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GEORG PISKATY - ibw

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<strong>ibw</strong>-Mitteilungen, Mai 2003, Dr. Georg Piskaty (Wirtschaftskammer Österreich)<br />

<strong>GEORG</strong> <strong>PISKATY</strong><br />

Informelles und nicht-formelles<br />

Lernen und Arbeitswelt<br />

Einleitung<br />

Der nachfolgende Beitrag zur Rolle des informellen<br />

bzw. nicht-formellen Lernens in der beruflichen Bildung,<br />

insbesondere in Bezug auf die Situation der kleinen<br />

und mittleren Betriebe in Europa, wurde im Rahmen<br />

eines von der Europäischen Kommission initiierten<br />

Kongresses zu Fragen der Valorisierung von Produkten<br />

und Erfahrungen, insbesondere im Rahmen des Programms<br />

"LEONARDO DA VINCI" gehalten.<br />

"Valorisierung" umfasst eine Politik der Erfassung von<br />

Erfahrungen und Produkten im Rahmen von<br />

EU(Bildungs)-Programmen, geht über die Verbreitung<br />

solcher Erkenntnisse hinaus und stellt eine Form der<br />

Übertragung solcher Erfahrungen auf neue und auch<br />

geänderte Situationen dar. Ein gutes Beispiel dafür ist<br />

etwa der Fall der Region Toskana, die zehn abgeschlossene<br />

LEONARDO DA VINCI-Projekte valorisierte,<br />

für die Bedürfnisse der Region adaptierte und mit<br />

einem überschaubaren Aufwand das gesamte Erfahrungswissen<br />

aus diesen Projekten der Region und den<br />

dortigen Bedürfnissen nutzbar machte.<br />

Der neue Direktor für berufliche Bildung in der Europäischen<br />

Kommission, Herr Michel Richonnier, legte<br />

dar, dass er von einem linearen Ansatz im Programm<br />

LEONARDO DA VINCI zu einem "nicht-linearen" Ansatz<br />

übergehen wolle: anstelle ein einmal genehmigtes<br />

Projekt so wie beantragt durchzuführen, soll i.S. einer<br />

"nicht-linearen Konzeption" ein permanenter Beobachtungs-<br />

und Valorisierungsprozess einsetzen und das<br />

Projekt begleiten, das damit auch seine Schwerpunkte,<br />

Zielsetzungen ändern und anpassen kann.<br />

Im Rahmen dieses Kongresses gab es auch einen<br />

Workshop, der sich mit der Frage der Anerkennung von<br />

nicht-formellen und informellen Lernprozessen beschäftigte,<br />

ein Thema, das insbesondere auch unter<br />

dem Aspekt des Konzepts des lebenslangen Lernens,<br />

aber darüber hinaus auch der Verwirklichung der ambitiösen<br />

Ziele von Lissabon („Europa wird 2010 der führende<br />

Wirtschafts- und Bildungsraum der Welt“) dienen<br />

soll. Die nachfolgende Stellungnahme wurde vom Autor<br />

als Arbeitgebervertreter abgegeben.<br />

Die Erfassung von informellen und<br />

nicht-formellen Lernen (INFL)<br />

Immer schon gab es INFL in der Wirtschaft. INFL erfolgt<br />

in verschiedenen Formen und ist also nichts<br />

Neues, das Neue ist die „Validierung“ von informell erworbenen<br />

Kenntnissen und Fähigkeiten, denn diese<br />

Lernprozesse wurden bis jetzt fast immer unterschätzt,<br />

wenn nicht ignoriert. Dies zeigt sich beispielsweise<br />

dann, wenn Personen mit beruflicher Erfahrung wiederum<br />

in das formale Bildungswesen eintreten wollen und<br />

Universitäten, berufliche Schulen bzw. – in geringerem<br />

Maß – auch Fachhochschulen deren Kompetenzen<br />

nicht zur Kenntnis nehmen. Das führt zu einem dramatischen<br />

Verlust an Zeit und Geld. Wenn wir lebenslanges<br />

Lernen als Ziel betrachten und Strategien für die<br />

Verwirklichung dieser Zielsetzung diskutieren, dürfen<br />

wir solche Verluste nicht akzeptieren. Deshalb ist diese<br />

Fragestellung auch und gerade unter dem Aspekt der<br />

Realisierung der Ziele von Lissabon von besonderer<br />

Bedeutung und beschäftigt die aktuelle Bildungsdiskussion.<br />

Wir dürfen auch die demographische Situation in Europa<br />

nicht übersehen, die es weniger und weniger erlaubt,<br />

dass wir mit der Lebenszeit unserer Bürger so<br />

verschwenderisch wie bisher umgehen: das gilt für zu<br />

lange Schul- und Studierzeiten ebenso wie für die<br />

Nichtberücksichtigung von INFL.<br />

Mehr als 90 % aller europäischen Betriebe sind Kleinund<br />

Mittelbetriebe und gerade dort erfolgt sehr viel informelles<br />

und non-formelles Lernen. Der Taylorismus<br />

hat in diesen Unternehmen nie wirklich gegriffen, im<br />

Gegenteil: Unternehmer und Beschäftigte müssen polyvalent<br />

sein, müssen verschiedenste Aufgaben bewältigen<br />

können, die meist vom Kommerziellen bis zum<br />

Technischen reichen, bis hin zum Kontakt mit Kunden,<br />

Lieferanten und Auftraggebern. In solchen Betrieben<br />

gibt es daher permanente Konfrontation mit neuen unvorhergesehenen<br />

Entwicklungen, weniger Spezialisierung,<br />

aber eine breite umfassende Palette von Wissen<br />

und Können.<br />

1


<strong>ibw</strong>-Mitteilungen, Mai 2003, Dr. Georg Piskaty (Wirtschaftskammer Österreich)<br />

Beispiele wie jenes einer Autowerkstätte, in welcher<br />

der Mechaniker nicht nur die Reparatur durchführt, sondern<br />

mit dem Kunden selbst in Kontakt tritt, dessen<br />

Wünsche feststellt bzw. auch die entsprechenden Vorschläge<br />

für die Reparatur macht, daneben aber auch<br />

mit dem Lieferanten in Kontakt treten muss u.ä. zeigen<br />

diesen Unterschied deutlich. Man muss sich nur die<br />

Situation des Automechanikers in einer großen Autofabrik<br />

mit seiner hohen Spezialisierung auf ganz spezifische<br />

Arbeitsvorgänge als Gegenbeispiel vor Augen<br />

führen.<br />

Aber auch die Lehrlingsausbildung in den mitteleuropäischen<br />

Staaten ist ein gutes Beispiel: In den Firmen<br />

findet sehr viel INFL statt, also traditionelles „learning<br />

by doing“ bzw. „learning on the job“ unter der Aufsicht<br />

eines Meisters bzw. einer hoch qualifizierten Fachkraft,<br />

die ihr Können und Wissen praxisnah weitergibt.<br />

Ergänzt wird dieses non-formale Lernen in der Berufsschule<br />

durch formelles Lernen des "theoretischen Unterbaus".<br />

Wir sehen bei der Lehrlingsausbildung auch die Bedeutung<br />

von nicht-formellen Lernprozessen für spezielle<br />

Gruppen, etwa Lernschwache oder Behinderte:<br />

Diesen Gruppen kann vielfach über solche Lernprozesse<br />

eher ein Zutritt zum Fachwissen gewährt werden<br />

als über die im Schulwesen vorherrschende formelle,<br />

intellektuelle Lernvermittlung.<br />

Dass die Sozialpartner in all diesen Systemen eine<br />

wichtige Rolle spielen, soll nicht unerwähnt bleiben.<br />

Mobilitätsprogramme, wie sie durch LEONARDO DA<br />

VINCI ermöglicht werden, führen ebenfalls zu informellem<br />

Lernen. Nach Meinung des Autors allerdings vor<br />

allem im Bereich der europäischen bzw. staatsbürgerlichen<br />

und kulturellen Bildung: Erkennen verschiedener<br />

Problemlösungstechniken in unterschiedliche Arbeitsund<br />

Lernkulturen, Verstehen differenzierter Lösungsansätze,<br />

aber auch anderer Lebensstile. Das ist für die<br />

Entwicklung einer europäischen Bürgergesellschaft ein<br />

besonders wichtiger Beitrag und dürfte wohl der wichtigste<br />

Effekt der Mobilitätsprogramme von LEONARDO<br />

DA VINCI sein.<br />

Das große Problem liegt darin, wie man nun INFL „in<br />

den Griff“ bekommt: Ist es die französische "Kompetenzbilanz",<br />

ist es ein System der Modularisierung von<br />

Lernstoffen, weil man bei einem modularisierten Lernstoff<br />

naturgemäß eher jene Bereiche definieren kann,<br />

die informell gelernt wurden, als bei großen umfassenden<br />

Bildungsblöcken, ist es "Selbstevaluation" des Einzelnen<br />

und die Konfrontation einer solchen Selbstevaluation<br />

mit einem vorhandenen Curriculum (wie dies<br />

z.B. in Vermont/USA für den Collegezutritt erfolgt).<br />

Die Sozialpartner in Europa haben ein Programm<br />

"PROTEIN" (www.academyavignon.net) durchgeführt,<br />

um den Fragen des INFL in Klein- und Mittelbetrieben,<br />

seiner Bedeutung für die Betriebe, seinem Umfang und<br />

seiner Feststellung auf die Spur zu kommen. Die Ergebnisse<br />

zeigen, dass das Lernen in Klein- und Mittelbetrieben<br />

jedenfalls anders vor sich geht als in den<br />

Großbetrieben, dass die Träger der Bildung (also die<br />

Facharbeiter, aber auch die Unternehmer) oft selbst<br />

nicht wissen, woher ihre konkreten Kenntnisse und<br />

Fähigkeiten stammen und dass insgesamt die in- und<br />

non-formalen Lernprozesse bislang weit unterschätzt<br />

wurden.<br />

Die Grundfrage stellt sich und wird zu beantworten<br />

sein: Wer wird wann sein Geld- und/oder Zeitbudget für<br />

lebenslanges Lernen zur Verfügung stellen. Vielleicht<br />

kann die Berücksichtigung von nicht-formellem und informellem<br />

Lernen hiebei helfen, da sie zu einer beachtlichen<br />

Reduktion der erforderlichen Bildungszeiten für<br />

Erwachsene führen müsste.<br />

Offene Fragen<br />

Es bleiben uns zahlreiche offene Fragen zur Diskussion:<br />

! Noch ist die Definition von informellem und nonformellem<br />

Lernen nicht klar. Wo endet die Berücksichtigung<br />

dieser Lernprozesse?<br />

! Die Berücksichtigung von INFL beginnt erst und ist<br />

sehr unterschiedlich in den verschiedenen Ländern,<br />

vor allem auch durch die unterschiedlichen<br />

Bildungssysteme veranlasst.<br />

! Die spezielle Rolle der Firmen in diesem Kontext<br />

muss berücksichtigt werden.<br />

! Das Lernen in der Freizeit wird immer bedeutender,<br />

insbesondere auch das Lernen im Rahmen von<br />

Aktivitäten in der Bürgergesellschaft (z.B. das<br />

Erlernen von Managementfähigkeiten durch Aktivitäten<br />

in Vereinen u.ä.). Schließlich sind auch die<br />

Bildungseffekte der Familienphase von Frauen<br />

(managen eines Haushalts) zu sehen und in dieses<br />

Konzept zu integrieren.<br />

Letztlich brauchen wir aber neue und möglichst unbürokratische<br />

Instrumente, um diese Lernprozesse zu<br />

erfassen, sichtbar und messbar zu machen und in die<br />

kommende "Lerngesellschaft" zu integrieren.<br />

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