kulturellen Identitäten und zur Aufrechterhaltung ihrer kulturellen Integrität. Dazu gehört auch die<br />

Anerkennung von seiten anderer Gesellschaften, Gemeinschaften oder Völker. Die Verweigerung der Anerkennung,<br />

die Mißachtung und oft auch brutale Unterdrückung kann tiefsitzende traumatische Verletzungen zur Folge<br />

haben, die zu aggressiver Abwehr oder Selbstbehauptung führen und mehr auf Abgrenzung denn auf Verständigung<br />

und Versöhnung setzen. Die Nationalitätenproblematik zum Beispiel mag hierin zum Teil ihren Grund haben.<br />

Jedenfalls zeigt sich, daß nicht nur interpersonale, sondern auch interkulturelle Achtung und Anerkennung<br />

Bedingungen für Frieden sind.<br />

4. Ethische Traditionen und Positionen<br />

4.1. Vom gerechten Krieg zur gerechten Abschreckung·<br />

4.1.1. "Gerechter Krieg"<br />

Die Lehre vom "gerechten Krieg" stellt das einflußreichste ethische Kriegsverhütungs- bzw. Kriegsbegrenzungsmodell<br />

dar. (19) Der Grundgedanke dieser Lehre besteht darin, daß Kriege nur um des Friedens willen geführt<br />

werden dürften. In allerersten Anfängen geht die Lehre vom "gerechten Krieg" auf Platon und Aristoteles zurück,<br />

bis Cicero die folgende Formulierung findet:<br />

"Jene Kriege sind ungerecht, die ohne Grund unternommen werden: denn ohne Grund, sich zu rächen<br />

oder die Feinde zurückzuschlagen, kann kein gerechter Krieg geführt werden. Kein Krieg gilt als gerecht<br />

außer dem angesagten, erklärten, außer nach Stellung der Forderung aufRückgabe des Eigentums." (20)<br />

Augustinus, der mit seiner Lehre die christliche Theologie wie kein anderer prägt, greift die Gedanken Ciceros<br />

auf und stellt sie in einen theologischen Rahmen, indem er den Frieden als "tranquillitas ordinis", als "Ruhe der<br />

Ordnung" beschreibt; damit meint er nicht die Beruhigung, die nach der Wiederherstellung der vor dem ungerechten<br />

Eingriff bestehenden Ordnung eintritt, sondern die von Gott gewollte Ordnung in der Welt, deren<br />

Grundlage die Schöpfungsordnung ist. (21) So sagt er von dem, der die göttliche Ordnung kennt und für sie eintritt:<br />

"Es ist das Unrecht des Gegners, das den Weisen zu einem gerechten Kriege zwingt." (22)<br />

An der weiteren Entfaltung der Lehre vom "gerechten Krieg" haben Theologen, Philosophen und Juristen - über


41<br />

für einen gerechten Krieg eine einzige akzentuiert, die gestörte Gerechtigkeitsordnung. Diese wird nicht nur absolut<br />

gesetzt, sondern es wird gleichzeitig unterstellt, daß wir erkennen können, wann ein Angriff sich objektiv gegen<br />

diese absolute Ordnung richtet und auch in dieser Absicht ausgeführt wird. Dem stalinistischen Sowjetkommunismus<br />

traute man solches zu.<br />

Allerdings läßt sich zeigen, daß G. Gundlach Pius XII. nicht zutreffend interpretiert, - oder aber zwischen den<br />

Aussagen des Papstes erhebliche Spannungen bestehen. Dieser hat nämlich in weiteren Ansprachen drei Bedingungen<br />

genannt, die das Recht auf einen Verteidigungskrieg begrenzen: Erstens muß eine begründete W~scheinlichkeit<br />

auf Erfolg gegeben sein. Zweitens dürfen die Schäden, die der Krieg anrichtet, Dicht ungleich<br />

größer sein als die erlittene Ungerechtigkeit; andernfalls kann man verpflichtet sein, die "Ungerechtigkeit auf sich<br />

zu nehmen" (27). Drittens: wenn der Verteidigungskrieg "eine solche Ausdehnung des Übels mit sich bringt, daß<br />

es sich der Kontrolle des Menschen völlig entzieht, muß sein Gebrauch als unsittlich verworfen werden" (28).<br />

An diese güterabwägende Traditionslinie in der Lehre vom gerechten Krieg knüpfen die katholischen Bischöfe<br />

der USA in ihrem Pastoralbrief über Krieg und Frieden vom Mai 1983 - der übrigens das Ergebnis eines intensiven<br />

Beratungs- und Diskussionsprozesses ist und als solcher eine exemplarische Bedeutung hat - an und kommen zu<br />

grundsätzlich anderen Ergebnissen als G. Gundlach. (29) Sie wollen die öffentliche Meinung in dreifacher Hinsicht<br />

beeinflussen: "allen Versuchen zu widerstehen, auf einen Nuklearkrieg als Mittel staatlicher Politik zurückzugreifen";<br />

"eine Schranke gegen die Vorstellung aufzubauen, daß ein Nuklearkrieg eine gangbare Verteidigungsstrategie<br />

sein kann"; "die Öffentlichkeit zu einer Haltung zu ermutigen, die eindeutige Grenzen für das Handeln<br />

unserer eigenen Regierung und anderer Regierungen in Sachen Nuklearpolitik setzt" (30). Sie lehnen jeden Einsatz<br />

von Massenvernichtungswaffen ab, auch für den Fall, daß eigene Städte bereits angegriffen worden sind. Dasselbe<br />

gilt für den Ersteinsatz von Kernwaffen; sie fordern deshalb von der NATO ein Verteidigungskonzept, das<br />

auf die Erstschlagsoption mit Atomwaffen verzichtet. Sie argumentieren gegen die Möglichkeit einer "Begrenzung"<br />

eines Atomkrieges.<br />

Mit G. Gundlachs Argumentation zeigte sich, zu welch verhängnisvollen Konequenzen man durch eine bestimmte<br />

Auslegung der Lehre vom "gerechten Krieg" kommen konnte. Der entscheidende Unterschied zwischen Gundlachs<br />

Verständnis dieser Lehre und dem der amerikanischen Bischöfe besteht in folgendem: G. Gundlach insistiert<br />

- und dafür kann er sich auf Aussagen des Papstes in der Weihnachtsansprache von 1948 berufen - auf ihrem<br />

deontologischen Fundament, d.h. sie beruht auf einer unbedingten Verpflichtung der Menschen, die Rechtsordnung<br />

Gottes in der Welt zu achten, zu schützen und zu verteidigen, was "einen aUßerordentlichen, ja einen ungeheuren<br />

Einsatz rechtfertigt" (31). Angesichts dieser unbedingten Forderung des Naturrechts treten die teleologischen<br />

Gesichtspunkte, die Fragen nach den Folgen und ihre Abwägung, in den Hintergrund. Die amerikanischen<br />

Bischöfe dagegen - und mit ihnen die überwiegende Mehrzahl der Vertreter einer Lehre vom "gerechten Krieg ll ­<br />

sehen in ihr ein Konzept, das auf Güterabwägung beruht; indem sie die in dieser Lehre genannten Bedingungen<br />

auf andere unbedingte sittliche Verpflichtungen beziehen - vor allem auf das Verbot, Unschuldige zu töten -, werden<br />

Massenvernichtungswaffen für sie unsittlich. Deshalb hat derjenige, dem der Einsatz solcher Waffen befohlen<br />

wird, die strenge Pflicht, sich diesem Befehl zu widersetzen (32).<br />

Im Zeitalter der Atomwaffen konnte eine Theorie, die derart weitreichende Interpretationsspielräume offenließ,


43<br />

"daran zu erinnern, daß der Streit um den Zugang des Irak zum Persischen Golf bis in die Zeit des Ersten<br />

Weltkriegs und auf die willkürliche Grenzziehung im Mittleren Osten nach dem Zerfall des Osmanischen<br />

Reiches durch die britische Regierung zurückgeht. Bereits 1961, bei der Entlassung des Emirats Kuwait in<br />

die Unabhängigkeit, hatte der Irak gegen die Nichtberücksichtigung seiner Interessen protestiert, 1973<br />

und 1975 kam es wiederum zur krisenhaften Zuspitzung dieses Konflikts. Jeder Versuch des Irak, die offene<br />

Frage Kuwait im Rahmen der arabischen Liga zu behandeln, wurde von dieser aufDruck der konservativen<br />

arabischen Regime mit nachhaltiger Unterstützung der westlichen Staaten zurückgewiesen.11<br />

(36)<br />

Darüber hinaus gehört zur Genese des Konflikts, daß auch westliche Staaten an den umfangreichen Rüstungsexporten<br />

in die Krisenregion beteiligt waren, daß gerade der Irak im Krieg gegen den Iran durch Waffenlieferungen<br />

unterstützt wurde, daß man nicht protestierte oder gar einschritt, als der Irak gegen den Iran und gegen die Kurden<br />

Giftgas einsetzte. Schließlich darf doch nicht übersehen werden, daß westliche Industrienationen erhebliche<br />

wirtschaftliche Interessen mit der Golfregion verbinden. Es ist deshalb sehr die Frage, ob eine vergleichbare Verletzung<br />

des Völkerrechts in einem weniger brisanten Winkel der Erde eine vergleichbar potente Verteidigung gefunden<br />

hätte.<br />

Dies alles wird hier erwähnt, nicht um eine Entscheidung im Streit um das Für und Wider des Golfkriegs vorzubereiten,<br />

sondern um zu zeigen, daß die Lehre vom IIgerechten Krieg" zu Vereinfachungen verleitet, die der Komplexität<br />

der Situationen und Probleme nicht angemessen sind, und daß sie deshalb leicht zu einer kriegslegitimierenden<br />

Theorie wird. Der entschiedene Perspektivenwechsel in der Friedensethik - weg von der Leitfrage des<br />

"gerechten Krieges ll hin zu der Frage nach der Bewahrung und der Förderung des Friedens - ist also überfällig,<br />

und vom Ökumenischen Rat der Kirchen, von der Friedens-Denkschrift der Evangelischen Kirchen in Deutschland<br />

(37), von Johannes xxm., vom Zweiten Vatikanischen Konzil (38) und vielen anderen bereits vorgenommen<br />

worden. Einprägsam formuliert hat das zeitgemäße Paradigma der Friedensethik C.F. von Weizsäcker in den drei<br />

Thesen seiner Rede in der Frankfurter Paulskirche:<br />

"1. Der Weltfriede ist notwendig.<br />

2. Der Weltfriede ist nicht das goldene Zeitalter.<br />

3. Der Weltfriede fordert von uns eine aUßerordentliche<br />

. moralische Anstrengung.1I (39)<br />

4.1.2. "Gerechte Abschreckung"<br />

Allerdings sind wir noch weit davon entfernt, für die friedensethische Diskussion insgesamt feststellen zu können,<br />

daß sie die neue Perspektive übernommen habe. Vielmehr kehrt in der neueren Diskussion die Lehre vom<br />

"gerechten Krieg" in veränderter Form, als Lehre von der "gerechten Abschreckung", wieder.<br />

In diesem Zusammenhang ist zunächst auf kirchliche Stellungnahmen zur atomaren Abschreckung hinzuweisen.<br />

Das wichtigste Dokument stellen die "Heidelberger Thesen" dar, eine gemeinsame Erklärung einer Kommission<br />

der Evangelischen Studiengemeinschaft vom 28.4.1959. Hier sind besonders die Thesen 6-8 von Bedeutung:<br />

"These 6: Wir müssen versuchen, die verschiedenen im Dilemma der Atomwaffen getroffenen Gewissensentscheidungen<br />

als komplementäres Handeln zu verstehen•...<br />

These 7: Die Kirche muß den Waffenverzicht als eine christliche-Handlungsweise anerkennen....<br />

These 8: Die Kirche muß die Beteiligung an dem Versuch, durch das Dasein von Atomwaffen einen Frie-


siko des nuklearen Holocaust ... vertretbar machen.... im Prinzip kann ein physisches Übel um eines moralischen<br />

Wertes willen in Kauf genommen werden. 11 (47)<br />

45<br />

Zu beachten ist, daß alle angesprochenen Beiträge zu einem Zeitpunkt verfaßt wurden, da der Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion nicht absehbar war. Sie gehen vom Faktum des West-Ost-Konflikts, vom bestehenden und fortdauernden<br />

Duopol aus. Durch die unerwartete Änderung der Weltlage sind manche Überlegungen überholt, im<br />

Kern aber werden die Motive, die zur Konzeption der Ethik nuklearer Abschreckung führen, davon nicht berührt.<br />

Es ist deswegen notwendig, deren Argumentationsgang weiter zu verfolgen. Dies soll am Beispiel des ausgearbeitetsten<br />

Beitrages, der "Ethik zum nuklearen FriedenIl von D. Henrich, geschehen. (48)<br />

4.2. "Ethik zum nuklearen Frieden"<br />

Der Titel bereits weist auf ein philosophisches Programm hin, das anspruchsvoller ist als eine bloße "Ethik der nuklearen<br />

AbschreckunglI. Hier wird nicht mehr das Konzept der Lehre vom "gerechten Krieg" weitergedacht unter<br />

den Bedingungen des atomaren Zeitalters, sondern eine konsequente Friedensethik angesichts dieser Weltlage zu<br />

entwickeln versucht. Der Perspektivenwechsel von der ethischen Rechtfertigung des Krieges oder der Abschreckung<br />

auf den Frieden hin ist also vorgenommen und zwar unter Bezugnahme auf I. Kant, für den kategorisch galt,<br />

daß kein Krieg sein soll und alle Bemühungen sich am Ziel des Friedens auszurichten hätten. (49) Deshalb ruft<br />

schon der Titel "Ethik zum nuklearen FriedenIl I. Kants Schrift "Zum ewigen Frieden" in Erinnerung und läßt als<br />

These vermuten, daß der Weltfriede notwendig und daß er die Lebensbedingung des technischen Zeitalters sei,<br />

daß er aber nur unter dem nuklearen Schild verwirklicht werden könne.<br />

Der Gang der Studie besteht in einer schrittweisen Vertiefung des sittlichen Bewußtseins, die hier wenigstens in<br />

einigen wichtigen Punkten nachgezeichnet werden soll. Auf einer ersten Reflexionsstufe ~ergewissert sich die<br />

praktische Vernunft der sittlichen Primärregel. Zu entscheiden ist die Frage, ob jemand wirklich wollen kann, daß<br />

die nukleare Waffe, die durch ihre nicht differenzierende Zerstörungskraft gekennzeichnet sei und deswegen immer<br />

auch Unbeteiligte treffe, eingesetzt wird. Sie wird anhand des kategorischen Imperativs geklärt. Dieser gibt ja<br />

eine Überprüfungsregel an die Hand: Kann ich wollen, daß die beabsichtigte Handlungsweise zur allgemeinen<br />

Regel werde?<br />

"Stellt sich die Beurteilungsfrage auf diese Weise, dann wird offensichtlich, daß der Grundsatz solchen<br />

Handelns nicht als Regel gedacht werden kann, die wirklich immer und von allen Handelnden befolgt<br />

wird, welche überhaupt in Konflikten gewaltsam aufeinander einwirken können. Das hätte nämlich zur<br />

Folge, daß jeder Handelnde zu beliebiger Zeit von irgend einem Konflikt betroffen würde. Er könnte also<br />

selbst nur folgerichtig handeln, wenn er sich alle möglichen Bedrohungsquellen jederzeit deutlich machen<br />

und wenn er sich auch gegen sie wappnen würde.... In dem Gedankenexperiment ... zeigt sich hier also,<br />

daß der Austrag von Konflikten zwischen Gegnern mit nuklearen Waffen, würde er der Regelfall für alle<br />

Auseinandersetzungen sein, einen Konflikt aller überhaupt Handelnden miteinander zur Folge haben<br />

würde. Ein solcher Konflikt ist aber unvereinbar mit der Verfolgung von Zwecken und Interessen im jeweils<br />

beschränkten Umkreis eines einzelnen Handelnden. Er würde die Grundsituation zerstören, kraft<br />

deren er überhaupt ein Handelnder zu sein vermag." (50)<br />

Dasselbe Ergebnis stellt sich ein, wenn man davon ausgeht, daß die nukleare Waffe zur Verteidigung eingesetzt


47<br />

Um die Sicherheit der nuklearen Friedenserhaltung zu gewährleisten, seien drei Imperative zu beachten. Erstens:<br />

Die Vernichtungswaffen sind von den taktischen Atomwaffen zum Zwecke der jeweils unterschiedlichen angemessenen<br />

Kontrolle und Überwachung zu trennen. Zweitens: Durch eine ausreichende konventionelle Bewaffnung<br />

muß erreicht werden, von den Nuklearwaffen als "Komfortwaffen" (weil sie z.B. billiger sind als vergleichbar effiziente<br />

konventionelle Waffen) in der strategischen Planung wegzukommen. So könnte schließlich ein Zustand eintreten,<br />

in dem Angriffswaffen nicht mehr und Nuklearwaffen nur noch zur Abwehr atomarer Drohung und Erpressung<br />

notwendig sind. Drittens: Es muß zu einer umfassenden Zusammenarbeit der Großmächte kommen, die<br />

sich auch auf die Weiterentwicklung der Waffen bezieht. Diese Kooperation<br />

"ist angesichts dessen, daß die Weltlage im Prinzip nicht verändert werden kann, die Grundlage dafür, daß<br />

sich eine Politik unter Bedingungen der Verfügbarkeit der nuklearen Waffe doch als gewaltlose Politik<br />

auszubilden vermag. Selbst Gandhi verstand Gewaltlosigkeit nicht als Haltung und Verhalten des Schwachen,<br />

sondern als die Einstellung, die gerade dem abgefordert werden muß, der sich seiner Stärke bewußt<br />

ist. ... Die Weltlage verweist also nicht auf die Perspektive einer neuen Weise der Kriegsführung, sondern<br />

auf die eines nuklear gedeckten Friedenszustandes und weiter auf eine Ordnung des Friedens. t1 (54)<br />

Frieden ist hier durchaus mehr als Nicht-Krieg. Er bedeutet den Prozeß der Entwicklung einer internationalen<br />

Ordnung, die auf Zusammenarbeit, Wohlstand und auf die endgültige Abschaffung der Institution Krieg ausgerichtet<br />

ist. Die Hoffnung auf all dies aber habe ihren "realen Anhalt" an der nuklearen Abschreckung. (55)<br />

5. Zur Möglichkeit eines dauerhaften Friedens<br />

Nach diesem Durchgang durch die ethischen Traditionen und Positionen der Lehre vom "gerechten Krieg", von<br />

der "gerechten Abschreckung" sowie der "Ethik des nuklearen Friedens ll muß nun der eigene Stand der Urteilsbildung<br />

umrissen werden, der seinerseits sich auf bestimmte Informationen und Einschätzungen der Weltlage und<br />

auf ethische Traditionen stützt, deren Herkunft aus dem bereits Aufgeführten oder aus den Belegen zum Folgenden<br />

deutlich werden dürfte. Ich beginne mit Anmerkungen zur Weltlage, fahre fort mit Überlegungen zu einer<br />

Ethik des dauerhaften Friedens und benenne schließlich die Schritte, die zur Verwirklichung eines dauerhaften<br />

Friedens hinführen können.<br />

5.1. Zur Einschätzung der Weltlage<br />

Es gehört zu den unumgänglichen Notwendigkeiten der philosophischen Ethik, wenn sie praktisch werden will,<br />

ihre prinzipiellen Aussagen auf das Handeln in Lebens- und in Weltlagen zu beziehen. Also muß sie sich auch<br />

eine Meinung über die betreffenden Lebenslagen oder Weltlagen bilden. Die wichtigsten Unterschiede zwischen<br />

der Einschätzung der Weltlage in den Modellen einer Ethik der "gerechten Abschreckung" od~r des "nuklearen<br />

Friedens" und der hier zu erläuternden Auffassung von der Ermöglichung eines dauerhaften Friedens lassen sich<br />

in drei Punkten zusammenfassen.<br />

1. Die These, das System der Abschreckung habe in den vergangenen 45 Jahren den Frieden gewährleistet, ist nur<br />

mit erheblichen Einschränkungen richtig. Historisches Faktum ist, daß es keinen nuklearen Frieden gab. Aber<br />

wieviel beweist dieses Faktum für die These von der friedenstiftenden Wirkung der Abschreckung? Alternative<br />

Konzepte sind ja nicht erprobt worden und konnten sich nicht bewähren.


49<br />

der verfügbaren Potentiale nicht mit den "Großen" gleichzuziehen? Wie sollen nuklearen "Newcomer" darin gehindert<br />

werden, die thermonukleare Waffe zu entwickeln? Zusätzlich ist zu bedenken, daß weitere Atomwaffentests<br />

erforderlich werden, verbunden mit den entsprechenden Gefahrenfolgen für die ökologische Sicherheit. (60)<br />

Alles in allem: Das Abschreckungssystem ist kein "fehlerfreundliches" System. Sollte es - aus technischen oder politischen<br />

Gründen - versagen, ist keine Korrektur mehr möglich. (61) Dies brachten 18 Atomwissenschaftler bereits<br />

1957 in der "Göttinger Erklärung" zum Ausdruck:<br />

'Wir leugnen nicht, daß die gegenseitige Angst vor der Wasserstoffbombe heute einen wesentlichen Beitrag<br />

zur Erhaltung des Friedens in der ganzen Welt und der Freiheit in einem Teil der Welt leistet. Wir halten<br />

aber diese Art, den Frieden und die Freiheit zu sichern, auf die Dauer für unzuverlässig, und wir halten<br />

die Gefahr im Falle des Versagens für tödlich." (62)<br />

3. Die Beurteilung der Weltlage seitens der Ethik der "gerechten Abschreckung" und des "nuklearen Friedens"<br />

bleibt auf das Vorhandensein der Atomwaffen und aufdie Ost-West-Spannung konzentriert, während andere<br />

Konfliktursachen (Bevölkerungswachstum, Nord-Süd-Gelälle, Naturzerstörung) vernachlässigtwerden.<br />

Die genannten ethischen Modelle sind in den achtziger Jahren entwickelt worden. Sie antworten auf eine sich verschärfende<br />

Bedrohungssituation im Ost-West-Verhältnis einerseits und eine erstarkende Friedensbewegung andererseits.<br />

Ihre Besorgnis war, daß durch eine Minderung der Glaubwürdigkeit der Abschreckung auf einer Seite<br />

eine gefährliche Destabilisierung des Ost-West-Gleichgewichtsverhältnisses eintreten könnte. Die Weltsituation<br />

hat sich inzwischen grundlegend geändert: Der Ost-West-Konflikt existiert nicht mehr. Daraus ergeben sich neue<br />

hoffnungsvolle Perspektiven, aber auch neue Gefahren. (63)<br />

Perspektiven: In den Ländern Osteuropas und der Gemeinschaft unabhängiger Staaten ist ein Demokratisierungsprozeß<br />

zustande gekommen, mit dem sich die Hoffnung verbindet, daß auch diese neuen Demokratien ein stärkeres<br />

Interesse an konsequenter Abrüstungs- und Friedenspolitik entwickeln, als dies bei totalitären Staaten der<br />

Fall ist. Gleichzeitig eröffnen sich nach dem Zusammenbruch der planwirtschaftlichen Systeme und dem Übergang<br />

zur Marktwirtschaft bisher unbekannte Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Die Wege zu einer<br />

umfassenden politischen Kooperation sind offen. Für die Vereinten Nationen ergibt sich ein erweiterter Handlungsspielraum..<br />

Sie können eine aktivere Rolle in der Umwelt-, Entwicklungs- und Friedenspolitik übernehmen.<br />

Sie können zunehmend in die Lage versetzt werden, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhüten, zu entschärfen<br />

oder gegebenenfalls durch militärische Eingriffe zu beenden. Die politische Forderung, durch internationale<br />

Vereinbarung den Vereinten Nationen das Gewaltmonopol zu übertragen, ist erhoben worden und insofern nicht<br />

völlig unrealistisch, als bereits beim Vorgehen gegen den Irak 1990/1991 die "Koalition" größten Wert darauf legte,<br />

durch - in ihrem Sinn interpretierbare - Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen legitimiert zu<br />

werden.<br />

Gefahren: Die politischen Verhältnisse in den Ländern des ehemaligen Ostblocks sind nicht stabil. Die Demokratisierungsprozesse<br />

können Rückschläge erleiden. Der Übergang zur Marktwirtschaft erweist sich als äußerst<br />

schwierig. Nationalitätenkonklikte sind ausgebrochen und werden militärisch - zum Teil mit äußerster Brutalität ­<br />

ausgetragen, ohne daß die internationale Staatengemeinschaft wirksam zur Befriedung beitragen könnte.


gerade unter der Zivilbevölkerung; grauenhaftes Siechtum bei den noch Lebenden; erhebliche Schädigungen bei<br />

den Nachkommen; Zerstörung der natürlichen Umwelt. Die ausschließlich auf die militärische Potenz des Gegners<br />

zielende Absicht entbindet nicht von der moralischen Verantwortung für die darüber hinausgehenden Folgen.<br />

Und ehe man von der "in sich" wertfreien Bombe spricht, sollte man sich vergegenwärtigen, daß sie das Ergebnis<br />

menschlicher Handlungen ist, und zwar nicht nur wertfreier Handlungen der Grundlagenforschung. Schließlich<br />

läßt sich - mit H. Jonas - fragen, ob die Existenz der biologischen Gattung Mensch, deren Angehörige fähig sind,<br />

Verantwortung zu übernehmen und zu tragen, moralisch wirklich ohne Bedeutung ist und ihre nukleare Vernichtung<br />

deshalb nur ein physisches Übel darstellt. (68)<br />

51<br />

Die "Ethik zum nuklearen Frieden" hält - im Gegensatz zu den erwähnten Konzepten der "gerechten Abschreckung"<br />

- auch in ihren vertiefenden Schritten - an der sittlichen Primäreinsicht fest, daß solche Vertilgungswaffen<br />

weder eingesetzt noch mit ihrem Einsatz gedrohtwerden darf. Das angestrebte Geflecht gemeinsam vereinbarter<br />

Sicherheit ist aber auf Dauer nicht sicher genug, um garantieren zu können, was es garantieren soll. Davon war bereits<br />

die Rede.<br />

2. Ein dauerhafter Frieden ist nur auf der Grundlage internationaler Gerechtigkeit, das bedeutet hier die gleichberechtigte<br />

Mitwirkung der Staaten bei der Gestaltung einer Friedensordnung, möglich. Der Vertrag über die<br />

Nichtverbreitung von Atomwaffen - dem ein richtiger Gedanke zugrunde liegt, nämlich daß die Welt umso unsicherer<br />

wird, je mehr Staaten über Nuklearwaffen verfügen - schafft zwei ungleiche Gruppen von Staaten: solche,<br />

die Atomwaffen haben, sie weiter besitzen dürfen und sie tatsächlich noch vermehrt und weiterentwickelt haben,<br />

und die anderen, die sie nicht besitzen und sie auch nicht bekommen sollen. Der Vertrag ist seit 1970 in Kraft.<br />

1995 wird zu entscheiden sein, ob der Vertrag weiter in Geltung bleibt. Im Interesse der Aufrechterhaltung des<br />

Friedens ist seine Erneuerung von höchster Dringlichkeit. Dabei wird die Diskussion um den Artikel 6 des Vertrages,<br />

der zu Verhandlungen zur Beendigung des Wettrüstens zu einem baldigen Zeitpunkt und über die nukleare<br />

Abrüstung, sowie über einen Vertrag über allgemeine und vollkommene Abrüstung unter strenger und wirksamer<br />

internationaler Kontrolle eine entscheidende Rolle spielen. Dieser Artikel war für die Nichtbesitzerländer von<br />

Atomwaffen gerade auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichberechtigung und Gleichbehandlung von größter<br />

Bedeutung. Sie konnten auf den Besitz von Atomwaffen nur verzichten, wenn die Nuklearmächte ihrerseits bereit<br />

waren, sich einem solchen Verzicht in glaubwürdigen Schritten anzunähern. Bedenkt man die Laufzeit des Vertrags,<br />

so fällt das Urteil bezüglich der Vertragstreue der Besitzerstaaten, die zum Teil - wie Frankreich -den Vertrag<br />

allerdings gar nicht unterzeichnet haben, negativ aus. Jahrelang haben sie die "vertikale Proliferation"<br />

(Weiterentwicklung der Atomwaffensysteme) betrieben, ehe sie sich zu Rüstungsbegrenzungen und schließlich zu<br />

Abrüstungsmaßnahmen bereit fanden. Doch bleibt ja bis zu Jahre 1995 noch ein begrenzter Spielraum, um eine<br />

massive Abrüstung des atomaren Potentials einzuleiten.<br />

Jedenfalls haben sich seit Mitte der 60er Jahre, in denen der Vertrag ausgehandelt wurde, die Gewichte im internationalen<br />

Kräftefeld verschoben, - und dies mcht nur durch den Zerfall der Sowjetunion: Die Staaten der Welt<br />

haben gegenüber den Großmächten an Selbstbewußtsein gewonnen. Es wird kein Vertrag mehr zustimmungsfähig<br />

sein, der nicht den Grundsätzen der Gleichberechtigung der Staaten Rechnung trägt und deren Erfüllung überprütbar<br />

und einklagbar macht.


53<br />

näherung an die Idee des Friedens suchen.<br />

Die Hoffnung auf einen Frieden ganz ohne Gewalt gehört zu den lIalten Geschichten ll . Sie findet sich in einer<br />

Heilsschilderung, die aus der Zeit des babylonischen Exils (598-538) stammt und in der hebräischen Bibel bei Jesaja<br />

(2,2-4) und auch bei Micha (4,1-5) nachgelesen werden kann. Die Vision des an Jahwe glaubenden Propheten<br />

läßt "viele Völkerll vor Jahwe auf dem Berg Zion sich versammeln und seine Weisung hören.<br />

"Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein<br />

Volk wider das andere das Schwert erheben, denn sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen."<br />

"Alte Geschichten gewiß", meint E. Bloch, aber "fast völlig unabgegolten" und deshalb "aus der Zukunft her" herausfordernd.<br />

(75) Dabei ist besonders zu bedenken, daß diese Art von Hoffnung in der Auseinandersetzung mit<br />

einer bedrückenden und gewalttätigen Gegenwart entsteht. Dem Frieden kontrastierte Erfahrungen ließen sein<br />

vollendetes Bild entwerfen. Die Kontrasterfahrungen spitzen sich im Zeitalter der nuklearen Waffen, die von kosmischer<br />

Dimension sind, aufs Äußerste zu. Hier schließt sich der Gedanke Tb. W. Adornos an: Wohl sei "der<br />

Fortschritt von der Steinschleuder zur Megatonnenbombe satanisches Gelächter, aber erst im Zeitalter der Bombe<br />

ein Zustand zu visieren, in dem Gewalt überhaupt verschwände" (76).<br />

5.3. Schritte zum dauerhaften Frieden<br />

Die Erinnerung an utopische Gehalte in der Friedensethik kann nicht den Sinn haben, die Wirklichkeit zu überspringen.<br />

Vorschläge, die sich an ihr orientieren, brauchen ihre Vermittlung zur Realität. Deshalb müssen nun die<br />

Schritte angezeigt werden, die in die Richtung eines dauerhaften Friedens führen können.<br />

1. Dringend erforderlich ist eine intemationale Vereinbarung über die Beendigung der AtomwatTentests. Ein<br />

Atomwaffenstop wäre, wenn verbunden mit dem Verzicht auf die Weiterentwicklung von Kernwaffen, ein Schritt<br />

in die Richtung ihrer Abschaffung. Im übrigen wird ohne eine solche Vereinbarung der Vertrag über die Nichtverbreitung<br />

von Kemwaffen kaum erneuert werden können.<br />

2. Eine drastischere Abrüstung der NuklearwatTen, als sich bisher in den START-Gesprächen abzeichnet, ist<br />

möglich und könnte tür die aufstrebenden Entwicklungsländer ein positiver Hinweis sein, die NiChtverbreitungsbemühungen<br />

zu unterstützen. Ziel müßte eine nukleare Minimalabschreckung sein, d.h. Reduzierung der Potentiale<br />

der USA und der Staaten der ehemaligen Sowjetunion aufje tausend Sprengköpfe. Derzeit besitzen beide<br />

Seiten jeweils mehr als 10 000 Sprengköpfe; in den START-Verhandlungen ist eine Senkung aufje 6000 in Aussicht<br />

genommen. Die "Joint Understandingll Vereinbarung zwischen G. Bush und B. Yeltsin sehen bis zum Jahr<br />

2003 eine beiderseitige Abrüstung aufje 3000-3500 Sprengköpfe vor. Eine solche Beschränkung auf minimale Abschreckung<br />

könnte auch die anderen größeren Nuklearmächte (China, Frankreich, Großbritannien) dazu bewegen,<br />

ihre Potentiale deutlich zu begrenzen. (77)<br />

3. In einem weiteren Schritt könnten die USA, die GUS-Republiken sowie China, Frankreich und Gro~britannien<br />

vertraglich vereinbaren, die Herstellung von watTenfähigem Material (Plutonium, angereichertes Uran, Tritium)<br />

zu beenden. Die Einhaltung einer solchen Vereinbarung muß überprüft werden können. (78)


6. Wenn das Ziel einer vollständigen nuklearen Abrüstung und eines dauerhaften Friedens erreicht werden soll,<br />

sind verändemde Schritte in anderen Bereichen notwendig. So wird in der konventionellen Rüstung sowohl auf<br />

dem Abbau der Potentiale als auch aufeiner Umstellung von Angriffs- aufVerteidigungssysteme zu bestehen sein.<br />

Parallel dazu sind die Bemühungen um Konversion, d.h. um die Überführung der Rüstungs- in zivile Produktion,<br />

zu verstärken, wozu wiederum einschlägige wissenschaftliche Expertise notwendig ist.<br />

55<br />

7. Nur eine Verändernng des marktwirtschaftlieh orientierten Weltwirtschaftssystems kann die Chancen verstärken,<br />

die Ursachen für die schlimmsten Konflikte der kommenden Jahrzehnte - die Zerstörung der Natur, der<br />

Hunger und die Armut in der Welt - zu beseitigen. Gelänge es, die Lage der Armen entscheidend zu verbessern,<br />

könnte damit nach allen bisherigen Kenntnissen auch ein merklicher, vielleicht hinreichender Rückgang des Bevölkerungswachstums<br />

verbunden sein. Eine der größten Gefahren für das Ökosystem und eine der explosivsten Konfliktursachen<br />

wäre so gebannt. Damit dies gelingen kann, ist eine Entlastung des Wirtschafts- und Finanzsystems<br />

von Rüstungsausgaben nötig. Dazu gehören die schon erwähnte Rüstungskonversion und die Eindämmung der<br />

Rüstungsexporte. (82)<br />

8. Politisch durchsetzbar werden solche Vorschläge nur, wenn eine Mehrheit sie sich zu eigen macht. Das bedeutet<br />

Bewußtseinsbildung und BeWUßtseinswandel, orientiert an einer sensiblen Wahrnehmung der Wirklichkeit, an der<br />

Befähigung zur Vorauserkennung möglicher Gefährdungen, die in der Gegenwart bereits als Risiken angelegt<br />

sind, bemüht um den Abbau der Feindbilder und der Dominanz des militärischen Denkens, ausgerichtet auf die<br />

Grundsätze einer universalistischen Moral der Gerechtigkeit und der Fürsorge für die Mitwelt, die Umwelt und<br />

die Nachwelt.<br />

Damit soll hervorgehoben werden, daß der BeWUßtseinswandel auch seine moralische Dimension hat und - das sei<br />

nun noch hinzugefügt - weltweit vorangebracht werden muß. Diese EiDsicht verschafft sich Ausdruck, wenn von<br />

einer erneuerten Moral als dem Preis für die Moderne (83), wenn von der Notwendigkeit eines Weltethos die<br />

Rede ist (84), oder wenn C. F. von Weizsäcker feststellte: "Der Weltfriede fordert von uns eine außerordentliche<br />

moralische Anstrengung." (85) Diese Anstrengung besteht nicht so sehr im Aufbieten eines moralischen Gefühls,<br />

als in dem Einsatz von Verstand und Vernunft, um die Bedingungen und Voraussetzungen für einen dauerhaften<br />

Frieden zu klären, über diese Bedingungen aufzuklären und Schritte in seine Richtung zu planen und zu verwirklichen.


57<br />

14 Schweitzer, Albert: Kultur und Ethik. München: Beck 1960, S. 330.<br />

15 Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt<br />

a.M.: Insel 1979, S. 72.<br />

16 Vgl. Henrich, Dieter: Ethik zum nuklearen Frieden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S.119-212. - Jonas, Hans:<br />

Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a.M.: Insel 1979,<br />

S. 84-102, S. 153-171.<br />

17 Vgl. Huber, Wolfgang - Reuter, Hans-Richard, Friedensethik. Stuttgart: Koblbammer 1990, S. 27-<strong>13</strong>1. - Koog,<br />

Hans: Projekt Weltethos. München: Piper 1990.<br />

18 Vgl. Spitz, Rene A. (unter Mitarbeit von W. Godfrey Cebliner): Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart: Klett<br />

51976 (Originalausgabe: The fIrst Year Life, 1965). Besonders S. 279-295. - Ders.: Vom Dialog. Studien über<br />

den Ursprung der menschlichen Kommunikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung. Stuttgart: KIett<br />

1976.<br />

19 Vgl. Engelhardt, Paulus: Die Lehre vom "gerechten Krieg" in der vorreformatorischen und katholischen Tradition.<br />

Herkunft - Wandlungen - Krise, in: Der gerechte Krieg: Christentum, Islam, Marxismus, Redaktion R.<br />

Steinweg. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 72-124. - Hertz, Anselm: Die Lehre vom "gerechten Krieg ll als<br />

ethischer Kompromiss, in: ders., u.a. (Hrsg.): Handbuch der christlichen Ethik, Band 3: Wege ethischer Praxis.<br />

Freiburg-Gütersloh: Herder-Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1982, S. 425-448.<br />

20 Cicero, De re publica ill,23, zit. nach: Anselm Hertz, s. Anm. 19, S. 430.<br />

21 Vgl. Aurelius Augustinus, De civitate Dei XIX,<strong>13</strong>, deutsche Übersetzung: Die Gottesbürgerschaft. Frankfurt<br />

a.M.: Fischer 1961, S. 279.<br />

22 S. Anm. 21, XIX,7, S. 274.<br />

23 Vgl. Bender, Wolfgang: Zur Diskussion in der katholischen Kirche um Frieden und Abrüstung, in: Burkbardt,<br />

Armin (Hrsg.): Hochschule und Rüstung. Ein Beitrag von Wissenschaftlern der Technischen Hochschule<br />

Darmstadt zur (IlNach ll -)Rüstungsdebatte. Darmstadt: Darmstädter Blätter 1984, S.101-124. - Huber, Wolfgang<br />

- Reuter,Hans-Richard: Friedensethik. Stuttgart: Kohlhammer 1990, S.145-158.<br />

24 Utz, Arthur-Fridolin - Groner, Joseph-Fulko (Hrsg.): Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens.<br />

Soziale Summe Pius XII., Band 2. Freiburg (Schweiz): Paulusverlag 1954, Nr. 3494, S.1783.<br />

25 S. Anm. 24, Nr. 4152 f., S. 2141 f.<br />

26 Gundlach, Gustav: Die Lehre Pius' XII. vom modemen Krieg, in: Stimmen der Zeit, Band. 164 (1959), S. <strong>13</strong>. ­<br />

Vgl. auch Hirschmann, Johannes: Kann atomare Verteidigung sittlich gerechtfertigt werden? In: Stimmen der<br />

Zeit, Band 162 (1958), S. 284-296.<br />

27 S. Anm. 24, Nr. 2366, Band 1, S.1177 f.<br />

28 S. Anm. 24, Nr. 5364, Band 3, S. 3146 f.<br />

29 Vgl. Pastoralbrief der katholischen Bischofskonferenz der USA über Krieg und Frieden, in: Stimmen der<br />

Weltkirche 19: Bischöfe zum Frieden. Bonn: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1983, S. 5-129.<br />

30 S. Auun. 29, S. 60.<br />

31 S. Anm. 26, S. 8.<br />

32 S.Auun.29,S.63.<br />

33 Johannes XXllI., Die Friedensenzyklika Ilpacem in terris". Freiburg i. Br.: Herder-Bücherei 1963, Nr. 127.'<br />

I'<br />

I<br />

\<br />

34 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Christen und die Verhütung des Kriegs im Atomzeitaiter, in: ders.: Der bedrohte<br />

Friede. Politische Aufsätze 1945-1981. München: Hanser 1981, S. 90 f.


an Mr. H. Offhut, Ministerium für Verteidigung, Washington, in: Kursbuch 83, März 1986, S. 49-89; Weizenbaum,<br />

Joseph, Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S.<br />

311.<br />

58 S. Anm. 47, S. 263.<br />

59 S.Anm.47,S.263!<br />

60 UNO-Studie, Kernwaffen. S. Anm. 7. S. 117ff.<br />

61 Weizsäcker, Christine und Ernst Ulrich von: Warum Fehlerfreundlichkeit? In: Das Ende der Geduld. Carl<br />

Friedrich von Weiszäckers "Die Zeit drängt" in der Diskussion. München-Wien: Hanser, 1987.<br />

62 Erklärung der 18 Atomwissenschaftler vom 12.4.1957, in: s. Anm. 30, S. 30. - Vgl. Tugendhat; Ernst: Nachdenken<br />

über die Atomkriegsgefahr und warum man sie nicht sieht. Berlin: Rotbuch 1986, S. 35-44.<br />

63 Vgl. zum Folgenden Friedensgutachten 1991, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK).<br />

Münster-Hamburg: Lit 1990, s. Anm. 4, S. 3-24.<br />

64 Scheffran, Jürgen - Neuneck, Götz - Altmann, Jürgen -Liebert, Wolfgang: Metamorphosen einer Vision. Kritische<br />

Anmerkungen zu SDI/GPALS, in: Infonnationsstelle Wissenschaft & Frieden, Dossier Nr. 10, Beilage<br />

zum Informationsdienst Wissenschaft & Frieden Nr. 2, <strong>1992</strong>.<br />

65 Liebert, Wolfgang: Proliferationsrisiken durch modeme Nukleartechnologie, in: Müller, Erwin - Neuneck,<br />

Götz (Hrsg.): s. Anm. 9, S. 147-167.<br />

66 Friedensgutachten 1991, s. Anm. 4, S. 2fj4-277.<br />

67S. Anm. 2fj, S. 12; s. Anm. 47, S. 255-265.<br />

68Vgl. Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt a.M.: Insel 1979, S. 86-92. - Zum Vorstehenden insgesamt<br />

vgl. Huber, Wolfgang - Reuter, Hans-Richard: Friedensethik. Stuttgart: Kohlhammer 1990, S. 315-323.<br />

69 UNO-Studie, Kernwaffen, s. Anm. 7.<br />

70 Lübbe, Hermann: Nukleare Abschreckung: Handeln, geschichtliche Lage und die Frage der moralischen Akzeptanz,<br />

in: s. Anm. 40, S. 222.<br />

71 Stürmer, Michael: Nukleare Abschreckung und politische Kultur: Die europäische Erfahrung, in: s. Anm. 40, S.<br />

189.<br />

72 Vgl. Bloch, Ernst: Kann Hoffnung enttäuscht werden? In: ders.: Verfremdungen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp<br />

1962, S. 211-219.<br />

73 Horkheimer, Max: Gedanke zur Religion, in: ders., Kritische Theorie I. Frankfurt a.M.: S. Fischer 1968, S. 374­<br />

376.<br />

74 S.Anm.49.<br />

75 Bloch, Ernst: Widerstand und Friede. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1968, S. 86. - Zur Interpretation der Jesaja­<br />

Stelle vgl. s. Anm. 55, S. 35.<br />

76 Adorno, Theodor W.: Gesammelte Schriften 10.1. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973, S. 629.<br />

77 Vgl. Neuneck, Götz - Liebert, Wolfgang: s. Anm. 7. - Joint Understanding, in: Arms Control Today, Vol. 22,<br />

No. 5, June <strong>1992</strong>, S. 33.<br />

78 S. Neuneck, Götz - Liebert, Wolfgang: s. Anm. 77.<br />

79 Vgl. Memorandum "Friedenssicherung in den 90er Jahren". Neue Herausforderungen an die Wissenschaft,<br />

herausgegeben von der Informationsstelle Wissenschaft und Frieden e.V. (IWIF), Bonn <strong>1992</strong>.<br />

80 Vgl. Hippel, Frank von - Levi, Barbara G.: Controlling Nuclear Weapons at the Source: Verification of a Cutoffin<br />

the ProductionofPlutonium and Highly Enriched Uranium for Nucle.ar Weapons, in: Tsipis, Kosta u.a.:<br />

59


Ausgewählte Literatur<br />

61<br />

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Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1989.<br />

ders.(Hrsg.): Mut zum Frieden. über die Möglichkeiten einer Friedensentwicklung für das Jahr 2000. Darmstadt:<br />

Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990.<br />

Von der Ohnmacht und Notwendigkeit des Religiösen. Regensburg: Pustedt 1982.<br />

Waas, Lothar: Problembereiche einer Ethik der nuklearen Abschreckung. In: Zeitschrift für Politik, Jg. 32 (1985).<br />

S.44-88.<br />

Wasmuth, U1rike C. (Hrsg.): Friedensforschung. Eine Handlungsorientierung zwischen Politik und Wissenschaft.<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1991.<br />

Weizsäcker, Carl Friedrich von: Der bedrohte Friede. Politische Aufsätze 1945-1981. München: Hanser 1981.<br />

ders.:. Die Zeit drängt. Eine Weltversammlung der Christen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der<br />

Schöpfung. München: Hanser 1986.<br />

ders.: Wege in der Gefahr. Eine Studie über Wirtschaft, Gesellschaft und Kriegsverhütung. München: Hanser<br />

1979.<br />

ders.: Friede - Gerechtigkeit - Bewahrung der Schöpfung. In: Universitas 9/1989.<br />

W1schnath, Rolf (Hrsg.): Frieden als Bekenntnisfrage. Zur Auseinandersetzung um die Erklärung des Moderamens<br />

des Reformierten Bundes "Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der<br />

Kirche". Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1984.<br />

Zimmerli, Walther Ch.: Die Ambivalenz des bewaffneten Friedens. Ist die beste oder die zweitbeste Lösung<br />

''besser''? In: Universitas 12/1989. S. 1185-1195.


Damit ist der "Lebenshorizont" der Friedensethik angedeutet. Darüberhinaus lassen sich Richtungsangaben fiir<br />

Friedenshandeln im engeren Sinn machen.<br />

67<br />

~.<br />

Das unschuldige Opfer eines Angriffs hat das Recht, sich wirkungsvoll und angemessen zu wehren. Andere haben<br />

die Pflicht, ihm beizustehen - auch durch Anwendung von Gewalt gegen den Angreifer. Dies gilt für Einzelne, für<br />

Sippen, Gesellschaften und Völker. Voraussetzung für die Anwendung von Waffengewalt - die Rede ist jetzt von<br />

"konventionellen" Waffen - ist, daß alle anderen Mittel wirkungslos geblieben sind.<br />

Die Erfahrungen zeigen allerdings, daß militärische Einsätze möglicherweise zwar zu einem WatTenstillstand, der<br />

permanenter Überwachung bedarf, nicht aber zu einem Friedenszustand führen. Dies dürfte auch für<br />

"friedensstiftende Militärmissionen" aufgrund von UNO-Beschlüssen und unter UNO-Führung gelten.<br />

Deshalb sind gewaltfreie friedensfördemde Aktionen dringlicher als militärische Eingriffe. Sie folgen der an und<br />

für sich alten Einsicht, die in der Gegenwart immer wieder neu bestätigt wird, daß mit Gewalt der "Spirale der<br />

Gewalt" nicht Einhalt geboten werden kann, daß vielmehr gilt: "Friede ist derWeg" (M. Gandhi). Solche Aktionen<br />

sind die Sache von Einzelnen, Gruppen, Gemeinschaften, sozialen Bewegungen. Der Staat sollte deren Vorhaben<br />

z.B. durch Förderung der Friedenserziehung oder der Ausbildung für gewaltfreie Aktionen unterstützen.<br />

Zusammengefaßt: Die Friedensethik muß sich zweifellos der Frage stellen, wie angesichts brutaler Gewaltverhältnisse<br />

möglicherweise nur durch Gewaltanwendung noch Schlimmeres verhütet werden kann. Ein befriedeter Status<br />

quo aber ist nicht das Ziel der Friedensethik. Sie denkt über diesen hinaus auf das versöhnte Zusammenleben<br />

aller hin.


• IANUS-7/1990: Kathryn Nixdorff und Isolde Stumm, "Ambivalence of Basic Medical Research Using<br />

Techniques of Genetic Engineering for the Development of Vaccines"<br />

• IANUS-8/1990: Isolde Stumm und Wolfgang Bender, "Was treibt die Rüstungsdynamik voran? -<br />

Ein Einstieg in dieses Thema im Hinblick auf biologische Waffen"<br />

• IANUS-9/1990: Isolde Stumm, "Gentechnologie und Biowaffen"<br />

• IANUS-I0/1990: Martin Kalinowski, "Technical Problems with Safeguarding Tritium"<br />

• IANUS-ll/1990: IANUS-Arbeitsbericht "Erfahrungen mit drei interdisziplinären Seminaren"<br />

• IANUS-12/1990: Achim Seiler, "Neue Technologien und Rüstungskonversion"<br />

• IANUS-<strong>13</strong>/1990: Wolfgang Liebert, Martin Kalinowski, Götz Neuneck, "Technologische Möglichkeiten<br />

des Irak für eine Kernwaffe"<br />

• IANUS-l/1991: Lars CoIschen, Martin Kalinowski, "Die Kontrolle der militärischen Nutzung von<br />

Tritium"<br />

• IANUS-2/1991: Lars Colschen, Martin Kalinowski, Jan Vydra, "National Regulations of Accounting<br />

for and Control of Tritium"<br />

• IANUS-3/1991: Jürgen Scheffran, Jan Vydra, "The Application of Military-Related Resources to<br />

Protect the Enviroment"<br />

• IANUS-4/1991: Ulrike Benner, "Verantwortungsbegriffe und Verantwortungskonzepte"<br />

• IANUS-5/1991: Markus Jathe, Jürgen Scheffran, "Zivile und militärische Anwendungen Neuronaler<br />

Netze"<br />

• IANUS-6/1991: Martin Kalinowski, Andre Anders, "Fusionsenergie - Sichere und ökologisch<br />

verträgliche Energie der Zukunft?"<br />

• IANUS-7/1991: Isolde Stumm, Kathryn Nixdorff, "Haben Toxinwaffen militärische Relevanz?"<br />

• IANUS-8/1991: Wolfgang Liebert, "Ambivalenz der Naturwissenschaft und Notwendigkeit von Wissenschaftsfolgenforschung"<br />

• IANUS~9/1991:<br />

Wolfgang Bender, "Erhaltung und Entfaltung als Kriterien für die Gestaltung von<br />

Wissenschaft und Technik" (+ english translation: "Preservation and Development as Central Ideas<br />

for Designing Science and Technology")<br />

• IANUS-I0/1991: Axel Schrader, "Militärausgaben und wirtschaftliche Entwicklung in der Dritten<br />

Welt"<br />

• IANUS-l1/1991 Wilfried Engelmann, "Conditions for Disarmament - Game Theoretic Models of<br />

Superpower Conftict"<br />

• IANUS-l/<strong>1992</strong> Achim Seiler, "Bericht von der 41. Pugwash Konferenz"<br />

• IANUS-2/<strong>1992</strong> Wolfgang Liebert, "Risks of Horizontal and Vertical Proliferation of Emerging Nuclear<br />

Technologies - The Case of Laser Isotope Separation"<br />

• IANUS-3/<strong>1992</strong> Achim Seiler, "Technology Transfer or Technology Embargo ?"<br />

• IANUS-4/<strong>1992</strong> Markus Jathe, Jürgen Scheffran, "Security, Stability and Costs in the Armament<br />

Dynamics: The SCX-Model Framework"

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