Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Edztorial<br />
"Als Fremder wird der Gast in jene Distanz<br />
gebracht, durch welche er schon<br />
identifiziert ist, ehe wir etwas über ihn<br />
erfahren und wissen. Insofern blieb die<br />
extremste Gestalt des derart verdrängten<br />
Gastes der Tod, als der er dem Ich<br />
selbst entgegenkommt. Und hier setzt<br />
ein bestimmter Typus seiner endlosen<br />
Befragungen ein, Projektionen eines<br />
Wissens, die sich schichtenweise über<br />
diesen Fremdling legen werden, weil<br />
niemand mehr an eine 'Schuldlosigkeit'<br />
des Gastes glaubt: es ist das, was man die<br />
polizeiliche Erzählung nennen kann."<br />
Hans-Dieter Bahr, in diesem Hifl S. 28<br />
Es bedurfte nicht erst der gegenwärtigen<br />
politischen Kampagne gegen Asylsuchende<br />
in der Bundesrepubli, um aufdas prekäre<br />
Verhältnis von Gast und Masse aufinerksam<br />
zu machen, das gerade hierzulande<br />
herrscht. Wie immer, wenn die politische<br />
Klasse von inneren Problemen abzulenken<br />
suchte, denen der Ökonomie, des Politischen<br />
und Sozialen, wird auch diesmal gegen<br />
den Fremden mobil gemacht; wer also<br />
in den Verdacht gerät, Gastfreundschaft<br />
beanspruchen zu wollen, ist potentiell<br />
Staatsfeind: Objekt, an dem sich die politische<br />
Formierung im Innern vollziehen<br />
kann.<br />
Das vorliegende Heft thematisiert die<br />
Frage nach dem Gast wohl nicht auf solch<br />
unmittelbar politischer Ebene - wie überhaupt<br />
~in radikaler Begriff des Politischen<br />
neu erst ausgearbeitet werden muß, soll er<br />
sich nicht in den Strategemen der herrschenden<br />
Parteien verfangen; aber dieses<br />
Heft versucht, einen möglichen Ort des<br />
Gastes zu bedenken, an dem dieser nicht<br />
entweder als Fremder verfolgt oder aber als<br />
Rückständiger missioniert würde. Denn<br />
auch hier ist Missionierung nur die andere<br />
Seite der Verfolgung: so offen~>ichtlich das<br />
Kalkül der politischen Rechten ist, wenn sie<br />
den Gast, der um Asyl nachsucht, als Tod<br />
der Kultur, der Zivilisation, des Sozialen<br />
verfemt und verfremdet, so problematisch<br />
ist andererseits vielfach das Engagement<br />
einer bestimmten Spielart der Linken, die<br />
den Ort des Fremden allzu genau festgelegt<br />
wissen will. Sieht man genau, zieht sich der<br />
Eifer einer Missionierung, einer Angleichung<br />
an die Masse, einer Vereinnahmung<br />
ins Bekannte auch durch oppositionelle<br />
Haltungen: durch literarische Unternehmungen<br />
etwa, die dann in Wallraffs "ich<br />
(Ali)" zu kulturindustriellen Ereignissen<br />
werden können. Stets tritt auch hier der<br />
Gast in einen Bekenntniszwang ein, dessen<br />
polizeiliche Ausprägung eben nur die eine<br />
Variante ist.<br />
In diesem Sinn entziffert Fnedhelm Lüvenichs<br />
Lektüre der Konfrontation Robinsons<br />
mit Freitag die Urgeschichte bürgerlichen<br />
Selbstbewußtseins als Doppelung von Unterwerfung<br />
und Mission: indem er diese<br />
Urgeschichte in Hegeischen Kategorien<br />
erzählt, zeigt Lüvenich, daß in einem sehr<br />
präzisen Sinn das gedankliche Universum<br />
der "Phänomenologie des Geistes" immer<br />
unser Universum geblieben ist. Hans-Dtder<br />
Bahrs Text "Xenia", der in Vorbereitung einer<br />
Ausstellung entstanden ist, die in einiger<br />
Zeit zu sehen sein wird, versucht, gegen<br />
diesen Bann, eine Phänomenologie des Gastes,<br />
die in eine Ethik des Anderen einleiten<br />
könnte: Bahr skizziert sie als eine "Raumzeit<br />
des Entgegenkommens", die von der<br />
LogikderTrennungen und der Vereinnahmungen<br />
nicht verortet werden kann. Vzlem<br />
Flusser beschreibt, ebenso die großen Einheiten<br />
vervielfältigend, den Mittelmeerraum<br />
als einen multiplen Raum, der sich,<br />
neu befragt, als voll von porösen Orten eines<br />
solchen Entgegenkommens erweisen<br />
könnte. Und Hetrmch Kupffir, solche Überlegungen<br />
vom Ort vollendeter Austauschbarkeil<br />
gleichsam paraphrasierend, erinnert<br />
an das Nicht-Kommunizierbare im<br />
"Innern" der herrschenden Kultur.<br />
Sozialdemokratie<br />
Vom Strategem der politischen Klasse war<br />
zu Beginn die Rede, das die ökonomischen<br />
und sozialen Krisen durch die Produktion<br />
des Fremden zu entschärfen sucht. Gehen<br />
solche Versuche auch zunächst von den gegenwärtigen<br />
Regierungsparteien aus, so<br />
soll nicht vergessen werden, daß es eine sozialdemokratische<br />
Landesregierung, die<br />
<strong>Hamburg</strong>er, war, die in den letzten Wochen<br />
eine erneute Probe ihrer innenpolitischen<br />
Vorstellungen gab und den präventiven<br />
Polizeikessel gegen Demonstranten<br />
mit allem Zynismus in das taktische Arsenal<br />
des staatlichen Gewaltapparats einfuhrte.<br />
Hat der Innenausschuß der <strong>Hamburg</strong>er<br />
Bürgerschaft mit den Stimmen von SPD<br />
und CDU auch mittlerweile diese Polizeiaktion<br />
als "unverhältnismäßig" und<br />
"rechtswidrig" eingestuft, so wollte sie andererseits<br />
solche Kessel fiir die Zukunft<br />
nicht prinzipiell ausschließen. Die Vertreter<br />
der Grün-Alternativen Liste (GAL) hatten<br />
wohl recht, wenn sie sich dem abschließenden<br />
Bericht dieses Ausschusses nicht anschließen<br />
wollten. Christian Amdt gab vor<br />
dem Ausschuß einen Augenzeugenbericht<br />
aus dem "<strong>Hamburg</strong>er Kessel", den wir den<br />
Protokollen entnehmen und an den Anfang<br />
des Heftes stellen.<br />
Ham-Joach1in Lenger<br />
2
Impressum<br />
<strong>Spur</strong>en - Zeitschrift fur Kunst und Gesellschaft,<br />
Lerchenfeld 2, 2 Harnburg 76<br />
Zeitschrift des <strong>Spur</strong>en e.V.<br />
in Zusammenarbeit mit der <strong>Hochschule</strong><br />
fur <strong>bildende</strong> Künste Harnburg<br />
Herausgebenn<br />
Karola Bloch<br />
Redakt/on<br />
Hans-Joachim Lenger (verantwortlich),<br />
Jan Robert Bloch, Jochen Hiltmann,<br />
Stephan Lohr, Ursula Pasero<br />
Redaktionsassistenz<br />
Susanne Dudda<br />
Gestaltung und Druck<br />
Jutta Hercher, Bernd Konrad<br />
Satz<br />
Gunda othhorn<br />
Autoren und Mztarbdter dieses Hifies<br />
Hans-Dieter Bahr, Gerhard Bolte,<br />
Vilem Flusser, Martin Hielscher,<br />
Susanne Klippel,Joachim Koch,<br />
Friedrich Kröhnke, Dietrich Kuhlbrodt,<br />
Heinrich Kupffer, Friedhelm Lövenich,<br />
Torsten Meiffert, OlafMeixner,<br />
Arno Münster, Eberhard Sens,<br />
Joachim Strelis, WouteJ1je Pieterse<br />
Die Redaktion lädt zur Mitarbeit ein. Manuskripte<br />
bitte in doppelter Ausfertigung mit Rückporto.<br />
Die Mitarbeit muß bis auf weiteres ohne<br />
Honorar erfolgen. Copyright by the authors.<br />
Nachdruck nurmit Genehmigungund Quellenangabe.<br />
Inhalt<br />
Beobachtungen und Anfragen<br />
Christian Arndt über den "<strong>Hamburg</strong>er Polizeikessel" (S. 4)1<br />
Friedrich Kröhnke: Patrick (S. 8) I<br />
Susanne Klippe! : Foreign Affairs (S. 11) I<br />
Silke Crossmann<br />
Orte. Gesichter<br />
Fotosene<br />
Vilem Flusser<br />
Mittel und Meere<br />
Etn Vortrag. s. 12<br />
Friedhelm Lövenich<br />
Der Herr der Insel<br />
Robtnson, Hege! und das bürgerliche Ich. S. 17<br />
.. Heinrich Kupffer<br />
Asthetik und Massenkultur<br />
Über Versuche, dte Austauschbarkezt des modernen Menschen zu verhtndem. S. 22<br />
Hans-Dietrich Bahr<br />
Xenia<br />
oder der ephemere Auftnthalt. S. 2 7<br />
Eberhard Sens<br />
Von Vergegenwärtigung<br />
Stichworte zur Umweltdiskussion. S. 49<br />
J oachim Koch<br />
Die Poetik des Duftes<br />
s. 52<br />
Dietrich Kuhlbrodt<br />
Sorgen der Kulturherrschaft<br />
Etn Streifiug durch befreite Zonen. S. 55<br />
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Magazin<br />
Wouter* Pieterse über QWERTZUIOPÜ (S. 61 ) I Martin Hielscher über den schönen Antonio<br />
(S. 62) I Joachim Strelis über Algarabia (S. 63) I SusanneDudda überden verhörten Held~n (S. 64) I<br />
OlafMeixner über Vergegenwärtigung zur Unzeit (S. 65) I Gerhard Bolte über Vermittlung als<br />
Gott (S. 6 7) I Torsten Meiffert über Gregory Bateson (S. 68) I Leserinbrief (S. 70) I Bücher von<br />
.<strong>Spur</strong>en-Autoren" und "In eigener Sache" (S. 71)<br />
"<strong>Spur</strong>en"-AzifSatz im Mitteltetl:<br />
Arno Münster<br />
Die "Differänz" und die "<strong>Spur</strong>"<br />
Jacques Demdas Dekonstruktion der abendkindischen Metaphysik.<br />
3
4<br />
Foto: Till Schlünz
Christian Arndt<br />
So etwas wie Panik<br />
Augenzeugenbenchi vom "<strong>Hamburg</strong>er Kessel"<br />
Am 8.Juni kesselte die <strong>Hamburg</strong>er Polizei mehrere<br />
hundert Demonstranten vor ihrem Abmarsch<br />
am Heiligengeistfeld ein und hielt sie bis<br />
zu fiinfZehn Stunden an Ort und Stelle fest. Die<br />
Aktion und ihre Umstände erinnern an Praktiken<br />
lateinamerikanischer Militärdiktaturen: die<br />
folgenden Auszüge aus dem Augenzeugenbericht<br />
Christian Arndts belegen den Stand der Eskalation<br />
polizeilicher Gewalt. Der Text stammt<br />
aus einem Protokoll des Innenausschusses der<br />
<strong>Hamburg</strong>er Bürgerschaft, der sich mit den Vorfällen<br />
in mehreren Sitzungen beschäftigte. Resultat<br />
der Untersuchung: die Polizeiaktion sei<br />
"unverhältnismäßig" und "rechtswidrig" gewesen.<br />
Doch um solche Polizeikessel fiir die Zukunft<br />
nicht prinzipiell auszuschließen: "Die Einbeziehung<br />
einer polizeilichen Einschließung in<br />
den polizeilichen Handlungskatalog war aus dieser<br />
Sicht vertretbar." Der Bericht wurde von SPD<br />
und CDU verabschiedet; die Grün-Alternative<br />
Liste (GAL) der <strong>Hamburg</strong>er Bürgerschaft hatte<br />
sich unter Protest aus der Arbeit des Ausschusses<br />
zurückgezogen. Red<br />
Ich war mit einem Buskonvoi aus dem<br />
kirchlichen Bereich der solidarischen Kirche<br />
in Richtung Brokdorf gefahren, und wir<br />
wurden zwischen Elmshorn und Itzehoe<br />
von einer Polizeisperre aufgehalten. Erst<br />
nach Stunden des Wartens konnten wir<br />
weiterfahren nach W ewelsfleth und gingen<br />
von dort aus zu Fuß zum Kernkraftwerk.<br />
Uns kamen schon Demonstranten entgegen,<br />
die sagten, daß die Kundgebung aufgelöst<br />
sei. Mit Entsetzen berichteten sie über<br />
ihreErfahrungen, die sie gerade auch mit<br />
dem Kampfgaseinsatz gemacht hatten. Für<br />
uns war es deutlich, daß wir in unserem<br />
Recht aufDemonstration, aufMeinungsäußerung<br />
in einem erheblichen Maße behindert<br />
worden sind. Es war dann die Information,<br />
daß wir uns am Sonntag um 12.00 Uhr<br />
auf dem Heiligengeistfeld treffen, um miteinander<br />
unsere Erfahrungen auszutauschen,<br />
zu erzählen, zu hören, was woanders<br />
auch gelaufen war. Während wir in Wewelsfleth<br />
waren, kamen dann die Nachrichten,<br />
daß der <strong>Hamburg</strong>er Zug auch aufgehalten<br />
worden war und daß es dort zu erheblichen<br />
Auseinandersetzungen gekommen<br />
sei.<br />
Ich bin dann am Sonntagmorgen kurz<br />
vor 12.00 Uhr von zu Hause losgegangen,<br />
ein Fußweg von 5 bis 7 Minuten. Ich wollte<br />
mich mit Freunden, Bekannten treffen. Ich<br />
wollte wissen, was alles geschehen ist, weil<br />
ich ziemlich sicher war, daß die Presse die<br />
Berichterstattungja anders darstellt, als von<br />
vielen erlebt worden ist. Ich wollte mich<br />
selbst sachkundig machen. Ich konnte<br />
selbst nur eine halbe Stunde bis Dreiviertelstunde<br />
dort bleiben, weil wir um 14.00 Uhr<br />
ein Gemeindefest hatten, an dessen Vorbereitung<br />
ich noch weiterhin teilnehmen<br />
mußte.<br />
Ich kam über das Heiligengeistfeld, bin<br />
gegangen zwischen dem Hallenbad Budapester<br />
Straße und dem Post-Hochhaus.<br />
Als ich dann auf das Heiligengeistfeld<br />
kam, sah ich von weitem schon eine Gruppe<br />
stehen und nahm dann auch wahr, was<br />
ich dann wieder vollkommen vergessen<br />
hatte, daß auf dem Halstenglacis Polizeieinheiten<br />
in Wagen fuhren, das konnte<br />
ich zwischen den Bäumen sehen. Aber das<br />
war fiir mich nicht weiter von Belang. Ich<br />
bin dann dahin gegangen. Ich besuchte Bekannte.<br />
In dem Augenblick kam der Schrei<br />
"Polizei", und ich guckte hoch und sah dann<br />
von seiten der Halstenglacis Polizeieinheiten<br />
lärmmachend auf uns zulaufen.<br />
Es entstand fast wo etwas wie eine Panik.<br />
Wir versuchten noch, zu sagen: ruhig<br />
bleiben, wir hatten nichts getan, ganz ruhig<br />
sich zurückbewegen Richtung Feldstraße.<br />
Es entstand aber dann doch ein Gei
Foto: Till Schlünz<br />
Wir hörten dann, daß die Verhandlungen<br />
abgebrochen worden sein sollten und<br />
wir alle festgenommen werden sollten und<br />
die Personalien bekanntzugeben seien. Der<br />
Kessel wurde immer enger. Die Bitte an<br />
Beamte, die direkt vor mir standen, den<br />
Kessel nicht enger zu machen und die Bewegungsräume<br />
zu lassen, wurde nicht<br />
beantwortet. Ich konnte auch in diesen<br />
Uniformen und hinter den heruntergeklappten<br />
Visieren so keine Menschen<br />
wahrnehmen; es war keine menschliche<br />
Regung. Das war fur mich das Erschrekkende<br />
dabei. Es spiegelte sich mein Gesicht<br />
in den Visieren wieder oder an den Schildern.<br />
Es war dann so, daß ich mich da einmal<br />
hinknien wollte. Mit meinem Kreislauf<br />
war es nicht so gut; ich habe ziemlich niedrigen<br />
Blutdruck, und wenn ich mich hinkniete,<br />
kniete ich direkt vor Polizeistiefeln.<br />
Ich bekam also sofort wieder Angst, wenn<br />
jetzt etwas passiert, nicht daß ich dann -<br />
wie es anderen auch ging- den Gewalttätigkeiten<br />
ausgesetzt bin.<br />
Es kam dann ein junger Mann mit einem<br />
Kinderwagen, wurde von Beamten<br />
durch die äußeren Polizeiketten zur Inneren<br />
gefuhrt, dort wurde dann die Mutter<br />
ausgerufen, weil das Kind gestillt werden<br />
mußte. Die Mutter war nicht zu finden. Ich<br />
hörte nur die Bemerkung: So ein Gesocks<br />
soll doch keine Kinder in die Welt setzen.<br />
Neben mir standen Frauen, die ich bewundert<br />
habe, daß sie in dieser Situation so<br />
ruhig bleiben konnten. Ich weiß nicht, wie<br />
es mir als Frau gegangen wäre. Die Bitte,<br />
auf die Toilette zu gehen, wurde weiterhin<br />
nicht aufgenommen. Ich bekam dann mit,<br />
daßzwischen 18.00 und 18.30 dieMöglichkeit<br />
fur Frauen bestand, begleitet auf die<br />
Toilette zu gehen. Eine Frau, die zurückkam,<br />
erzählte, daß sie dort körpervisitiert<br />
wurde. Sie war vollkommen entsetzt und<br />
eine sagte: Also, das lassen wir nicht über<br />
uns ergehen; das können wir nicht mehr ertragen.<br />
Sie pinkelten dann auch in den<br />
Kreis, so daß zwischen uns Kot und Urin an<br />
vielen Stellen war.<br />
Es gab nichts zu essen, nichts zu trinken;<br />
es gelang dann einigen wie dem Abgeordneten<br />
Herrmann und anderen, zumindest<br />
etwas zu trinken und zu essen herüberzureichen.<br />
Mein Kollege Horst Bloe<br />
kam durch die äußeren Ketten, und er hatte<br />
auch die Genehmigung, nachdem er mich<br />
gesehen hatte, mit mir zu sprechen. Weil er<br />
kein Geld mithatte, gab ich ihm Geld, so<br />
daß er zu essen und zu trinken einkaufen<br />
konnte, was schon sehr schwierig war. Das<br />
wurde dann herumgereicht; wir teilten uns<br />
das Brot und das, was da war. Was manchmal<br />
- das sagten mir Außenstehende - so<br />
als Fröhlichkeit hier und dort zu sehen war,<br />
war mehr eine Fröhlichkeit des Entsetzens<br />
und der psychischen Niedergeschlagenheit.<br />
Es war fur mich ganz wichtig, das noch<br />
einigermaßen verkraften zu können, (Herr<br />
Arndt hält in seinem Vortrag inne) - entschuldigen<br />
Sie bitte-daß ich noch Freunde<br />
und Bekannte draußen sah. So gegen 20.00<br />
Uhr/ 20.15Uhr wurde ich dann von Beamten<br />
des Bundesgrenzschutz rausgefuhrt; in<br />
mir war auch jetzt der dringende Wunsch,<br />
rausgefuhrt zu werden, dies nicht mehr erleben<br />
zu müssen. Ich sah vorher die anderen,<br />
die rausgefuhrt wurden, zum Teil wurden<br />
ihnen die Hände auf den Rücken gedreht,<br />
sie wurden getreten. Ich erwartete<br />
Ähnliches, nur hatte ich davor im Augenblick<br />
nicht mehr solche Apgst, daß ich nicht<br />
diesen Wunsch hatte, rauszukommen.<br />
Ich wurde rausgefuhrt. Da wurde ich<br />
von einem Reporter angesprochen, der<br />
fragte die BGS-Beamten, ob sie Pastor<br />
Arndt fotografieren dürfen.<br />
Da wurde dann bei den Beamten deutlich,<br />
die mich mitgenommen hatten, daß<br />
ich Pastor bin. Und ich wurde vollkommen<br />
anders behandelt als die, die um mich herumstanden.<br />
Neben mir wurde ein junger<br />
6
-...,.) -<br />
.<br />
~~<br />
6/7 b<br />
Mann, der jünger ist als ich, ohne daß ich einen<br />
Grund, einen Anlaß sah, plötzlich mit<br />
diesen Plastikfesseln gefesselt. Zwei Schülerinnen,<br />
die am Montag mündliches Abitur<br />
haben sollten, mußten ihre Strümpfe,<br />
ihre Schuhe ausziehen und wurden abgetastet;<br />
das ist also bei mir nicht geschehen. Ich<br />
wurde nur gefragt, was ich in meinen Taschen<br />
hatte. Ich hatte auch eine Windjacke<br />
mit. Ich habe es aufgezählt. Ich hatte also<br />
auch ein Taschenmesser und Regenschirm;<br />
das wurde mir dann abgenommen.<br />
Meine Personalien wurden aufgenommen.<br />
Ich wurde nicht wie andere mit einer Polaroidkamera<br />
fotografiert. Ich mußte mich<br />
auch nicht an die Wagenwand hinstellen,<br />
um dann besser abgetastet zu werden.<br />
Ich gehe davon aus, daß dieses wohl<br />
aufgrund meines Berufes geschehen ist.<br />
Für mich war es unverständlich, daß<br />
nicht zumindest in dieser entsetzlichen Situation<br />
auch andere so behandelt werden,<br />
wie ich behandelt wurde.<br />
Nach mehrmaligen Versuchen, mich<br />
mit Frau Reumann zusammen in eine Polizeitransportwagen<br />
unterzubringen, wurde<br />
ich dann getrennt. Ich wurde in einen Wagen<br />
gesetzt; ich mußte dann noch eine ganze<br />
Zeit warten. Es wurden dann noch drei<br />
Frauen hereingebracht, sie waren zu funft,<br />
eben auch diese Schülerinnen. Und nach<br />
einiger Zeit des Wartens wurden wir in einer<br />
erschreckenden Alarmfahrt nach Alsterdorf<br />
gebracht. Es ging bei Rot über die<br />
Kreuzung in einem Abstand vom Vorderwagen<br />
vielleicht 5 bis Sm. Wir wurden hinund<br />
hergeschaukelt Ich hatte ständig<br />
Angst, daß jetzt rechts oder links ein Wagen<br />
kommt, der bei grün über die Ampel<br />
fährt. Was passiert dann?<br />
In Alsterdorf angekommen, mußten<br />
wir im Wagen warten und auf unsere Fragen,<br />
was mit uns passiert, hieß es : Ja, Sie<br />
werden in die Sporthalle der Polizeikaserne<br />
gebracht und dann werden Sie aber auch<br />
entlassen. Dort werden dann Ihre Personalien<br />
aufgenommen.<br />
Als es dann dunkel wurde zwischen<br />
22.00 Uhr und 22.30 Uhr, kam ich dann<br />
dran und wurde in die Sporthalle gebracht.<br />
..<br />
ßu.~~P- "1~<br />
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Fv ~ ':3 t1tt,~y~<br />
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~"~1 ~~ . v .... ~ t..~ ... /)1'.{__<br />
·o...Zt ;,i-f~r -<br />
Ich möchte jetzt von Äußerungen von<br />
Beamten etwas sagen :<br />
Beamte hatten mitbekommen, daß ich<br />
Pastor bin. Einer sagte, fragte entsetzt: Verstößt<br />
das nicht gegen die Menschenrechte,<br />
wenn Menschen nicht einmal auf die Toilette<br />
gehen können, sondern ihre Notdurft<br />
da in der Öffentlichkeit vor den Augen aller<br />
verrichten müssen?<br />
Andere sagten mir, daß sie einfach nicht<br />
begreifen, was hier vorgefallen ist.<br />
Einer berichtete, daß über Polizeifunk<br />
durchgekommen sein soll, daß eine bewaffnete<br />
Einheit durch die <strong>Hamburg</strong>er Innenstadt<br />
zieht. Als ich fragte, wieso das noch<br />
betont wird, daß sie bewaffuet sind : Die<br />
sind doch ständig bewaffuet, das würden sie<br />
doch wissen, weil ich annahm, daß das eine<br />
Polizeieinheit ist. Aber die sagten :Nein, das<br />
sollen Ihre Leute sein.<br />
~ tVh~~<br />
Dann wurde auch gemunkelt, daß sie<br />
Maschinenpistolen dabei hätten und mir<br />
sagten dann andere, die es nicht verstehen<br />
konnten, was mit uns geschah, daß sie zumindest<br />
erwartet hätten, daß festgestellt<br />
wird :diese Kundgebung ist nicht angemeldet<br />
und sie wird aufgelöst. Oder auch wie<br />
einige sagten, das hätten sie schon häufiger<br />
erlebt, daß zumindest Verhandlungen gefuhrt<br />
würden über einen Zeitraum der<br />
Kundgebung und daß abgesprochen wird,<br />
was dann geschieht. Nichts von dem ist geschehen.<br />
Ein anderer sagte mir, daß er einfach<br />
nicht verstehen kann, wie wir in diesem<br />
Kessel so ruhig geblieben sind. Er hätte sich<br />
in dieser Situation ganz sicherlich anders<br />
verhalten und er wäre nicht so zurechtgekommen,<br />
wie wir zurechtgekommen sind.<br />
7
Friedrich Kröhnke<br />
Patrick<br />
f/orläiifige Biographie<br />
Patrick ist ein kleiner Junge in Deutschland.<br />
Klein meint: er ist von geringer<br />
Körpergröße, sieht mit dreizehn aus, als<br />
wäre er zehn. Ist der Kleinste in der Klasse<br />
und Klassensprecher, spricht wie ein<br />
Erwachsener und doch wieder wie nur<br />
ein Kind redet: altklug, ernst, pathetisch.<br />
Seine ersten Lebensjahre hat Patrick<br />
mit dem Blick auf den Jenzig erlebt. Der<br />
Jenzig ist ein kahler, fur die deutschen Mittelgebirge<br />
sonderbar schroffer Berg über<br />
Patricks GeburtsstadtJena hat einen Schiller-Garten<br />
und ein Romantiker-Haus aufzuweisen,<br />
und da waren Goethe und Haekkel<br />
und Becher und Luther hat im Bären<br />
übernachtet. Auf denJenzig hat Karl Liebknecht<br />
mitten im Krieg widerborstige Jungen<br />
gefuhrt und sie gegen die Regierung<br />
aufgehetzt. Ein übermäßig kleiner Junge<br />
namens Patrick steht in der Sommerhizte<br />
da oben und pißt hinter das Liebknecht<br />
DenkmaL<br />
Patricks Eltern sind jung. Sie hören Unbotmäßiges<br />
(Pannach singt Raimön) und<br />
reden Unbotmäßiges und tun es auch. Erklärungen<br />
einer "Friedensbewegung" werden<br />
bei ihnen abgefaßt, die ein Pfarrer widerwillig<br />
hektografiert. Es gibt eine Haussuchung,<br />
in d.eren VerlaufMänner in Mänteln<br />
viel Unordnung bereiten, im Arbeitszimmer<br />
des Vaters, im Atelier der Mutter,<br />
zwischen Patricks Schulsachen und dem<br />
Spielzeug seines kleinen Bruders.<br />
In der Schule hört Patrick, was seine<br />
Mutter mittags beim Geschirrspülen als<br />
Lügen bezeichnet oder als Scheiße. Patrick<br />
trocknet ab. "Laß den Rest auf dem Spültisch<br />
stehen, wird von selber trocken." Am<br />
Nachmittag ist Patrick in der Wohnung allein.<br />
Er räumt das getrocknete Geschirr in<br />
den Schrank und überdenkt die "Widersprüche".<br />
Er ist allzu klein.<br />
Ich kannte Patrick in diesen Jahren<br />
noch nicht. Er ist auf einem Foto zu sehen,<br />
zehn jährig, mickrig, zwischen den Bäumen<br />
am noch offenen Grab des Robert Havemann.Jemand<br />
zeigte mir das Foto, mir fiel<br />
das langhaarige Kind auf. ich kannte seinen<br />
Namen und seine Eltern damals noch nicht.<br />
Diese Anrufe aus dem Osten der Stadt<br />
in den Westen : der und der, die und die<br />
8<br />
kommen morgen oder kommen heute<br />
abend noch am Bahnhof Friedrichstraße<br />
rüber. Sind dann bei euch, sind dann da, bezieht<br />
ihnen Decken und Kopfkissen furs erste.<br />
Sie kommen dann nur mit einem Koffer,<br />
"der Umzug" kommt hinterher. Aber die<br />
Kinder sind bei "diesen Szenen" am Bahnhof<br />
Friedrichstraße dabei; vielleicht sind<br />
die Hälfte von denen, die der Staat ausspuckt,<br />
Kinder.<br />
Patrick. Sein kleiner Bruder Thorsten.<br />
Wohin mit den paar Willkommensgeschenken,<br />
die man ihnen an den Grenzübergang<br />
gebracht hat, wo sie doch schon<br />
Gepäck haben in den unter Handschuhen<br />
versteckten Händen? Ich stehe dabei, eigentlich<br />
nicht zugehörig, ich bin nicht aus<br />
Jena. Es muß auch solche geben, sage ich<br />
ironisch. Und du bist also der Patrick? Ich<br />
kenn dich von einem Foto.<br />
Wohnungsuchen. Arbeitsuchen. Schule<br />
suchen, Kindergarten. Lange nichts von<br />
Patrick gehört, wie gehts eurem Sohn eigentlich.<br />
Kasap ve bakkaliesy. Özmür Reisen<br />
Köln-Ankara, Köln-Istanbul. Yasasin-Kahrolsun,<br />
pathetische Plakate, die die Hälfte<br />
der Vorübergehenden nicht lesen können,<br />
kleben an den Wänden, werden von kahlrasierten<br />
Kindern im Spiel heruntergerissen.<br />
Patrick geht mit seinem kleinen Bruder an<br />
der Hand Fladenbrot kaufen. Er wohnt in<br />
der Keupstraße in Köln-Mülheim, ich wohne<br />
auf der a~deren Rheinseite, habe Patricks<br />
Eltern geholfen, die Wohnung zu finden,<br />
und komme manchmal herüber. Auf<br />
Patrick freu ich mich immer.<br />
Patrick räumt wie früher am Nachmittag<br />
das getrocknete Geschirr in den<br />
Schrank. Ich bin zu Besuch, es trifft sich gut,<br />
daß die Eltern nicht da sind, er will mir was<br />
zeigen, fuhrt mich in das Zimmer, das er mit<br />
seinem kleinen Bruder teilt. Patrick zieht<br />
sich um, trägtjetzt nur eineJogging-Hose<br />
und ein Unterhemd, zeigt seine rührend<br />
dünnen Ärmchen. Sonderbare Kampfstel<br />
Jungen nimmt er nun mir gegenüber ein,<br />
plötzlich wechselnde, gewandt mit den<br />
Händen agierend, einsilbige Laute ausstoßend.<br />
Patrick ist Kampfsportler. Er zeigt<br />
mir auch, wie er vom Hochbett mit seinen<br />
bloßen Füßen wie eine Katze zwischen<br />
unübersichtlich aufgestellte Ziegelsteine<br />
springt. Ich stehe an die Tür gelehnt und sage:<br />
"Im Zweifelsfall müßt ich ja Angst vor<br />
dir haben, Patrickl . .. "<br />
Bei meinem nächsten Besuch trete ich<br />
versehentlich auf seinen Gebetsteppich,<br />
Patrick blickt mich zornig an, bleibt aber ruhig<br />
und spricht wie ein Weiser mit mir :<br />
"Das ist eigentlich nicht so gut, daß du diese<br />
Zimmerecke überhaupt betrittst. Ich halte<br />
sie heilig." Ein Bild des Goldenen Horns mit<br />
der Hagia Sofia ist mit Stecknadeln an der<br />
Wand befestigt. Der Koran, Goldschnitt,<br />
geborgt.<br />
Dieses graue rechtsrheinische Köln!<br />
Fleischereien, Hammel und Rind. Feiten &<br />
Guilleaume, Drähte und Kabel. Hundescheiße<br />
und Bierlachen. Rentnerinnen, die<br />
sich aus dem Fenster lehnen und über fußballspielende<br />
"Pänz" zetern. Sogenannte<br />
eingetragene Vereine, in deren Räumen<br />
türkische Männer alkohollos, aber in Tabakwolken<br />
gehüllt Karten spielen. Am<br />
Wiener Platz fahren, Gottseidank, die Bahnen<br />
ab, die über die Zoobrücke dem Stadtzentrum<br />
zustreben. Aber Patrick steigt in<br />
diese Bahnen fast nie, ist "im Veedel" zuhause.<br />
Höchstens daß er nach Nippes ins<br />
"Islamische Kulturzentrum" fährt. Er darf<br />
dort als unbeschnittener Gast beim Gebet<br />
dabeisitzen. Gewerkschaftsartikel informieren<br />
darüber, daß diese "Kulturzentren"<br />
der Sitz :Grauer Wölfe" sind. Seine Aufenthalte<br />
dort und im Kung-Fu-Center in der<br />
Ehrenstraße, wo er an Kursen in Kampfsportarten<br />
teilnimmt, und natürlich die<br />
(lustlos besuchte) Schule sind das einzige,<br />
was ihn aus der Keupstraße zu Köln-Mülheim<br />
herausfuhrt. In der Keupstraße wohnt<br />
ja auch Halil, sein bester Freund, auf den ich<br />
mitunter eifersüchtig bin.<br />
Äußerungen des Dreizehnjährigen :<br />
"Bei meinen Freunden gibt es noch ein Familienleben<br />
gibt es da, und unterdrückt<br />
werden wir Muslime hier wie meine Eltern<br />
damals in Jena!" "Warum ich meine Kusine<br />
gebeten habe, in meiner Anwesenheit ein<br />
Kopftuch zu tragen? Es ist besser, sie gewöhnt<br />
sich schon früh daran. Das kommt ja.<br />
Und findest du es vielleicht gut, wenn sie je-
Foto: Friedrich Seidenstücker<br />
der begehrlich anschauen kann?" "Zur<br />
Friedensbewegung habe ich auch meine<br />
Meinung : Man sollte sich nicht bekriegen,<br />
jedenfalls die Rechtgläubigen nicht untereinander.<br />
Das schwächt uns ja vor der Zeit."<br />
Ich bin aus dem Schlaf geschreckt, aufgestanden<br />
und stehe an meinem Fenster<br />
über der nächtlichen Aachener Straße,<br />
blicke auf die Leuchtschrift des "Millowitsch~Theaters".<br />
Habe Wirres von Wölfe<br />
geträumt und von Mädchen in Kopftüchern.<br />
Ach, Graue Wölfe, die kommen den<br />
Behausungen näher, wenn Winter ist! Ach,<br />
Havemann, steig ausm Grab, scheuch sie<br />
weg! Und gib dem Patrick einen Klaps,<br />
morgen früh, jetzt schläft er ja kindlich und<br />
tief drüben auf der andern Seite des Rheins.<br />
Stünd ich neben seinem Bett, ich sähe ihn<br />
wohl begehrlich an wie früher schon oft.<br />
Hackt nicht in manchen Ländern die Justiz<br />
Körperteile ab, die gefehlt und gesündigt:<br />
Hände, Schwänze, reißt die Augen aus?<br />
Geschickt sind Patricks kleine Hände, bloße<br />
Füße, Muskelärmchen, er ist schon ein<br />
rechter Kung-Fu-Fighter. "Im Zweifelsfall<br />
müßt ich ja Angst vor dir haben."<br />
9
10<br />
Foto: Susanne Klippe!
Susanne Klippel<br />
Foreign Affairs<br />
Der Taxifahrer. Ich bin nicht sicher, ob<br />
er mich verstanden hat. I want to go to<br />
the government, to the prime minister<br />
office, überschrei ich seine laute Musik.<br />
No problem. Ganz Souveränität, wie<br />
schon in undurchschaubaren Kreisverkehren,<br />
weist er auf das eiserne Tor. Botanic<br />
gardens and zoo, lese ich, die Buchstaben<br />
geschmiedet, jeder einen Meter<br />
groß.<br />
Go up so, sagt der Fahrer und wendet.<br />
Ich wandle unter Königspalmen. Die<br />
Wipfel ganz hoch oben, stehen sie rechts<br />
und links des Weges, 8 aufjeder Seite. Hier<br />
sind alle Bäume mit handgeschriebenen<br />
Schildern versehen, auf denen rot auf weiß<br />
ihr Name steht. Cinnamon, das heißt wohl<br />
Zimt.<br />
Ich sehe Schafe und Pfauen, sehe Käfige,<br />
von Schlingpflanzen überwuchert und<br />
leer. Ich sehe einen Käfig, in dem fiinfZoowärter<br />
stehen. Sie haben Schrubber in der<br />
Hand und Eimer mit Putzwasser und mit<br />
Futter.<br />
Ich sehe einen Affen, der, den Wärtern<br />
seinen roten Hintern zuwendend, durch<br />
die Käfigtür verschwindet und sich zu den<br />
Schafen gesellt, die, das tägliche Ritual offensichtlich<br />
gewöhnt, erst ein paar Schritte<br />
weit die F1ucht ergreifen um dann blökend<br />
stehen zu bleiben, den Affen in ihre Gesellschaft<br />
aufZunehmen. Ich sehe die Staatskarosse,<br />
geflaggt. Morgen wird Präsident<br />
Reagan dem Land einen Staatsbesuch bescheren.<br />
Ein flaches weißes Gebäude. Man<br />
schickt mich in den Keller. Ich finde einen<br />
Stuhl und sitze eine lange Zeit im Flur. Sehe<br />
Frauen und Männer hinter Türen verschwinden.<br />
Die Männer in dunkelblauen<br />
Anzügen, die Frauen in Faltenröcken-festlich.<br />
Hinter jeder Tür ein Ministerium. Ich<br />
sitze vor dem Ministry of Foreign A.ffairs.<br />
Weil ich so lange warten muß, studiere ich<br />
die Tür des Ministry for Foreign A.ffairs. Eine<br />
graue Holztür. Niemand geht rein und<br />
niemand kommt raus. Das Schild über der<br />
Tür ist handgeschrieben und rot auf weiß<br />
wie die Schilder an den Bäumen. Über dem<br />
Schild kommen Kabel aus der Wand. Mindestens<br />
dreißig verschiedenfarbige Stränge.<br />
Sie sind völlig ineinander verknäult.Jedes<br />
einzelne Kabel ist unten in seine kupfernen<br />
Bestandteile aufgelöst. Ein Gestrüpp.<br />
Ein Etwas, fiir das es keinen Namen gibt,<br />
das meine Blicke anzieht und abstößt und<br />
anzieht und abstößt, weil es dafii.r keinen<br />
Namen gibt.<br />
Ein gefräßiger Regenwald-Schmarotzer<br />
an einer glatten weißen Wand. Ein<br />
Wirrkopf mit verwuschelten Haaren. Ein<br />
Pflänzchen aus Plastik und Kurzschluß,<br />
Stromschlag und Metall. Ein Dickicht, das<br />
es zu durchdringen gilt. Als ich lange genug<br />
gewartet habe, entdecke ich in seinem Innern<br />
ein Vogelnest<br />
Eine dicke Frau sitzt vor ihrer Hütte<br />
und fragt: the president, what is he more<br />
than me? More than you? gibt ihre Nachbarin<br />
die Frage zurück. Listen: he's got airplanes,<br />
he's got cars und he's got a lifeguard.<br />
And what you got? You got two children.<br />
Am nächsten Tag kommt der Präsident<br />
auf dem neuen F1ughafen an.<br />
Der Konvoi befährt die neue Straße. Sie<br />
ist ein Entwicklungshilfeprojekt aus den<br />
Vereinigten Staaten und gestern Nacht mit<br />
Ach und Krach fertig geworden. Sie fUhrt<br />
vom Flughafen zum Stadion, wo die Volksmassen<br />
warten.<br />
Da es nur eine wirkliche Staatskarosse<br />
gibt, fährt man den Präsidenten im Leichenwagen.<br />
Ein gut erhaltener amerikanischer<br />
Straßenkreuzer. Er gehört dem offensichtlich<br />
wohlhabenden Beerdigungsunternehmer<br />
und unterscheidet sich kaum<br />
von einer Staatskarosse. Lediglich die beiden<br />
Fähnchen vorne rechts und links auf<br />
den Kotflügeln, die die Aufschrift Funeral<br />
tragen, sind entfernt und durch amerikanische<br />
Fähnchen ersetzt worden.<br />
Im Stadion, wo tausend Schulkinder<br />
mit Fähnchen in der Hand seit Stunden<br />
warten, wo hundert Händler Erfrischungen<br />
und Mangos, selbstgebackene Kuchen und<br />
Erdnüsse verkaufen, sehe ich den alten<br />
schwarzen Mann. Er ist fast zwei Meter<br />
groß. Auf Krücken gestützt, bahnt er sich<br />
einen Weg durch die Menge. Weil er keine<br />
Hand frei hat, trägt er einen Hut aus P:::ppe.<br />
Der Hut ist bunt bemalt. Auf seiner Spitze<br />
ist ein Schild befestigt. Darauf steht in bunten<br />
Buchstaben: welcome mister president.<br />
Jedes seiner Worte war mit begeistertem<br />
Beifall quittiert worden.<br />
Jetzt kommt der bejubelte Präsident<br />
zum Schluß seiner Rede.<br />
Man hat mir, sagt der Präsident, eine<br />
Geschichte erzählt. Diese Geschichte hat<br />
sich hier in diesem Land zugetragen. Es ist<br />
schon eine Weile her, vielleicht vierzigJahre,<br />
die älteren werden sich vielleicht noch<br />
daran erinern, da hat es hier in diesem Hafen<br />
ein Wettschwimmen gegeben. Ein kleiner<br />
Junge, der als letzter auf das Ziel zuschwamm,<br />
war plötzlich von Haifischen<br />
umzingelt. Die Aufregung war groß. Alle,<br />
die diese Szene beobachteten, die älteren<br />
werden sich noch daran erinnern, waren<br />
starr vor Schreck. Aber glücklicherweise<br />
gelang es einigen beherzten Männern, den<br />
kleinen Jungen zu retten, ihn an Land zu<br />
ziehen, die Haifische zu vertreiben.<br />
So wie die älteren von euch damals voller<br />
Sorge auf das Geschehen im Hafen geschaut<br />
haben, so haben wir im weißen Haus<br />
jahrelang auf dieses Land geschaut. Ja, ihr<br />
alle seid dieser Schuljunge gewesen, und<br />
danken wir Gott, daß es gelungen ist, die<br />
Gefahr von euch abzuwenden.<br />
Der erwartete Beifall bleibt aus. Ein<br />
paar Sekunden ist es völlig ruhig. Etwas wie<br />
ungläubiges Staunen liegt in der Luft.<br />
11
Der Gast und die Masse<br />
Viiern Flusser<br />
Mittel und Meere<br />
Ein Vortrag<br />
Unser Treffen soll das Mittelmeer, und<br />
vor allem die darin verlaufende Achse<br />
Frankreich/Süditalien bedenken. Sie<br />
haben mich dazu eingeladen, wohl eben<br />
weil Sie von mir erwarten, einen etwas<br />
distanzierten Blick auf unser Thema zu<br />
werfen. Tatsächlich bin ich weder Franzose<br />
noch Süditaliener, und, obwohl ich<br />
in der Provence wohne, besteht mein<br />
Kulturgut vorwiegend aus deutschen,<br />
angelsächsischen und brasilianischen<br />
Kulturemen. Und doch werde ich Sie<br />
enttäuschen müssen. Ich kann zum Mittelmeer,<br />
und zu den zahlreichen darin<br />
verlaufenden Achsen, nicht existentiell<br />
Distanz nehmen, weil ich das Erbe des<br />
Mittelmeers dank den eben erwähnten<br />
Kulturgütern, und dank meines Judeseins,<br />
in meinem Inneren trage. Omnia<br />
mea mecum porto, und das Mittelmeer<br />
ist mare meum. Nicht distanzieren kann<br />
ich mich also, aber ich kann versuchen,<br />
Thnen aus meiner Selbsterfahrung von<br />
den Mitteln zu erzählen, dank welcher<br />
das Mittelmeer in andere Meere dringt,<br />
um ihnen Gestalt zu verleihen.<br />
Ich werde unter den Stichworten<br />
"Reich", "Capitol Hili" und "ultima flor de<br />
Läcio" das Mittelmeer im Deutschen,<br />
Amerikanischen und Brasilianischen zu<br />
würdigen versuchen. Und zwar nicht in einem<br />
wissenschaftlichen Geist (etwa jenem<br />
der Historiker, Kulturkritiker oder Philologen),<br />
sondern ich werde das Mittelmeer als<br />
Herausforderung fur ein kulturelles Engagement<br />
in den drei zu betrachtenden Kulturkreisen<br />
ansehen. Vorher muß ich jedoch,<br />
der Deutlichkeit halber, kurz umreißen,<br />
was mir beim Begriff "Mittelmeer"<br />
vorschwebt. Nämlich eine jener antiken<br />
Landkarten, in denen es als Zentrum des<br />
Erdkreises dargestellt wird. Und diese<br />
Landkarten sehe ich nicht als geographische,<br />
sondern als kulturelle Orientierungstafeln.<br />
Zwar hat sich inzwischen der Erdkreis<br />
zu einer Kugel gerundet, wobei das<br />
Mittelmeer das Recht zu diesem Namen<br />
verlor, und die Kugel selbst hat sich inzwischen<br />
zu einem Planeten eines ziemlich unbedeutenden<br />
Sterns verwandelt, wobei das<br />
12<br />
Mittelmeer völlig aus dem Blickfeld verschwand,<br />
aber als kulturelle Orientierungstafeln<br />
sind die antiken Landkarten mit<br />
Vorbehalt gültig geblieben. Die Vorbehalte<br />
sind diese: wir haben inzwischen andere<br />
Landkarten aufgefunden, zum Beispiel indische,<br />
chinesische und mexikanische, die<br />
nicht einfach mit der Bemerkung "hinc sunt<br />
leones" in die unsere eingebaut werden<br />
können. Sondern wir müssen uns um einen<br />
An- und Ausgleich dieser einander ergänzenden,<br />
einander zum Teil überdeckenden,<br />
und zum Teil einander verdeckenden<br />
Landkarten bemühen. Meine Aufgabe hier<br />
wird sein, Ihnen von einigen dieser grauen<br />
Zonen zwischen der Mittelmeerkarte und<br />
den anderen zu erzählen.<br />
Als erstes bitte ich Sie, diese strahlende<br />
und wohlartikulierte Bucht von Neapel fur<br />
den Augenblick zu verlassen, um sich in die<br />
Nebel der raunenden Wälder jenseits des<br />
Rheins vorzuwagen. Glauben Sie nicht,<br />
daß diese Wälder inzwischen gerodet wurden,<br />
daß ihr Raunen inzwischen elektromagnetisiert<br />
wurde, und daß die Nebel inzwischen<br />
von Umweltverschmutzung sauer<br />
und daher chemisch analysierbar wurden.<br />
Das ist nur ein oberflächlicher, von Volkswirtschaftlern<br />
und Politikern vertretener<br />
Standpunkt auf die jetzt betretene Gegend.<br />
Tatsächlich ist es den Kaufleuten, Legionären<br />
und Mönchen, die den Limes vorzulegen<br />
versuchten oder ihn überschritten, nie<br />
gelungen, den Nebel völlig zu lüften, und<br />
auch jenen nicht, welche in umgekehrter<br />
Richtung gegangen sind, all diesen Italienfahrern,<br />
Humanisten und an der Aufklärung<br />
Engagierten. Im Gegenteil: je mehr<br />
Licht dorthin dringt, desto fantastischere<br />
Formen nehmen die Nebel an, die sich in<br />
diesem Licht wälzen. Ich bitte Sie jedoch,<br />
dieses großartige Schauspiel nicht manichaeistisch<br />
als Kampf zwischen den Söhnen<br />
des Lichts und jenen des Dunkels anzusehen,<br />
selbst wenn die fantastischen Nebelformen<br />
gelegentlich teuflische Fratzen sein<br />
mögen. Denn die deutschen Nebel, die da<br />
vom Mittelmeerlicht durchleuchtet werden,<br />
können strahlen, und das Mittelmeerlicht,<br />
das sich an ihnen bricht, kann unter<br />
der deutschen Brechung kaleidoskopisch<br />
schillern. Nicht als manichaeistischer<br />
Kampf, eher als ein Pendeln zwischen Klassik<br />
und Romantik ist dieses Schauspiel zu<br />
sehen.<br />
Selbstredend: auch über dem Mittelmeer<br />
weben gelegentlich die Nebel der<br />
Mysterien, und auch über Deutschland<br />
scheint gelegentlich die Sonne. Und es gibt<br />
auch andernorts Nebel und Sonne. Die<br />
Klassik ist nicht eine ausschließliche Sache<br />
des Mittelmeers, die Romantik ist nicht<br />
ausschließlich deutsch, und es wäre Unfug,<br />
diese Dialektik zwischen klarer und deutlicher<br />
Form und dem die Formen sprengenden<br />
wallenden Stoff auf das Gespräch "Mittelmeer-Deutschland"<br />
reduzieren zu wollen.<br />
Und doch: in keinem anderen jener<br />
Gespräche, die vom Mittelmeer ausgehen,<br />
ist diese Dialektik so tiefins Bewußtsein gedrungen<br />
wie in diesem. Nicht im Gespräch<br />
mit dem so gewaltigen Westen, nicht in jenem<br />
mit den orthodox gewordenen Sklaven,<br />
nicht einmal im Gespräch mit dem<br />
jetzt an der Tagesordnung stehenden Islam.<br />
Es muß gefragt werden, was eigentlich<br />
dieses Gespräch "Mittelmeer-Deutschland"<br />
von allen übrigen Mittelmeergesprächen<br />
unterscheidet. Und das Stichwort<br />
"Reich" soll dabei helfen.<br />
Das Mittelmeer selbst ist nicht aus einem<br />
Stück gehauen, sondern es ist eine prekäre<br />
Synthese von jüdischen, griechischen<br />
und lateinischen Elementen, die mit dem<br />
Namen "Christentum" gemeint ist. Das<br />
konstantmische Imperium verkörpert diese<br />
Synthese, und es zeigt mit seiner Spaltung,<br />
wie prekär sie ist, welche Widersprüche<br />
zwischen den drei Elementen in ihr wirken.<br />
Diese Spaltung in eine lateinische und eine<br />
sekundär griechische Hälfte zieht eine<br />
schwankende Linie in Richtung Nord-Süd<br />
quer durch das Mittelmeer und quer durch<br />
alle vom Mittelmeer befruchteten Gebiete,<br />
wobei gegenwärtig Washington und Moskau<br />
die beiden Brennpunkte des gespaltenen<br />
Imperiums bilden. Aber das Schicksal<br />
der beiden Hälften, obwohl parallel, ist<br />
doch jeweils anders. In der östlichen Hälfte<br />
verbleibt das Zentrum jahrhundertelang<br />
im Mittelmeer, in Konstantinopel, und erst<br />
in der Neuzeit verschiebt es sich als Drittes
Der Gast und die Masse<br />
Rom nach Moskau. In der westlichen wird<br />
es unter dem Namen "Heiliges Römisches<br />
Reich deutscher Nation" schon im frühen<br />
Mittelalter dem Mittelmeer entrissen. Das<br />
erklärt vielleicht die Sonderstellung des<br />
Gesprächs zwischen dem Mittelmeer und<br />
den Deutschen.<br />
Die Spaltung, von der hier die Rede ist,<br />
kann durch keine ökumenischen Bemühungen,<br />
seien sie beschränkt wie die verschiedenen<br />
Mittelmeertreffen, die eben in<br />
Mode sind, seien sie allgemein wie die Gipfeltreffen<br />
zwischen Reagan und Gorbatschov,<br />
behoben werden, wenn dabei die<br />
Verschiedenheit der beiden Hälften nicht<br />
zu Wort kommt. Es hat zum Beispiel keinen<br />
Sinn, Algier und Syrien als zwei islamische<br />
Mittelmeerländer ansehen zu wollen,<br />
wenn dabei nicht zu Worte kommt, daß Algier<br />
zur westlichen Hälfte gehört (auf arabisch<br />
.Maghreb"), während Syrien zur byzantinischen<br />
Hälfte gehört. Nicht .,Nord<br />
Süd", sondern das viel frühere .,West-Ost"<br />
ist die kulturelle Mittelmeerspaltung. Und<br />
das Zentrum der Westhälfte war zu einer<br />
Zeit, als das Christentum noch plastisch<br />
war, bereits mindestens theoretisch in Aachen.<br />
Also nicht gegen Mazedonier, sondern<br />
gegen Franken hatten die algerischen<br />
Freiheitskämpfer zu siergen, und die syrischen<br />
gegen Türken. Die westliche Hälfte<br />
des Mittelmeers, der Schauplatz nicht nur<br />
des Kampfs zwischen den Franken und<br />
Mauren, aber auch zwischen Kaiser und<br />
Papst, ist ein Gespräch des Mittelmeers mit<br />
den Deutschen.<br />
Die Idee des Reichs als einer Synthese<br />
von Christentum und deutschen Elementen<br />
ist selbstredend irrefiihrend. Angesichts<br />
des Reichtums der jüdischen, griechischen<br />
und lateinischen Kultureme, und der Armut<br />
der deutschen, ist nicht von Synthese,<br />
sondern von Absorption der deutschen<br />
durch die christlichen zu sprechen. Eigentlich<br />
also hätte Deutschland mindestens so<br />
zu einem Mittelmeerland werden sollen<br />
wie Spanien oder Frankreich. Mindestens,<br />
denn es war der Sitz des Kaisers. Dazu ist es<br />
nicht gekommen. Warum dies nicht gelang,<br />
ist der Reformation anzusehen. Nicht<br />
Kar! der Große, sondern Kar! der Fünfte<br />
zeigt, was hier im Spiel ist. Nämlich die radikale<br />
Inadäquabilität der deutschen Kultureme<br />
ans christliche Kulturgut. Es zeigt<br />
sich, daß es unmöglich ist, zugleich Christ<br />
und Deutscher sein zu wollen, ohne daß<br />
sich dabei das Bewußtsein in die berüchtigten<br />
zwei Seelen spalte, die in einer Brust leben.<br />
Die Reformation hat versucht, das<br />
Christentum der deutschen Mentalität anzupassen,<br />
und hat dabei seltsamerweise an<br />
die jüdischen Elemente im Christentum<br />
appelliert, womit sie die verzwickte und<br />
mörderische Dialektik ,Judentum/<br />
Deutschtum" in die Wege geleitet hat, ohne<br />
dadurch das Problem "Mittelmeer/<br />
Deutschtum" gelöst zu haben. Kar! der<br />
Fünfte zog es vor, das Zentrum des neu entstandenen<br />
Imperiums (in dem die Sonne<br />
nicht unterging) aus Deutschland nach<br />
Spanien zu verlegen.<br />
Die deutsche Mentalität ist selbstredend<br />
eine Abstraktion: niemand ist Deutscher<br />
im Sinn von "vom Mittelmeer unangegriffen".<br />
Aber man kann diese Abstraktion<br />
doch im Konkreten wiedererkennen.<br />
Und zwar nicht nur im konkreten Alltag,<br />
sondern vor allem in den Beiträgen, die<br />
Deutschland zur Mittelmeerkultur, der sogenannten<br />
.,westlichen", geleistet hat, nämlich<br />
in der Musik, der Dichtung, der <strong>bildende</strong>n<br />
Kunst und am klarsten in den philosophischen<br />
Schriften. Dort ist sie unter dem<br />
Namen "deutscher Idealismus" am leichtesten<br />
zu fassen. Hier ist leider nicht genügend<br />
Raum, um dies auszufiihren. Es muß<br />
genügen, auf das radikal Unchristliche,<br />
nämlich zugleich Unjüdische, Ungriechische<br />
und Unrömische darin hinzuweisen.<br />
Das Objekt des Geistes wird nämlich darin<br />
als das Sekundäre, der Geist als das Primäre<br />
angesehen. Das ist unjüdisch, denn wenn<br />
das Christentum jüdischerweise von der<br />
Seele spricht, so sieht es sie immer als .,in<br />
der Welt" an. Es ist ungriechisch, denn der<br />
deutsche Idealismus ist gerade nicht der<br />
platonische Realismus de- Ideen, sondern<br />
ist, mittelalterlich gesprochen, eher ein N :>minalismus.<br />
Und daß es unrömisch ist, muß<br />
nicht bewiesen werden. So unmittelmeerartig<br />
ist der deutsche Idealismus, daß viele<br />
Denker des i9. Jah,hunderts in ihm Paralle-<br />
len zum indischen Denken zu e skennen<br />
vermeinten.<br />
Das .,heilige Römische Reich deutscher<br />
Nation", immer eher der Name einer Ideologie<br />
als einer politischen Wirklicnkeit, nat<br />
im Bewußtsein eines jeden Deutschen den<br />
zu überwindenden Zwiespalt zwischen<br />
"römisch" und .,deutsch" tief eingegraben.<br />
Die deutsche Kultur ist aus diesem zum<br />
Scheitern veru rteilten Versuch einer Überwindung<br />
entstanden, hat sich immer wieder<br />
daraus ernährt, und sie ist nur von daher<br />
verständlich. Jeder Deutsche fiihlt sich, im<br />
Verlauf seines Lebens, immer wieder aufgerufen,<br />
sein Deutschsein den Mittelmeeridealen<br />
oder diese Ideale seinem Deutschsein<br />
zu opfern. Und da ihm dieser Aufruf<br />
meist nicht bewußt wird, schwankt er in seinem<br />
konkreten Engagement zwischen den<br />
Extremen. Aber im Gespräch mit dem Mittelmeer<br />
werden auch die Gesprächspartner<br />
von dieser Spaltung mitgerissen, in Italien<br />
zum Beispiel in Form des Zwiespalts<br />
zwischen Ghibellinen und Gülfen. Daher<br />
ist das deutsche Element aus dem westlichen<br />
Mittelmeer nicht we~zudenken.<br />
Wann immer wir zusammenkommen, um<br />
es zu bedenken (zum Beispiel seine Achse<br />
.,Frankreich/Süditalien") müssen wir es in<br />
Rechnung ziehen. Und zwar nicht nur aus<br />
äußeren, wirtschaftlichen, politischen und<br />
kulturellen Gründen, sondern vor allem,<br />
weil dieses Element in allen beteiligten Gesprächspartnern<br />
ankert.<br />
Ich bitte Sie jetzt, aus dem vernebelten<br />
Norden des Mittelmeers in seinen wilden<br />
Westen zu reisen. Wie Sie wissen, fiihrt diese<br />
Reise nicht mehr über den Atlantik, sondern<br />
über Südgränland und Labrador, und<br />
folgt also ungefähr den fragwürdigen Vikingerspuren.<br />
Wir haben, wie Sie ebenfalls<br />
wissen, beim Aussteigen aus dem F1ugzeug<br />
Gottes eigenes Land betreten, worin sich<br />
die Menschen der Verfolgung des Glücks<br />
(pursuit of happyness) widmen. Etwas<br />
Vergleichbares mußte Platon erlebt haben,<br />
als er in Syrakus ausstieg. Und tatsächlich<br />
haben die Vereinigten Staaten etwas mit<br />
Megale Hellas, aber auch mit dem Neuen<br />
Jerusalem und mit einem neu gegründeten<br />
Rom gemeinsam. Sie können als der Ver-<br />
13
Der Gast tmd die Masse<br />
such angesehen werden, die mißlungene<br />
Mittelmeersynthese anderswo, und in größerem<br />
Maß, herzustellen.<br />
Man ist verleitet, bei Betrachtung, und<br />
beim konkreten Erlebnis dieses riesigen<br />
utopischen Projekts in Banalität zu verfallen.<br />
Ich will versuchen, dies zu vermeiden,<br />
weil diese Banalität zu jener seltsamen Mischung<br />
von Mißachtung und eid fuhrt,<br />
welche so viele Intellektuelle Amerika gegenüber<br />
kennzeichnet. Sie wollen eine, allerdings<br />
unumgängliche, Amerikanisation<br />
des Mittelmeers bekämpfen, ohne sich dabei<br />
Rechenschaft abzulegen, daß diese<br />
Amerikanisation gerade eine Rückkehr des<br />
Mittelmeers zu sich selbst sein könnte. Um<br />
eine Banalisation zu vermeiden, will ich<br />
mich auf einen einzigen Aspekt Amerikas,<br />
nämlich auf das mit "Capitol Hili" Gemeinte,<br />
beschränken.<br />
Das römische Campidoglio (eigentlich<br />
etruskischen Ursprungs) war vor allem ein<br />
Heiligtum des Iuppiter Optimus Maximus<br />
und konnte nur vom Forum aus betreten<br />
werden. Das Kapitol in Washington, dieser<br />
Versuch, das zerstörte Campidoglio neu<br />
aufZurichten, ist jedoch zugleich das Heiligtum<br />
der Freiheit (es beinhaltet ihreStatue)<br />
und zugleich Forum (Senat und Kammer).<br />
In Rom ist das Heilige (templum)<br />
vom Politischen (forum) getrennt, wenn<br />
auch nachträglich verbunden. In Washington<br />
ist das Heilige politisiert, und das Politische<br />
geheiligt. Aber nicht, wie im parallelen<br />
Moskau, um das Politische unter das Heilige<br />
zu stellen, um es orthodox, rechtgläubig<br />
zu machen. Sondern im Gegenteil : um das<br />
Politische als jenen Lebensraum aufZustellen,<br />
innerhalb dessen es überhaupt erst einen<br />
Sinn hat, von "Heil" zu sprechen. Davon<br />
will ich hier ausgehen.<br />
Denn es ist jüdisch. Nicht was im privaten<br />
Raum vor sich geht, im Gewissen, im<br />
Glauben, sondern was sich öffentlich äußert,<br />
in der Handlung, in der zwischenmenschlichen<br />
Beziehung, ist laut demJudenturn<br />
als gut oder schlecht zu erachten.<br />
Laut dem Juden J esus: an ihren Früchten<br />
sollt ihr sie erkennen. Was man, gelegentlich<br />
mit Verachtung, den amerikanischen<br />
Pragmatismus nennt, ist im Grund jenes jü-<br />
14<br />
disehe Mißtrauen allen Glaubensbekenntissen,<br />
allem Dogmatischen gegenüber.<br />
Der Pragmatismus stützt sich auf das jüdische<br />
Element im Christentum und erscheint<br />
damit in Widerspruch mit dem<br />
griechischen, dem "theoretischen", zu treten.<br />
Es scheint die Praxis gegenüber der<br />
Theorie betonen zu wollen. Aber das ist<br />
selbst eine dogmatische Auslegung des<br />
Amerikanismus. Tatsächlich beruht der<br />
Pragmatismus auf immer besser ausgearbeiteten<br />
Theorien, und diese Theorien<br />
werden immer besser, weil sie ständig dem<br />
Test des Versuchs und des Irrtums (trial<br />
and error) unterworfen werden. Die vor<br />
sich gehende Amerikanisation unseres<br />
Denkens kann unter anderem daran erkannt<br />
werden, daß wir die Theorien nicht<br />
mehr als zu beweisende, sondern als zu verfälschende<br />
Aussagen ansehen. Das Kapitol<br />
in Washington ist ein politischer Raum, innerhalb<br />
dessen griechische Theorien dem<br />
Test der Praxis unterworfen werden, um<br />
dem jüdischen Begriff der Gerechtigkeit<br />
(Sieg des Guten über das Böse) zu dienen,<br />
und es ist, wie sein Name sagt, lateinisch.<br />
Man könnte meinen, es gehe im Kapitol<br />
um eine wissenschaftliche Methode, eine<br />
Gesellschaft zu steuern, denn, was eben beschrieben<br />
wurde, ist ja eine wissenschaftliche<br />
Methode. Das wäre ein Irrtum. Im Gegenteil:<br />
im parallelen Moskau wird Anspruch<br />
auf Wissenschaftlichkeit erhoben,<br />
und nicht hier im Wechselspiel der lobbies,<br />
der checks and balances, der gegeneinander<br />
prallenden Privatinteressen. Das Vorbild<br />
des Kremls mag die wissenschaftliche<br />
Akademie sein, das Vorbild des Kapitols ist<br />
der Athener Marktplatz. Eine der Folgen<br />
der Mittelmeerspaltung in West und Ost ist<br />
eben diese unheilvolle Trennungvon experimenteller<br />
Politisation (Westen) und politischer<br />
Orthodoxie (Osten). Um es kybernetisch<br />
zu sagen: Das Kapitol in Washingtonist<br />
ein durchsichtiges Gewirr, der Kreml<br />
eine schwarze Kiste, und beide sind sie Mittelmeerextreme.<br />
Ja, aber es wäre ein Irrtum, diese beiden<br />
Extreme als gleichwertig anzusehen,<br />
gleichsam als extrapolierte Utopien des<br />
Mittelmeers, die gegenwärtig darauf zurückzuschlagen<br />
beginnen. Was Amerika so<br />
einzigartig und von allen übrigen Experimenten<br />
zu unterscheiden macht, ist seine<br />
Anziehungskraft auf außermittelmeerige<br />
Menschen. Um das Kapitol herum wimmelt<br />
es von fur uns exotischen Kulturen,<br />
wobei es gleichgültig ist, ob diese gewaltsam<br />
angezogen wurden (wie die afrikanische)<br />
oder ob sie anderen Motiven gehorchten.<br />
Daher kann Amerika nicht nur<br />
als Mittelmeerutopie, sondern als globale<br />
Utopie angesehen werden. Als ob Rom tatsächlich<br />
zum Brennpunkt des orbis terrarum<br />
geworden wäre, und als ob "katholisch"<br />
tatsächlich "fur alle" bedeuten würde.<br />
Als Universalisierung des Mittelmeers, als<br />
Öffuung des Mittelmeers fur alles Barbarische<br />
muß Amerika angesehen werden.<br />
Und darin liegt seine Problematik fur die<br />
Amerikaner selbst und fur uns, die aus verschiedenen<br />
Gründen nicht dorthin ausgewandert<br />
sind, sondern hier geblieben sind,<br />
fur uns zurückgebliebene Amerikaner.<br />
Die Problematik kann als eine Übertragung<br />
des Mittelmeers in eine höhere Grössenordnung<br />
angesehen werden. Es ist ja bekannt,<br />
daß es zum Beispiel problematisch<br />
ist, in der Architektur aus kleinen Modellen<br />
zu großen Gebäuden überzugehen. Das ursprüngliche<br />
Mittelmeer ist von der<br />
menschlichen Größenordnung, und in ihm<br />
ist der Mensch das Maß aller Dinge. Seine<br />
Inseln können umschritten, seine Küsten<br />
umsegelt, seine Täler überblickt werden.<br />
Das neue Mittelmeer in ordamerika ist<br />
nach menschlichen Maßstäben unermeßlich.<br />
Andere Maßstäbe (und daher Werte)<br />
müssen dort angelegt werden. Aber gerade<br />
das menschlich Maßvolle, das Mäßige und<br />
Gemäßigte unterscheidet es von den maßlosen,<br />
unmäßigen Barbaren. Wenn also das<br />
neue, amerikanische Mittelmeer so anziehend<br />
auf Barbaren wirkt, so eben, weil es<br />
sich selbst in barbarische Größenordnungen<br />
öffuet. Es steht in Gefahr, bei der Assimilation<br />
der Barbarei ans Mittelmeer selbst<br />
zu barbarisieren.<br />
Das ist der Grund, warum Amerika immer<br />
wieder zum ursprünglichen, modellhaften,<br />
maßgebenden Mittelmeer zurückkehren<br />
muß, will es nicht gegen die gren-
Der Gast und die Masse<br />
zenlose Pazifik und das immerwimmelnder<br />
werdende Lateinamerika abgetrieben werden.<br />
Es muß sein Vorbild im Auge behalten,<br />
soll Little Italy nicht von China Town und<br />
Porto Rico überflutet werden, anstatt wie<br />
ein Magnet darauf zu wirken. Die im Mittelmeer<br />
auftauchenden Pseudopodien Amerikas,<br />
seien es Fastfoods, Touristen, Universitätsprofessoren<br />
oder Kriegsschiffe, sind<br />
als Wiederbelebungskanäle der Mittelmeererbschaft<br />
in Amerika aufZufassen.<br />
Und es ist leicht einzusehen, was die Folge<br />
eines etwaigen Abbrechens dieser Kanäle<br />
fiir das Mittelmeer selbst wäre. Nämlich ein<br />
unwiderrufliches Versanden.<br />
Es gehen im Mittelmeer immer stärker<br />
werdende Bewegungen, deren Absicht es<br />
ist, die amerikanischen Pseudopodien darin<br />
zu amputieren. Und als Reaktion darauf<br />
gibt es in Amerika die isolationistische Tendenz,<br />
sie zurückzuziehen. Die amerikanischen<br />
Vorstöße ins Mittelmeer werden als<br />
imperialistisch empfunden. Das sind sie,<br />
aber man muß sich dabei an die ursprüngliche<br />
Bedeutung von "Imperium" erinnern.<br />
Es ist gleichbedeutend mit Frieden (Pax<br />
Romana) und meint eine universale, geregelte<br />
und gemäßigte Gesellschaft. Als Negativ<br />
dient das Imperium sowohl dem<br />
christlichen Bild des Reichs Gottes aufErden<br />
als auch dem islamischen der Umma.<br />
Wer sich anti-imperialistisch engagiert,<br />
sollte dies bedenken. Und wenn er dabei<br />
am Mittelmeer engagiert ist, sollte er die Alternativen<br />
zum amerikanischen Imperialismus<br />
im Auge behalten. Zieht sich nämlich<br />
Amerika auf sich selbst zurück und gibt es<br />
das Mittelmeer als sein Modell auf, dann<br />
wird nicht nur es selbst barbarisch: auch<br />
das Mittelmeer wird es. Selbstredend: Barbarei<br />
muß nicht unbedingt als etwas Negatives<br />
angesehen werden, man kann sie wollen.<br />
Aber die Gegner des amerikanischen<br />
Imperialismus und Verfechter der Eigenständigkeit<br />
des Mittelmeeres sollten sich<br />
bewußt sein, daß sie fur die Errichtung der<br />
Barbarei engagiert sind. Das ist bei allen das<br />
Mittelmeer betreffenden Überlegungen in<br />
Rechnung zu ziehen.<br />
Ich fordere Sie nun auf, in eine den meisten<br />
unter Ihnen nur sagenhaft bekannte<br />
Gegend zu reisen. Die Sagen, die Brasilien<br />
fur den Mittelmeermenschen umweben,<br />
sind zwar untereinander widersprüchlich<br />
(etwa "Samba", "Tropen" und "Brasilia" einerseits<br />
und "Favela", "Staatsschuld" und<br />
",ndianerausrottung" auf der anderen Seite),<br />
aber gemeinsam ist ihnen, daß sie, wie<br />
alle Sagen, die Wirklichkeit, von der sie<br />
sprechen, unerkenntlich machen. Die Folge<br />
ist, daß die Hörer dieser Sagen sich klare<br />
und deutliche Meinungen bilden, die das<br />
Mythische, aber nicht die konkrete Wirklichkeit<br />
treffen. Dadurch wird ein Gespräch<br />
zwischen dem Mittelmeer und Brasilien<br />
(und Lateinamerika überhaupt) zu einer<br />
Kommödie der Irrungen, im Laufe derer<br />
die Brasilianer selbst zu Opfern der Sagen<br />
werden. Ich will hier versuchen, die Sache<br />
zu entmythisieren, weil ich ein authentisches<br />
Gespräch zwischen dem Mittelmeer<br />
und Brasilien fur beiderseits unerläßlich<br />
halte.<br />
Eine romantische Ideologie sagt von<br />
der in Brasilien gesprochenen portugiesischen<br />
Sprache, sie sei "iiltima tlör dc Läcio,<br />
inculta e bela" (die letzte Blüte Laziens, die<br />
barbarisch und schön ist). Davon will ich<br />
ausgehen. Und dabei die Betonung auf"iiltima"<br />
legen. Ich will Brasilien als den letzten<br />
Versuch des Mittelmeers ansehen, die<br />
Menschheit zu seinem Licht zu fUhren und<br />
dabei sich selbst vor dem Untergang zu retten.<br />
Ich wage daher die Hypothese, daß das<br />
Schicksal des Mittelmeers (so wie ich diesen<br />
Begriff in diesen Ausfi.ihrungen verstehe)<br />
in Brasilien auf dem Spiel steht. Um diese<br />
allerdings gewagte Hypothese etwas<br />
glaubwürdig zu machen, will ich die<br />
brasilianische Gesellschaft vom Mittelmeerstandpunkt<br />
aus zu würdigen versuchen.<br />
Im 15. und 16.Jahrhundert explodierte<br />
das bisher und nachher wieder marginale<br />
Portugal nach Afrika und Asien, und es erschloß<br />
jenen Großteil Südamerikas, der gegenwärtig<br />
Brasilien genannt wird. Diese<br />
geheimnisvolle Explosion kann vielleicht<br />
teilweise dank der spanischen Gegenreformation<br />
und Inquisition aufgeklärt werden.<br />
Die verfolgten Juden und Marannen überfluteten<br />
das Land (wie ja auch das ebenfalls<br />
explodierende Holland), um einen beträchtlichen<br />
Teil der Bevölkerung zu bilden,<br />
und sie mögen den Sprengstoff gebildet<br />
haben. Tatsächlich war ein Großteil der<br />
in Brasilien damals ausgesetzten Abenteurer<br />
wahrscheinlich jüdischen Ursprungs<br />
(genaue Angaben diesbezüglich fehlen) .<br />
Man soll sich diese Leute nicht wie Entdekker<br />
oder Eroberer, eher wie Verbannte<br />
oder wie Astronauten vorstellen, deren<br />
Verbindung mit ihrer Herkunft abgeschnitten<br />
wurde. Diese Stimmung des Ausgesetzt-<br />
und sich-Selbst-Überlassenseins, dieses<br />
Gefi.ihl des Verlassenseins, nicht jenes<br />
des Verlassens, kennzeichnet Brasilien bis<br />
heute. Darum ist es ein Irrtum, in Brasilien<br />
etwa ein mißlungenes Amerika sehen zu<br />
wollen. Die amerikanischen Pioniere haben<br />
Europa verlassen, um ein neues zu<br />
gründen, die brasilianischen Bandeirantes<br />
wurden von Europa verlassen.<br />
Diese in die Wildnis Ausgesetzten waren<br />
wie Tropfen des Mittelmeers, die von<br />
den Wellen der Ereignisse ins Nichts geschleudert<br />
wurden. Aber sie trockneten<br />
nicht ein, sondern bildeten den Kern einer<br />
sich um sie herum in Schichten kristallisierenden<br />
Gesellschaft. Sie waren Mittelmeertropfen,<br />
denn sie sprachen eine lateinische<br />
Sprache, waren Christen und trugen<br />
dasjudenturn in sich. Und die sich um sie im<br />
Lauf von vier Jahrhunderten lagernden<br />
Schichten (Ureinwohner, Afrikaner, Süd-,<br />
Mittel- und Osteuropäer, Araber,Japaner,<br />
Chinesen und andere) wurden, da sie untereinander<br />
portugiesisch sprachen und<br />
damit die Kultureme des Mittelmeers übernahmen,<br />
in den Mittelmeerkulturkreis gezogen.<br />
Es war aber ein eigentümliches Mittelmeer,<br />
das hier aufgerichtet wurde. Ein<br />
zugleich archaisches, verwildertes und abwegiges<br />
war es. Es war archaisch (verblieb<br />
auf der Renaissance-Stufe), weil seine Verbindung<br />
mit dem Zentrum zum Großteil<br />
abgebrochen wurde. Es war verwildert,<br />
weil völlig fremde Kultureme (vor allem indianische<br />
und afrikanische) darin aufgesogen<br />
wurden. Und es war abwegig, weil, als<br />
im 19.Jahrhundert eine elitäre Kultur, bürgerlich<br />
und feudal begann, ausgP.arbeitet zu<br />
werden, sich diese auf französische, nicht<br />
15
Der Gast und die Masse<br />
auf eigentlich mediterrane Vorbilder stützte.<br />
Diese seltsame Kulturstruktur ist nicht,<br />
wie in Nordamerika, von einer bewußt utopischen<br />
Idee gestützt, sondern sie wuchs<br />
organisch. Und sie kommt erst jüngst, und<br />
sekundär, in den Sog der Vereinigten Staaten.<br />
Es mag, im 19. Jahrhundert, eine verschwommene<br />
Vorstellung von der zu errichtenden<br />
künftigen Kultur als einer Synthese<br />
des Mittelmeers mit Kulturen von<br />
Schwarzen und Indianern gegeben haben.<br />
Der sogenannten "drei traurigen Rassen",<br />
nämlich Portugiesen, Indianern und<br />
Schwarzen. Diese Vorstellung ist nicht<br />
mehr haltbar. Was sich nämlich gegenwärtig<br />
in Brasilien als fur das Mittelmeer unverdaubar<br />
erweist, sind die ostasiatischen Elemente.<br />
Vom Standpunktjapansund Chinas<br />
gesehen, ist nämlich Brasilien ein riesiges<br />
Land, das seine spärliche Bevölkerung von<br />
kaum hundertfunfZig Millionen nicht anständig<br />
ernähren kann und das darum die<br />
selbstverständliche Gelegenheit fur ein Reservoir<br />
des eigenen Bevölkerungsüberschusses<br />
bietet. Dabei betrachtet die ostasiatische<br />
Kultur die in Brasilien mühselig<br />
herrschende in einem ähnlichen Geist wie<br />
jenem, der einst die Mittelmeerkultur angesichts<br />
aller anderen charakterisierte. Wir<br />
sind in Brasilien Zeugen eines ziemlich bewußten<br />
und strategisch unterbauten Vorstoßes<br />
Ostasiens gegen das Mittelmeer,<br />
wobei Japan vorläufig noch den Vorposten<br />
Chinas bildet. Ziemlich bewußt und strategisch<br />
unterbaut seitens Japan, nicht seitens<br />
der brasilianischen Gesellschaft.<br />
Der Zusammenstoß zwischen der Mittelmeerkultur<br />
und jener Ostasiens, des<br />
Christentums und jener fur uns nicht ganz<br />
durchblickbaren Synthese von Konfuzianismus,<br />
Buddhismus und uralten Grunderlebnissen<br />
geht selbstredend in klarem Licht<br />
in Kalifornien vor sich. Dort wird die unmittelbare<br />
Zukunft alles dessen, was wir die<br />
Werte des Mittelmeeres nennen, entschieden.<br />
Aber was sich in Brasilien abspielt ist,<br />
weil unbewußter und marginaler, noch<br />
weit entscheidender: dort wird die weitere,<br />
die unabsehbare Zukunft entschieden.<br />
Sollte nämlich in Kalifornien (und in Japan)<br />
16<br />
die pragmatisch-technische Seite des Mittelmeeres<br />
die fernöstlichen Kultureme in<br />
sich verdauen, aber zugleich in Brasilien die<br />
Gesellschaft, von ihr selbst unbemerkt,<br />
nach dem Fernen Osten abgleiten, dann ist<br />
auf weite Sicht mit einer Orientalisierung<br />
des Westens überhaupt zu rechnen.<br />
Brasilien ist die "letzte Blüte Laziens",<br />
nicht nur weil sie die jüngste ist, sondern vor<br />
allem, weil sie auf dem äußersten Zweig<br />
blüht. Dort ist das Mittelmeer (so wie ich es<br />
hier verstehe) fur die gegenwärtige Dialektik<br />
gegenüber dem Fernen Osten am weitesten<br />
offen. Dort ist es am gebräuchlichsten,<br />
und auch am plastischsten. Wenn gegenwärtig<br />
das Stadtbild S. Paulos von Kanjis<br />
übersät ist, wenn japanische Studenten dort<br />
an allen Fakultäten die ersten Plätze besetzen<br />
und wenn dort der Sprung aus Palaeoindustrie<br />
direkt in japanische Miniaturisation<br />
und Komputation geleistet wird, so<br />
ist dies ein Zeichen fur die Schlagkraft der<br />
orientalischen Kultureme im Kontext des<br />
mühseligen Übergangs aus der Industrie- in<br />
die Informationsgesellschaft. Sollte es diesen<br />
Kulturemen in Brasilien gelingen, die<br />
Mittelmeerkultur aufZusaugen und dadurch<br />
eine erfolgreiche neue Gesellschaft<br />
zu bilden, dann wird dieser Prozeß weitergehen,<br />
bis er das Zentrum, das Mittelmeer<br />
im geographischen Sinn, sich einverleibt<br />
hat.<br />
Von einer Distanz ist selbstredend<br />
nichts gegen eine Orientalisierung des Mittelmeers<br />
einzuwenden. Es ist ein objektiver<br />
Unsinn, von einer "gelben Gefahr" zu sprechen.<br />
Aber es gibt Leute (und ich glaube,<br />
die meisten von uns zählen zu ihnen), die<br />
sich, aus guten und weniger guten Gründen,<br />
am Erhalten der Mittelmeerwerte engagieren.<br />
Diese Leute sollten sich der Vorgänge<br />
in Brasilien bewußt sein. Darum halte<br />
ich ein Gespräch zwischen Brasilien und<br />
dem Mittelmeer fur unerläßlich, auch und<br />
vor allem in Veranstaltungen wie der unseren.<br />
Ich habe versucht, Ihnen einen Blick auf<br />
drei Grenzzonen des Mittelmeers zu bieten.<br />
Es gibt selbstredend auch andere, die<br />
zu bedenken wären. Ich habe die drei besprochenen<br />
gewählt, weil sie in meinem eigenen<br />
Bewußtsein verlaufen. Aber ich halte<br />
es fur unmöglich, die Frage des Mittelmeers,<br />
und sei es nur jene der Achse<br />
"Frankreich/Süditalien", gebührend ins<br />
Auge zu fassen, ohne dabei die Grenzzonen<br />
in Rechnung zu stellen. Das Mittelmeer<br />
erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit,<br />
und wenn es diesen Anspruch au f<br />
gibt, dann ist es nicht mehr der Mühe wert,<br />
sich über das Mittelmeer den Kopf zu zerbrechen.
Der Gast und die Masse<br />
Friedhelm Lövenich<br />
Der Herr der Insel<br />
Robinson, Hege! und das bürgerliche Ich<br />
.Der Friseur gzbt dem Ich neuen Schwung"<br />
(Femsehwerbung Apr./ Mai 1986)<br />
Die Stelle in Daniel Defoes Roman, wo Robinson<br />
am Strand einen Fußabdruck findet,<br />
ist eine der berühmtesten und wohl auch<br />
enthüllendsten in der Mythologie des bürgerlichen<br />
Bewußtseins; alles, was Hege! jemals<br />
über das Selbstbewußtsein und seine<br />
insgeheimen Pathologien ans Licht gebracht<br />
hat, ist hier in einer verdichteten<br />
Szene symbolisch erfaßt. Das reduzierte<br />
Ich, das die bürgerliche Realität des utopischen<br />
Selbstbewußtseins darstellt, basiert<br />
auf der unausgesprochenen Vorstellung<br />
seiner eigenen Absolutheit, der gegenüber<br />
alles andere bloßes Nicht-Ich ist und bleibt;<br />
die Konfrontation mit einem anderen Ich<br />
bringt das größenwahnsinnige Ich, das Robinson<br />
in allseiner Grandiosität, Ohnmacht<br />
und Not repräsentiert, in völlige Panik, die<br />
Überraschung verwandelt sich in der Sekunde<br />
des Realisierens in den absoluten<br />
Schrecken : .,Eines Tages gegen Mittag, als<br />
ich auf dem Wege zu meinem Boot war, erblickte<br />
ich zu meiner größten Bestürzung<br />
am Strand den Abdruck eines nackten<br />
Männerfußes, der im Sand ganz deutlich zu<br />
sehen war. Ich stand da wie vom Donner<br />
gerührt oder als hätte ich einen Geist erblickt."<br />
(1)<br />
Dem isolierten und in seiner Isolation<br />
gefangenen Ich kommt ein anderes wie ein<br />
Geist, wie ein Gespenst vor, wie ein Bote<br />
aus dem Totenreich, denn den Tod<br />
seiner Absolutheit zeigt es an. Der Grund<br />
fur den absoluten Schrecken liegt somit begründet<br />
in der, wie Hege! sagen würde, rein<br />
negativen Abstraktheit dieses Ich, das sich<br />
als einzelnes nur setzt. Diese narzißtische<br />
Identität gilt es fiir das Ich, das zum Begreifen<br />
seiner selbst als gesellschafilichem nicht<br />
in der Lage ist, weil es diesen Gedanken zurückhalten,<br />
verdrängen muß, zu retten<br />
durch die Steigerung der Anstrengung in<br />
der Verleugnung des anderen als gleichwertigem<br />
Subjekt. Die Abwehr des angeblich<br />
Ichfremden erfolgt in der völligen<br />
Verwirrtheit der Panik: .,Als ich meine Burg<br />
erreicht hatte, denn so nannte ich sie wohl<br />
von jetzt an immer, flüchtete ich wie ein<br />
Verfolgter hinein. Ob ich nun über die<br />
zuerst gebaute Leiter oder durch das Loch<br />
im Felsen, das ich eine Tür nannte,<br />
hineingekommen war, darauf kann ich<br />
mich nicht besinnen, denn nie ist mit größerer<br />
Angst ein aufgeschreckter Hase in seine<br />
Deckung oder ein Fuchs in seinen Bau als<br />
ich in diesen Unterschlupf(2)." Das Ich, das<br />
schon zuvor als scheinbar uneinnehmbare<br />
Festung, als Burg aufgebaut worden war,<br />
dient jetzt als Zufluchtsort, als Rettung fiir<br />
genau die Angst, die doch von seinem eigenen<br />
Prinzip verursacht ist, das zur F1ucht<br />
zwingt, weil der andere sofort, noch ohne<br />
ihn zu kennen, als Verfolger imaginiert<br />
wird.<br />
Das menschliche Ich wird als gejagtes<br />
zum Tier, regrediert auf seine 'innere Natur',<br />
die es doch beherrschen zu können<br />
glaubt; dabei wird die selbstverordnete Isolation<br />
streng verschärft; .,drei Tage und<br />
Nächte" bleibt Robinson in seiner Festung<br />
und arbeitet dort die Beruhigung aus, dieeben<br />
weil Beruhigung und nicht Verarbeitung<br />
- genau derselben Struktur folgt, in<br />
der das Ich sein Überleben sichert : wie es<br />
die Welt als bloßes Objekt betrachtet und<br />
an sich als Ich assimiliert, alles Nichtidentische<br />
ausblendet, so übersteigt es jetzt das<br />
Wissen um die Existenz des Anderen, um,<br />
wie Kant, zum Glauben Platz zu bekommen<br />
(3). Wie schon einmal zuvor in einer<br />
ebenso katastrophischen Situation: einer<br />
gefahrliehen Krankheit ohne Medizin ausgeliefert,<br />
greift es auf die Instanz zurück, der<br />
es bisher selten auch nur einen einzigen<br />
Gedanken gewidmet hat. Das selbstherrliche<br />
Ich, das ohne Gott auszukommen<br />
glaubte, ja geradezu gegen ihn opponieren<br />
zu müssen glaubte, hängt sich jetzt, um<br />
Trost zu bekommen, an seinen Gegner,<br />
den es in seiner Verlassenheit in einer Art<br />
Vertrag bestätigt und bestätigend findet.<br />
Die aus der Gewißheit der Geborgenheit in<br />
Gott gezogene Bestätigung - Religion als<br />
Rückhalt und Kompensation in eins - verwandelt<br />
es dann erneut in die Absegnung<br />
seiner Hybris, in den wiedererstarkten<br />
Glauben an sich selbst, an seine imaginäre<br />
Macht, die in ihrer Absolutheit nun wiederum<br />
Gott ersetzen kann. Noch das völlig<br />
Fremde wird imaginär zum Ich gemacht,<br />
notfalls durch die gefahrliebste Eigenschaft<br />
des Ich fiir es selbst, die Phantasie, die auch<br />
zum Gegenteil durchschlagen kann : .,Da<br />
ich mir nun also mit dem Gl
Der Gast und die Masse<br />
benkleine Löcher, etwa so groß, daß ich einen<br />
Arm hindurchstecken konnte. Innen<br />
verdickte ich meinen Wall, bis er ungefähr<br />
zehn Fuß stark war, indem ich ständig Erde<br />
aus meiner Höhle schaffte, sie unten an den<br />
Wall schüttete und daraufherumstampfi:e;<br />
durch die sieben Löcher wollte ich die sieben<br />
Musketen stecken, die ich, wie ich bereits<br />
berichtete, aus dem Schiff an Land gebracht<br />
hatte. Ich pflanzte sie also gleich Kanonen<br />
in einem lafettenähnlichen Gestell<br />
auf, so daß ich alle sieben Gewehre innerhalb<br />
von zwei Minuten abfeuern konnte.<br />
Um diesen Wall zu beenden, brauchte ich<br />
viele Monate saurer Arbeit, aber ich fiihlte<br />
mich erst geborgen, als er fertig war (5). "<br />
Die Identitätsarbeit ist mehr als anstrengend<br />
und zeitraubend; die Maßnahmen<br />
zur Selbsterhaltung gehen bis zur<br />
Selbstverleugnung, Selbstausbeutung, bis<br />
zur Selbst-losigkeit, die das Subjekt verschwinden<br />
läßt; es ähnelt sich -jetzt 'bewußt'<br />
im Gegensatz zum bewußtlosen, onbewußten<br />
'Verfall' in der panikartigen<br />
Flucht- dem an, das es bekämpft: die Natur,<br />
und gibt dabei seinen Geist aufinseiner<br />
völligen Instrumentalisierung: "Als das getan<br />
war, setzte ich außerhalb meines Walles<br />
sehr weit nach allen Richtungen hin so viele<br />
Stecklinge oder Reiser wie nur möglich von<br />
18<br />
jenem weiden artigen Holz, das so leicht<br />
wuchs, in den Boden; ich glaubte, ich<br />
pflanzte etwa zwanzigtausend davon und<br />
ließ zwischen ihnen und meinem Wall einen<br />
ziemlich großen Raum frei, damit ich<br />
die Feinde sehen konnte und sie zwischen<br />
den jungen Bäumen keinen Schutz fanden,<br />
wenn sie versuchten, sich meinem äußeren<br />
Wall zu nähern. Auf diese Weise hatte ich<br />
nach zwei Jahren ein dichtes Gehölz und<br />
nach fiinf, sechs Jahren einen so außerordentlich<br />
dichten und starken Wald vor meiner<br />
Behausung, daß er in der Tat völlig undurchdringlich<br />
war, und kein Mensch, wer<br />
er auch sein mochte, hätte jemals vermutet,<br />
daß sich irgend etwas dahinter befand, viel<br />
weniger noch eine Wohnung. Was den<br />
Weg anbelangt, auf dem ich hinein- und<br />
hinausgehen wollte (denn ich ließ keinen<br />
Pfad), so stellte ich zwei Leitern auf; die eine<br />
stand an der Stelle, wo der Felsen niedrig<br />
war und dann abflachte, so daß es darauf<br />
Platz genug fur eine weitere Leiter gab, und<br />
wenn diese beiden Leitern heruntergenommen<br />
waren, vermochte kein Mensch<br />
zu mir zu gelangen, ohne sich Schaden zuzufiigen,<br />
und wenn er herabgekommen<br />
wäre, dann hätte er sich immer noch außerhalb<br />
meines äußeren Walls befunden.<br />
So traf ich also alle Maßnahmen, die<br />
sich menschliche Vorsicht zu meinem<br />
Schutz ausdenken konnte, und der Leser<br />
wird später noch sehen, daß sie nicht gänzlich<br />
unbegründet waren, obgleich ich damals<br />
nicht mehr voraussah, als meine bloße<br />
Furcht mir eingab (6). "<br />
Zur Rettung des Eigentums wird auch<br />
dieses an verschiedenen, gut versteckten<br />
und unzugänglichen Stellen der Insel verborgen;<br />
Robinson legt Depots an, in dene<br />
seine Subsistenzmittel gespeichert werden;<br />
das Ich organisiert sich als zersplittertes in<br />
verschiedenen Filialen und Zweigstellen,<br />
deren Netz es von seiner Burg aus kontrolliert.<br />
Allein, bei der Suche nach solchen<br />
geeigneten Filialen gerät es an eine bisher<br />
noch unbetretene, und das heißt noch ongesichtete,<br />
ungesicherte Stelle, an der die<br />
Kannibalen der anderen Inseln ihre Gefangenen<br />
verzehrt haben. Daß die anderen, die<br />
sein Reich betreten, dann auch gleich Kannibalen<br />
sein müssen, ist nicht nur in der Logik<br />
des Abenteuerromans, sondern im Rahmen<br />
der ganzen bürgerlichen Identitätsliteratur<br />
konsequent, denn sie sind eben als<br />
andere die Todesgefahr fiirs sich selbst entfremdete<br />
und sich selbst in seiner Wahrheit<br />
unbewußte Selbstbewußtsein. Die Schädelstätte<br />
am Strand bezeichnet den Ga!-
Der Gast und die Masse<br />
genberg des bürgerlichen Ich, das sich auf<br />
nichts als auf sich selbst stützen kann, weil<br />
es sich gegen die ganze Welt setzt, melancholisch<br />
in dem verharren muß, was Hege!<br />
das unglückliche Bewußtsein nennt, weil es<br />
abstraktes Ich, rein negative Freiheit ist.<br />
Die Genialität Hegels bezeugt sich<br />
nicht zuletzt in seinen Ahnungen über die<br />
reale Beschaffenheit des bürgerlichen Bewußtseins<br />
und seiner gesellschaftlichen<br />
Realität; auch in Bezug auf Robinson als<br />
dem Urahn aller bürgerlichen Identifikationsfiguren<br />
trifft er den Kern der Sache. Im<br />
Rahmen der 'Philosophischen Propädeutik'<br />
heißt es in der 'Bewußtseinslehre fur die<br />
Mittelklasse' in Paragraph 35: "diese rein<br />
negative Freiheit, die in der Abstraktion<br />
von dem natürlichen Dasein besteht, entspricht<br />
jedoch dem Begriff der Freiheit<br />
nicht, denn diese ist die Sichselbstgleichheit<br />
im Anderssein, teils der Anschauung<br />
seines Selbst im anderen Selbst, teils der<br />
Freiheit nicht vom Dasein, sondern im Dasein<br />
überhaupt, eine Freiheit, die selbst Dasein<br />
hat. Der Dienende ist selbstlos und hat zu<br />
seinem Selbst ein anderes Selbst, so daß er<br />
im Herrn sich als einzelnes Ich entäußert<br />
und aufgehoben ist und sein wesentliches<br />
Selbst als ein anderes anschaut. Der Herr<br />
hingegen schaut im Dienenden das andere<br />
Ich als ein aufgehobenes und seinen einzelnen<br />
Wtllen als erhalten an. (Geschichte Robinsons<br />
und Freitags)" (7)<br />
Hiermit hat Hege! genau den Punkt<br />
bezeichnet, bis zu dem Defoes Geschichte<br />
von Robinsons Entwicklung, dieser<br />
Bildungsroman des insularen Ich bis<br />
jetzt fortgeschritten ist. Robinson, das Ich<br />
muß, weil allein auf eine Insel verschlagen<br />
und dort dem Kampf ums Dasein, der ot<br />
ausgeliefert, gegen sich, gegen seine Verzweiflung<br />
und gegen seine Natur rigide<br />
sein: es stürzt sich in die Arbeit als Versuch<br />
der Beherrschung der. äußeren und inneren<br />
atur, verdrängt seine Verzweiflung durch<br />
hektische Aktivität. Als Robinson klar wird,<br />
daß er allein auf dieser Insel ist, ist seine Niedergeschlagenheit<br />
nur kurz und wird sofort<br />
durch Arbeit überwunden. Es geht nicht<br />
darum, daß das objektiv berechtigt ist, weil<br />
ja sein Überleben davon abhängt, sondern<br />
darum, daß diese Situation sofort als eine<br />
der Konkurrenz gegen die·äußere und innere<br />
Natur begriffen wird, die sich im Bewußtsein<br />
als Angst manifestiert, die zwar<br />
abnimmt, je mehr dem Ich die Beherrschung<br />
des, äußeren und eigenen, Anderen<br />
gelingt, aber nie ganz verschwindet. Die<br />
Angst als Ausdruck der imaginierten Konkurrenzsituation<br />
wird habituell im Fremdund<br />
Selbstbezug, ist es sogar dann noch, als<br />
Robinson sich als der 'Herr der Insel' fiihlt,<br />
als das Ich alles unter Kontrolle hat, Herr im<br />
eigenen Hause zu sein scheint. Wie Hegels<br />
Herr hat es Angst vor dem, was es unterdrückt,<br />
die Repression schlägt auf es selbst<br />
zurück und macht es hart. Tritt das Andere<br />
dann real auf, und sei es nur als <strong>Spur</strong> im<br />
Sand, ist die Herrschaft gefährdet und zieht<br />
sofort alle ihr zur Verfugung stehenden Register<br />
der Abwehr: die Burg wird zur Festung,<br />
der Wahnsinn Methode; das Andere<br />
wird, analog aller bisherigen Struktur, nicht<br />
nur als inneres, auch als reales äußeres geknechtet.<br />
Die gesellschaftliche Realität dieses abstrakten<br />
Ich ist die "des bürgerlichen Vertrages,<br />
der unmittelbar auf die Einzelheit<br />
und Abhängigkeit der Subjekte geht" (8),<br />
und damit, als Struktur der Beziehung der<br />
Menschen untereinander, die Möglichkeit<br />
19
Der Gast und die Masse<br />
gelingender Interaktion zunichte macht, da<br />
er die imaginäre Absolutheit des Ich nicht<br />
etwa aufhebt, sondern zum Prinzip erhebt;<br />
dies sogar da, wo es einen Gefährten in seiner<br />
Einsamkeit erhält, einen Freund, wie<br />
Hege! es andeutet im Bezug des Verhältnisses<br />
von Herr und Knecht auf das von Robinson<br />
und Freitag. Intersubjektivität wird<br />
so in ihrer Form als Vertrag reduziert auf<br />
den abstrakten Tausch als Prinzip; Lebenswelt<br />
wird systematisiert durch den Einbruch<br />
des Mediums, das die Einzelheit und<br />
Abhängigkeit des Ich kaschiert und zugleich<br />
reproduziert: Macht, in die Sphäre,<br />
in dessen Struktur es eigentlich seinen Wert<br />
verloren hätte: Kommunikation. Diese<br />
geht durch diese Verherrschung zugrunde,<br />
bleibt höchstens als Utopie noch im Bewußtsein,<br />
in der Realität aber ohnmächtig,<br />
so wie Hege! das in der Entgegensetzung<br />
von System und Lebenswelt, bürgerlicher<br />
Gesellschaft und Sittlichkeit (9) zeigt, die<br />
sich nur noch zusammenzwingen, nicht<br />
mehr integrieren lassen im Staat. Leben ist<br />
hier - egal ob Herr oder Knecht - permanentes<br />
Für-andere-sein; das Ich ist gezwungen,<br />
das Prinzip Herrschaft aufrecht zu erhalten<br />
selbst da, wo ihm das unbewußt ist.<br />
Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts,<br />
als Defoe den Robinson schrieb, war<br />
die Bewußtheit dessen allerdings noch weniger<br />
problematisch als in der voll entfalteten<br />
bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem<br />
Gleichheitsgrundsatz; den kennt Defoe eigentlich<br />
nicht. Robinson rettet Freitag vor<br />
den Kannibalen- als dem absolut Ichfremden,<br />
weil vom Gesichtspunkt des Ich aus in<br />
ihrer aturverfallenheit und Tierheit, obwohl<br />
es sich in seinem panischen Schrekken<br />
zuvor selber als Tier gezeigt hatte, Ichlosen<br />
- mit dem festen Bewußtsein der<br />
Überlegenheit seines Ich, beflügelt von<br />
göttlicher Legitimation- die offenbar doch<br />
noch nötig ist und die die reale Ohnmacht<br />
des vereinzelten Ich enthüllt - und in der<br />
Absicht, sich den ihm zustehenden Knecht<br />
zu verschaffen: "Nun schoß mir ganz hitzig<br />
der geradezu unwiderstehliche Gedanke<br />
durch den Kopf, jetzt sei meine Gelegenheit<br />
gekommen, mir einen Diener, vielleicht<br />
einenGefahrtenoder Gehilfen zu be-<br />
20<br />
schaffen, und ich sei ganz offensichtlich von<br />
der Vorsehung berufen, das Leben dieses<br />
armen Menschen zu retten." (10) Herrschaft<br />
wird zur imaginären Kompensation<br />
der realen Ohnmacht: höllig ineinander<br />
übergegangen ist dem Ich die Vorstellung<br />
von Freund und Diener. Auch der Freund,<br />
so hilfreich er dem Ich auch sei, ist dennoch<br />
nie mehr als Funktion, weil grundsätzlich<br />
ein Anderes als das Ich und damit seiner<br />
Herrschaft zu unterwerfen, dienstbar,<br />
fungibel zu machen, und sei es nur als Spiegel<br />
des Ich in der Dankbarkeit. Denn diese<br />
glaubt das Ich sich zustehend aufgrundder<br />
Gnade, mit der es "den armen Teufel", den<br />
Anderen zur Kenntnis nimmt. Freitag ist<br />
denn auch demütig gegenüber seinem<br />
Herrn, der so doch noch kompensatorisch<br />
und 'real' die Position Gottes einnehmen<br />
kann: "schließlich kam er ganz dicht zu mir<br />
heran, und da kniete er von neuem nieder,<br />
küßte den Boden, legte seinen Kopf auf die<br />
Erde, nahm meinen Fuß und setzte ihn sich<br />
auf den Scheitel. Das schien zu bedeuten, er<br />
schwöre, fi.ir immer mein Sklave zu bleiben";<br />
Robinson nennt ihn denn auch von<br />
nun an "mein Wilder". (11)<br />
In der Vertragsbezeichnung hat so der<br />
Knecht, nicht nur auf der Grundlage materieller<br />
Arbeit, sondern auch der der Anerkennung<br />
der Herrschaft, gewisse Leistungen<br />
zu erbringen, die ihm das Wohlwollen<br />
seines Herrn einbringen: "einen treueren,<br />
liebevolleren, ehrlicheren Diener als Freitag<br />
hat wohl noch nie jemand gehabt. Er<br />
kannte weder Zornesausbrüche noch Eigensinn<br />
noch Ränke, er war im höchsten<br />
Maße zuvorkommend und gewmnend,<br />
und mit seinem ganzen Gefuhl hing er an<br />
mir wie ein Kind an seinem Vater; ich kann<br />
wohl sagen, daß er jederzeit sein Leben<br />
geopfert hätte, um meines zu retten." (12)<br />
Die typischen Tugenden des Dieners sind<br />
somit nicht umsonst auch die des<br />
Freundes :Treue, Ergebenheit, Ehrlichkeit<br />
und Aufopferungsbereitschafi:; das sich<br />
selbst als Herr entfremdete Ich übertüncht<br />
damit vor sich selbst die eigene Entfremdung,<br />
das Für-andere-sein und Durch-andere-sein,<br />
und organisiert die Welt seiner<br />
Beziehungen zum anderen Ich nach dem<br />
Modell der zur Natur, dem Ding, denn "der<br />
Herr ist (zwar- FL) das.forsich seiende Bewußtsein,<br />
aber nicht mehr nur der Begriff<br />
desselben, sondern fi.ir sich seiendes Bewußtsein,<br />
welches durch ein anderes Bewußtsein<br />
mit sich vermittelt ist, nämlich<br />
durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört,<br />
daß es mit selbstständigem Sein oder<br />
der Dzizgheit überhaupt synthetisiert ist.<br />
Der Herr bezieht sich auf diese beiden Momente,<br />
auf ein Dzizg als solches, den Gegenstand<br />
der Begierde, und auf das Bewußtsein,<br />
dem die Dingheit das Wesentliche ist."
Der Gast und die Masse<br />
Jedenfalls scheint es so dem Herrn; allerdings<br />
ist das nicht, wie aus dem ersten<br />
Hegelzitat ersichtlich, die echte Freiheit, da<br />
im Vertrag eben gerade das Gegenteil von<br />
Freiheit realisiert ist, nämlich die Ratifizierung<br />
der Einzelheit und damit Abhängigkeit.<br />
Aus der Rigidität gegen das Andere resultiert<br />
somit die gegen die Anderen,<br />
Freund und Feind; dem in der Vorstellung<br />
von der Absolutheit seines Ich befangenen<br />
Bürger stellen sich Beziehungen nur als solche<br />
in der Struktur von Herrschaft dar, die<br />
das Prinzip seiner Gesellschaft ist, die ihn zu<br />
seinem verherrschten und selbstentfremdeten<br />
Ich zwingt. Er ist daher bemüht, diese<br />
Struktur auch deutlich zum Ausdruck zu<br />
bringen, jedenfalls da, wo ein eindeutiger<br />
Vertrag besteht: "ich lehrte ihn auch, 'Master'<br />
zu sagen, und erklärte ihm, daß dies<br />
mein Name sein sollte" (14). Das ist mit das<br />
erste, was Robinson gegen Freitag überhaupt<br />
tut, bald nach seiner Rettung; und als<br />
beide noch andere retten, jubiliert das Ich<br />
im Rausch seiner Herrschaft: "nun war<br />
meine Insel bevölkert, und ich kam mir sehr<br />
reich an Untertanen vor; ich stellte oft die<br />
spaßige Überlegung an, wie sehr ich jetzt<br />
einem König glich: erstens war das ganze<br />
Land mein alleiniges Eigentum, so daß ich<br />
unzweifelhaft ein Recht auf die Herrschaft<br />
darüber hatte; zweitens waren meine Leute<br />
mir gänzlich ergeben, ich war absoluter<br />
Herr und Gesetzgeber, sie verdankten mir<br />
sämtlich ihr Leben und waren bereit, es fur<br />
mich zu opfern, wenn sich ein Anlaß dazu<br />
bot" (15).<br />
Nach dieser wahnsinnigen Logik des<br />
Ich ist eigentlich die Legitimation seiner<br />
Herrschaft überhaupt überflüssig; es erfolgt<br />
fur Robinson auch keine außer der der kulturellen<br />
Überlegenheit gegenüber Freitag.<br />
So ist die Herrschaftsbeziehung von Robinson<br />
zu Freitag noch abgesichert in der<br />
Dopplung der Herrschaft des Zivilisierten<br />
über den Wilden, das schlichtweg ganz<br />
Fremde, total Andere; der Unzivilisierte hat<br />
im Vertrag die Stellung des Objekts, der<br />
Welt zum Ich: die der Unterordnung und<br />
Beherrschtheit. Das ist mehr als eine moralische<br />
Legitimation der Herrschaft, nämlich<br />
die Entwertung des Anderen des Ich als<br />
eigenes Ich, damit es dieses nicht dauernd<br />
an sein eigenes verdrängtes Anderes erinnert;<br />
das Andere wird daher dem Ich in einer<br />
automatisierenden, seine Objekthaftigkeit<br />
betonenden Weise ähnlich gemacht,<br />
hier durch die 'Erfindung' Defoes von Freitag<br />
als Halbzivilisiertem: "er hatte ein sehr<br />
angenehmes Gesicht, dessen Ausdruck<br />
nicht wild und mürrisch war, sondern etwas<br />
sehr Männliches zu haben schien, und doch<br />
zeigte sein Antlitz auch alle Sanftheit und<br />
Weichheit eines Europäers, besonders,<br />
wenn er lächelte; sein Haar war lang und<br />
schwarz; nicht kraus wie Wolle, die Stirn<br />
sehr hoch und breit, und seine Augen<br />
drückten große Lebhaftigkeit und funkelnden<br />
Scharfsinn aus. Seine Hautfarbe war<br />
nicht richtig schwarz, sondern ganz bräunlich,<br />
aber dabei nicht von einem häßlichen,<br />
gelblichen, ekelhaften Braun wie bei den<br />
Brasilianern, den Virginiern und anderen<br />
Eingeborenen von Amerika, sondern von<br />
einem lebhaften Dunkeloliv, das etwas sehr<br />
Angenehmes hatte, sich aber nicht leicht<br />
beschreiben läßt (16)." Der Wilde ist überhaupt<br />
kein Wilder, sondern ein noch unentdeckter<br />
Zivilisierter; die Herrschaft des Zivilisierten<br />
über ihn wird ihm erst zu ihm<br />
selbst verhelfen; Robinson teilt Freitag<br />
nicht sein Wissen mit, um ihn zu bilden,<br />
sondern erzieht ihn nach seinem Ebenbild.<br />
Typisch ist, daß Defoe das kaum eine<br />
detaillierte Darstellung wert ist; die erstmalige<br />
Konfrontation des 'Wilden' mit dem Zivilisierten,<br />
die eben auch fur den Zivilisierten<br />
eine mit seinem eigenen Anderen ist, ist<br />
fur Defoe kein Thema, schon gar nicht Anlaß<br />
zur Reflexion seiner eigenen Lebensweise.<br />
Bald nach der Ankunft Freitags,<br />
nach der im wesentlichen nur noch die<br />
Darstellung der Befreiung der anderen Gefangenen<br />
und der Unterstützung des Kapitäns,<br />
der Robinson nach England zurückbringen<br />
wird, folgt, endet die Inselgeschichte<br />
und wird in England fortgesetzt.<br />
Da, wo die Geschichte des Ich einen wirklichen<br />
Anfang finden und ihre Vorgeschichte<br />
überwinden könnte, da wo ein realer Anderer<br />
auftaucht, der dem Ich die Dezentrierung<br />
ermöglichen könnte, ist sie zuende;<br />
die eigentliche Arbeit des Ich, die der Ver-<br />
mittlung, die es erst zur wahren Realität,<br />
zur Selbstverwirklichung bringen könnte,<br />
wird der Unmittelbarkeit des Selbstbezugs<br />
aufgeopfert; das Ich bleibt im Imaginären.<br />
Wie in den Romanen Kar! Mays, wie in aller<br />
das bürgerliche Ich unhinterfragt lassenden<br />
Reiseliteratur, kehrt das Ich in die Heimat<br />
zurück und läßt das Andere hinter sich, der<br />
Gefahrdung der Vernichtung_ mit dem imaginären<br />
Bewußtsein der Uberlegenheit<br />
entgangen.<br />
Die angebliche Unmittelbarkeit des insularen<br />
Ich bezeugt sich in der fortentwicklungder<br />
bürgerlichen Idee als Paradefall<br />
der Ideologie, die die Wahrheit der allgemeinen<br />
gesellschaftlichen Vermitteltheit<br />
übertünchen soll im 'Erlebnis': ,jeder lebt<br />
seinen Stil ... denn weder Plan noch Konvention<br />
bestimmt den Urlaub bei Robinson"<br />
(17); der sorgsam planende Bürger im<br />
Kapitalismus verkehrt sich im Spätkapitalismus<br />
in sein scheinbares Gegenteil : als<br />
kulturindustrielle Aufhebung der Bevormundung<br />
und der Isolation geriert sich die<br />
postmoderne Robinsonade als gruppendynamisches<br />
Singleturn mit organisierten Beseelern,<br />
das heißt vertraglich gebundenen<br />
Animateuren.<br />
(1) Daniel Defoe, Robinson Crusoe, übers. v. Lore<br />
Krüger, München 1983, S. 175 (im Folgenden<br />
nur noch Seitenzahlen)<br />
(2) S. 176<br />
(3) lmmanuel Kant. KrdrV B XXX<br />
(4) s. 180<br />
(5) s. 182(<br />
(6) S. 183f<br />
(7) S. G.W.F. Hege!, Werke, Ffin. 1971ff., Band<br />
4/ S.120 (Hervorhebung von Hege!), im Folgenden<br />
: Band/ Seitenzahl<br />
(8) 2/ 519<br />
(9) deutlicher noch als in der Rphil in 2/ 517ff.<br />
(10) 228<br />
(11) 229<br />
(12) 235<br />
(13) 3/ 150 (Hervorhebung von Hege!)<br />
(14) 232<br />
(15) 271<br />
(16) 231<br />
(17) Katalog Robinson Club, Winter 85/ 86, ss.<br />
11 und 5. Übrigens : "Nixdorfist Robinsons Freitag"<br />
(Anzeigentext im Spiegel 18/ 86, 28. April<br />
1986, S. 1 OOf)<br />
21
Der Gast und die Masse<br />
Heinrich Kupffer<br />
••<br />
Asthetik und Massenkultur<br />
Über Versuche, die Austauschbarkeil des modernen Menschen zu verhindem<br />
1. Signale statt<br />
Kommunikation<br />
Fast überall bin ich nur einer von vielen. Ich<br />
gehöre zur modernen Massengesellschaft,<br />
muß deren Rituale mitmachen und mich<br />
ihren Spielregeln untetWerfen, sonst komme<br />
ich nicht weiter. Eigene Verhaltensformen<br />
am falschen Platz stiften VetWirrung<br />
und Chaos, das muß ich wissen. Es gibt keine<br />
privaten Verkehrsvorschriften, keine<br />
nur auf mein Kind zugeschnittenen Erziehungsziele,<br />
keine spezifischen Formen von<br />
Leistung und Anerkennung. Der individuell<br />
gestaltete Abenteuerurlaub kann mir<br />
nur angeboten werden, weil er massenhaft<br />
organisiert wird; den besonderen Geschmack<br />
gibt es nur, wenn viele ihn haben;<br />
die SelbstvetWirklichung auf dem Wochenendseminar<br />
ist fur jeden offen.<br />
Das alles ist noch kein Anlaß fur kulturkritische<br />
Klagen. Es gibt eine Ästhetik der<br />
Masse, ohne die unser Alltag gar nicht funktionieren<br />
könnte. Massenkultur ist visualisierte<br />
Kultur, die sich ihren vielen Mitspielern<br />
nur in Bildern verständlich machen<br />
kann. Die Qualität des Abenteuerurlaubs<br />
bemißt sich nicht nach etwa stattv;~habten<br />
Erlebnissen, sondern nach der Ubereinstimmung<br />
von vorgefundenem Prospekt<br />
und selbstgemachtem Foto; das Wochenendseminar<br />
war schön, weil wir uns dort<br />
unbeschwert an den Händen fassen und<br />
damit unserem Identitätsgefuhl Ausdruck<br />
verleihen konnten; die Besonderheit des<br />
besonderen Geschmacks übetWältigt mich<br />
vor der Litfaßsäule, wo ein junger, gesunder<br />
Mensch mir versichert : Ich rauche gern!<br />
Massenkultur ist Kultur in Bildern, beginnt<br />
mit Hinweisschildern auf Bahnhöfen und<br />
Flugplätzen, sie setzt sich fort in Reklame<br />
und Propaganda durch die Medien; und sie<br />
findet sich allenthalben in der totalen<br />
marktgerechten Verpackung aller Lebensbezüge.<br />
Das kann auch nicht anders sein,<br />
denn eine Massengesellschaft reproduziert<br />
sich nicht über das Gehirn und kann nicht<br />
darauf warten, bis alle ein hohes Abstraktionsniveau<br />
erreicht haben.<br />
Problematisch wird die Sache erst dort,<br />
wo das Prinzip der alltäglichen Ästhetikalle<br />
22<br />
anderen Prinzipien außer Kraft setzt, wo<br />
wir schon die Prämissen und Grundfiguren<br />
unseres Denkensund Handeins als optisch<br />
verlockende Billigangebote aus dem kommunikativen<br />
Supermarkt beziehen, wo wir<br />
nur noch das sehen und weiterreichen, was<br />
auf allen Ladentischen wohlfeil zu haben<br />
ist. Weil das so gut funktioniert, gewöhnen<br />
wir uns schnell daran. Wir kommen gar<br />
nicht erst so weit, uns eine eigene Stellungnahme<br />
zu leisten, sondern wir stimmen<br />
ein in einen Jargon, den alle benutzen ("Das<br />
macht mich betroffen", "Das tut mir weh",<br />
"Ich bringe mich ein"). Habe ich das eine<br />
Weile gemacht, dann nimmt mein alltägliches<br />
Auftreten den Charakter von Signalen<br />
an. Ich kann mich schließlich dem Kollegen,<br />
dem Nachbarn, dem Partner nur noch<br />
so mitteilen, als sei er ein Verkehrsteilnehmer,<br />
dem ich meine Absicht kundtun muß.<br />
Damit übertrage ich das Prinzip des fremdbestimmten,<br />
auf den Massenverkehr bezogenen<br />
Zeichens auf die persönlichen Beziehungen.<br />
Meine Äußerungen leuchten<br />
als Lampen in einem Signalsystem auf, dem<br />
ich ebenso angehöre wie alle anderen.<br />
Selbst "eigene" Absichten werden mir erst<br />
verfugbar durch das Vorzeigen von<br />
Versatzstücken, die ich vom Ladentisch bezogen<br />
habe.<br />
Muß das so sein? Ist Massenkultur<br />
gleichbedeutend mit Austauschbarkeit,<br />
oder gibt es ein Medium, das die Austauschbarkeit<br />
verhindert und uns ab und zu<br />
die Chance läßt, aus dem ästhetischen Massenkäfig<br />
auszubrechen? An diesem Punkt<br />
wird es schwierig. Unsere Verständigung<br />
im Alltag beruht auf der stillschweigenden<br />
Übereinkunft, daß jeder nur das empfindet<br />
und mitteilt, was auch alle anderen unter<br />
den gleichen Bedingungen mitteilen und<br />
empfinden können. Meine persönlichen<br />
Bekenntnisse werden nicht deswegen verstanden,<br />
weil die anderen sich bereitwillig<br />
dadurch erschüttern lassen, sondern, weil<br />
sie gelernt haben, mit solchen Bekenntnissen,<br />
die auch ihre eigenen sein könnten,<br />
ästhetisch umzugehen. Je platter meine<br />
Äußerung, umso besser kommt sie an.<br />
Wenn der Mitarbeiter, der beim Erreichen<br />
der Altersgrenze von seinen Kollegen verabschiedet<br />
wird, schlicht erklärt, er habe<br />
sich seit dreißig Jahren nach einem<br />
Rentnerdasein gesehnt, dann versteht ihn<br />
keiner. Er muß sagen: Ich habe immer gern<br />
gearbeitet; ich betrachte es als meine<br />
Pflicht, auch weiterhin zur Verfi.igung zu<br />
stehen, wenn ich gebraucht werde. atürlich<br />
braucht ihn niemand; und ob er gern<br />
gearbeitet hat oder nicht, ist den Kollegen<br />
völlig gleichgültig. Aber er hat das richtige<br />
Signal gesetzt und damit einem Lebensgefuhl<br />
Ausdruck verliehen, das sich an<br />
Fremdbestimmung klammert, weil es<br />
"Sinn" nur von anderen beziehen und eigenes<br />
Wirken lediglich in einem vorgegebenen<br />
ästhetischen Zusammenhang begreifen<br />
kann.<br />
Dieses Verfahren funktioniert überall :<br />
in der Pädagogik, wenn ich anderen erzähle,<br />
daß ich mein Kind "zur Freiheit" oder<br />
"zur Ordnung" erziehe Qe nachdem, welcher<br />
ästhetische Rahmen gerade gängig<br />
ist); oder in der Kommunalpolitik, wenn ein<br />
dringliches Problem nicht etwa gelöst, sondern<br />
"aufgegriffen" und mit einschlägigen<br />
Bemerkungen abgedeckt wird. Vorausgesetzt<br />
ist der Konsens darüber, daß Worte in<br />
erster Linie keinen inhaltlichen Sinn, sondern<br />
eine ästhetische Wirkung haben; daß<br />
Sprechen und Verhalten Signale setzen,<br />
daß nicht nur das, was ich äußere, sondern<br />
schon das, was ich überhaupt zu denken<br />
und zu empfinden wage, in ein System passen<br />
muß, wo es begriffen wird und mir auch<br />
noch die Gewißheit gibt, ich habe mich als<br />
eigenständige Person präsentier!.<br />
Werbung und Alltagsleben, Offentlichkeit<br />
und Privatheit durchdringen sich, beziehen<br />
sich aufeinander und bilden zusammen<br />
einen ästhetischen Gesamtkomplex.<br />
Was ich selber will, läßt sich von dem, was<br />
fi.ir jedermann visualisiert wird, kaum noch<br />
unterscheiden. "Ich rauche gern!" Nun,<br />
vielleicht rauche ich wirklich gern, aber darauf<br />
kommt es nicht an. Es kommt darauf<br />
an, ob sich meine Äußerung ästhetisch unterbringen<br />
läßt und eine gewisse Signalwirkung<br />
auslöst. Auch die Formel "Ich morde<br />
gern!" wäre in einem entsprechenden gesellschaftlichen<br />
Rahmen durchaus denkbar<br />
und ebenso wenig inhaltlich ernst zu neh-
Der Gast und die Masse<br />
men wie alle ähnlichen Floskeln. Verständlich<br />
machen kann ich mich allein unter der<br />
Voraussetzung, daß meine Äußerung nicht<br />
inhaltlich, sondern ästhetisch gemeint ist.<br />
Es geht nicht um Mitteilungen, sondern um<br />
das Abrufen von Stichworten fur eingeübte<br />
Reaktionen. Und darin, daß in diesen Rollenspielen<br />
alles aufeinander abgestimmt<br />
sein muß, wird der Nihilismus des Alltags<br />
sichtbar.<br />
2. "Witz" als ästhetische<br />
Kategorie<br />
Die üblichen Versuche, sich in der Massengesellschaft<br />
ein eigenes Profil zuzulegen,<br />
bewegen sich in der Regel auf ein und derselben<br />
Ebene. Sie laufen daraufhinaus, sich<br />
zu distanzieren und jeden Anschein von<br />
Konformität zu vermeiden. Das tragende<br />
Motiv ist die Angst vor Anpassung und die<br />
Sehnsucht nach Identität. Von vielen möglichen<br />
Beispielen nennen wir nur drei : Aussteigen,<br />
Jagd aufSündenböcke, Erziehung<br />
zum Nonkonformismus. Alle drei sind zum<br />
Scheitern verurteilt, weil sie innerhalb der<br />
Kategorien von Massenkultur bleiben und<br />
keinen Überstieg in ein anderes logisches<br />
System markieren. Aussteigen ist nicht Abkehr<br />
vom "normalen" Leben, sondern eine<br />
seiner möglichen Varianten; denn Massengesellschaft<br />
heißt immer auch pluralistische<br />
Gesellschaft, die viele Möglichkeiten<br />
bereithält, so daß jedermann sich mit seinem<br />
persönlichen Lebensentwurf darin<br />
wiederfinden und sogar aufGleichgesinnte<br />
rechnen kann. Nur in monolithischen, zentral<br />
verwalteten Gesellschaften, wo es keinen<br />
Pluralismus, aber eben darum auch keine<br />
"Masse" gibt, wird Aussteigen zum Problem.<br />
Die Jagd auf Sündenböcke zielt ebenfalls<br />
auf die Unverwechselbarkeit des Individuums,<br />
nur nicht bei mir selbst, sondern<br />
bei anderen. Auch dies ist ein Versuch, die<br />
relativ offene Gesellschaft wieder zu schließen<br />
und etwaige Mißstände aus einer einzigen<br />
Quelle zu "erklären". Wer sich daran<br />
beteiligt, setzt voraus, daß die Gesellschaft<br />
aus einem Guß ist, normalerweise reibungslos<br />
funktioniert und nur von einzelnen<br />
Übeltätern gestört wird. Aber ob Meier<br />
oder Müller eingesperrt wird, ist in einer<br />
Massengesellschaft mit Massendelikten im<br />
Prinzip gleichgültig.<br />
Erziehung zum Nonkonformismus<br />
schließlich will den nicht-austauschbaren,<br />
nach eigenem Entwurf lebenden Menschen<br />
hervorbringen. Sie übersieht, daß ein<br />
beigebrachtes Verhalten niemals originell<br />
ist, weil alles, was es zu lernen gibt, von vielen<br />
anderen ebenso gelernt werden kann.<br />
Erziehung, Lehren und Lernen sind überhaupt<br />
nicht auf einen einzelnen bezogen,<br />
sondern müssen massenhaft organisiert<br />
werden und erweisen sich damit als Elemente<br />
der Gesellschaft insgesamt, ganz<br />
gleich, welche Ziele diese nach eigenem<br />
Dafurhalten verfolgt. Angst vor Anpassung<br />
ist selbst ein Phänomen,_ das nur in einer<br />
pluralistischen Massengesellschaft entstehen<br />
kann. Wer vor allem bestrebt ist, sich<br />
nicht anzupassen, legt sich auf ein voraussehbares<br />
Verhalten fest. Er braucht gerade<br />
fur diese Haltung verläßliche Markierungspunkte,<br />
die ihm signalisieren, daß er auf<br />
dem "richtigen" Wege ist. Damit bezieht er<br />
sein Selbstverständnis nicht aus sich, sondern<br />
von außen. Anpassungund Nicht-Anpassung<br />
werden zu symmetrischen Figuren;<br />
sie lassen sich wegkürzen und heben<br />
einander au(<br />
Falls es eine Chance gibt, die Ästhetik<br />
des bestehenden gesellschaftlichen Systems<br />
mit seiner Dialektik von Anpassung<br />
und Nichtanpassung zu durchbrechen,<br />
dann können wir uns nicht planvoll aufihre<br />
Wahrnehmung vorbereiten. Diese Chance<br />
besteht vielmehr nur bei einzelnen Gelegenheiten;<br />
sie ist bedingt durch Zeit, Raum<br />
und Umstände, kann insofern niemals vorausgesehen<br />
werden und ergibt sich nicht<br />
mit Sicherheit fur jedermann. Unverwechselbar<br />
bin ich, wenn überhaupt, dann nur<br />
dort, wo ich etwas vollbringe, was in dieser<br />
spezifischen Situation kein anderer vollbringt.<br />
Das braucht nichts Spektakuläres zu<br />
sein: kein geniales Werk, keine sportliche<br />
Superleistung, keine Blitzkarriere; es genügt<br />
eine verblüffende Äußerung, eine unvermutete<br />
Handlung, eine überraschende<br />
Entscheidung, um die Ästhetik des Sy-<br />
stems der pluralistischen Massengesellschaft<br />
fur einen Moment sichtbar zu machen<br />
und dadurch außer Funktion zu setzen.<br />
Dies mag mir von Zeit zu Zeit glücken<br />
- oder auch nicht; jedenfalls kann ich keinem<br />
anderen sagen, wie er es machen muß,<br />
denn ich selber weiß das auch nicht. Ich<br />
kann allenfalls sagen: es bedarf dazu einer<br />
gewissen Disposition, die mir dazu verhilft,<br />
strukturelle Zusammenhänge zu erfassen<br />
und nicht auf alles hereinzufallen, was mir<br />
an gängiger Lebenshilfe angedient wird.<br />
Wenn im folgenden drei mögliche Wege<br />
zur Unverwechselbarkeit skizziert werden,<br />
dann kann das aus den genannten<br />
Gründen nur sehr abstrakt geschehen; es<br />
handelt sich also weder um Handlungsanweisungen,<br />
die von vielen befolgt werden<br />
können, noch um anthropologische Bestimmungen,<br />
die "im Prinzip" immer gelten.<br />
Man kann dergleichen - streng genommen-<br />
nicht formulieren; es ist wie mit<br />
Ludwig Wittgensteins Erwägungen zur<br />
Sprache, wenn er am Schluß seines "Tractatus"<br />
erklärt: "Er muß sozusagen die Leiter<br />
wegwerfen ... dann sieht er die Welt<br />
richtig." Unter diesen Einschränkungen<br />
läßt sich sagen: eine Profliierung des Individuums<br />
in der Massengesellschaft kann zustandekomrnen<br />
durch "Witz", durch "Verweigerung",<br />
durch "Gestaltung". Das erste<br />
bezeichnet eine spontane intellektuelle<br />
Zerstörung der herrschenden Ladentisch<br />
Mentalität; das zweite steht fi.ir einen Versuch,<br />
in bestimmten Situationen dem<br />
Gruppendruck einer Institution zu widerstehen;<br />
das dritte betrifft die mögliche<br />
ästhetische Innovation durch künstlerische<br />
Kreativität.<br />
Der Witz hat eine ähnliche Wirkung<br />
wie ein Kurzschluß, der das bestehende<br />
elektrische System nicht nur in seinen Verzweigungen<br />
sichtbar macht, sondern zugleich<br />
auch lahmlegt. Im Witz leuchten die<br />
ästhetischen Strukturen eines Kommunikationssystems,<br />
einer Institution, eines gewohnten<br />
Verhaltens auf und werden eben<br />
damit schlagartig außer Funktion gesetzt.<br />
Der Witz ist selbst ein ästhetisches Formprinzip:<br />
er macht fur de~enigen, der fur so<br />
etwas Sinn hat, die Lächerlichkeit eines Ri-<br />
23
Der Gast und die Masse<br />
tus, die Borniertheit einer Regelung, die<br />
Brutalität eines Herrschaftsapparates, die<br />
Absurdität einer Vcrschrift, die Hysterie einer<br />
Gemeinschaft sichtbar. Die Logik der<br />
vorgefundenen Lebensform wird relativiert<br />
und als eine unter mehreren möglichen<br />
enthüllt.<br />
In diesem weiten Sinne ist also "Witz"<br />
nicht allein dadurch gekennzeichnet, daß<br />
man schallend darüber lacht. Vielleicht<br />
lacht man überhaupt nicht, vielleicht ist es<br />
gerade so, daß den Zuhörern das Lachen<br />
vergeht; und vielleicht weiß der Urheber<br />
des Witzes nicht einmal, daß er einen Witz<br />
gemacht hat. Ein guter Witz gelingt einem<br />
Menschen nur in seltenen Sternstunden.<br />
Und wenn er ihm gelingt, kann er das nicht<br />
vermitteln; er kann nicht einen anderen<br />
auffordern: Sei witzig! Könnten wir dergleichen<br />
verallgemeinern und das Prinzip des<br />
Witzes pädagogisch beibringen, dann wäre<br />
es um die UnveiWechselbarkeit geschehen.<br />
Natürlich ist der Witz nichts<br />
Außergewöhnliches; er fällt nicht vom<br />
Himmel, sondern setzt voraus, daß der witzige<br />
Mensch sich in der pluralistischen<br />
Massengesellschaft zurechtgefunden hat;<br />
er bedarf einer "normalen" logischen Ebene,<br />
um sich von ihr zu distanzieren. Insofern<br />
muß sich auch der Witzige in gewissem<br />
Sinne "anpassen". Diese Dialektik von gewohnter<br />
Massenlogik und ungewohnter<br />
Logik des Witzes wird manchmal sichtbar<br />
in der Werbung; denn Werbung muß<br />
einerseits die Masse ansprechen und deren<br />
durchschnittliche Sehnsüchte visualisieren,<br />
andererseits aber auch durch witzige<br />
Verfremdung ihre innovative Absicht<br />
kenntlich machen.<br />
3. VeiWeigerun~ von<br />
"Gemeinschaft'<br />
Auch in der "VeiWeigerung" ist Unverwechselbarkeit<br />
möglich, wenngleich nicht<br />
planmäßig erreichbar. Die radikalste Form<br />
der VeiWeigerung ist die bewußte Opposition<br />
gegen ein Terror-Regime bis zum Einsatz<br />
des Lebens. Daß eine solche kompromißlose<br />
Haltung nur jeweils von einem einzelnen<br />
praktiziert, nicht aber vielen empfohlen<br />
werden kann, liegt auf der Hand.<br />
24<br />
Doch selbst in unserem durchschnittlichen<br />
Alltagsleben gibt es immer wieder Gelegenheiten<br />
zur VeiWeigerung. Es geht dann<br />
nicht gleich um Leben und Tod, aber doch<br />
vielleicht um Mut oder Feigheit, um intellektuelle<br />
Redlichkeit oder ästhetisierende<br />
Verharmlosung, um Aushalten oder Verschleiern<br />
von "kognitiver Dissonanz" .. Verweigerung<br />
im Sinne von UnveiWechselbarkeit<br />
kann nur von Individuen odervielleicht<br />
auch von Kleingruppen geleistet werden;<br />
die politische Opposition einer Großgruppe<br />
sagt sicherlich generell etwas über<br />
Denkmuster, moralische Auffassungen<br />
und soziale Zugehörigkeit ihrer Mitglieder<br />
aus, nichts aber darüber, ob sichjeder Einzelne<br />
gegen jeden Gleichgesinnten austauschen<br />
läßt.<br />
Daher ist Sprödigkeit angesagt gegen<br />
Zumutungen, die in der durchschnittlichen<br />
Alltäglichkeit an mich herangetragen werden.<br />
Nehmen wir drei Beispiele: Abwehr<br />
von wohlfeilen Angeboten, die mir Identität<br />
verheißen; Abwehr der Vermittlung von<br />
Perspektiven durch Kundige, die es besser<br />
wissen als ich; Abwehr der eingefahrenen<br />
Spielregeln, die es in jeder Institution gibt,<br />
wo die chronische ästhetische Zustimmungaller<br />
Mitglieder als selbstverständlich<br />
vorausgesetzt wird.<br />
Die Angebote von Identität und harmonischem<br />
Lebensgefuhl gibt es heute<br />
überall auf den pädagogischen, psychologischen<br />
und weltanschaulichen Ladentischen.<br />
Menschen erstreben eine ästhetische<br />
Identität. Sie wollen sich in der Großgruppe<br />
wohlaufgehoben fuhlen und ihre<br />
individuelle Begrenztheit in Gemeinschaftserlebnissen<br />
übeiWinden. Ihnen wird<br />
gesagt, sie könnten das leicht selbst erreichen:<br />
durch Selbstbedienung mit gängigen<br />
Argumenten, Verhaltensmustern un Denkfiguren,<br />
ebenso wie im Supermarkt. Aber<br />
diese Form des Versuchs, sich gegen die<br />
Austauschbarkeit zu wehren, kommt<br />
schnell an ihre Grenze, denn gerade die<br />
dem Einzelnen angebotene Identität ("Wir<br />
sind alle furden Frieden!") ist ja massenweise<br />
zu haben, hebt also die Austauschbarkeit<br />
nicht auf, sondern besiegelt sie.<br />
Die Vermittlung von Perspektiven und<br />
Leb ~ nssinn gilt bei rechtschaffenen Erwachsenen<br />
als Pflicht gegenüber der Jugend.<br />
In der Öffentlichkeit wird ja chronisch<br />
darüber geklagt, daß die Jugend keine<br />
Lebensperspektiven und moralischen Kategorien<br />
mehr besitze. EIWachsene beschuldigen<br />
sich, weil sie versäumt haben,<br />
der Jugend solche Perspektiven zu vermitteln.<br />
Damit halten sie an der autoritären<br />
Lenkung der Jugend fest, denn "Perspektive"<br />
ist eine bestimmte Art des Sehens, die<br />
zielgerichtet gesteuert werden soll. Hier<br />
wird der ästhetische Charakter solcher<br />
Beeinflussung deutlich. Wer dergleichen<br />
fordert oder mitmacht, glaubt immer noch,<br />
es sei generell möglich, jungen Menschen<br />
die "richtige" Sichtweise beizubringen. Der<br />
Versuch, Perspektiven zu vermitteln und<br />
dadurch die Austauschbarkeit zu übeiWinden,<br />
schlägt um in neue Austauschbarkeit,<br />
weil nun wieder alle dasselbe sehen, und<br />
zwar so, wie es von den tonangebenden Instanzen<br />
fur normal gehalten wird.<br />
Die Spielregeln in der Institution (in Behörden,<br />
Internaten, Vereinen) ordnen nicht<br />
nur den äußeren Ablauf, sondern auch das<br />
Denken und die Reaktionsweise, die Moral<br />
und die Orientierung der Mitglieder. Doch<br />
wer die Institution insgesamt ebenso vorbehaltlos<br />
veiWirft, wie die meisten anderen<br />
ihr zustimmen, kann zwar vorübergehend<br />
einigen Wirbel verursachen, wird aber bald<br />
vor die Alternative gestellt werden, sich<br />
entweder zu unteiWerfen oder zu gehen.<br />
UnveiWechselbar wird er erst dann, wenn<br />
er bei gegebener Gelegenheit die Spielregeln<br />
ironisch außer Kraft setzt: etwa indem<br />
er öffentlich kundtut, er habe ein Verbot<br />
übertreten; indem er in einzelnen Fällen die<br />
Inkompetenz eines Funktionsträgers enthüllt;<br />
indem er durch subversive Fragen<br />
den Mangel an Begründung fur geltende<br />
ormen freilegt. Ähnliches kann geschehen<br />
in happenings, Hausbesetzungen und<br />
para-politischen Spontanakti~nen. Aber<br />
der Knalleffekt, mit dem die Asthetik des<br />
bislang anerkannten Systems durch eine<br />
ästhetische Verfremdung und den Überstieg<br />
auf eine andere logische Ebene zerstört<br />
wird, ist nur beim erstenmal zu eiWarten;<br />
wird dieses Vorgehen zur Routine, so
Der Gast und die Masse<br />
verpufft die Wirkung, und die Vorfälle werden<br />
ebenso austauschbar wie die agierenden<br />
Figuren.<br />
Verweigerung zeigt sich dort, wo die<br />
Ästhetik eines herrschenden Systems aufgebrochen<br />
wird. Umgekehrt sind totalitäre<br />
Systeme darauf bedacht, ~ine in sich geschlossene,<br />
umgreifende Asthetik zu bieten,<br />
in der jedermann eine optisch und akustisch<br />
aufbereitete emotionale Heimat finden<br />
kann. So hat der Nationalsozialismus<br />
durch seine sinnlich wirksame Propaganda<br />
einen ästhetischen Zusammenhang geschaffen,<br />
der eine homogene, nicht von Widersprüchen<br />
und unterschiedlichen Interessen<br />
zerrissene Gesellschaft vortäuschte<br />
und mit seiner Ästhetik der totalen Volksgemeinschaft<br />
alle Gruppen umschloß.<br />
Auch die politische Zielsetzungwar letzten<br />
Endes ästhetisch, nicht sachlich aus einem<br />
greifbaren Interesse heraus begründet:<br />
Ließ sich die Welt nicht als ganze erobern,<br />
dann sollte sie als ganze untergehen.<br />
In diesem ästhetischen Klima konnten<br />
sich gerade auch prominente Künstler und<br />
Schriftsteller dem Regime in die Arme werfen.<br />
Ästhetik wurde angewendet wie eine<br />
Droge, die eine direkte Problemlösung anbot<br />
und es nahelegte, vor der politischen<br />
Realität die Augen zu schließen. Das auf<br />
Ästhetik angelegte System und der ästhetisch<br />
existierende Künstler konnten sich<br />
aufeinander beziehen: die Ästhetik des Systems<br />
schien dem Künstler über alle politischen<br />
Bedenken hinweg ein genuines Tätigkeitsfeld<br />
zu eröffuen; und er selber konnte<br />
sich die Totalität der Volksgemeinschaft<br />
ästhetisch zunutze machen: "Für mich existiert<br />
das Volk erst in dem Moment, wo es<br />
Publikum wird." (Richard Strauss)<br />
4. Kritisches Potential<br />
in künstlerischer Kreativität<br />
Damit sind wir bei der dritten möglichen<br />
Form des Kampfes gegen die Austauschbarkeit<br />
des modernen Menschen. Wo<br />
Künstler glauben, die Kunst könne in totalem<br />
Zugriff die Welt wieder in Ordnung<br />
bringen, dort ist allerdings die Versuchung<br />
groß, sich einem ästhetisch drapierten totalitären<br />
System zu unterwerfen und die kritisehe<br />
Funktion der Kunst preiszugeben. Die<br />
Unbedingtheit des künstlerischen Engagements,<br />
die Lösung der Kuns't von der wirklich<br />
existierenden Gesellschaft kann dialektisch<br />
in einen totalen Zusammenbruch<br />
der Kunst umschlagen. Dafur drei Beispiele:<br />
(1) Der heroische Realismus geht davon<br />
aus, daß ein inhaltlicher Bezug zu Moral<br />
und Werten durch eine Entscheidung in<br />
intellektueller Verantwortung überhaupt<br />
nicht mehr hergestellt werden kann. Die<br />
Welt wird so, wie sie ist, hingenommen. Es<br />
ist dann auch im Prinzip gleichgültig, auf<br />
welcher Seite ich stehe. Ich bewahre<br />
Gleichmut, bleibe tapfer auf dem Posten,<br />
habe aber keinen Anlaß fur ein spezifisches<br />
Engagement. Diese Weltsicht verleitet zu<br />
einer Ästhetik des Schreckens. Der Künstler<br />
wird durch Leid und Elend, Grausamkeit<br />
und Tod nicht mehr aufgewühlt. Er<br />
präsentiert als neuen Menschentypus nicht<br />
den kritischen Aufklärer, der Partei ergreift,<br />
sondern den tapferen Einzelnen, der das<br />
ihn umwogende Chaos erträgt, ohne zu<br />
verzagen. Dieser individuelle Heroismus<br />
will die Welt strukturieren, schlägt aber um<br />
in ein beliebiges "Aushalten" jeder Katastrophe;<br />
der Einzelne wird zum Spielball<br />
politischer Gruppen und verfällt gerade in<br />
seiner Einsamkeit erst recht der Massenexistenz.<br />
(2) Auch die Beschlagnahme der Kunstfur<br />
die politische Revolution schlägt dialektisch<br />
in eine Zerstörung der Kunst um. lnsofern<br />
irren die frühsowjetischen Kunsttheoretiker,<br />
wenn sie die (proletarische)<br />
Kunst als unmittelbar wirkendes, bewußt<br />
eingesetztes Werkzeug der Lebensgestaltung<br />
stilisieren. Eine Kunst, die sich in dieser<br />
Weise organisieren läßt, ist eine um ihre<br />
kreative Dimension verkürzte Kunst, mithin<br />
keine Kunst mehr. Kunst wird von denen,<br />
die sie fur vorausgesetzte Ziele einspannen<br />
wollten, immer schon wie eine<br />
fremdbestimmte Veranstaltung verstanden,<br />
die sich zielgerichtet organisieren läßt.<br />
Man möchte sich gern der freiheitlichen<br />
Elemente der Kunst versichern, ohne zu<br />
bemerken, daß dieser Zugriff die Kunst zerfrißt<br />
und ihrer Dialektik beraubt.<br />
(3) Schließlich finden sich die etwa im<br />
Futurismus und Expressionismus unternommenen<br />
Versuche einer radtkalen Verlinderung<br />
der Welt, der Aufschrei des fremdbestimmten<br />
Menschen, die Forderung<br />
nach einer Umwertung der vorgefundenen<br />
Werte dialektisch gerade in der Wirklichkeit<br />
totalitärer Systeme "erfullt". Solange<br />
sich die Innovation noch ästhetisch fassen<br />
ließ, war sie "witzig": "Und wir jagten dahin<br />
und zerquetschten auf den Hausschwellen<br />
die Wachhunde, die sich unter unseren<br />
heißgelaufenen Reifen wie Hemdkragen<br />
unter dem Bügeleisen hogen." (F.T. Marinetti)<br />
Aber der Witz hielt nicht lange vor,<br />
denn schon hier lauerte der Faschismus am<br />
Horizont. Ähnlich lief es mit dem Drama<br />
des Expressionismus, in dem sich die Auf-.<br />
bruchstimmung einer ganzen Generation<br />
ausdrückte. Es war der Kampf des Lebens<br />
gegen die Starrheit, der Söhne gegen die<br />
Väter, der Unterdrückten gegen die Herrschenden,<br />
des Individuums gegen die Masse,<br />
der Gemeinschaft gegen die Gesellschaft,<br />
des Gefuhls gegen die Ratio, der<br />
Mitmenschlichkeit gegen die Entfremdung;<br />
gute und schöne Absichten, auch fur<br />
uns heute durchaus nachvollziehbar; aber<br />
der dialektische Umschlag in die Volksgemeinschaft<br />
und in die ästhetische Totalität<br />
des Nationalsozialismus lie nicht lange auf<br />
sich warten.<br />
Gemeinsam ist allen solchen ästhetischen<br />
Unternehmungen die Sehnsucht<br />
nach dem neuen Menschen und der Glaube,<br />
dessen Hervorkommen durch die<br />
Kunst befördern zu können. Dieses Wagnis<br />
erweist sich als zwiespältig. Der neue<br />
Mensch ist gedacht als der gute neue<br />
Mensch; doch was spricht dagegen, daß<br />
dieser neue Mensch auch der Verneiner<br />
und Zerstörer aller Ordnung wird? Im radikalen<br />
Wandel liegt ein totalitärer Anspruch.<br />
Der Wille zum Neuen kann sich gegen<br />
aufklärerisch auswirken und Innovation<br />
verhindern. Wenn alle schuldig sind,<br />
wenn alle sich ändern müssen, dann verschwinden<br />
die ungerechten Herrschaftsverhältnisse<br />
und die konkrete Schuld einzelner<br />
Menschen aus dem Bewußtsein. Dadurch<br />
wird die feststellbare Verantwortung<br />
25
Der Gast und die Masse<br />
fur bestimmte Fakten und Entwicklungen<br />
eingeebnet. Gesellschaftliche Zusammenhänge<br />
bleiben undurchschaut, da jedes<br />
Phänomen auf die allgemein menschliche<br />
Ebene emporgehoben wird. So muß gefragt<br />
werden: Ist vielleicht die Sehnsucht<br />
nach dem neuen Menschen nur eine Chif-.<br />
fre dafur, daß im Grunde nichts verändert<br />
zu werden braucht? Ist der neue Mensch<br />
nur ein Traum, eine Selbststilisierung, ein<br />
Ausdruck der passiven Haltung des Untertanen?<br />
Wird der neue Mensch nur als der<br />
große Führer hervortreten und mir die<br />
Welt so interpretieren, daß ich mich selbst<br />
nicht zu verändern brauche?<br />
Wie kann der Künstler mit dieser Gefahr<br />
des dialektischen Umschlags fertig<br />
werden und dennoch der Austauschbarkeil<br />
des Menschen in der Massenkultur<br />
entgegenwirken? Eine Antwort läßt sich<br />
nur negativ, durch Ausschließung gewinnen.<br />
Sie könnte lauten: Kunst leistet keine<br />
totale Veränderung; Kunst erfullt keine<br />
"Aufgabe"; Kunst hebt sich ab von chronischer<br />
Visualisierung.<br />
Kunst verzichtet auf eine totale Veriindenmg,<br />
denn sie bliebe mit einem solchen Anspruch<br />
gerade in den logischen Kategorien<br />
der zu verändernden Gesellschaft. Einerseits<br />
sind Kunstwerke selbst Bestandteil der<br />
Gesellschaft, weisen deren Merkmale auf<br />
und akzentuieren ihre Möglichkeiten, denn<br />
sie sind von Raum, Zeit und Gelegenheit<br />
abhängig. Kunstwerke als Steinplastiken,<br />
Kunstwerke mit technischer Apparatur,<br />
Kunstwerke als happenings, Kunstwerke<br />
als Bewegungselemente sind nur Kunstwerke,<br />
solange sie in einer Ausstellung aufgebaut<br />
sind, nicht aber auf dem Transport.<br />
Andererseits markieren sie gerade dadurch<br />
eine Distanz, eine ironische Verfremdung<br />
derselben Gesellschaft: sie treten hier und<br />
da in Erscheinung, "erzählen einen Witz"<br />
und verschwinden wieder. Es kommt also<br />
auf das Arrangement des Umfeldes und auf<br />
die Konstellation der beteiligten Personel'l<br />
an.<br />
Kunst hat kerne Atifkabezu erfullen: Gäbe<br />
es eine solche Aufgabe, so müßten Sinn<br />
und Ziel der Kunst nach den bereits verfugbaren<br />
Kategorien formuliert worden sein,<br />
26<br />
aus denen sich die Kunst gerade gelöst hat.<br />
Es gibt aber keine Instanz mehr, die der<br />
Kunst schon vorausliegt, so daß sie sich an<br />
ihr messen lassen müßte. Vielmehr ist<br />
Kunst selbst ein ursprünglicher Zugangzur<br />
Wirklichkeit. Die Frage, welche Aufgabe<br />
die Kunst in der Gesellschaft zu erfullen habe,<br />
greift allemal zu kurz. Kunst gehört<br />
nicht auf die Ebene der Mittel, sondern auf<br />
die der "Zwecke". Sie ist selbst an der möglichen<br />
Sinngebung beteiligt, liegt also im<br />
Bereich dessen, was das "Ziel" aller denkbaren<br />
Aufgaben sein könnte.<br />
Kunst bildet ein Gegengewichtgegen die<br />
chronische Visualisierung des gesamten<br />
Alltagslebens in den Medien. Der Drang<br />
zur Visualisierung ist ein Kennzeichen von<br />
Massenkultur, wo Wahrnehmung weniger<br />
über das Gehirn als über die Sinne erfolgt.<br />
Die allgemeine Visualisierung hat den Charakter<br />
von Signalen, Verkehrszeichen, Hinweisschildern;<br />
sie ist unkritisch und zweckgebunden;<br />
sie verbreitet Klischees,<br />
reproduziert das Vorhandene, dient der<br />
Unterhaltung und wird zum Erfahrungsersatz.<br />
Massen-Visualisieru ng heißt Leben in<br />
einer Bilderwelt<br />
Sicherlich: auch die Kunst setzt eine<br />
Bilderwelt voraus; und in der Tat sind die<br />
Unterschiede zwischen Kunst und Massenvisualisierung<br />
nur idealtypisch und theoretisch<br />
faßbar, während sie in der Wirklichkeit<br />
oft verschwimmen. Dieser Unterschied<br />
liegt auch nicht in einer absolut vorhandenen<br />
Qualität eines Werkes selbst,<br />
sondern im sozialen Kontext, im Gebrauch,<br />
in der Wirkung, im Publikum. Er liegt in der<br />
Frage: Will ich mich lediglich wiedererkennen,<br />
suche ich Bestätigung und Halt; oder<br />
lasse ich mich zu neuem Sehen, Denken<br />
und Handeln anregen?<br />
5. Fazit: Chancen zur Abwehr<br />
der Austauschbarkeit<br />
Versuchen wir zum Abschluß, ein Fazit<br />
zu ziehen. Ich habe eine dreifache Chance,<br />
die überall und jederzeit wirksame Tendenz<br />
zur Austauschbarkeil vorläufig aufZuhalten.<br />
1. Ich bfJ'ahe die Massenkulturund widerstehe<br />
der Versuchung zu eskapistischen<br />
Privatlösungen. ur wenn ich nicht aussteige,<br />
nurwenn ich keinen "neuen Menschen"<br />
will, nur wenn ich aufTräume von totaler<br />
Veränderung verzichte, wird mir die dialektische<br />
Grundfigur der Massengesellschaft<br />
deutlich. Ich erkenne: Einerseits gerät jede<br />
Innovation, sobald sie zum Programm gemacht<br />
und "pädagogisch" fur viele organisiert<br />
wird, zur venvechselbaren kulturellen<br />
Ware vom Ladentisch; andererseits beruht<br />
der Pluralismus derselben Gesellschaft darauf,<br />
daß nichts mit otwendigkeit vorgegeben<br />
ist.<br />
2. Ich lasse mich aufpersiin!Uhe Beziehungen<br />
ezn und scheue nicht das darin liegende<br />
Risiko. Unverwechselbar werde ich nicht<br />
schlechthin, sondern nur fur bestimmte<br />
Personen. Wer Beziehungen allein in Form<br />
von Waren als "Beziehungskisten" wahrnimmt<br />
und alle Bemühungen zur Überwindung<br />
der Austauschbarkeil selbst schon fur<br />
austauschbar und öffentlich anbietbar hält,<br />
bleibt wirklich austauschbar.<br />
3. Ich habe kezne Angst vor Entfremdung.<br />
Das Gespenst der Entfremdung entspringt<br />
der Sehnsucht nach einer Existenzform, in<br />
welcher der Mensch noch (oder schon wieder)<br />
bei sich selber ist. Aber das Bemühen,<br />
der Entfremdung zu entkommen, fuhrt in<br />
immer neue Frustrationen. Denn ist die<br />
Aufhebung der Entfremdung nicht nur ein<br />
ästhetisches Ziel? Ist das Verlangen nach<br />
Ganzheitlichkeil und Identität nicht nur eine<br />
ästhetische lllusion? Ist Schillers spielender<br />
Mensch wirklich wünschenswert?<br />
Auch Hitler hat in gewissem Sinne "gespielt".<br />
Alle drei Wege haben eine ästhetische<br />
Dimension. Die Bejahung der Massenkultur<br />
ermöglicht die ästhetische Verfremdung<br />
und die aus ihr folgende kritische Abstandnahme;<br />
das Risiko der persönlichen<br />
Beziehung spiegelt sich im Risiko, mich<br />
persönlich auf ein Kunstwerk einzulassen;<br />
die Gelassenheit gegenüber der Entfremdung<br />
erleichtert die Abwehr eines mit dem<br />
Anspruch totaler Ästhetik auftretenden<br />
Menschenbildes.
Der Gast und die Masse<br />
Hans-Dieter Bahr<br />
Xenia<br />
oder der ephemere Aufenthalt<br />
Identität als Verfehlung<br />
Es mag veiWUndern, von der Philosophie<br />
her ein Thema angehen zu wollen, das in<br />
ihr keinen Ort zu haben scheint, nicht einmal<br />
über den Umweg oder im Nachklang<br />
einer mythischen Metaphorik. (Man denke<br />
an Davids Hoffuung oder an Ciceros<br />
Melancholie, nur ein Gast auf dieser Erde,<br />
einer Herberge, zu sein.) Man wird also auf<br />
die Sozialgeschichte und ihre Wissenschaften<br />
verweisen wollen, gleichwohl dabei auf<br />
das Erstaunliche treffen, daß gerade diese<br />
sich nie des Themas angenommen haben.<br />
Und wäre nicht zu vermuten, daß sie es auf<br />
ihre Weise gar nicht konnten?- Nicht, daß<br />
die Erscheinung des Gastes nicht befragt<br />
wurde, stellt das Problem dar, sondern daß<br />
die Art seiner Brfragung, - sei sie ethnologisch,<br />
rechtlich, soziologisch, - zu Identz~<br />
tiitsaussagen über ihn gelangen wird, die seine<br />
Erscheinung wesentlich verfehlen. So<br />
werden die ausgrenzenden Urteile über<br />
den Gast zwar zum Ort seines Schutzes, wo<br />
er aber auch vieldeutig und unkenntlich<br />
bleibt:<br />
Er ist weder nur Fremder noch Einheimischer,<br />
nicht nur der Reisende im Unterschied<br />
zum Ansässigen oder der Unbekannte<br />
im Unterschied zum Bekannten.<br />
Fremden Gesetzen unterworfen kann er als<br />
"Knecht" gelten, den doch die Gastfreundschaft<br />
zum "Herrn" erhebt (Abraham,<br />
Odysseus). In ihm kann ein Freund oder<br />
Feind vermutet, er kann zum Vertrauten<br />
oder zum Verräter werden. Er ist weder<br />
durch Besitz noch durch Besitzlosigkeit zu<br />
definieren, weder durch Rechte noch<br />
durch Rechtlosigkeit, und sein Incognito<br />
oder sein Schicksal vermögen selbst seine<br />
Standeszugehörigkeit und seinen amen<br />
auszulöschen.<br />
Aber der Gast ist nicht wegen einer Armut<br />
an möglichen Bestimmungen unidentifizierbar;<br />
seine versuchte Identifizierung<br />
verHingt sich vielmehr im Netz der endlosen<br />
Geschichten, die er berichtet oder die<br />
über ihn erzählt werden, und in diesen kann<br />
der ungebetene Gast ebenso in den eingeladenen,<br />
der erwartete in den unheimlichen,<br />
der steinerne in den engelhaften Gast<br />
wechseln. Indem der Gast die sozialen Zu-<br />
Schreibungen und Rollen wie einen weiten<br />
Mantel über sich hängt, bewegt er sich immer<br />
schon in den Spielregeln des Anschlusses<br />
und der Zugehörigkeit, in welchen er<br />
aber zugleich jenen rätselhaften Status bezieht,<br />
den die Philosophie der euzeit dem<br />
"Subjekt" im Sinne des ego alter ego zuzuweisen<br />
suchte. Aber der Gast ist auch nicht<br />
durch die Formen einer inneren, reflektierten<br />
Austauschbarkeil bestimmbar, welche<br />
im Gestus einer Zurückhaltung seines Begehrens<br />
und im partiellen Abbruch wechselseitiger<br />
Ersetzungen seine E~enh ezikon <br />
stituieren. Ohnehin ist das kodifizierte, äußerlich<br />
binäre Verhältnis von Gast-Wirtein<br />
spätes geschichtliches Resultat, sowohl in<br />
sozio-ökonomischer wie vertragsrechtlicher<br />
Hinsicht. Das Opfer, Gabe und Gegengabe,<br />
der Austausch der Geschenke,<br />
die ewigen Begleichungen einer Schuld gehen<br />
in diesem Verhältnis voraus und verweisen,<br />
zumindest im europäischen Raum<br />
der Antike, auf eine Austauschbarkeit des<br />
"Gastes" (xenos, hospes) als ebenso Gebender<br />
wie Nehmender. Aber im Moment der<br />
Wende bildet er "selbst" die Schwelle zwischen<br />
dem Sakralen und dem Profanen,<br />
unentscheidbar zumeist, ob als ein Elender<br />
oder als ein Gott. Daher blieb die Gastlichkeit<br />
stets die Sphäre, an deren Rändern man<br />
auf das Auftauchen von Botschaften lauerte,<br />
die Klarheit und Erkenntlichkeit bringen<br />
sollten und doch mit diesen Identifizierungen<br />
eben den Gast zum Verschwinden<br />
bringen. Noch Chrysostomos warnte, frage<br />
nie einen Gast, woher kommst du, wie<br />
heißt du, wohin gehst du. Und mache Völker<br />
gewährten den Ankömmlingen exzessivste<br />
Gastfreundschaft, Fest der Begrüßung,<br />
der Bewirtung, Beherbergung und<br />
Beschenkung, die keinen Tausch und kein<br />
Abkommen einleiteten, sondern sich als<br />
Darstellungsweisen über- bieten sollten. Indem<br />
sie sich weigerten, Gegengaben der<br />
Gäste anzunehmen, - nicht einmal in der<br />
Form, sich das Erlebte des Anderen erzählen<br />
zu lassen und sie danach auszufragen, <br />
suchten sie die Gesetze des Tausches zu suspendieren,<br />
als existiere der Gast nur in der<br />
Paradoxie seiner "Undankbarkeit", Schuldlosigkeit.<br />
Es geht um nichts als um die Be-<br />
gegnung selbst, die sich inszeniert, um ein<br />
Ent-gegen-kommen, worin die Opposition<br />
des Auseinander und Ineinander, des<br />
Gegeneinander oder Miteinander unterlaufen<br />
werden durch ein sich geledendes<br />
Beiet'nander: der Gast als eine <strong>Spur</strong> unterhalb<br />
oder quer zu den Weisen des Gebens<br />
und Nehmens.<br />
Von dieser extremen Gastlichkeit aus,<br />
die ein Wissen von sich jenseits der Oppositionen<br />
darzustellen sucht, ließe sich die Frage<br />
nach der "Subjektivität" vielleicht anders<br />
wiederholen. Liegt nicht dem abendländischen<br />
Entwurf ihrer "Identität" die verdrängte<br />
Bestimmung einer Ntihe voraus,<br />
die vor der Zertrennung der Unterschiede<br />
in Verschiedenheit und Einerleiheit besteht?<br />
Wobei hier einander nahe sein kann,<br />
was als Meßbares fern liegt,- wie im Begriff<br />
der Folge immer schon angesprochen war;<br />
oder umgekehrt einander fern bleibt, was<br />
meßbar nahe liegt- wie der Begriff des einander<br />
Fremdgewordenseins anzeigt. Die ä<br />
he der Gäste ist ein "Bei sich als einem Anderen<br />
set'n ': wobei das "Als" nicht Partikel einer<br />
Rückkehr und Spiegelung ist, die immer<br />
nur durch eine Unterwerfung und Beugung<br />
(Reflexion) erreicht werden kann.<br />
"Als" meint hier das "Also" der Folge, und<br />
die Folge zeigt die "Einfaltigkeit" des Subjekts<br />
vielmehr als eine im Zeitstau aufgeworfenen<br />
Vielfaltigkeit, die es nicht zum<br />
Zerfall in bloße, beliebige Pluralitäten kommen<br />
läßt.<br />
In der einfachen Reflexionsbestimmung<br />
des Ich als "in sich seiend mit sich<br />
identisch" klingt die gastliche ähe des<br />
Entgegenkommens noch an ("Mitsein")<br />
und. wird zugleich vertrieben (",nsichsein"<br />
als Aussetzung des Außen). In der Leugnung<br />
und Verdrängung des Gastes konstituiert<br />
sich Identität als der reine, sich selbst<br />
seiende Unterschied überhaupt oder als die<br />
absolute Vereinzelung des Subjekts als Ich.<br />
Von dieser Vereinzelung her, in seiner sozialen<br />
Konstituierung als In-dividuum, verliefen<br />
die abendländischen Strategien der<br />
Vergesellschtifiung als die je besonderen Einheiten<br />
der Vielen gegen die Andersheit vieler<br />
Anderer. Und darin ist die Geschichte<br />
der Gewalt des Zusammenhangs als<br />
27
Der Gast und die Masse<br />
Sicherheit immer schon eine der endlost;n<br />
Gewaltgegen die Gewalt, die Geschichte ihrer<br />
Unlösbarkeit. Und von daher lassen sich<br />
alle Strategien der Identifikation als unentwegte<br />
Verdrängungen einer dadurch erst<br />
beunruhigend und verdächtig gewordenen<br />
Gastlichkeit beschreiben, deren ebenso<br />
unentwegtes Wiederauftauchen die Geschichte<br />
des Zlffolls und der Unsicherheiten<br />
schreibt. Im Gestus der Identifizierung verfehlen<br />
wir den Gast und vereinzeln, so daß<br />
die Vereinigungen gegen solches Ausgeliefertsein<br />
des rein Eigenen aufgerufen werden.<br />
Und vielleicht basieren alle ausweglosen<br />
Zirkelhaftigkeiten auf solchem Verfehlen<br />
des Gastes.<br />
Von der Neugierde<br />
zum V erdacht.:<br />
die polizeiliche Erzählung<br />
Es mag paradox klingen, die Verdrängung<br />
des Gastes als eine Grundstruktur europäischer<br />
Sozialität beschreiben zu wollen und<br />
zugleich zuzugeben, daß die Tendenz unserer<br />
Gesellschaft wie nie zuvor darauf zu<br />
gehen scheint, dem Status des Gastes mehr<br />
Raum zu geben als dem alten Spiel familiärer<br />
Intimitäten und vereinzelter/ vermasster,<br />
"verstaatlichter" Anonymitäten. Es<br />
wird uns immer weniger gelingen, entweder<br />
zuhauseoder unterwegs zu sein. Dazwischen<br />
aber lag immer schon die alte Würde<br />
und die Verehrung des Gastes als das ausgezeichnetste<br />
Merkmal menschlicher Urbanitiit.<br />
Es gibt die unabschließbare, großartige<br />
Neugierde fur den Gast, die uns<br />
selbst geleitet, die ein an sich selbst vorläufiges<br />
Wissen über den Gast vermehrt, ohne<br />
es anhäufen zu können. Man könnte es als<br />
eine Vermehrung bezeichnen, die sich so<br />
sehr verzweigt, daß es kein Zurück zum<br />
ehemaligen Ort der Ab-stammung geben<br />
wird.<br />
Noch ist jedoch der "Stammbaum", der<br />
unser Wissen über den Gast zensiert,<br />
kenntlich: er sei zunächst wesentlich derjenige,<br />
der fremd und unbekannt sei. Als<br />
Fremder wird der Gast in jene Distanz gebracht,<br />
durch welche er schon identifiziert<br />
ist, ehe wir etwas über ihn erfahren und wis-<br />
28<br />
sen. Insofern blieb die extremste Gestalt<br />
des derart verdrängten Gastes der Tod, als<br />
der er dem Ich selbst entgegenkommt. Und<br />
hier setzt ein bestimmter Typus seiner endlosen<br />
Befragungen ein, Projektionen eines<br />
Wissens, die sich schichtenweise über diesen<br />
Fremdling legen werden, weil niemand<br />
mehr an eine "Schuldlosigkeit" des Gastes<br />
glaubt: es ist das, was man die polizezliche<br />
Erzählung nennen kann:<br />
Wie ist dein Name und der deines Geschlechts?<br />
Woher kommst du, wo liegen<br />
Ort und Zeit deiner Geburt? Erzähle mir etwas<br />
über deine persönlichen, deine familiären,<br />
krankengeschichtlichen, standesmäßigen,<br />
beruflichen Verhältnisse, über deine<br />
politischen, religiösen, ästhetischen Ansichten,<br />
über deine Vorlieben und Abneigungen,<br />
über deine Fähigkeiten und<br />
Kenntnisse, über deine erlittenen oder verschuldeten<br />
Erfahrungen, Taten, Handlungen,<br />
Gesinnungen, Absichten und Vorhaben,<br />
über deine Kontakte und Beziehungen.<br />
-<br />
Man wird sich immer schon in solchen<br />
Erkennungsdienst gestellt sehen und sich<br />
ihm mehr oder weniger erkenntlich zeigen.<br />
Die Struktur dieses zuschreibenden Wissens,<br />
unter welcher sich das Subjekt als Person<br />
konstituiert, ist polizeilich, weil sie<br />
mehr durch eine Geschichte des Verdachts<br />
(Personenbeschreibung) als durch eine der<br />
Neugier, - die bekanntlich kein "Bedürfnis"<br />
ist, weil sie nicht befriedigt werden kann, -<br />
geschrieben wurde. Es geht hier um jene<br />
von vorne herein begrenzte Anhäufung eines<br />
überprüfbaren Wissens, die eine Vergewisserungermöglicht.<br />
Der Verdacht richtet<br />
sich nicht nur gegen die stummen und verschwiegenen<br />
Phänomene, sondern auch<br />
gegen jenes Wissen, durch dessen Bekundung<br />
sich die Person in bestimmter, vielleicht<br />
auch fälschender Weise erkenntlich<br />
zeigen will. So begrenzt das polizeiliche<br />
Wissen in sich auch ist, so unersättlich ist es,<br />
an den Punkt der UnveiWechselbarkeit der<br />
einzelnen Person zu gelangen. Die Strategien<br />
der Identifizierungwerden daher nicht<br />
vor den Einheimischen, Zugehörigen, Bekannten<br />
halt machen: unter dem Blick der<br />
ÜbeiWachung wird alles solange "fremd"<br />
bleiben, bis nicht seine unveiWechselbare<br />
Einzelheit feststeht, und sie, diese Strategien,<br />
müssen von der notwendigen IDusion<br />
ausgehen, daß sich damit die Sicherheiten<br />
des Lebens vermehren ließen. Sie werden<br />
daher auch vor wissenschaftichen und philosophischen<br />
Texten nicht haltmachen. In<br />
diesem Sinne sind die abendländischen<br />
Wissenschaften schon "Kritische Theorie"<br />
gewesen, bevor sie "Aufklärung" zum einzigen<br />
Programm erhoben hatten.<br />
Die Person, die sich, in der Verdrängung<br />
des Gastes, durch ÜbeJWachung und<br />
Uberprüfbarkeit, also durch sein Spiegelbild<br />
konstituiert, wird untrennbar von dem<br />
sein, was man in einem weiteren Sinn Ausweis<br />
und Pcys nennen kann: der Ausweis<br />
wäre die Praxis und das stets wiederholbare<br />
Resultat der Beweis.fohnmgen, daß Ich dieser<br />
sei (und nur ein Gott könnte, wie Descartes<br />
spürte, die "Polizei" absolut betrügen);<br />
und der Paß wäre Praxis und Resultat<br />
jener Prü.fongen, die jedes Ich zu bestehen<br />
hat, durch welche alle sozialen Zugänge<br />
gefiltert, die Ein- und Ausgänge geregelt<br />
werden.<br />
Ansässigkeit und Schuld<br />
oder die "Undankbarkeit"<br />
des Gastes<br />
Gleichwohl war es die Neugier selbst, welche<br />
nach diesem Gestus der Identität zu<br />
fragen begann und bemerkte, daß sie, im<br />
Verfehlen des Gastes, sich selbst auf unkorrigierbare<br />
Weise verfehlen mußte: Identität<br />
istUnterschied und die Differenz beider<br />
bleibt uneinholbar. Und so organisieren<br />
sich die abendländischen Diskurse in dem,<br />
was die Linguistik seit Saussure "Oppositionen"<br />
nennt und in seiner Praxis als Dichotomie<br />
wirksam ist. Man könnte die Differenz<br />
als die abstrakteste Form jener verdrängten,<br />
abwesend-anwesenden Gastlichkeit<br />
bezeichnen, welche eine Begegnung und<br />
das Entgegenkommen der Oppositionen<br />
erst ermöglicht, da der Sprechende sie weder<br />
bereisen noch bewohnen kann. Das Soziale<br />
zeigt sich als sprachliches Paradox:<br />
durch Dichotomien verdrängt man jene<br />
Gastlichkeit, ohne welche die Begegnung
Der Gast und die Masse<br />
der Oppositionen selbst unmöglich wäre.<br />
Dieses Paradox bewirkt eine ständige Verschiebung,<br />
so daß die oppositionellen Momente<br />
sich nie in einem Gleichgewicht halten<br />
können; ihre Struktur ist die Jniiquivalenz,<br />
von der aus wiederum unser Begnffdes<br />
Gastes selbst strukturiert wurde: wir denken<br />
von dem aus, was das Abendland "Kultur"<br />
nennt, cultura: Bildung, Pflege und<br />
Kult im Ausgang von der Ansässigkeit, der<br />
Anpflanzung, dem Aufbau. Nennen wir sie<br />
allgemein das Haus, von dem aus wir den<br />
Weg denken. Nur im Moment einer Gründung<br />
könnte es so scheinen, als wäre die<br />
Methode (der Weg) früher als die<br />
Konstruktion (das Haus); wir ziehen die Linie<br />
zum Kreis und schließen durch<br />
die Rückkehr des Weges den Umkreis<br />
eines künftigen Aufenthaltes, der Sitz<br />
und Gebiet werden soll. Gleichwohl<br />
haben wir schon zuvor den Weg bewohnt:<br />
wir können keine Richtung einschlagen,<br />
ohne zuvor den Haltgemacht zu haben, der<br />
uns eine Drehung ermöglicht. Die Festigkeit<br />
des Standes vertieft sich im grabenden<br />
Ausheben, im Bilden des Grundes, der<br />
Fundament wird, über den sich Aufbau und<br />
'Gefi.ige (Struktur und Konstruktion) erheben<br />
werden, die archi-tektonisch zum Abschluß<br />
kommen. Die Lage und der Sitz<br />
werden jene in sich ruhende, bewahrende<br />
Immanenz bestätigen, durch welche wir das<br />
Transzendieren der Wege erst vorstellig machen.<br />
Ohne diese Anpflanzung und Ansässigkeit<br />
wäre eine Geschichte der Abstammungen,<br />
des Erbes, des Eigentums unschreibbar<br />
gewesen. Der Weg, auch wo er<br />
ins Ungewisse der Er-fahrungen und Gefährdungen<br />
fuhrt, ist immer schon von einer<br />
als Rückkunft antizipierten Ankunft gedacht,<br />
als "Wiederbesetzung des Hauses<br />
der Wahrheit".Jeder Wegundjede Methode<br />
ist von dieser vorgängigen, aber keineswegs<br />
anfangliehen Konstruktion und ihrer<br />
Begründung bestimmt; man bewegt hier<br />
keine <strong>Spur</strong>en in eine wüste terra incognita<br />
hinein, weil man sich immer schon auf dem<br />
Weg bifindet, ihn besitzt, von ihm aus alle<br />
Verluste, Abirrungen, Abwege denkt. Man<br />
hat in dieser Kultur die Wege schon erschlossen,<br />
bevor man sie beging oder bahnte.<br />
Jeder Gang ist schon als Sitz bestimmt,<br />
jede Bewegung wohnt in ihrer Form. Von<br />
dieser Ansässigkeit aus beschreiben wir das<br />
Kommen und Gehen der Giiste, unsere Einkehr<br />
und unser Empfangen und vergessen<br />
so die elementarere Struktur der Begegnung<br />
und des Entgegenkommens.<br />
Versucht man, diese Inäquivalenz der<br />
dichotomischen Momente, dieses Überlagertsein<br />
des Weges vom Haus, zu erklären;<br />
versucht man die Vorherrschaft des Sitzes,<br />
der Position, der bewahrten Immanenz,<br />
von der aus alle Überschreitung als Mitnahme<br />
und Überlieferung und insofern als<br />
Angst vor Vergessen, Verlust und Tod erscheinen<br />
muß, zu begreifen; so mag man sie<br />
vielleicht aus einer traumatischen Wende<br />
von nomadischen zu agrikulturischen Lebensformen<br />
beschreiben wollen. Aber einen<br />
Grund fur die Wende läßt sich nicht<br />
mehr angeben ohne das Begründete, die<br />
Ansässigkeit, schon vorausgesetzt zu haben.<br />
Auch eine Theorie des Bedürfnisses<br />
würde das Problem verfehlen, weil es ebenfalls<br />
jene Rückkehr des Mangels zu sich<br />
selbst, eine Ansässigkeit als Bedingung der<br />
Reproduktion, schon voraussetzen würde,<br />
anstatt ihr Auftauchen zu erklären.<br />
Unser möglicher Begriff des Gastes -<br />
und wer wollte nichtamTraum seiner Unschuld<br />
festhalten, die so unendlich unsere<br />
Neugierde belebt - wird so zwar wohl<br />
kaum jenseits unserer Ansässigkeiten<br />
denkbar sein; aber doch so wenig von ihnen<br />
eingefangen sein, wie sie selbst immer fragil<br />
und verletzlich blieben. Vielleicht können<br />
wir sogar mehr sagen, da unser Jahrhundert<br />
im Begriff steht, diese Vorherrschaft der<br />
Ansässigkeit durch die Trans-missionen<br />
seiner Techniken aufZulösen. Und diese<br />
Tendenz hat sich selbst in Form einer "irreparablen"<br />
Entdeckung (der Freuds) angekündigt,<br />
daß die Systeme der Bedürfnisse<br />
nur "representamen" des Begehrens, des<br />
"Von sich selbst lassens", sind.<br />
Die lange "pflanzliche" Genealogie der<br />
Stadt mit ihren Verwurzelungen, Abstammungen,<br />
Verzweigungen, mit den Zeiten<br />
ihrer Blüten und Befruchtungen, ihres Sterbensund<br />
Wiedererblühens, mit ihren Ängsten<br />
vor den Sprüngen einer unbekannt ge-<br />
bliebenen Animalität, - diese Geschichte<br />
kommt an ihr Ende, und im Übergang zur<br />
Metropole beginnen die Dichotomien nicht<br />
deshalb zu verfallen, weil man das "ausgeschlossene<br />
Dritte" gefunden hätte, sondern<br />
weil sie so mannigfaltig wurden, daß die<br />
"Klarheit" ihrer alten politischen Freund<br />
Feind Orientierungen ebenso zum Lachen<br />
zu reizen beginnt wie ihr tödlicher Ernstfall<br />
zum Verstummen. Das große Unbehaben<br />
heute, weder "im eigenen Hause" noch nur<br />
"in der Fremde" zu sein, ist wohl nicht anders<br />
lesbar denn als eine Botschaft verdrängter<br />
Hospitalität. Das Gefuhl der Unsicherheit<br />
über die Sicherheiten könnte vielleicht<br />
zu einem Umgang mit ihrer, der gast<br />
Iichen Versehrbarkeit (ein anderer, "chinesischer"<br />
Name fur Kultur?) fuhren. Das wird<br />
nicht durch eine Ausdehnung des Verhältnisses<br />
von Gastgeber-Gastnehmer geschehen<br />
können; die Gesetze des Tausches<br />
(Gast-Wirt) haben von jener Unverträglichkeit<br />
eines Beschenktwerdens befreit,<br />
durch das wir nicht mehr anders als in<br />
Schuld geraten; sie, die Regeln des Tausches,<br />
sind eine Möglichkeit der Schuldbegleichung,<br />
hinter welche nur die Familie zurückfällt.<br />
Unser Traum aber gilt der "Undankbarkeit"<br />
des Gastes, die wir gleichwohl<br />
noch nicht einmal im Gedanken auszuhalten<br />
vermögen, ohne in Zorn zu geraten.<br />
Wir wollen nicht glauben, daß jene Undankbarkeit<br />
mehr sein könnte als eine trotzige<br />
Verweigerung, die Schuld anzuerkennen,<br />
die das Geschenk als Eingrabungen<br />
"notwendig" hinterlassen müsse. - Kurz, es<br />
geht nicht um eine romantische Nostalgie,<br />
in welcher das Gast-Wirt Verhältnis eines<br />
angeblich wärmeren von Gastgeber-Gastnehmer<br />
wegen verlassen werden sollte;<br />
dieser Raum ist vielmehr der einer möglichen<br />
Begegnung der Gäste untereinander.<br />
Vielmehr wäre jener Impetus der Gesetze<br />
des Tausches zu vollenden, der bisher im<br />
Begleichen einer Schuld immer noch auf<br />
deren unentwegter Wiederherstellungverwiesen<br />
bleibt. Es geht, um es zu wiederholen,<br />
um die Unschuld und insofern um die<br />
Undankbarkeit des Gastes; erst sie könnte<br />
den "Dank" aus der Pflicht der Erwiderung<br />
befreien und gleichsam in ein "Kompliment<br />
29
Der Gast und die Masse<br />
aus heiterem Himmel", dem unerwarteten,<br />
verwandeln.<br />
Die Poesie des Denkens<br />
und die Aufgabe des Gastes<br />
Wir hatten Glück: die Geschichte der Identifizierungen<br />
und Verdrängungen des Gastes<br />
wurden selbst begleitet von einer poelt~<br />
sehen Sprache, die als "Dichtung" an die Peripherien<br />
wissenschaftlicher Dichotomien<br />
gedrängt worden war, weil sie die Struktur<br />
der Urtelle als Entscheidungen bedrohte. Im<br />
Unterschied zur Verdrängung des Gastes<br />
durch die Dichotomie, in welcner die Rückkehr<br />
des Verdrängten, - der Gast als unheimlicher<br />
Doppelgänger - garantiert<br />
blieb, h'at die poetische Sprache die Verschiebung<br />
des Gastes als die seiner Verdichtung<br />
geschrieben. Versuchen wir von<br />
hier aus das philosophische Problem zu begreJen:<br />
Es ist vielleicht der auffälligste Stil großer<br />
Philosophien, sich von der seltsam a-topischen<br />
Position, das heißt: von der Paradoxie<br />
nicht beirren zu lassen, zwischen Wissenschaftlichkeit<br />
und Poesie das Problem zu<br />
sein, im Denken von Wissenschaft und<br />
Kunst zugleich eine Poesie des Denkens zu<br />
sem.<br />
Die Logik hatte ihre "Probleme" mit<br />
dem "problematischen Urteil": "S ist vielleicht<br />
p, vielleicht nicht-p." Löst sich damit<br />
nicht jede Urteilsform auf, in der es doch<br />
um eine Wahrheitsentscheidung ginge<br />
(Sigwart)? Oder sollte man mit Kant sagen,<br />
daß die Zugabe einer Modalität das Urteil<br />
gar nicht berührt? Oder verweist nicht das<br />
ln-Schwebe-halten über die Logik hinaus<br />
auf ihren "Grund" in der Einbildungskraft,<br />
(Fichte, Heidegger, W. Schulz)? Sollte die<br />
dichotomische Urteilslogik, die letztbegründend<br />
der Garant der Vernunft unserer<br />
Entscheidungen sein soll, selbst ein problema<br />
sein, einem "Vorwurf' gehorchen und<br />
ihm zugleich widersprechen?<br />
Diese Fragen verweisen jedenfalls auf<br />
einen Überschuß des Problems gegenüber<br />
der Lösung, und in diesem Überschuß ist<br />
Philosophie ebenso "wissenschaftlicher"<br />
wie "poetischer" Diskurs. Daher könnte<br />
30<br />
man vermuten, daß sie an einem Gespräch<br />
zum Gast teilnehmen kann, das bisher einzig<br />
von den europäischen Künsten, aber<br />
von keiner Wissenschaft, hatte gefi.ihrt werden<br />
können; von der Malerei, der Musik,<br />
dem Film nicht weniger als von da aus, wo<br />
der Gast, im Entgegenkommen von Fonn und<br />
Zlffoll, zum Thema, zur Auf-gabe des Gegenstandes,<br />
wurde: in der poetischen Literatur<br />
von Moses und Homer bis zur Gegenwart.<br />
Aber im Unterschied zum Verfahren<br />
der Kunst-und Literaturwissenschaften<br />
wäre die Philosophie vielleicht mehr in der<br />
Lage, ihre notwendig verfehlenden Identifizierunsgen<br />
am Ende- des Gastes wegenwieder<br />
und wieder azifzugeben, ihnen also<br />
selbst den Status eines ephemeren Alffinthaltes<br />
zu verleihen und wieder zu entziehen.<br />
Denn über den Gast läßt sich nur mit ihm,<br />
nur gastlich sprechen.<br />
Gesteht die Philosphie auf diese Weise<br />
ein, daß ihr Diskurs- auch als Erzählung einer<br />
Geschichte - schon ein griechisches<br />
Gastgeschenk an Troja ist, durch welches der<br />
Gast verschwindet, indem er verpflichtetverpflichtend<br />
sich "erkenntlich" zeigt; weiß<br />
die Philosophie um diese erste Falle, in die<br />
zu geraten sie nicht vermeiden kann; - so<br />
kann sie doch die Gastlichkeit nicht dadurch<br />
wahren, daß sie schweigt. Die Chance<br />
gastlicher Begegnungen liegt im Risiko<br />
philosophischen Ver-sagens.<br />
Die Aus-stellung<br />
der Erzählungen<br />
Philosophie hat, vom Moment einer Poesie<br />
des Denkens her, die Möglichkeit, die Verfehlung<br />
des Gastes in ihrem Diskurs selbst<br />
aufzugeben, wobei alle Momente der Azifgabe<br />
sich störend oder einander grüßend<br />
ineinandergreifen: der Verzicht und die Beschickung,<br />
die Beförderung und die Aufforderung.<br />
Sie kann die ausschließenden Einheiten<br />
der Erzählung über den Gast, sie<br />
kann die Linearität des Diskurses, die sein<br />
Auftauchen vereitelt, dadurch brechen und<br />
verzweigen, daß sie mannigfaltige Erzählungen<br />
aus-stellt. Optimistisch könnte man<br />
sagen: ein philosophischer Diskurs, der<br />
sich ausstellt und riskiert, sich als Texte zu<br />
verzetteln, anstatt immer nur fortzufahren<br />
aus Angst vor dem Ende der Aufzählungen<br />
und Erzählungen - ein solcher Diskurs begreift<br />
sich in seiner eigenen Aussetzung als<br />
Gast.<br />
Aber das Problem ist schwieriger; denn<br />
hier geht es nicht mehr nur darum, geschichtliche<br />
und künstlerische Phiinomene<br />
der Gastlichkeit zum Sprechen zu bringen<br />
und in Zeichen zu verwandeln, sondern<br />
ebenso umgekehrt darum, dieses unentwegte<br />
Verweisen auf den unidentifizierbaren<br />
Gast zu verzögern und aufzustauen.<br />
Aber in mehrfachem Sinne wird eine Ausstellung<br />
den repräsentativen Anschein<br />
nicht umgehen, allenfalls zugleich unterlaufen<br />
können:<br />
Die Erzählungen des Gastes haben in<br />
der Linearität ihre Ansässigkeit. Ihre Vielfältigkeit<br />
auszustellen, heißt vom Ergebnis<br />
her, ihnen nur ein anderes Podium verschaffi:<br />
zu haben. Auch in dem Sinne läßt es<br />
sich nicht umgehen, den Gast von der Ansässigkeit<br />
her vorzustellen. Das Unerfahrene,<br />
Unbesehene, Unerhörte der gastlichen<br />
Begegnung wird sich in den Kleidungen<br />
des Begehens, des Ansehens und Anhörens<br />
einer Ausstellung auch weiterhin verhüllen<br />
können. Überall wird man bemerken, wie<br />
sich die Dokumente einer Geschichte und<br />
Kunst der Gastlichkeit in jene Art von Monumenten<br />
(M. Foucault) verwandeln werden,<br />
die als Denkmäler oder Sichtmäler in<br />
einem ständigen Abruf stehen, als Codes<br />
endloser Dechiffiierungen. Dennoch ist das<br />
Monument, noch im vorrangigen Bezug<br />
zur Vergangenheit, zugleich Entwuif, unbeendete<br />
Vergangenheit, Zukunft in ihr<br />
(E. Bloch), <strong>Spur</strong>, die zum <strong>Spur</strong>losen fuhrt,<br />
(U:vinas, Derrida), Raumzeit möglichen<br />
Entgegenkommens. Eine Ausstellung, in<br />
welcher der Gast die Aufgabe ist, kann nur<br />
in einer unbeendbaren Fältelungjener Phänomene<br />
und Anzeichen bestehen. in welchen<br />
wir spüren, daß wir dem Gast entgegenkamen,<br />
auch wo wir ihn verfehlten.<br />
Man wird ihm begegnen weder innerhalb<br />
noch außerhalb eines Spiegels, vielleicht<br />
aber bei den vielfältig zerbrochenen Spiegelscherben.
. , ~<br />
...<br />
".<br />
33
Arno Münster<br />
Die "Dilferiinz" und die "<strong>Spur</strong>"<br />
Jacques Derridas Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik<br />
Um den philosophischen Überschritt über Husserl und Heidegger<br />
hinaus, von dem Derridas Denken die entscheidenden Impulse<br />
bekam, in seiner ganzen Tragweite und revolutionären Sprengkraft<br />
zu erläutern, könnte ein Metaphernvergleich behilflich sein,<br />
den Derrida in seiner Einleitung zu den "Randgängen der Philosophie"<br />
gebraucht. Er beschreibt seine in ständigem kritischem Dialog<br />
mit dem Strukturalismus vollzogene Revolutionierung und<br />
Neuorientierung des philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert<br />
mit den radikalen Worten, es ginge heute vornehmlich darum,<br />
sich der Worte aus Nietzsches "Zarathustra" wieder zu erinnern<br />
: ob es nicht vielleicht nötig wäre, "dem Philosophen das<br />
Trommelfell zu zerschlagen", um ihn so zu zwingen, gewissermaßen<br />
"mit den Augen zu hören". (Marges de Ia Phtlosophte, Paris 1972,<br />
p.6; deutsch: Randgiinge der Phrlosopht"e, Frankfurt 1975. Im folgenden<br />
zitiert als MP.)<br />
Was Derrida hier, gleichsam mit dem Hammer Nietzsches<br />
hantierend, zu zerschlagen sich vornimmt, sind die Identifikationsstrukturen,<br />
in denen sich seit Platon dieBahnungendes subjektund<br />
begriffszentrierten Denkens des okzidentalen Rationalismus<br />
bewegen; Strukturen, die ihrerseits identifiziert sind mit der Fixität<br />
von Begriffen und Diskurstypen, deren Autorität vor Heidegger<br />
im Grunde noch niemand so radikal in Frage zu stellen gewagt hat.<br />
Diese Fixität zu verflüssigen, die Begriffe und vor allem die durch<br />
sie erzeugten Diskurse "gegen den Strich zu bürsten", sie gegebenenfalls<br />
aufZulösen ist nun aber gerade das erklärte Ziel der Derrida'schen<br />
Methode der Differänz; nur daß Derrida sich nicht damit<br />
zufriedengibt, in purer Wiederholung Nietzsches oder unter<br />
Übernahme der Methodik der Strukturalisten die Dogmen bzw.<br />
Grundlagen der abendländischen Metaphysik zu entwerten. Er<br />
will vielmehr mit seiner Kritik an der Diskursivität des neuzeitlichen<br />
metaphysischen Philosophierens von der Kritik der Oberfläche<br />
des Phänomens zum Grund vorstoßen; gewissermaßen die<br />
skripturalen-konzeptuellen Fassaden, die dieses System tragen,<br />
erschüttern und hinter die vorgegebenen Begriffe und Diskursstrukturen<br />
auf ein zeitlos Originäres zurückgreifen, das dieser Entwicklung<br />
als Vorbedingung zugrundeliegt: d.h. auf die Systeme<br />
der Schrift bzw. die Schnfl allgemein.<br />
Einerseits will Derrida nicht-wie Husserl - die Schrift einseitig<br />
auf die Zeichenfunktion einschränken, andererseits aber sträubt er<br />
sich in ständigem, kritischem Dialog mit F. Saussure, vorbehaltlos<br />
die phonozentrische Theorie der strukturalistischen Sprachwissenschaft<br />
zu übernehmen, die im Graphem lediglich die<br />
zeichenhafte Nachbildung und Umsetzung des "signifikant" sieht.<br />
Seine Methodologie und Forschungsmethode richtet ihr Erkenntnisinteresse<br />
vielmehr auf das, was vor, neben bzw. hinter den<br />
zeichenvermittelten, mehr oder weniger eindeutigen<br />
BedeutungsveiWeisungen liegt. Und er vermag dieses "Dazwischen",<br />
"Daneben", "Darunter" und gleichzeitig "Darüberhinaus"<br />
mit keinem anderen Terminus adäquater zu umschreiben als mit<br />
dem der Dilferiinz als einer analytischen Denkbewegung und Methode<br />
der Dekonstruktion.-Was aber beinhaltet genauer- im Unterschied<br />
etwa zu Heidegger- der Derrida'sche Begriff der "Dekonstruktion<br />
'?<br />
In einem in dem Band "Positions" wiedergegebenen Gespräch<br />
mit Henri Ronse definiert Derrida seine Methode der<br />
"Dekonstruktion" folgendermaßen:<br />
"Oe-Konstruktion der Philosophie bedeutet, die strukturhafte<br />
Genealogie ihrer Begriffe in der treuestenWeise gleichsam von Innen<br />
her zu denken, gleichzeitig aber auch von einem von ihr nicht<br />
näher benennbaren Außen her zu bestimmen, was an dieser (Entstehungs)geschichte<br />
verschleiert wurde ... Durch dieses sowohl<br />
übliche wie auch gewaltsame Herangehen an die Philosophie des<br />
Okzidents von Innen wie von Außen entsteht gleichsam eine Arbeit<br />
am Text, die großes Vergnügen bereitet. Dabei handelt es sich<br />
um ein Verfahren, das die Philosopheme und folglich alle unserer<br />
Zivilisation angehörenden Texte lesbarmacht als Symptome<br />
von etwas, das sich in der Geschichte der Philosophie<br />
noch nicht hat darstellen können und das nirgends präsent<br />
ist, da es darum geht, diese wesentliche Bestimmung des<br />
Sinnes von Sein als Präsenz (Gegenwärtigkeit) in Frage<br />
zu stellen, in der Heidegger das Schicksal der Philosophie<br />
sah . .. ''Aber das Symptom ist notwendigeiWeise verborgen ... ;<br />
wenn diese verdeckte Schicht jetzt aufgedeckt wird, so infolge einer<br />
totalen Veränderung, die auch in anderen Forschungsbereichen<br />
spürbar ist, wie z.B. der formalisierten Mathematik und Logik,<br />
der Linguistik, der Ethnologie, der Psychoanalyse etc."<br />
(Post!ions, Paris 1972, S.15 - 16; Übersetzungvon mir, AM. Im folgenden<br />
zitiert als P.)<br />
Derrida folgt also Heidegger nicht nur in der radikalen Anzweiflung<br />
des Theorems vom Sinn des Seins als Präsenz (Gegenwärtigung)<br />
(1), sondern er übernimmt auch Heideggers These<br />
von der UbeiWindung der abendländischen Metaphysik durch<br />
den dezidierten Rekurs auf Ontologie gewissermaßen in der verschärften<br />
Form seiner Dekonstmktion. Oe-konstruiert, zerstört<br />
werden soll nicht nur der Mythos einer philosophischen Diskursivität,<br />
die sich in festgelegten und unveränderbaren philosphischen<br />
Begriffsschemata bewegt, sondern - im Anklang und in Übereinstimmung<br />
mit Heidegger- auch und v.a. die gesamte logozentrische<br />
Tradition des abendländischen Denkens.<br />
Diese Bewegung von den logozentrischen Bahnungen philosophischer<br />
Begriffswelten und Systeme fuhrt Derrida jedoch nicht<br />
-wie Heidegger- zu einem Kult der Archaik unter dem Leit- und<br />
Mahnbild der Erneuerung des philosophischen Denkens aus der<br />
ÜbelWindung der "Seinsvergessenheit"; vielmehr zu einem subtilen<br />
Dekonstruktionsverfuhren an Schriftkörpern und -systemen,<br />
in dem Sehnsucht nach Archaischem nur noch insofern aufscheint,<br />
als es ein gezieltes Interesse an der Auftindung einer Urschnfl<br />
erkennbar werden läßt, das auf eine latente, nicht manifeste<br />
theologische Schicht im Denken Derridas veiWeist.<br />
Der zentrale Begriff und Leitgedanke - von Derrida schon in<br />
seinem ersten großen bahnbrechenden Werk "L'Ecriture et Ia difference"<br />
entwickelt - ist unumstritten der Begriff der "Differiinz ~<br />
(Im folgenden wird "differan.::e stets mit dem in Analogie zum<br />
Französischen gebildeten Terminus "Differänz" wiedergegeben.)<br />
Derrida definiert dieses dekonstruktive Verfahren der Differänz,<br />
das zumindest im Begriff noch eine vage Anlehnung an He-<br />
45
gels Differenz-Begriff aufWeist, auf den Derrida auch mehrfach anspielt,<br />
allerdings in der ganz und gar nicht -hegelianischen Absicht,<br />
ihn der Methode der Hegeischen Dialektik radikal entgegenzusetzen,<br />
folgendermaßen:<br />
1. als eine zugleich aktive und passive Bewegung, die darin besteht,<br />
zu "differieren", d.h. scheinbar normative klare Sinnzusammenhänge<br />
zu verschieben, infragezustellen, anzuzweifeln, aufZulösen<br />
mittels "Aufschub", "Umweg", "Verzögerung", "Retention."<br />
Primär verschoben- differiert- wird jeweils die durch ein Zeichen,<br />
eine <strong>Spur</strong> etc. angekündigte bzw. verlautbarte Präsenz (P., S.17).<br />
2. als die gemeinsame Wurzel aller begriffiich gefaßten Gegensiitze,<br />
die gewissermaßen durch die Bewegung der Differänz freigelegt<br />
werden, die die "differents" hervorbringt. - Hier zitiert Derrida<br />
als Beispiel die Gegensatzpaare "sensibel- intelligibel", "Intuition<br />
- Bedeutung", "Natur - Kultur" etc., was die Identifizierung<br />
der "Differänz" mit dem jeweils Gleichen impliziert (nicht zu verwechseln<br />
mit dem Identischen!), in dem diese Gegensätze begründet<br />
sind (vgl. P., S.l7).<br />
In dieser Definition erscheint die "Differänz" weder als ein klar<br />
strukturalistischer noch als ein genetischer noch als einfacher Begriff<br />
überhaupt; sie ist vielmehr - so Derrida - zu begreifen als<br />
3. die Erzeugung (Produktion) der Differenzen in jener "Dia<br />
Kritizität", die fiir die von Saussure begründete Linguistik geradezu<br />
Modellcharakter als die Vorbedingungjeder Bedeutungund jeder<br />
Struktur hatte. Das heißt, die Differenzen sind nichts anderes<br />
als die jeweiligen Wirkungen der Differänz, die diese in ihrer Bewegung<br />
hervorbringt (vgl. P., S.17-18).<br />
Wie vielschichtig und komplex auch immer Derridas Definition<br />
der Differänz ausfallen mag (die Hilfskonstruktionen der Begriffe<br />
zur Erfassung der Dimension dieses" icht-Begriffs" vermag<br />
Derrida jedenfalls nicht so ohne weiteres aufZugeben), so sehr<br />
steht doch fest, daß Derridas Differänz sich primär einem wichtigen<br />
Motiv der Heideggerschen Philosophie verdankt, d.h. dem,<br />
was bei Heidegger als die "ontisch-ontologische Differenz" hinsichtlich<br />
der Unterscheidung von Sein und Seiendem fungiert (vgl.<br />
Heidegger: Sein und Zeit,§ 4, S.13-14). Und da Derrida selbst freimütig<br />
zugibt, daß sein theoretischer Ansatz ohne die von Heidegger<br />
formulierten fundamentalen Fragen nicht möglich gewesen<br />
wäre (Derrida: "Rien de ce que je tente n'aurait ete possible sans<br />
l'ouverture des questions heideggeriennes"; P., S.18), mag verwundern,<br />
daß Derrida in seiner offiZiellen Definition der "Differänz"<br />
diese Autorität als den eigentlichen Schöpfer und Verantwortlichen<br />
fiir den Ursprungsgedanken seiner Theorie der Dekonstruktion<br />
durch das Verfahren der D!lfrriinz offtziell weder anfuhrt<br />
noch beschwört. Die einzig mögliche Erklärung dafur wäre- nach<br />
Derridas eigenen Andeutungen -, daß eine derartige Herleitung<br />
(Ableitung) letztlich noch zu sehr einer Metaphysik verpflichtet ist,<br />
deren Dekonstruktion fiir Derrida mehr oder minder programmatischen<br />
Charakter hat (vgl. P., S. 19).<br />
Wichtig bleibt in diesem Kontext, daß, wie Derrida in den<br />
"Randgängen der Philosophie" ausdrücklich unterstreicht, die Differänz<br />
kein gegenwärtig Seiendes ist und somit auch von keinerlei<br />
Kategorie des Seienden abgeleitet werden kann: "Die Differänz ist<br />
nicht nur aufkeinerlei ontologische oder theologische Wiederaneignung<br />
zurückfiihrbar, sondern ist, indem sie den Horizont öffnet,<br />
in dem Ontotheologie- die Philosophie - ihr System und ihre<br />
Geschichte hervorbringt, Teil dieses Raums, den sie ständig beschreibt<br />
und durchbricht." (P., S.6)<br />
In Verfolgung dieser "abenteuerlichen Strategie", gleicht- so<br />
Derrida- die Differänz einer erratischen Bewegung, "die dem logisch-philosophischen<br />
Diskurs genauso folgt wie seinem symetrischen<br />
Gegenbild, dem empirisch-logischen Diskurs." (P., S.7)) An<br />
einer anderen Stelle der "Randgänge der Philosophie" definiert<br />
Derrida die Differänz noch radikaler als die Instanz, "die eine konstitutive,<br />
produktive und ursprüngliche Kausalität bezeichnet,<br />
bzw. als den Prozeß der Spaltung und Teilung, deren Produkte<br />
bzw. Effekte die jevl'eiligen Differenzen sind" (vgl. P., S.9). Im glei-<br />
chen Atemzug hebt er jedoch auch die enge Verwandschaft der<br />
Differänz als Phänomen der Zeitlichkeit ("temporalisation") mit<br />
Heideggers in "Sein und Zeit" geprägtem Begriff der "Zeitlichkeit"<br />
als dem "transzendentalen Horizont der Seinsfrage" hervor, die es<br />
von der traditionellen metaphysischen Beherrschung durch die<br />
Gegenwärtigkeit und das] etzt zu befreien gelte (vgl. MP., S.1 0). Im<br />
Unterschied zu Heidegger, der der "Tyrannei des jetzt" durch die<br />
Flucht in vor- bzw. überzeitlich archaische Sprachzonen zu entrinnen<br />
gedenkt, konkretisiert Derrida die Differiinz explizit als ein<br />
"Bewegungsspiel" (mouvement), demzufolge die Sprache bzw.jedes<br />
andere kodifizierte System der Bezeichnung und der Verweisung<br />
sich geschichtlich als .,Gewebe von Differenzen" konstituiert<br />
(Vgl. MP., S.12-13).<br />
Das mag begreifbar machen, wie sehr Derrida in Übernahme<br />
und gleichzeitiger Erweiterung des Heideggerschen Begriffs der<br />
"Zeitlichkeit" den neuen Begriff der "Differänz" sowohl dynamisch<br />
wie genetisch zu fassen versucht, ohne ihm jedoch jemals so<br />
scharf umrissene Konturen zu geben, die seine Handhabung als<br />
feststehendem Begriff jenseits dieses neo-strukturalistischen Distanzierungs-,<br />
Verschiebungs- und Bewegungsspiels ermöglichen<br />
würde. Wie bereits angedeutet und wie von Derrida auf in den<br />
"Randgängen" auch eingeräumt, ist die Entstehungsgeschichte<br />
des Begriffs der "Differiinz "in seinem Werk auch nicht ohne jegliche<br />
Beziehung zu seiner Hegel-Lektüre. Eine wichtige vermittelnde<br />
Funktion scheint hierbei A. Koyre (2) zuzufallen, d.h. dem<br />
französischen Universitätslehrer, dem- nebenjean Hyppolite und<br />
A. Kojeve - das große Verdienst zufällt, Hegels Werke, d.h. vor allem<br />
die »Phiinomenologiedes Geirter"und die " Logik ~ in Frankreich<br />
eingefuhrt zu haben. un taucht aber- und dies ist der Punkt, den<br />
Derrida in kritischem Selbstrückblick nachdrücklich hervorhebt <br />
im spezifischen Interpretationskontext der Hegel'schen "Logik" in<br />
Koyres Vorlesungen aus dem Jahre 1934 das Wort »differente Bezrehung"mehrmals<br />
unterstrichen auf, das bei Hege! allerdings nur<br />
eine sehr sparsame Verwendung findet, im Unterschied zu den<br />
Adjektiven" verschieden" und "zugleich", die von Hege! weit häufiger<br />
benutzt werden. Allerdings fungiert das Adjektiv "different"<br />
zum ersten Mal bereits in der ,Jenenser Reallogik". Hege! z.B.<br />
schreibt: "Diese Beziehung ist Gegenwart als eine differente Beziehung."<br />
Und Koyre kommentiert dies folgendermaßen: "Le termedifferent<br />
est pris ici dans un sens actif" (zit.n. MP., S.15; der Ausdruck<br />
"different" hat hier eine aktive Bedeutung.) Hier aber ergibt<br />
sich nun genau die Nahtstelle zu Derridas Theorie, der diese "aktive<br />
Bedeutung" der Heget-Interpretation Koyres in jene "aktive<br />
Bewegung" umdeutet, welche als "Differänz" die "Differenzen" erzeugt<br />
(vgl. MP., S.15). atürlich stehttrotzder hier aufgewiesenen<br />
Querbezüge zu Hege! und zu Heidegger außer Frage, daß Derrida<br />
zur Untermauerung seiner Theorie der Differänz und der Erzeugung<br />
der semiologischen Differenzen durch die "Differänz" auch<br />
und v.a. bei F Saussure ansetzt, der in seinem »Coursde Lrngustique<br />
Generale" unterstreicht, daß die Sprache nicht als Funktion des<br />
sprechenden Subjekts zu verstehen sei, sondern daß vielmehr umgekehrt<br />
das Subjekt in der Sprache aufgeht, "Funktion" der Sprache<br />
ist, erst sprechendes Subjekt wird durch die Angleichung<br />
seiner Subjektivität an die Regeln und Gesetze der Sprache als<br />
Differenz-System an das allgemeine Gesetz der Differärtz. Derrida<br />
erinnert in diesem Zusammenhang an den Satz von F. Saussure:<br />
"Die Sprache ist notwendig, damit der Sprechakt intelligibel und<br />
wirksam wird." (MP., S.16)<br />
Aber trotz dieser formalen Anlehnung an den strukturalistischen<br />
Ansatz überschreitet Derrida ihn nicht nur- wie bereits angedeutet<br />
- bezüglich seiner Infragestellung und Kritik des Phonozentrismus,<br />
sondern - als Schüler Husserls- sieht er sich auch genötigt,<br />
die Problematik des Differänz-Systems der Sprache mit der<br />
Frage nach dem Verhältnis der Sprache und der Sprechakte zu<br />
den Bewlfßtmnsznhalten zu verknüpfen. Getreu der Methode der<br />
Husserl'schen Phänomenologie von der Vorrangigkeit des Bewzgstsernsvor<br />
dem Zeichen ausgehend, fragt Derrida in direkter An-<br />
46
knüpfung an Heideggers Kritik der Konzeption des Seienden als<br />
Präsenz: "Was ist Bewußtsein anderes als selbsteigene, sich selbst<br />
gewisse Gegenwart (Präsenz)?" (MP., S.17) Und weiter heißt es im<br />
gleichen Kontext: "So wie die Kategorie des Subjekts nicht denkbar<br />
ist ohne Bezug auf die Gegenwart als hypokeimenon oder als<br />
ousia, so kann auch das Subjekt als Bewußtsein sich nicht anders<br />
verlautbaren als als sich-selbst-gewisse (bewußte) Gegenwart .<br />
... Priorität des Bewußtseins bedeutet daher Priorität der Präsenz,<br />
einer Gegenwärtigkeit, die nach Heidegger die onto-theologische<br />
Bestimmung des Seins ausmacht." (MP., S.17) An eben jener Auffassung<br />
der Struktur des Bewußtseins als Präsenz in der Zeitlichkeit<br />
(Emporalisierung) setzt Derridas Kritik an Husserl an. Denn<br />
Derrida zufolge stellt sich die Phänomenologie Husserls von Innen<br />
her selbst in Frage, und zwar durch die phänomenologische Beschreibung<br />
der Bewegung der Zeitlichkeit und der Konstitution<br />
der Inter-Subjektivität. Diese enthülle nämlich ständig die Bedeutung<br />
des icht-Gegenwärtigen, des Nicht-Lebens, der Nicht-Dazugehörigkeit<br />
des Selbst zu einem lebendig Gegenwärtigen, einem<br />
"unentwurzelbaren Nicht-Ursprünglichen." (La voix et lephenomene,<br />
Paris 1967, S.S; deutsch: Die Stimme und das Phänomen; im<br />
folgenden zitiert als VP.) Und auf die Frage, was in der Optik der<br />
Phänomenologie der Erkenntnistheorie eigentlich die Autorität<br />
verleihe, das Wesen und den Ursprung der Sprache zu bestimmen,<br />
repliziert Derrida mit ziemlicher Entschiedenheit in gegen Husserl<br />
gewendeter Absicht: "Husserl geht der Frage nach dem Wesen<br />
der Sprache aus dem Wege. (CE Husserl: Formale und transzendentale<br />
Logik §2); desgleichen der Frage nach dem "transzendentalen<br />
Logos", nach der überkommenen Sprache, in die die<br />
Phänomenologie die Ergebnisse ihrer phänomenologischen Reduktion<br />
kleidet. Letztendlich hat Husserl das Wesen der Sprache<br />
auftraditionelle Weise, von der Logistik und der Normalität des<br />
sprachlichen Telos her bestimmt. Dieses Telos aber impliziere, so<br />
Derrida, die Auffassung des Seins als Gegenwärtigkeit (Präsenz)<br />
(vgl. VP, S.6-7). ach Derrida aber sind es gerade die "Un<br />
Wirklichkeit der Bedeutung, die Un-Wirklichkeit des idealen Gegenstands,<br />
die Un- Wirklichkeit der Existenz des Sinnes und des<br />
oems im Bewußtsein", die als Garanten dafiir fungieren, daß die<br />
Präsenz im Bewußtsein ein unendlich wiederholbarer Vorgang ist<br />
(VP, S.8).<br />
Derrida verbindet diese kritische Hinterfi-agung der Grundlagen<br />
von Husserls Sprachtheorie und der Theorie von den<br />
Bewußtseinsakten als Präsenz mit der noch weiterreichenden Kritik,<br />
ob die Fonn der Husserlschen Phänomenologie nicht eventuell<br />
immer noch von einem metaphysischen Anspruch geleitet ist; und<br />
er treibt die Skepsis seiner kritischen Hinterfragung der theoretischen<br />
Ansätze Husserls weiter zu der Frage: ",st die Idee der Erkenntnistheorie<br />
an sich nicht schon Metaphysik?" (VP, S. 9) Die eigentlich<br />
philosophische Frage wäre - so Derrida-, ob Husserls radikale<br />
Kritik an den spekulativen Zügen der Metaphysik nicht lediglich<br />
deren Perversion und Entartung stigmatisieren will, aber<br />
lediglich im Interesse der Wiederherstellung einer "authentischen<br />
Metaphysik". Und Derrida meint, daß als Beleg dafiir zweifelsfrei<br />
angeführt werden kann, daß Husserl amEndeseiner "Cartesianischen<br />
Meditationen" eine solche Alternative durchaus andeutet<br />
(VP, S.9).<br />
Unterzieht man nun Derridas kritisches Verhältnis zu F. Saussure<br />
einer näheren Betrachtung, so wird sehr schnell offenkundig,<br />
daß Derrida den Erkenntnissen der strukturalen Linguistik mindestens<br />
ebensoviel Dank abzustatten hat, wie er, insbesondere an ihrem<br />
übersteigerten Phonozentrismus, Kritik an ihr zu üben sich gezwungen<br />
sieht. Positiv an ihr ist - so Derrida in einem Gespräch<br />
mit Julia Kristeva über die Grundfragen der Semiologie und der<br />
"Grammatologie" (P., S.26 ff) - z.B. ihr Beharren darauf zu verbuchen,<br />
gegen die Tradition die Untrennbarkeit von signifiant und<br />
signifie behauptet und des Weiteren unterstrichen zu haben, daß<br />
der signifiant seinem Wesen nach nicht phonetischer atur ist.<br />
Darüber hinaus habe Saussure durch die De-Substanzialisierung<br />
des Bedeutungsinhalts und der nicht notwendig mit der Phone<br />
identischen Ausdruckssubstanz dazu beigetragen, den Begriff des<br />
Zeichens gegen die Tradition der Metaphysik zu wenden, dem er<br />
entliehen ist (vgl. P., S.28). Hinsichtlich des Zeichens aber habe<br />
Saussure sich der Tradition nicht ganz entziehen können. Entscheidend<br />
jedoch sei, daß es fur Saussure keine "unschuldige" oder<br />
"neutrale" Sprache gibt. Sie ist in jedem Falle immer die Sprache<br />
der abendländischen Metaphysik, die eine ganze Reihe von systemischenRegeln<br />
und Voraussetzungen in sich trage. Ferner mache<br />
die Beibehaltung der Unterscheidung von "signans" und "signatum"<br />
(Bezeichnendem und Bezeichnetem") die Annahme eines in<br />
sich selbst bezeichneten Begriffes denkbar, der unabhängig von<br />
der Sprache und ihrem System der signifiants existiere (P., S.29f).<br />
Von dem Augenblick an jedoch, wo die Bedeutung dieses "transzendentalen<br />
signifie" in Frage gestellt wird, werde - so Derrida -<br />
auch die traditionelle Unterscheidung von "signifie", "signifiant"<br />
und "signe" (Zeichen) problematisiert. Dies aber sei wiederum das<br />
erklärte Ziel der Methode der "De-Konstruktion" (vgl. P., S.30).<br />
Schließlich und endlich sah sich Saussure, so Derrida, obwohl<br />
genötigt, die phonetische Substanz des signifiant in Klammern zu<br />
setzen, veranlaßt, aus eben diesen rein metaphysischen Gründen<br />
das gesprochene Wort ("parole") und alles, was das Zeichen mit<br />
dem Phonem verbindet, überzubewerten (vgl. P., S.30). Derridas<br />
Dekonstruktion verfolgte in diesem Punkt den Zweck, bloßzulegen,<br />
inwieweit auch dieses Theorem Saussures eventuell der Tradition<br />
verpflichtet ist und inwieweit dadurch die Linguistik in den<br />
Rang eines regulativen Modells einer allgemeinen Semiologie erhoben<br />
wird, obwohl sie im Grunde nur ein Teilsystem von ihr darstellt.<br />
Zum anderen kritisiert sie Saussures Tendenz, das linguistische<br />
Zeichen als eine doppelgesichtige psychische Entität darzustellen<br />
und die Semiologie allgemein als (Sozial) Psychologie zu<br />
beschreiben (vgl. P., S.31).<br />
Aber Derridas Kritik bleibt nicht auf die phonozentrische Interpretation<br />
des Zeichens durch Saussure und seine Nachfolger<br />
beschränkt. Sie erstreckt sich selbstverständlich auch auf andere<br />
Theoreme und methodologische Voraussetzungen des Strukturalismus.<br />
Bestritten und kritisiert wird von Derrida u.a. die strukturalistische<br />
These vom "epistemologischen Einschnitt" (coupure epistemologique)<br />
durch den Verweis darauf, daß diese Einschnitte ja<br />
in1mer wieder in ein Gewebe von Bedeutungen und Zeichen erfolgen,<br />
die es zu "zerlegen", zu "dissoziieren" gelte, wodurch jedoch<br />
der Sinn und die Notwendigkeit "einiger" solcher Einschnitte<br />
nicht radikal in Frage gestellt werden solle (vgl. P., S.35). Als<br />
unorthodox und kritisch gegenüber dem linguistischen Strukturalismus<br />
erscheint ferner auch die von Derrida in der "Grammatologie"<br />
vorgenommene radikale Ersetzung des semiologischen<br />
"enonce" durch den" Text': Hierin in erster Linie das Zeichen eines<br />
Aufbegehrens Derrid~.s gegen Saussures Verbannung der Schnji als<br />
ein der Repräsention Außerliches aus dem Feld der Linguistik zu<br />
sehen, ist berechtigt.<br />
Bei seiner Analyse der Welt der Zeichen und der Schrift betont<br />
Derrida eindeutig, im Gegensatz zu den Phänomenologen und einigen<br />
Vertretern der strukturalistischen Linguistik, dasMoment<br />
der Kommunikation und das Moment der Unterbrechung (das jedoch<br />
keinesfalls, wie oben angedeutet, mitder "coupure epistemologique"<br />
des Strukturalismus verwechselt werden darf). Die Welt<br />
der Zeichen, betont Derrida, ist in ihrer Entstehung korrelativ zur<br />
Genesis der Phantasie (imagination) und des Erinnerungsvermögens<br />
(memoire); das Zeichen entsteht in der Phantasie des Menschen<br />
aus dem Fehlen, aus der Empfindung des Mangels des Objekts<br />
in der vergegenwärtigenden Vorstellung, d.h. aus einem Bedürfnis<br />
nach Kommunikation. Es ist die Kommunikation, die die<br />
Vorstellung (des bezeichneten Objekts) als idealen Inhalt (Sinn)<br />
trägt und bewegt; und die Schnjiist nichts als eine verallgemeinerte<br />
Form und Auszugsgestalt dieser Kommunikation (vgl. MP.,<br />
S. 3 7 4 ). Gleichzeitig betont Derrida jedoch auch in seiner Analyse<br />
der Entstehung der Schnjiund der Schr(ftzez"chen das Moment der<br />
47
Unterbrechung. So ist in seiner Definition und Herleitung der Zeichen-<br />
und Schriftsysteme ein Schriftzeichen<br />
1. ein prägender Einschnitt (eine Prägung "marque"), der<br />
bleibt, der sich im Akt seiner Niederschrift nicht erschöpft und der<br />
eine Wiederholung unter Abwesenheit des Subjekts und jenseits<br />
der Gegenwart eines empirisch bestimmten Subjekts ermöglicht.<br />
(Gerade hierin liegt ja, betont Derrida, der Unterschied zwischen<br />
einer mündlichen und einer schriftlichen Mitteilung.)<br />
2. ein Einschnitt bzw. ein Bruch gegenüber dem Kontext, d.h.<br />
dem Ensemble von Gegenwartsmomenten, die das Moment der<br />
Niederschrift bestimmen (vgl. MP., S.375).<br />
Dieser Bruch ist keine akzidentelle Bestimmung, sondern integraler<br />
Bestandteil der Struktur des Geschriebenen. Zu diesem<br />
Kontext gehört a) das Moment des Akts der Niederschrift, b) die<br />
Anwesenheit des Skriptors, c) sein intentionaler Horizont, d.h. sein<br />
"Sagen-Wollen" von etwas, etc. "Es gehört zum Wesen des Zeichens,<br />
lesbar zu sein, auch wenn der Augenblick seiner Entstehung<br />
(Erzeugung) unwiderruflich verlorengegangen ist und auch<br />
wenn völlig in Vergessenheit geraten ist, in welchem spezifischen<br />
Bewußtseinszustand sich der Schreiber beim Akt der Niederschrift<br />
befand. Und dies ist auch aufdie Semiotik übertragbar, insofern<br />
als ein Syntagma jederzeit extrapolierbar ist und so auch jederzeit-<br />
künstlich- in einen anderen syntagmatischen und kommunikativen<br />
Kontext gestellt werden kann. Diese Operation ist<br />
nicht kodifizierbar; der einzig existierende Kode ist der der Möglichkeit<br />
bzw. der Nicht--Möglichkeit der Schrift und ihrer Wiederholbarkeit."<br />
(MP., S.377)<br />
Wie aber wird nun die "marque" zum "graphem" ?Wenn Derrida<br />
feststellt, daß es "eine gewisse Identität des Zeichens mit sich<br />
selbst ist, die seine Erkennbarkeit und Wiederholung ermöglicht",<br />
warum ist es dann aber gerade dieses Moment der Dissoziierung<br />
bzw. Spaltung dieser Selbstidentität, das den Übergang vom Phonem<br />
zum Graphem ermöglicht? Die Antwort, die Derrida auf diese<br />
Frage gibt, ist im Grunde bereits in ihrem Begründungsprinzip<br />
enthalten, d.h. in dem Verweis auf die "Iterabilität" und die "Wiederholbarkeit"<br />
des Zeichens, die jedoch als solche fungiert, ohne<br />
explizit auf einen "referant" bzw. einen bestimmten Signifikanten<br />
angewiesen zu sein. So gesehen aber muß jede - und sei es auch<br />
nur mündlich erfolgte - Priigung notwendig zum Graphem werden,<br />
d.h. zum jeglicher Präsentifizierung enthobenen bleibenden<br />
Akt (restance) __ eines d(fferentie/len Ez"nschnitts (MP., S.l78).<br />
Bei dieser Uberschreitung des strukturalistischen Ansatzes beruft<br />
sich Derrida ausdrücklich aufHusserl, der in den "Logischen<br />
Untersuchungen" bereits die These vertreten hatte, daß es in der<br />
Möglichkeitsstruktur des Gesagten liegt, gegebenenfalls auch<br />
leer, d.h. ohne konkreten Referenten funktionieren zu können<br />
(vgl. Logische Untersuclzungen, Kap.l, §8ff} Husserl wird insofern<br />
auch fur die Theorie des FehJens des signife als Kronzeuge zitiert,<br />
als in seiner Phänomenologie auch diese Möglichkeit theoretisch<br />
in Erwägung gezogen wird, wenngleich - wie Derrida selbstkritisch<br />
anzumerken nicht unterläßt-mit starkem Vorbehalt, weil in<br />
Husserls phänomenologischer Anschauung zu sehr die Möglichkeit<br />
einer St"nnknse heraufbeschworen würde. Diese Sinnkrise<br />
bleibt jedoch gebunden - so Derrida - an die wesentliche Möglichkeit<br />
der Schrift als eines der Fundamente und Voraussetzungen<br />
des Entstehens logischer Widersprüche. Darüber hinaus jedoch<br />
liegt - nach Derrida- Husserls großes Verdienst u.a. auch darin,<br />
die Analyse des Zeichens als Ausdruck bzw. "signifiant" streng<br />
von den Phänomenen der Kommunikation getrennt zu haben<br />
(vgl. MP., S.380).<br />
Aus diesem Husserlschen Entwurf einer logischen Grammatik<br />
als System der "Morphologie der Bedeutungen" leitet Derrida nun<br />
die fur ihn sehr wichtige Möglichkeit der "zitatförmigen Herausschneidung<br />
von Zeichen" und differentiellen Schnitten ,jenseits<br />
des semio-linguistischen Verständigungshorizonts" (VP., S.380()<br />
ab, was es ihm wiederum ermöglicht, indirekt Husserl fur seine<br />
Theorie des "espacement" und der "differance" zu reklamieren. In<br />
seinem Buch "Die Stimme und das Phänomen" bemüht er sich<br />
nun explizit um den achweis, daß fur Husserl der "Ausdruck" den<br />
Stellenwert eines rein linguistischen Zeichens hat und "Bedeutung"<br />
mit dem Sinngehalt eines diskursiven Inhalts identisch ist<br />
(vgl. VP., S.l8): "In 'Ideen I' ist die Definition der 'Bedeutung' beschränkt<br />
auf den idealen Sinngehalt des verbalen Ausdrucks, des<br />
gesprochenen Wortes, während 'Sinn' die gesamte noematische<br />
Sphäre abdeckt, Der Geltungsbereich dieser Bedeutung wird jedoch<br />
zwangsläufig erweitert auf die gesamte noetisch-noematische<br />
Sphäre, d.h. auf alle Handlungen (des Subjekts), die in die<br />
Ausdrucksakte verflochten sind." (VP., S.l9)<br />
achzutragen wäre noch, daß sich Derrida bei der Entwicklung<br />
und Begründung des Begriffs der tadikalen "Alterität" und<br />
des präsentisch erfullten Bewußtseins nicht nur bei Heidegger<br />
theoretisch abstützt, sondern in wesentlichen Punkten auch an<br />
dem von ganz anderen theoretischen und philosophischen Quellen<br />
gespeisten Alteritätskonzept von Emmanuel Levinas (3), in<br />
dessen Denken "<strong>Spur</strong>" und "Rätselhaftigkeit der absoluten Alterität"<br />
gleichgesetzt werden mit der kommunikativen Entdeckung<br />
des Anderen. Beide Einflüsse und Linien kreuzen sich bei Derrida<br />
in besonders origineller Weise, was dazu fuhrt, daß im Denken des<br />
"Heideggerianers" Derrida auch eine Öffuung zu den ethischen<br />
und onto-theologischen Grundfragen des Judaismus (bzw. desjüdischen<br />
Messianismus) nachgewiesen werden kann. In diesem<br />
Kontext ist die gedankliche Nähe zu Levinas' Begriff der "<strong>Spur</strong>"<br />
selbstverständlich nicht das einzige Motiv; denn-wie v.a. in neueren<br />
Studien (4) aus den USA zu Derridas Werk hervorgehoben<br />
wird -, Derridas demonstrativer Rekurs auf die Schrfftim Rahmen<br />
der De-konstruktion der logozentrischen Metaphysik kann auch<br />
als das Wiedererstehen einer rabbz"mschen Henneneutz"k in philosophischem<br />
Gewande interpretiert werden. Mit dem gleichen Recht<br />
wäre aber auch Derridas - über Levinas' vermittelte- Übernahme<br />
der Vorstellung vom "verborgenen Gott", die Verteidigung des altüberlieferten<br />
Buchstabens gegen den Geist und Derridas spelulative<br />
"Differenz"-Spiele mit und an der Schrift fur die kabbalistischesoterische<br />
Tradition des Judaismus reklamierbar. Letztendlich<br />
erscheint es als unmöglich, Derridas Spekulationen auf eine "Urschrift",<br />
seine Faszination durch das Palimpsest und seine Kritik<br />
am Phonozentrismus trennen zu wollen von den auf die Hermeneutik<br />
der Schrift fixierten 'gelehrten' rabbinischen Traditionen<br />
der Thora und des Talmud. Natürlich wäre es falsch, diesen Sachverhalt<br />
so zu interpretieren, als ob Derrida sich damit, unbesehen<br />
seines Bekenntnisses zur Phänomenologie Husserls und zur Fundamentalontologie<br />
Heideggers, zum Apologeten eines Neo-Mystizismus<br />
im Zuge der modernen Erneuerungsbewegung des judaischen<br />
Spiritualismus aufschwingen würde. Er designiert lediglich<br />
die Existenz einer im übrigen nie bewußt-explizit eingestandenen<br />
Tiefenbeziehung seines Denkens zu jener Tradition, vollständig<br />
unabhängig von seiner Ausformulierung in den Kategorien<br />
kritischer moderner Rationalität.<br />
(1) Bei Heideggerwird die Problematikdes Sinnsvon Sein, die Frageeines<br />
daseinsmäßig erschließenden Verstehens von Sein überhaupt mit dem<br />
Problem der in der Zeitlichkeit begründeten "existential-ontologischen<br />
Verfassung der Daseinsganzheit" verbunden. Dabei wird postuliert, daß<br />
die Zeitungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit "den ekstatischen Entwurf<br />
von Sein überhaupt" erst ermöglicht. Dennoch aber schließt "Sein und<br />
Zeit" bezeichnenderweise mit der Frage :"Führt ein Weg von der ursprünglichen<br />
Zeit zum Sinn des Seins?Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont<br />
des Seins?" (Cf Heidegger, Martin:"Sein und Zeit", Tübingen, 1979,<br />
S. 437.)<br />
14) Cf Hierzu:]. Wahl : "Le role de Alexandre Koyre dans le developpementdes<br />
etudes hegeliennes en France", in :"Archives de Philosophie", Paris,<br />
1965, no. 28, S. 323-336<br />
46l Cf Levinas, Emmanuel: Totahle et ziifim; Den Haag, 1961; Autrement<br />
qu 'etre ou au-delii de I' essence, Den Haag, 197 4. Cf auch : Derrida,J. : Violence<br />
et metaphysique in: L 'Ecnture et Ia Difflrence, Pans, 1967, s. 117-228.<br />
4 7) Cf hierzu v.a. :S. Handelmann: Jacques Dernäa and the Heretic Henneneutic,<br />
in : M. Krapnick (Ed.): Displacement, Dernäa and After, Indiana, 1983,<br />
S. 98 ff.<br />
48
Eberhard Sens<br />
Von Vergegenwärtigung<br />
Stichworte zur Umweltdiskussion<br />
Vergegenwärtigung ist das Merkmal<br />
der jetzigen Umweltdiskusson. Die<br />
Hälfte des deutschen Waldes ist krank,<br />
und allmählich lernen wir, woran es<br />
liegt. An uns. Gegen viele Widerstände<br />
arbeitet sich die Wahrnehmung voran.<br />
Was lange zur Routine geworden ist,<br />
fällt nicht mehr auf; immer wieder Eingeübtes<br />
verschwindet aus dem aktuellen<br />
Bewußtsein. Umso schwerer fällt die<br />
Selbsterkenntnis, umso schwerer fällt<br />
die Vergegenwärtigung des Übersehenen,<br />
obwohl zum Bestand des täglichen<br />
Lebens gehört, was die Umwelt krank<br />
macht. Die Ursachen der Umweltmisere<br />
stecken tiefer in unserem Alltag als wir<br />
möchten. Wenn der Lichtschalter angeknipst<br />
wird, beginnt es, und wenn das<br />
Gaspedal heruntergedruckt wird, hört es<br />
nicht auf. Was wir produzieren und wie,<br />
gehört zum Problem ebenso wie die Art<br />
und Weise, das Produzierte zu konsumieren.<br />
Eingespannt in ein kompliziertes<br />
Netz von Ursachen und Wirkungen<br />
ist es schwierig, sich die Folgen der eigenen<br />
Handlungen vor Augen zu fiihren,<br />
wenn sie an den Rand des Blickfeldes geraten,<br />
in der Feme zu entschwinden<br />
scheinen, wenn die Folgen abstrakt geworden<br />
sind und die Lebensstile der lndustriegesellschaft<br />
und ihre vielen Effekte<br />
sich weit weg von den Verursachern<br />
zu ökologischen Krisen verdichten,<br />
von denen wir in der Zeitung lesen.<br />
Was- fragt man sich- habe denn gerade<br />
ich mit dem Waldsterben zu tun?<br />
Der Zusammenhang von Handeln und<br />
Folgen des Handeins war nicht immer so<br />
abstrakt. Blickt man zurück, bemüht man<br />
die Archive und blättert ein wenig in alten<br />
Veröffentlichungen - vielleicht in Dinglers<br />
Polytechnischemjournal von 1881 - so findet<br />
man eine rege Debatte über das Waldsterben.<br />
Daß Luftverschmutzung mit dem<br />
Absterben der Bäume sehr viel zu tun hat,<br />
war schon einmal überraschend gut bekannt<br />
Es wurde wieder vergessen. Industrielle<br />
Ursachen und ökologische Folgen<br />
ließen sich damals gut überschauen. Die<br />
Schäden, die Verhüttungsanlagen und Industriebetriebe<br />
anrichteten, waren erheblieh,<br />
blieben aber lokal begrenzt; in einem<br />
nun hundertjahrealten Bericht über die sogenannten<br />
Rauchschäden im Oberharz<br />
kann man lesen :<br />
"Die zusammenhängende Blösse hat<br />
bei Altenau eine Länge von 1900 m thaiabund<br />
1100 m thalaufWärts .. . . Bei der Clausthaler<br />
Silberhütte befindet sich der am weitesten<br />
.. . thaiabwärts . . . gelegene blössenartige<br />
Schaden .. . am Steimkerberge<br />
... auf eine Entfernung von SOOOm .... Die<br />
Gesamtausdehnung der Rauchschäden<br />
erstreckt sich im Okerthal abwärts<br />
auf 9000 m, während sie thaiaufWärts<br />
nur auf 21 OOm beobachtet werden kann.<br />
Im Innerstethai befindet sich die nördlichste,<br />
zweifellos von Clausthal herrührende<br />
Schädigung an der Kuhbrücke,<br />
Forstort Kranichsberg .. . in einer Entfernung<br />
von 6800m."<br />
Uber Rauchschäden gibt es im 19.Jahrhundert<br />
zahlreiche Veröffentlichungen.<br />
Schon im Mittelalter hat man offenbar von<br />
den schädigenden Wirkungen des Hüttenrauches<br />
gewußt. Mit der Industriellen Revolution<br />
aber stieg der Verbrauch an Steinkohle<br />
explosionsartig an. Und sofort erreicht<br />
auch das Absterben der Bäume ein<br />
bis dahin unbekanntes Ausmaß. Über dessen<br />
Ursachen freilich waren in unmittelbarer<br />
Nähe der Hütten und Industriebetriebe<br />
keine Illusionen möglich. Die Betriebe haben<br />
die Schäden auf die eigene Rechnung<br />
nehmen müssen, haben die sterbenden<br />
Bäume unter Kosten abgebucht oder Entschädigungen<br />
bezahlt. Das umweltpolitische<br />
Verursacherprinzip - so könnte man<br />
sagen-war noch intakt, die Brunnenvergif-.<br />
tung blieb gewissermaßen im Dor(<br />
Dann aber wurde der Schornstein entdeckt<br />
und, daß man ihn höher und höher<br />
bauen kann.Jeder hohe Schornstein ist der<br />
Versuch zu verdrängen, was man nicht haben<br />
will und was man auch nicht wahrhaben<br />
will. Hohe Schornsteine sind der Versuch,<br />
die Verantwortung in alle Winde zu<br />
zerstreuen. Wenn der Versuch gelingt,<br />
dann kommt das Schwefeldioxid scheinbar<br />
von selbst über uns, anonym, von weit her,<br />
unabweisbar, als ereigneten sich sterbende<br />
Wälder und Pseudo-Krupp wie ein Schicksal.<br />
Nur bei überschaubaren Handlungsketten<br />
bleibt Verantwortung sichtbar, kann<br />
man die Schuld noch erkennen. Läßt man<br />
aber hohe Schornsteine die Schadstoffe in<br />
weit entfernte Regionen blasen oder lagert<br />
den radioaktiven Müll fiir eine weit entfernte<br />
Zukunft ein, dann hat es die Schuld des<br />
Verursachcrs leicht und verschwindet hinter<br />
einem undurchsichtigen Nebel, der<br />
Verstrickung, Schicksal oder Tragik heißt.<br />
Die Angriffe des Menschen auf die Natur<br />
sind massiv und direkt, aber die Menschen<br />
organisieren sie verdeckt und anonym. Daher<br />
müssen wir sichtbar machen, wer was<br />
wann wo. Allmählich kehrt das Bewußtsein<br />
von Verantwortung zurück. Vergegenwärtigung<br />
ist das Merkmal der jetzigen Umweltdiskussion.<br />
Die Vergegenwärtigung nähert sich in<br />
Fremdworten. Die lange übersehenen und<br />
unerkannt gebliebenen Folgen bekommen<br />
Namen. In einer technisch-naturwissenschaftlich<br />
beherrschten Welt sind<br />
das zwangsläufig technisch-naturwissenschaftliche<br />
Namen. Schwefeldioxid ist<br />
längst kein Fremdwort mehr, stetig verlängert<br />
sich das Register der Schrecken, jene<br />
neuen und komplizierten Stoffe, von deren<br />
Aussehen und deren Zusammensetzung<br />
man keine Ahnung hat, gerade froh ist,<br />
wenn man weiß, wie 'Formaldehyd' ausgesprochen<br />
wird. Was die Industriegesellschaften<br />
ausstoßen, gerät in ein kaum übersehaubares<br />
Geflecht ökologischer Kreisläufe.<br />
Ursache und Wirkung liegen häufig<br />
weit voneinander entfernt, Einzelursachen<br />
zeitigen eine Vielzahl von Nebenwirkungen,<br />
verbinden sich auf verblüffende Weise<br />
mit den Fernwirkungen anderer Ursachen.<br />
Der Output der industriellen Lebensweise<br />
gerät in die komplizierten biologischen<br />
Wirkungsgefiige, stört Lebensformen und<br />
Symbiosen, und wenn die kritischen<br />
Schwellenwerte überschritten werden,<br />
können die Ökosysteme die industriellen<br />
Einwirkungen nicht mehr abpuffern, dann<br />
steigen in den Nahrungsketten heimlich<br />
die Gifte hoch, welchen Fisch kann man<br />
noch essen, dann sind Artenvielfult und natürliches<br />
Gleichgewicht bedroht. Erst<br />
wenn die Umwelt die Symptome zeigt, be-<br />
49
ginnen wir langsam, die Abspaltungen,<br />
Rückstände und Abgase namhaft zu machen.Die<br />
fremden Wörter kommen in unsere<br />
Lebenswelt zurück wie Boten, die die<br />
Nachricht bringen, daß es so nicht mehr<br />
weitergeht.<br />
Die Nachricht heißt: auf eine komplexe<br />
verwobene Umwelt darf man nur mit großer<br />
Behutsamkeit einwirken, zum Denken<br />
müssen die Bedenken kommen. Solcher<br />
Erkenntnisprozeß fordert nicht nur eine<br />
angemessene Politik, sondern letzten Endes<br />
auch die Bereitschaft zur Veränderung<br />
des eigenen Lebensstils. Das Erkennen<br />
kommt nur langsam und widersprüchlich<br />
voran. Zwar erleben wir gegenwärtig in Sachen<br />
Umwelt einen bisher ungekannten<br />
Lernprozeß, aber die Dinge liegen vertrackter<br />
als es scheint: unsere umweltpolitischen<br />
Einsichten setzen sich nicht direkt in<br />
Verhalten um, nicht linear : erst in Urteilsbildung,<br />
dann in politischen Druck, schließlich<br />
in tatsächliche Veränderungen und in<br />
neues eigenes Verhalten. Schon die umweltpolitischen<br />
Einsichten paaren sich mit<br />
Lebensweisen, die den Einsichten widersprechen.<br />
Eine empirische Studie am Berliner<br />
Wissenschaftszentrum zum Beispiel<br />
zeigt einen bemerkenswerten Widerspruch.<br />
Diejenigen, die wissen, daß die lndustriegesellschaften<br />
ihre natürlichen<br />
Grundlagen auf wahnwitzige Weise zerstören,<br />
sind zugleich auch diejenigen, die<br />
überdurchschnittlich viel Energie verbrauchen,<br />
überhaupt an einen gehobenen Konsum<br />
gewöhnt sind. Die ökologisch Aufgeklärten<br />
also, die das Problem kennen, sind<br />
selbst ein Teil des Problems. Sie fahren mit<br />
dem Zweitwagen zum Einkaufen, aber<br />
bleiben wahrscheinlich noch im Wagen sitzen,<br />
um im Autoradio eine Sendung über<br />
das Waldsterben zu Ende zu hören. Durchaus<br />
zivilisationskritisch haben sie fur das<br />
einfache Leben etwas übrig, um am einsamen<br />
sonnigen Strand nackt baden zu können,<br />
jetten sie auf die fernste Insel. Die gut<br />
Informierten haben eine hohen Lehensumsatz,<br />
und dessen Kennzeichen ist Mobilität.<br />
In unserer Gesellschaft ist die Vorstellung<br />
von Glück gebunden an ein Leben,<br />
das nicht geruhsam ist, sondern schnell.<br />
50<br />
Möglichst viele Glücksgüter, viele Erlebnisse,<br />
viel Bewegung. Die Selbstverwirklichungssongs<br />
singen es frei heraus:<br />
"Ich will nicht viel, ich will mehr;<br />
ich will alles und zwar sofort ... "<br />
Zwischen den Maximen einer ökologisch<br />
einsichtsvollen Lebensfuhrung und<br />
den Bildern des schnellen glücklichen Lebens<br />
liegt eine Kluft.<br />
Die Zeiten sind hart aber modern. Am<br />
Beginn dieses Jahrhunderts schien alle Bewegung<br />
eine Bewegung nach vorn zu sein.<br />
1909 besangen die italieniscpen Futuristen<br />
in ihrem 'Ersten Futuristischen Manifest'<br />
die Geschwindigkeit und die Liebe zur Gefahr.Jenem<br />
Automobil, das das erste Autorennen<br />
gewonnen hatte, wurde in Paris ein<br />
Denkmal errichtet. Heute ist die Geschichte<br />
der Beschleunigung am kritischen Punkt.<br />
Zeichen der Neubewertung und der Umkehr<br />
erscheinen. Beamte, die mit dem Straßenbau<br />
zu tun haben, sprechen von der<br />
Aufhebung und Beseitigung überflüssiger<br />
Straßen. In Berlin denkt ein Politiker öffentlieh<br />
darüber nach, ob man eine Autobahnbrücke,<br />
die einen einstmals schönen Platz<br />
brutal überspannt, nicht wieder abreißen<br />
könne. Etwas rückgängig machen, umkehren,<br />
mindestens aber die Beschleunigung<br />
bremsen : Vieles deutet daraufhin, daß bei<br />
der Zukunftsfahrt der industriellen Moderne<br />
der Fuß vom Gaspedal genommen werden<br />
sollte. So paßt es ins Bild, daß die Entdeckung<br />
der Langsamkeit ganz konkret<br />
diskutiert wird.<br />
Das Gutachten des Umweltbundesamtes<br />
über die umweltschonenden Auswirkungen<br />
von Tempo 100 auf Autobahnen<br />
und Tempo 80 aufLandstraßenkommt unter<br />
anderem zu dem Ergebnis, daß 18 Prozentjener<br />
Stickoxide, die aus bundesdeutschen<br />
PKWs quellen, vom Wald abgehalten<br />
werden könnten. Ein Tempolimit wäre<br />
noch nicht die Lösung, es wäre lediglich ein<br />
kleiner Teil der Lösung. Zur Rettung des<br />
Waldes und in der Umweltpolitik überhaupt<br />
gibt es die eine große rettende Maßnahme<br />
nicht, sondern nur viele, die sich ergänzen<br />
müssen. Insofern gehen alle Argumente<br />
gegen das Tempolimit, die dessen<br />
Wirksamkeit fur zu gering halten, am Kern<br />
der Sache vorbei. Tempo 100wäreeineSoforthilfe<br />
fur den Wald, ohne langfristigen<br />
Forschungsvorlauf und ohne Milliardeninvestitionen,<br />
unmittelbar und unverzüglich.<br />
So darf man sich getrost wundern, daß diese<br />
Soforthilfe nicht versucht wird und die<br />
Politiker, die das Sagen haben, alles auf die<br />
lange Bank schieben; und an diesem Wundern<br />
sollte man naiv-hartnäckig festhalten,<br />
auch wenn wir uns daran gewöhnt haben,<br />
uns über gar nichts mehr zu wundern.<br />
Dabei hätte es die Politik mit der Bevölkerung<br />
so schwer nicht; die meint ohnehin<br />
zu 90 Prozent, daß fur den Umweltschutz<br />
nicht genug getan wird. Jeder Bundesbürger<br />
findet, der Kampf gegen das Waldsterben<br />
sollte verstärkt werden. Und innerhalb<br />
kurzer Zeit ist der Anteil der Befurworter<br />
eines Tempo-100-Limits von 45 auf 55<br />
Prozent gestiegen. Das ist bemerkenswert.<br />
Doch offensichtlich reicht unsere Entschiedenheit<br />
noch nicht aus. Das Tempolimit<br />
wird kommen. Die Bundesrepublik ist das<br />
einzige Land in Europa, auf dessen Autobahnen<br />
unbegrenzt gerast werden darf. In<br />
den USA liegt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit<br />
bei 88 Stundenkilometern;<br />
inj2pan wird jedem, der deutlich mehr als<br />
100 fahrt, der Führerschein entzogen. Bei<br />
uns aber gerät die umweltpolitische Vergegenwärtigung<br />
beim Auto ins Stocken. Im<br />
Ionern der Deutschen liegen Auto und<br />
Wald, die ihm beide unverzichtbar sind,<br />
miteinander in tiefem Konflikt. Der Wald<br />
repräsentiert das Sichere, ewig Bleibende,<br />
und das Auto ist das Bewegungsprinzip an<br />
sich. Nur bleibt das Bleibende nicht, derzeit<br />
gibt es in Deutschland keine gesunde<br />
Weißtanne mehr. DasAuto ist eine Art Verursacherprinzip<br />
auf der Flucht; es verbreitet<br />
Kohlenmonoxid, Stichoxid und Blei und<br />
entfernt sich rasch vom Ort der Tat. Die<br />
Entdeckung der Langsamkeit wäre eine<br />
verantwortliche Form, die Folgen des eigenen<br />
Tuns zu realisieren. Vergegenwärtigung<br />
is.t das Merkmal der jetzigen Umweltdiskussion.<br />
Sie darf sich mit der Verlangsamung<br />
nicht zuviel Zeit lassen.
Joachirn Koch<br />
Die Poetik des Duftes<br />
Vor der Erfindung der Wirklichkeit<br />
regierte die Magie. Die Gestirne waren<br />
ihr Werkzeug, die vier Elemente ihre<br />
Heimat. Die Astrologie erinnert sich<br />
noch. Aus der alten arabischen Welt war<br />
sie gekommen, aus der alten arabischen<br />
Welt entstammt das Wort "Alchemie".<br />
Eine dreifacheSuche zeichnete sie aus:<br />
die Suche nach dem Stein der Weisen,<br />
die Suche nach der Erschaffung des Goldes<br />
und die Suche nach den Düften, dem<br />
Parfum. Was ist im Vergleich zu ihr die<br />
Chemie, was zählt das Periodensystem,<br />
gemessen an Erde, Wasser, Luft und<br />
Feuer. Von diesen vier Elementen laßt<br />
uns sprechen und so das Geheimnis der<br />
Düfte ergründen. Es zu erfahren wird<br />
der Wirklichkeit niemals mehr gelingen.<br />
Was von ihm blieb ist einzig die Poetik<br />
des Duftes.<br />
Der Duft geht durch die Lüfte. Nicht<br />
nur die Riten des Hinduismus wissen von<br />
diesem Medium. Ebenso der geweihte<br />
Rauch der Gotteshäuser, die Räucherstäbchen<br />
der Inder, die milchigen Schwaden<br />
des Opiums, des Mohns, desTabaks. Und<br />
sie wissen von den Räumen, die mit den<br />
Düften entstehen. Diese Räume sind intim<br />
wie der Duft selbst. Sie bilden eine Vertraulichkeit<br />
und beweisen dadurch, daß eine<br />
Gemeinschaft nicht unbedingt umgrenzender<br />
Mauern bedarf, sondern in selber<br />
Weise durch die Verwandlungdes Umfelds<br />
in ein Nichts sich versinnbildlichen kann. Es<br />
ist dies die andere Art einen Luftballon aufzublasen;<br />
ihn verknoten und seine Hülle einem<br />
Vakuum aussetzen. Ein Innen herstellen,<br />
indem das Außen inhaliert wird.<br />
Doch sind es nicht allein die Räume, die<br />
zum Einvernehmen fuhren. Die dreifache<br />
Suche der Alchimisten findet sich wieder in<br />
der Geschichte der drei Könige aus dem<br />
Morgenland, die dem Stern folgten, um seine<br />
Bedeutung zu erfahren. Weise seien sie<br />
gewesen, so heißt es, das Gold war ihre Gabe<br />
und das Rauchwerk. Weihrauch und<br />
Myrrhe. Das Feuer ist deshalb das zweite<br />
Element, das mit dem Duft einhergeht.<br />
Nicht nur den Mittelpunkt jenes uralten<br />
Kreises der Zusammengehörigkeit stellt es<br />
dar, dessen Geruch von verbrennendem<br />
52<br />
Holz und Harz sich niemand entziehen<br />
kann. Gleichfalls ist es der Mittler zwischen<br />
den Göttern und den Menschen. Sein erstes<br />
Vermögen ist es, die Menschen zu läutern<br />
und zu reinigen. Sein zweites aber den<br />
Göttern zu huldigen und mit seinem Duft<br />
ihrefeinen Sinne zu locken. Den nach oben<br />
steigenden Rauch der Brandopfer und Altäre<br />
wußten vor den christlichen bereits die<br />
hebräischen, griechischen und römischen<br />
Priester zu lesen. Und wo der Geruch den<br />
guten Mächten nicht genügt, da reicht er<br />
zumindest fur die Vertreibung der bösen,<br />
was die Mayas lange Zeit mit Erfolg unternahmen.<br />
Die Fähigkeit zu reinigen gehört jedoch<br />
nicht dem Feuer allein. Feuer und Wasser,<br />
die beiden Komplementäre, teilen sich diese<br />
Gunst. Allerdings ist das trockene Element<br />
jünger als das nasse.<br />
Daß das Wasser zuerst war, erkannten<br />
bereits die Babyionier und Ägypter. Daß<br />
das Wasser selbst die Geburt ist, denn alle<br />
Dinge sind aus ihm entstanden, hatte der älteste<br />
Philosoph der griechischen Geschichte-Thai<br />
es von Milet- herausgefunden.<br />
Daß das Feuer das Wasser zu verdunsten<br />
begann und dadurch die Erde entstand,<br />
wußte schließlich Anaximandros aus<br />
Milet im 6. Jahrhundert zu berichten. Die<br />
Unschuld, die mit dem Wasser einhergeht,<br />
ist noch heute uns geläufig. Der Geruch<br />
aber, der mit den Wassern kommt, ist eine<br />
archaische Erinnerung an den Anfang der<br />
Natur. Atme den Duft des Ozeans, die Blume<br />
eines sommerlichen Sees, den Regen,<br />
das Gewitter und die Stunde danach, atme<br />
den Ursprung, den ersten Schnee, den Fluß<br />
in einer Stadt, die Quelle in einer Wiese, das<br />
Moor. Erst das feuchte Element läßt die<br />
Düfte entfalten, erst das feuchte Element<br />
läßt unsere Schleimhäute empfinden. Und<br />
nichts an unserem Körper könnte duften,<br />
wenn nicht das Wasser es wäre, aus dem<br />
wir geformt sind. Blut, Schweiß und Tränen,<br />
was taufte den Menschen mehr als sie.<br />
Gleichwohl sind wir aus allen Elementen<br />
zusammengesetzt, so wie alle Dinge aus<br />
der unterschiedlichen Verbindung von<br />
Luft, Feuer, Wasser und Erde existieren.<br />
Vor mehr als 2400 Jahren hatte Empedokles<br />
aus Agrigent in Sizilien diese Einsicht<br />
gewonnen, ehe er seine Sandalen am Kraterrand<br />
des Ätna zurückgelassen und selbst<br />
fur immer im Feuer der Erdenmitte verschwand.<br />
Wie anders könnten wir sonst zur<br />
Erkenntnis gelangen, so lautete seine pantheistische<br />
Vision, die in den Göttern die<br />
Welt und in unserer Erde die Götter schaute,<br />
wenn nicht die Bausteine des Ganzen in<br />
uns wiederkehrten. In dieser Weise ist das<br />
irdische Element der Wiederspiegelung<br />
des göttlichen Bewußtseins zugeordnet,<br />
dessen Vollkommenheit den Duft der Lotusblüte<br />
ausstrahlt, was der Yoga lehrt.<br />
Zwei einander entgegengesetzte Eigenschaften<br />
sind es, die solches Duften auszeichnen.<br />
Einerseits die Konzentration, deren<br />
Unsichtbarkeit die ase als Essenz<br />
wahrnimmt - das Wesentliche; andererseits<br />
die Ausbreitung, wodurch das Wesentliche<br />
seinen Atem verströmt Vom Exhalieren<br />
ließe sich hier sprechen und damit<br />
neuerlich das Element der Luft wiederholen,<br />
von dem als Inhalieren die Rede war.<br />
Treffender kann die französische Sprache<br />
diese Poetik schreiben. Ihr Verb "exhaler"<br />
kennt sehr gut diese beiden Seiten des Duf-.<br />
tes. Sie verwendet es, um das Geheimnis einer<br />
Sache zum Ausdruck zu bringen, das<br />
über den Hauch sich mitteilt. Das Bild atmet<br />
aus-" Taus desparfumsdes orients"<br />
alle Düfte des Orients.<br />
Der Duft als Atem, als Hauch, als Lebenshauch,<br />
solche Geistigkeit ist keinem<br />
der funfSinne sonst zu eigen. Dem Sanskrit<br />
sind die Halbgötter Gandharva wohlvertraut,<br />
die sich vom Lebenshauch ernähren.<br />
Vielleicht ist Entsprechendes von den<br />
Pflanzen zu sagen. Und der zweite Schöpfungsbericht<br />
des Buches "Genesis" berichtet<br />
umgekehrt, wie Jahwe den Menschen<br />
als ein lebendiges Wesen schuf, indem er in<br />
seine ase einen Lebenshauch blies. Sie<br />
haben von ihm den Odem erhalten. Welch<br />
eine okkulte Verbindung zwischen dem<br />
Odem des alltestamentarischen Gottes, der<br />
das Leben gibt und ist, und dem Prana, das<br />
die Hindu-Yogis mit der Luft einatmen,<br />
weshalb sie überlieferten, Atem sei Leben.<br />
Was fur ein Geheimnis steckt hinter dem<br />
Wort "Od", was einst die Ausstrahlung des
menschlichen Körpers hieß und das als<br />
Wortstamm gleichermaßen dem Begriff<br />
"Odem" zugrundeliegt, wie dem "Odeur",<br />
womit früher der Duft, der Duftstoff, der<br />
Wohlgeruch bezeichnet worden war. ",ch<br />
rieche Menschenfleisch", lauten die drohenden<br />
Worte im Märchen von des Teufels<br />
drei goldenen Haaren, und erst der in Feuer<br />
und Rauch gegarte Braten vermag diesen<br />
Geruch zu überdecken. Nurdurch die Verbindung<br />
der asemit dem Gaumen gelingt<br />
gleichsam die Ablenkung von jenem<br />
Hauch, der den Duft mit dem Leben<br />
vereinte.<br />
Ist das nicht der Absturz des Geheimnisses<br />
in die Banalität? Als der niedere Sinn<br />
wird das Riechen mittlerweile angesehen,<br />
weil ohne ihn auszukommen leichter zu<br />
verkraften sei als der Verlust des Sehens,<br />
des Hörens, des Schmeckens, des Tastens.<br />
Dabei ist es naheliegend, daß in einer Welt<br />
von Blinden das Sehen wenig zählt. Der<br />
Einäugige wird König.<br />
Was fur ein Schrecken durehRihre uns,<br />
wenn wir plötzlich von Dunkelheit umgeben<br />
wären. Was fur eine Trauer, wenn das<br />
Ohr nicht mehr hörte, Zunge und Gaumen<br />
nicht mehr schmeckten, die Haut nichts<br />
mehr spürte. Wie anders die Nase. Kein Organ<br />
ist eitler gegenüber dem Unschönen.<br />
Und das Schöne bleibt beschränkt auf eine<br />
seltene Überraschung. Die Sinnlichkeit<br />
und Intimität des Wohlgeruchs wird lediglich<br />
wiedererkannt. Der kurze Anflug einer<br />
Erinnerung, der im Duft des Frühlings, im<br />
Parfum der Geliebten auillackert. Der Abstrakteste<br />
der Sinne ist der Geruch und<br />
längst ist er auf dem Wege, das Schicksal<br />
des sechsten Sinns zu teilen.<br />
Wie anders dagegen bewegen sich viele<br />
Tiere. Sie erkennen die Dinge an den Gerüchen.<br />
Sie begrüßen sich mit Wolken. Sie<br />
vermehren sich duftend.<br />
Während wir der Allmacht des Auges<br />
unterliegen, identifizieren jene ihre Welt<br />
schnüffelnd. Schnüiller wird wiederum abwertend<br />
der genannt, der seine ase zu<br />
weit in etwas steckt, was verborgen bleiben<br />
soll. Sehen genügt. Dabei können Dinge in<br />
der Luft liegen, die einem Sehen und Hören<br />
vergehen lassen. Wer dann nicht einen Rieeher<br />
hat fur das Kommende, der wird bald<br />
die Nase voll haben und verduften wollen,<br />
weil ihm alles stinkt. War es in den magischen<br />
Zeiten nicht einzig der Geruch von<br />
Pech und Schwefel, der den Satanall seiner<br />
Täuschungskünste zum Trotz entlarven<br />
konnte? Doch schon damals hatte nicht jeder<br />
eine Nase fur die Gefahr und hielt so<br />
manches fur dufte, was seine Nasenspitze<br />
besser hätte wissen sollen. ,Jemanden nicht<br />
riechen können" - was davon blieb ist oft<br />
genug nur das "nicht riechen können".<br />
Doch nicht allein die Fähigkeit ist es, die<br />
verschwand, auch die Gerüche selbst haben<br />
vielfach die Welt verlassen. Anstelle<br />
des Gestanks der Epidemien in den Straßen<br />
trat das Desinfektionsmittel in den Hospitälern.<br />
Statt der Kloaken riecht die Hygiene.<br />
Die Drüsen sind still geworden, und das<br />
Blut wird konserviert. Der Kunstdünger hat<br />
den Odem abgelöst und der Wohlgefallen<br />
über das gelungene Essen wird entsprechend<br />
mit Worten statt mit lutheranischer<br />
Geste gelobt. In ihren Anfangen wußten<br />
später dann die Maschinen noch, wie man<br />
Nasen zum Rümpfen bringt, ehe deren Abgase<br />
geruchlos vergifteten. Beiall dem handelt<br />
es sich um jenen Zivilisationsprozeß,<br />
der die Düfte und Gerüche beseitigte. Die<br />
Entwicklung zur Kultur ist die Entwicklung<br />
zum Deodorant und - sofern dieses Wort<br />
mit "Entdufter" übersetzt werden kann -<br />
selbst eine deodorante Entwicklung.<br />
Das Geheimnis ist verlorengegangen.<br />
Von allen Vieren sind wir aufgestanden. Mit<br />
erhobener Nase proben wir den aufrechten<br />
Gang. Das sei Verdrängung schlechthin,<br />
mutmaßte Sigmund Freud; die Abstraktion<br />
der Gerüche als Anfang der Zivilisation.<br />
Nicht mehr markiert werden die Räume,<br />
sondern umzäunt. Seither dann die Frage,<br />
wohin mit dem Mist?<br />
Die Vesuv-Straße in Pompeij verdeutlicht<br />
sie unmittelbar. Einem dreidimensionalem<br />
Zebrastreifen vergleichbar verbinden<br />
Steinblöcke die beiden Gehwege der<br />
Straßenseiten. Durch ihre Zwischenräume<br />
wühlen sich die Räder der Fuhrwerke im<br />
Morast. Die ausgetretene Oberfläche der<br />
Quader erlaubt die Überquerung mit trokkenem<br />
Fuß. Am 24. August des Jahres 79 ist<br />
es der Vesuv, der die Verdrängung rückgängig<br />
zu machen versucht. och einmal<br />
drückt er die Horden in den Staub und läßt<br />
sie riechen, wie die Erde riecht und der<br />
Tod. Sein Unternehmen bleibt eine einsame<br />
Tat. Denn längst ist der Mensch seßhaft<br />
geworden, und die Seßhaftigkeit ist es, die<br />
die Gerüche konzentriert. Die Seßhaftigkeit<br />
ist es, die die Hygiene nach sich zieht.<br />
So gehört es zu den Paradoxien des<br />
Duftes, daß die in freier Wildbahn lebenden<br />
Tiere den scharfen, ihm nunmehr eigenen<br />
Geruch des Menschen schon von weitem<br />
wittern, während er ihn selbst selten wahrnimmt.<br />
Auch "transpirieren" wilde Tiere<br />
nicht, weshalb der zweite Widerspruch besagen<br />
kann: Wer riechen kann, riecht nicht<br />
- wer riecht, kann nicht riechen. Und das<br />
dritte Gegenteil vollzieht sich über die deodorante<br />
Entwicklung, indem das Ausmerzen<br />
der Gerüche in selber Weise beginnt,<br />
wie durch die Zivilisation Gerüche erst erzeugt<br />
und virulent werden.<br />
" omos" nannten die alten Griechen<br />
das Gesetz. " omos" ist der Begriff der Philosophie,<br />
der das Ding an sich, das Wesen<br />
der Dinge umschreibt. Das Wesen des Duftes<br />
ist die Sprache des Körpers. Der Duft die<br />
Grammatik der atur. Instinktiv wird<br />
dieseGrammatik verwendet. Ihre Zweckmäßigkeit<br />
bedarfkeiner Übersetzung. Der<br />
Duftder ahrungistdie ahrung.DerDuft<br />
des Feindes der Feind. Der Tod des Artgenossen<br />
keine Vorstellung, sondern sein Geruch.<br />
Die Fortpflanzung keine Fantasie der<br />
Lust, sondern Duft der Arterhaltung. Der<br />
Duft ist das Leben. Geruch ist der Instinkt,<br />
der nichts Stinkendes kennt.<br />
Aus dem Wort "Nomos" wird im Lateinischen<br />
das Wort" omen". Aus dem Gesetz<br />
der "Eigenname". Denn aus der Grammatik<br />
der atur hatte sich das Geheimnis<br />
der Magie entwickelt. Nicht unmittelbar<br />
mehr ist die Sprache der Düfte, statt dessen<br />
bedeutungsvoll. Der Geruch der Verwesung<br />
ist nurmehr der Tod des Körpers, der<br />
die Seele befreit. Die vier Elemente wiesen<br />
uns den Code, demnach der "Spiritus"- der<br />
Geist, die Seele, verbunden ist mit "spirare"<br />
- atmen, und heute "transpirieren" - ausdünsten.<br />
Der Dunst, die Feuchtigkeit der<br />
53
Luft, die durch Erhitzen entsteht.<br />
Der Prozeß schritt voran. Aus dem "Nomen",<br />
der .,Eigenname", wird das Wort<br />
"Namen". Aus dem Geheimnis der Magie<br />
gehen die Bedeutungen verloren. Das daran<br />
"Eigene" verschwindet. Der Name der<br />
Düfte in der Zivilisation ist Effekt. Entsprechend<br />
werden sie ohne instinktiven Zweck,<br />
ohne mythologisches Ziel ausgesandt. Ungelesen<br />
bleiben sie und kennen nurmehr<br />
die Verwendung von angenehmn und<br />
unangenehm, von Lust und Tod. icht<br />
mehr Sprache sind die Düfte oder Bedeutung,<br />
sondern Wirkung. Geruch und Lust,<br />
Geruch und Tod, das eine ist die Wirkung<br />
aus dem anderen.<br />
Doch gleichzeitig beginnt eine parallele<br />
Entwicklung. Während "Nomos" in "Namen"<br />
sich verwandelt, wird allmählich sowohl<br />
das Geheimnis der Magie als auch die<br />
Grammatik der atur verdoppelt. Neben<br />
die Zivilisation tritt die Kultur. Neben den<br />
Nomos das Phänomen. Das ist die Poetik<br />
des Duftes, die aus dem Geheimnis entspringt<br />
und doch nicht das Geheimnis ist.<br />
Der Odeur der Seele kehrt wieder im<br />
Parfum. Das Od der menschlichen Ausstrahlung<br />
kehrt in den Duft der persönlichen<br />
Note. Einer Dame ein anderes Eau de<br />
Cologne zu schenken denn das von ihr gewählte<br />
verkennt die Einzigartigkeit der Edlen.<br />
Bereits die ägyptischen Göttinen waren<br />
an ihrem Duft zu erkennen. Das japanische<br />
Mittelalter hatte gar die Kultur der<br />
Düfte so weit entwickelt, daß die Hülle der<br />
Adligen kein zweitesmal zu finden war.<br />
Das ist die Poetik des Duftes, die aus der<br />
Natur entspringt und doch nicht die Natur<br />
ist. Die Kunst der Parfumeure wird die<br />
Kunst der richtigen Dosierung der Pfortengerüche.<br />
Nicht die Abwesenheit der sogenannten<br />
unangenehmen Gerüche ist es, die<br />
den Wohlgeruch auszeichnet, sondern die<br />
in ihm enthaltenen <strong>Spur</strong>en der Absonderung.<br />
Die Dame fuhrt den Hund an der Leine.<br />
Der Flieder verströmt vor dem Welken.<br />
Der Liebende ahnt die Künstlichkeit des<br />
Unterschieds und versinkt.<br />
"Dir zu mich neigend, Königin der Angebeteten,<br />
glaubte ich deines Duftes Blut<br />
zu atmen."<br />
54<br />
"Die Nacht verdichtete wie eine Wand<br />
sich, und meine Augen im Dunkeln errieten<br />
deine Augensterne, und ich trank deinen<br />
Hauch, o Süße, o Gift!"<br />
"Diese Schwüre, diese Düfte, diese<br />
unendlichen Küsse, werden sie aus einem<br />
Abgrund, den auszuloten uns verwehrt ist,<br />
wiederkehren einst, wie in den Himmel die<br />
verjüngten Sonnen steigen, nachdem sie in<br />
der Tiefe der Meere sich gebadet haben? -<br />
0 Schwüre! 0 Düfte! 0 unendliche Küsse!".<br />
Das ist die Poetik des Duftes, die Baudelaire<br />
1857 zu besingen wußte und mit deren<br />
"Symbolismen" sich eine neue Art, sie zu lesen,<br />
entwickelt.<br />
ImJahre 1884 veröffentlichtJoris-Karl<br />
Huysmans sein Buch "Gegen den Strich".<br />
Wenn sieben Jahre später Oscar Wilde seinen<br />
"Dorian Gray" ins Verderben stürzt, indem<br />
er ihm das "gelbe Buch" in die Hand<br />
gibt, so wird dieses Buch Huysmans symbolistischer<br />
Roman sein, in dessen Dekadenz<br />
die Kunst zum absoluten Gegensatz<br />
der Natur geworden ist. Die ästhetizistischen<br />
Neigungen, denenJean Des Esseintes<br />
darin nachgeht, sind allesamt von dem<br />
Motiv geleitet, die Sinnlichkeit vom Körper<br />
loszulösen und in die Kultur des Geistes zu<br />
transzendieren.<br />
Nicht dasRülpsen, Furzen, Saufen,<br />
Fressen, Schwelgen und Huren eines Rabelais<br />
regt hier die Sinne an, sondern das Einstellen<br />
der Nahrungsaufnahme, die durch<br />
Drogen erzeugten künstlichen Farb- und<br />
Geruchssynästhesien oder die Parfumorgel,<br />
die den Duft auftechnische Weise verströmt.<br />
Die Grammatik der Natur hat sich<br />
auf den Monolog des Menschen mit sich<br />
selbst reduziert, der Instinkt ist zum gezielten<br />
Stimulus geworden.<br />
Neben Baudelaire war es unter anderem<br />
Emile Zola, der Huysmans Symbolismus<br />
hervorbrachte. In dessen .,Naturalismus"<br />
wiederholt sich das "Symbol" natürlich.<br />
Er schrieb im Jahre 1875 den fiinften<br />
Roman seines Zyklus "Les Rougon-Macquart",<br />
der den Titel trägt : "Die Sünde des<br />
Abbe Mouret." Weibliche Hauptperson<br />
darin ist Albine, die Nichte des menschenfeindlichen<br />
PhilosophenJeanbernat. Während<br />
bei den Symbolisten die Blumen geruchlos<br />
sind, läßt Zola sein Mädchen Albine<br />
nach einer unglücklichen Liebe in einem<br />
Meer von Blumen, die einen geschlossenen<br />
Raum fiillen, den freiwilligen Tod suchen.<br />
Die Blumen atmen aus, diejungeFrau den<br />
Lebenshauch und Gandharva werden satt.
Dietrich Kuhlbrodt<br />
Sorgen der Kulturherrschaft<br />
Ein Strezftug durch bqrezte Zonen<br />
Schlechte Zeiten fiir die großen Zentralen.<br />
Die fleißigen Theorieproduzenten<br />
mögen noch so viel Sinn stiften, doch immer<br />
wenigere lassen sich Kultur auf deduktivem<br />
Wege verordnen. Auch die<br />
Kulturverwalter, die ihr Gut zumessen<br />
und gnädig gewähren ("Kultur fiir alle"),<br />
kommen in Schwierigkeiten. Staatsknete<br />
wird gem genommen, mit der Kultur<br />
wird allerdings kein Staat gemacht. Wer<br />
sich sein Medienzentrum subventionieren<br />
läßt, schert sich auch nicht, ob die<br />
Kultur, die er produziert, gesellschaftlich<br />
sanktioniert ist. Frage ist heute, wie<br />
man das Medienzentrum oder den<br />
Stand-Platz, welchen auch immer, umnutzt<br />
und Kultur nach den eigenen Bedürfuissen<br />
produziert. D ie vielen kleinen<br />
Zentren nehmen weder Rücksicht<br />
auf T heorie noch auf Bürokratie, wohl<br />
aber auf das Subjekt. Sie operieren von<br />
unten aus: Kultur vom Subj ek~ aus Görg<br />
Richard).<br />
Dem Großfi.irsten der deutschen Filmkultur<br />
treibt das die Zornesröte ins Gesicht;<br />
er fuhlt vom gegenwärtigen Treiben seinen<br />
Status bedroht, und recht hat er, weil die<br />
Klein-Zentren nicht mehr im Namen von<br />
etwas anderem handeln, auch nicht in dem<br />
von Vergangenheit und Zukunft, was zugegebenermaßen<br />
wenig repräsentativ ist.<br />
Alexander Kluge hat daher den Titel fi.ir<br />
sein letztes Großwerk genial ersonnen<br />
("Der Angriff der Gegenwart auf die übrige<br />
Zeit"). Man könnte sich jedoch fragen, statt<br />
in Ach & Weh-Geschrei auszubrechen, ob<br />
es nicht längst Zeit war, von unten, vom<br />
Subjekt, von der Gegenwart aus, der Vergangenheit<br />
(von der Utopie ist noch zu<br />
sprechen) an den Kragen zu gehen und sie<br />
höchstselbst zu bewältigen.<br />
Bisher war die Bewältigungskultur eine<br />
Frage der Herrschaft, und zwar die über die<br />
Gegenwart. Noch ein Großfilm wie<br />
"Shoah" versucht, im Namen der Vergangenheit<br />
die Gegenwart zu bekriegen. Ein<br />
rigoroser Moralismus besetzt das Terrain<br />
und schreibt auch die kleinste Bewegung<br />
vor. "Shoah" erzwingt Bekenntnisse, ohne<br />
wenn und aber. Ein Fall erfolgreicher Gegenwartsbewältigung<br />
-jedenfalls fiir die 9<br />
112-Stunden-Dauer des Films. Claude<br />
Lanzmann läßt seinen Film lang die Vergangenheit<br />
regieren. "Die Idee war, die Distanz<br />
zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />
aufZuheben, so daß wir sogar vergessen,<br />
daß 43 Jahre vergangen sind seit (der<br />
Judenvernichtung von) 1942. Nichts hat<br />
sich verändert." (Lanzmann)<br />
Verändert hat sich in den Filmen, die<br />
vom Subjekt aus gedreht sind, daß die fi.ir<br />
Herrschaft unerläßliche Hierarchie, auch<br />
die in "Shoah" etablierte Hierarchie, nicht<br />
geachtet wird. Der <strong>Hamburg</strong>er Filmmacher<br />
Franz Winzentsen entdeckt daher in<br />
seinem Animationsfilm "Die Anprobe" die<br />
Hakenkreuze nicht beim bösen Feind, sondern<br />
bei sich zu Haus, nämlich auf den Zeitungen<br />
des Jahres, in das er hereingeboren<br />
wurde. Die Schmetterlingssammlung fliegt<br />
mit dem Dröhnton des Bomberverbandes<br />
über das Druckwerk hinweg. Dann sieht<br />
man, schräg von hinten, jemanden am<br />
Steuer seines Wagens sitzen, den Kopf<br />
durch eine Lederkappe geschützt. Der<br />
Blick geht frei in F1ur und Feld. Es ist das<br />
vertraute Foto vom Führer, einsam fahrend.-<br />
Von unten, vom Vertrauten, vom<br />
Kindlich-Lieben aus geht der Blick, und es<br />
bedarf weder eines großen noch eines kleinen<br />
Zeigefingers, um Hakenkreuz und<br />
Führer als Teil des Selbst anschaulich zu<br />
machen. Die Antwort auf diese Entdekkung<br />
ist daher eine persönliche. Winzentsen<br />
zeigt in der "Anprobe" den biologischen<br />
Sumpf, der ihm als Nährboden zugedacht<br />
ist. Er wird zum Zeichen dafi.ir, daß<br />
sich die Bewältigung der Vergangenheit<br />
nicht losgelöst von der Frage der Identität<br />
erledigen läßt.<br />
Christoph Schlingensief, 24 Jahre alt,<br />
läßt in seinem neuen Spielfilm "Menu total"<br />
die Elterngeneration in Naziuniformen antreten,<br />
KZ-Chargen am heimatlichen Kinderbett,<br />
gröhlend, fressend, kotzend und<br />
liebevoll bemüht. Die kid generationist damit<br />
beschäftigt, das Bewältigungsspektakel<br />
unbeschädigt zu überstehen. - Schlingensiefbannt<br />
die Bilder, die den Schaden in der<br />
zweiten Generation bezeugen. Da er in Bildern<br />
denkt, kann er es deutlich machen,<br />
noch bevor dazu die richtigen Worte gesagt<br />
sind, daß es an der Zeit sein könnte, die<br />
Bewältigungsdiskussion zu bewältigen.<br />
Drittes Beispiel: Der Hitlergruß. Andrea<br />
van der Straeten brachte in ihrem<br />
neuen Dreiminutenvideoclip "Familienausflug<br />
'33" ihre Eltern und Großeltern<br />
ins Bild, die beim Picknick die Arme fröhlich<br />
zum Hitlergruß hoben. Ein Lieblingsfoto,<br />
wie sie dazu berichtet, das so sehr<br />
insFamilienleben integriert war, daß sie<br />
das, was die ausgestreckten Arme bedeuteten,<br />
bis vor kurzem nicht wahrgenommen<br />
hatte.- Was auf diesem Band beunruhigte,<br />
war nicht die Naziehrenbezeugung von<br />
1933, sondern die Tatsache, daß sie fiinfZig<br />
Jahre später in die private Welt der Andrea<br />
van der Straeten hereinbrach. Ob mit dieser<br />
Entdeckung die Kindheit eine andere<br />
wurde, ob der Hitlergruß im Gegenteil ein<br />
lächerliches Phänomen blieb, welches die<br />
Erinnerung nicht weiter beschädigte - diese<br />
Fragen blieben unentschieden. Die Bewältigung<br />
der eigenen Identität war keine<br />
Sache von 180 Sekunden. Andrea van der<br />
Straeten, die ihren Film im <strong>Hamburg</strong>er<br />
Frauen-Medienzentrum Bildwechsel gemacht<br />
hatte, fiihrte ihn Ietztesjahr aufeiner<br />
Werkschau <strong>Hamburg</strong>er Medienzentren<br />
und Mediengruppen vor und wandte sich<br />
in der Diskussion ausdrücklich gegen die<br />
"Zentrierung", gegen die Signifikanz. Das<br />
war inhaltlich gemeint, aber auch medienspezifisch.<br />
Das Medienzentrum will neben<br />
Video auch den anderen Medien offenstehen.<br />
Und es lehnt die Skepsis gegenüber<br />
Formen ab, die Experimente als formalistische<br />
Spielerei abtun. "OhneExperimente<br />
gibt es nichts neu es, genauso wie es bei Super<br />
8 und 16 mm der Fall ist. Würden wir<br />
darauf verzichten, wird zwar alles klar, -<br />
aber auch absehbar." (Birgit Durbahn)<br />
Die Entwicklung der Medienzentren<br />
muß der Kulturherrschaft, die aufZuständigkeiten<br />
und klare Befehlswege sah, Sorgen<br />
bereiten. Die Gruppe Video ex tritt mit<br />
einer Installation auf, zitiert in einem Tafelbild<br />
(von Michael Haller) das Frühstück im<br />
Grünen (von Manet) und läßt dazu auf einem<br />
Monitor bunte Bilder von Terrorakten<br />
in Beirut ablaufen.- Video exsuchte Widersprüche<br />
und Mehrdeutigkeiten und er-<br />
55
zwang Offenheit. Gründlicher konnten die<br />
wegweisend gedachten und sicherlich<br />
auch bequemen Eindeutigkeiten aus der<br />
Geschichte der Medienzentren und der Videoarbeit<br />
nicht abgeschaffi: werden. Vorbei<br />
ist es mit der guten alten Zeit, wo die Videomacher<br />
sich berufen fuhlten, den anderen<br />
zu sagen, wo's längs ging. Video ex stellt<br />
sich in den freien Raum oder aufs freie Feld,<br />
um zuzuhören und zuzusehen und um auszuprobieren<br />
und sich einzulassen auf das,<br />
was sich dem Begreifen noch entzieht. Die<br />
Installationen waren schiere Gegenwart,<br />
und das Konzept (Münzenberg-)Negt-Kluge<br />
der siebziger Jahre, Video als mediales<br />
Hilfsmittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher<br />
Gegenmacht zu gebrauchen, erledigte<br />
Geschichte: "Frontberichterstattung"<br />
(Video-ex).<br />
Auch die Funktion der Medienzentren<br />
der frühen achtziger Jahre, sich Betroffenen<br />
als Service zur Vernetzung eigener Erfahrungen<br />
anzubieten, erschien auf dieser<br />
Werkschau nur noch als historischer (und<br />
erfolgloser) Versuch, dem Video eine nützliche<br />
Aufgabe zuzuweisen. Das Medienzentrum<br />
Die Thede, bekannt durch eine<br />
Anzahl Hausbesetzervideos, stellte Anfang<br />
der achtziger Jahre schnelle Gegenöffentlichkeit<br />
her, was "zu diesem Zeitpunkt richtig<br />
war" (Christian Bau). "Die hektische<br />
Vorgehensweise war aber nicht durchzuhalten."<br />
Die Thede hat jetzt den Anspruch,<br />
Zusammenhänge sinnlich darzustellen<br />
("Aus Lust am Schauen") und statt "Oberflächenphänomene"<br />
eigene und fremde Erfahrungen<br />
zu registrieren, nämlich hinzuhören<br />
und hinzusehen. Auch hier hat das<br />
Video die zentrale Rolle verloren, Inhalte<br />
zu transportieren. Stattdessen verhilft der<br />
sichtliche Spaß und der Stolz, ein Werk herzustellen<br />
(nämlich innerhalb eines Mediums<br />
zu arbeiten), den Filmen und Videos<br />
zu neuer Überzeugungskraft. "Wir haben<br />
Lust, Bilder zu machen, Töne aufZunehmen,<br />
Filme zu gestalten." (Die Motte) Die<br />
Video-Collage der Motte, "Sperrmüll", ist<br />
daher mehr als Zielgruppenfilm und Stadtteilkulturmanifest,<br />
nämlich: Fest und Ereignis.<br />
FastzwanzigJahre vorher war es der<br />
Kurzfilm "Anfangszeiten", der eine Radfah-<br />
56<br />
rer-Werbe-Fahrt fur den Super-Scope<br />
Spielfilm "Der heimliche Kuß" zum Ereignis<br />
machte. Zu den funf radfahrenden<br />
Kunststudenten der Filmklasse Wolfgang<br />
Rambsbott (<strong>Hamburg</strong>) gehörte Holger<br />
Meins, der fur den politischen Kampf später<br />
auf das Medium Film nicht angewiesen<br />
war. Die "Anfangszeiten" von 1966 waren<br />
es, denen die Medienzentrenleute von<br />
1985 ihre Sympathie bezeugten.<br />
Was der Kulturherrschaft unheimlich<br />
wird, ist der Umstand, daß sich immer mehr<br />
Leute Mut machen und sich nicht sagen<br />
lassen, Mut wozu. Programmatisch ist der<br />
Titel des neuen (dritten) Film der Wendländischen<br />
Filmcooperative: "Zwischenzeit".<br />
Die Musik ist von den Einstürzenden<br />
Neubauten, und es werden auch sonst ein<br />
paar Sensorien mehr angesprochen als wir<br />
es vom klassischen Dokumentarftlm gewöhnt<br />
sind. Gorleben und die Anti-AKW<br />
Bewegung sind wie in den beiden ersten<br />
Filmen - "Die Herren machen das selber,<br />
dass ihnen der arme Mann Feind wird"<br />
(1976-79) und "Traum von einer Sache"<br />
(1980/81) Thema,- aber jetzt entschieden<br />
mittelbar. Direkt geht es um mehr als um<br />
die Sache: um die Menschen, die in Gorleben<br />
1981-1985 zueinanderftnden, aufeinanderstoßen<br />
und sich wieder trennen.<br />
Vom Polizeisprecher, Wachmann und<br />
Standortrepräsentanten zum Untergrundarbeiter,<br />
Freizeitdemonstranten und<br />
Waldbauern. Die Filmmacher (Roswitha<br />
Ziegler, Niels Chr. Bollbrinker,Jochen Fölster,<br />
Gerhard Zigler) zögern nicht, jederzeit<br />
in das Geschehen einzugreifen und mit<br />
ästhetischen Mitteln der Filmdramaturgie<br />
Wirklichkeit zu verschaffen (oder doch<br />
mindestens punktuell zu verändern). Die<br />
Strategie des Films ist gleichzeitig eine<br />
Strategie des Widerstands (und nicht eine<br />
darüber). Und da der Film kreativ, phantasievoll,<br />
provokativ und auf nicht recht zu<br />
fassende Art ironisch-subversiv ist, lädt er<br />
zu entsprechendem, vor allem nicht recht<br />
zu fassendem Widerstand ein. Die Einladung<br />
der "Zwischenzeit" macht neuen<br />
Mut. Dies zunächst. "Zwischenzeit" ist<br />
selbst produziertes Ereignis. Und man sollte<br />
dieses sensationelle Ergebnis dadurch<br />
würdigen, daß man den Ereignis-Film aus<br />
der Sparte des Dokumentarftlms herausnimmt,<br />
der heute überwiegend mit den Negativerlebnissen<br />
Resignation, Frustration<br />
und Melancholie assoziiert wird.<br />
Der "Zwischenzeit"-Polizist, der eine<br />
Wendland-Straße sperrt, zieht plötzlich eine<br />
Pistole. Man spürt seinen Haß und seine<br />
Aggression gegenüber den Demonstranten.<br />
Diese freuen sich sichtlich über die gelungene<br />
Provokation. Über den kleinen<br />
Sieg. Polizistenkollegen reden dem Pistolenträger<br />
gut zu. Es scheint, daß die Demonstranten<br />
Herr dieser Lage sind. Doch<br />
freilich: die Atommülltransporte haben<br />
freie Fahrt. Von der Polizei gut gesichert<br />
und von Blockadeaktionen ungehindert erreichen<br />
sie ihr Ziel- vorbei am Akzeptanzforscher,<br />
der den "Zwischenzeit"-Film hindurch<br />
die Widerstandsaktionen begleitet.<br />
Mit dieser-fiktiven- Gestalt greift der Film<br />
in die Bewegung ein. Eine Erfindung, die -<br />
jetzt aber im Großen-genauso gut funktioniert,<br />
wie clie reale Szene mit dem Pistole<br />
ziehenden Polizisten. Der Akzeptanzforscher<br />
kommt vor Ort dem vorgeblichen<br />
Auftrag und der Aufgabe nach, die sogenannte<br />
Bewegung zu analysieren und Befriedungsstrategien<br />
zu entwickeln. Die<br />
Filmmacher lassen ihn zur handelnden Person<br />
in einer realen Anhörungsposse werden,<br />
zum absurden Interviewpartner des<br />
Bewachungs- und Sicherungs- Unternehmens,<br />
zu einer Art Empfangschef der Blokkadeorganisation.<br />
Mit falscher Routine begrüßt<br />
er Neuankömmlinge; mit falschem<br />
Verständnis läßt er vermummte Terroristen<br />
Pläne entwickeln; mit falschem Händedruck<br />
gliedert er sich der Menschenkette<br />
ein. Der Film zeigt gesprengte Hochspannungsmastenund<br />
die saubere Niederlegung<br />
eines Fabrikschornsteins.<br />
Das Forscher-Falsifikat operiert in diesem<br />
Film mit schlauen, eleganten Soziologentexten.<br />
Nicht weil der Text falsch oder<br />
mindestens der realen Situation unangemessen<br />
ist (beides triffi zu), sondern weil<br />
der Gebrauch des Textes und darüberhinaus<br />
der Gebrauch, den der Film von der<br />
inszenierten Figur macht, eine überaus befreiende<br />
(und sich im Gelächter ausdrük-
Media Burn, 1975<br />
kende) Erfahrung erlaubt. Mühelos bewegt<br />
sich der Akzeptanzforscher, ob echt, ob<br />
falsch, ob real, ob fiktiv in beiden Lagern:<br />
dem der Freunde, dem des Feindes. Die<br />
Grenzen spielen fur ihn keine Rolle, auch<br />
nicht die Widerstandsformen, ob Folklore,<br />
ob Gewaltakt. Ihm stehen gleich dem Saboteur<br />
in einem Industriesystem alle Möglichkeiten<br />
offen. Die inszenatorische Erfindungdes<br />
Films entzieht sich der Herrschaft<br />
der Theorieproduktion und der der Handlungsanleitung.<br />
"Zwischenzeit" verwischt<br />
die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit,<br />
öffuet die Realität, macht sie operabel<br />
und nirnmtdieAngstvordem,zu dem<br />
der Fälscher, endlich, freien Zugang hat.<br />
Der Film klopft das Vorgefundene zum eigenen<br />
Gebrauch ab. Seine ästhetische Strategie<br />
ist daher der Einsatz (vorgefundener)<br />
Reportage-, Interview- und Statement<br />
Technik und der Einsatz (vorgefundener)<br />
Texte: vom Anarchisten und Revolutionär<br />
Alexander Herzen (Paris 1848) über das<br />
Kauderwelsch der Zeitschrift fur Semiotik<br />
(Tübingen 1983) bis zu den amtlichen Verlautbarungen<br />
der Bundesrepublik von<br />
1985. Seine politische Strategie ist die der<br />
utzung (des vorhandenen Arsenals) zum<br />
eigenen Gebrauch. Was ist die Jahre geschehen?<br />
Was macht man damit? Die "Zwischenzeit"<br />
entdeckt ihreGeschichte. Die<br />
neue Wissenschaft ist fröhlich. Vorbei die<br />
dumpfe Erwartung des Eintritts der nächsten<br />
Utopie.<br />
Es wäre zu wenig, "Zwischenzeit" dem<br />
Filmmedium zu überlassen (vgl. epd Film<br />
1/86), da hier Kultur und Lebensweise einen<br />
Ausdruck findet, die sich von keiner<br />
Herrschaft sagen läßt, was zu tun ist. Ich habe<br />
versucht, die Strategie, die selbstredend<br />
vor den Grenzen der diversen Medien keinen<br />
Halt macht, zu beschreiben (in einem<br />
Beitrag fur "Kultur auf der Kippe", Elefanten<br />
Press 1985). Aber vielleicht sollte man<br />
es dabei belassen, ein Bild zu finden: einen<br />
Vergleich zwischen dem zentralen Platz<br />
des sozialdemokratischen Alstervergnügens<br />
fur alle (dem <strong>Hamburg</strong>er Rathausmarkt)<br />
und der inszenierten Platzwirklichkeit<br />
vom Winterfeldtplatz und Roten Platz,<br />
in der weder die Stadt Berlin noch die Stadt<br />
Moskau was zum Herrschen haben.<br />
Erstens. Ein Fest auf dem Rathausmarkt.<br />
1983. Von allen fur alle. Ein Schalmeienzug<br />
in weißroten Uniformen. Eine<br />
Pantomimin. Auf den Planken einer historischen<br />
Barkasse aus dem Schiffsmuseum<br />
bietet eine Aerobicgruppe das Allerneueste.<br />
Die Menge treibt weiter, vom Bierausschank<br />
zum Würstchenstand. Der Verkehr<br />
wird um die Bannmeile herumgeleitet. Das<br />
Volk des Volksfestes ist im Herrschaftszentrum.<br />
Der Blick geht auf das Rathaus, es ist<br />
so gut wie besetzt. Die neue Herrschaft simuliert<br />
die alte. Karnevalsstimmung in<br />
<strong>Hamburg</strong>. Was an den Rand geraten ist, da,<br />
wo der Alltag der Stadt weitergeht, beeilt<br />
sich, auf die Platzmitte zu kommen. Im<br />
Zentrum ist die Welt in Ordnung.<br />
Zweitens. Der Rote Platz, der wie von<br />
ungefähr in den Berliner Winterfeldtplatz<br />
übergeht, kommt in der Musik-, Film-, Mal-<br />
Performance der Gruppe Notorische Reflexe<br />
in Unordnung. Der Platz der Plätze ist<br />
dezentralisiert. Einer der vielen neuen Mittelpunkte<br />
ist die Berliner Kamera, die am<br />
Rand steht und einen Stechschritt vorm<br />
Leninmausoleum aufuimmt und gleichdraufPassauten<br />
in irgendwelchen Straßen<br />
Moskaus. Für sie sind die Bilder gleich nah<br />
und weit. Die Hierarchie ist abgeschafft.<br />
Breschnews Portrait hängt als Diaprojektion<br />
während der Performance über der<br />
Bühne. Aufseinen Mund wird ein Film projeziert:<br />
volle rote Lippen in Bewegung, ein<br />
Synchronton auf russisch. Der rote Herrscher<br />
ist von den Notorischen Reflexen liebevoll<br />
entthront. Als lebendes Poster gereicht<br />
er der Berliner Gruppe zur Zierde -<br />
wie die anderen vielen Medienstücke auch.<br />
Mehr noch : die Notorischen Reflexe arbeiten<br />
mit ihm von gleich zu gleich. Er dient<br />
jetzt ihren Zwecken, und doch bleibt er der<br />
gute alte Breschnew. Auf dem Winterfeldtplatz<br />
geraten die vielen neuen Zentren in<br />
lebhafte Bewegung. Die Filmprojektion<br />
zeigt Videoaufnahmen von einer Wanne,<br />
die geschaukelt wird, bis sie endlich kippt.<br />
Und brennt. Überblendet sind Finger, die<br />
auf einer Gitarre spielen: Das Spiel geht<br />
weiter: an einem anderen Zentrum, das in<br />
die großen Computer nicht einprogrammiert<br />
ist und der Erfassung durch die<br />
Obrigkeit sich entzieht. Auch die Allschlußszene<br />
wird nicht hinterfragt. Schlagstöcke<br />
sausen auf die Demonstranten, und<br />
spräche man jetzt vom Bullenterror, wäre<br />
es mit der Fortsetzung der Aktivität vorbei,<br />
57
jedenfalls R.ir diese Performance. Die bekannte<br />
Wut, Angst und Lähmung stellte<br />
sich ein. Und damit wäre die alte durch eine<br />
neue Hierarchie ersetzt: die zwischen Täter<br />
und Opfer. Den Notorischen Reflexen,<br />
die sich den Mut nicht nehmen lassen, ist<br />
das Denken von oben nach unten oder umgekehrt<br />
jedoch fremd. Für sie ist das Polizeizentrum<br />
eins von allen anderen und<br />
folglich ihrem eigenen gleich. Drum ziehen<br />
sie in ihrer Performance selbst die Stöcke.<br />
Ein Scheinwerfer projeziert den Schattenriß<br />
der Trommelstöcke auf die Knüpplerprojektion.<br />
Jetzt sind es die Notorischen<br />
Reflexe selbst, die dreinschlagen : auf<br />
Beamtenrücken, zum lustvollen Iive<br />
Rhythmus irgendwo zwischen Rock und<br />
Jazz. Was man hört, sieht, erlebt, ist nicht<br />
Polizei-, sondern Reflex-Terror.<br />
Von dem, was in Brüche gegangen ist,<br />
haben die Notorischen Reflexe ein Videoband<br />
gemacht ("Fragment/Video' 83"). Es<br />
ist videospezifisch bearbeitet, sehr schön<br />
bearbeitet, aber kein Videowerk Das Medium<br />
dient, eher zufallig, als Verkehrsmittel,<br />
um das Performancefragment zu transportieren,<br />
welches seinerseits die Medien<br />
mischt, um angesichts der realen Herrschaft<br />
auf dem Roten und Winterfeldt<br />
Platz oder der simulierten Volksherrschaft<br />
auf dem <strong>Hamburg</strong>er Rathausmarkt die<br />
Beherrschung zu verlieren. Das Reflexband<br />
ist zu Hause sowohl an den Rändern<br />
der großen Plätze als auch an denen unserer<br />
Medien. Seine Heimat ist überall, wo<br />
man den kurzen Wegvom Filmmedium in<br />
das Medium der Bildenden Kunst gehen<br />
kann, von dort ins Musikmedium, von dort<br />
in das Medium der Darstellenden Kunst.<br />
Die Grenzen sind nicht abgesteckt. Das<br />
Niemandsland ist groß und ungewiß, doch<br />
stehen Eingeweihten ausreichend Trampelpfade<br />
zur Verfiigung. Die braucht der,<br />
der der Erfassung sich entziehen möchte:<br />
den Funktionären der Behörden, der Polizei,<br />
aber auch der Kulturarbeit und insbesondere<br />
den leitenden Angestellten unserer<br />
Theorien und Dogmen, ob nun der<br />
ästhetischen oder der gesellschaftlichen<br />
Art. Wenn man von Kunst reden möchte.<br />
dann von einer begriHlich nicht recht faß-<br />
baren Lebenskunst : der Kunst, durch den<br />
fröhlichen, aber verantwortungslosen Gebrauch<br />
dieser unserer ästhetisch-gesellschaftlichen<br />
Einrichtungen sich eben letzteren<br />
zu entziehen. Für den, der sich in dieser<br />
Bewegungskunst übt, gilt weder oben<br />
noch unten, weder rechts noch links. Da er<br />
das Vorhandene nutzt und es soweit affirmiert,<br />
braucht er nichts zu hinterfragen.<br />
Die Stechschrittkolonne vor dem Leninmausoleum,<br />
die Bullenknüppel auf dem<br />
Winterfeldtplatz : sie gelten R.ir sich selbst<br />
und sind Antwort ohne Frage; sie sind<br />
Tummelplatz R.ir eine Strategie, die über<br />
die Taktik des Platzwechsels Auskunft gibt.<br />
Die Plätze, die geografisch beschrieben<br />
werden können, stehen nicht R.ir anderes.<br />
Drum bleiben auf der Platzmitte die Kulturarbeiter<br />
stehen, die zwar die Kultur hinterfragt<br />
haben, aber nicht das, R.ir das sie stehen<br />
soll. Die Funktionäre, die die Kultur<br />
funktionalisiert haben, nicht aber so etwas<br />
wie den gesellschaftlichen Fortschritt, werden<br />
fur eine Lebens-Kunst, die den Schritt<br />
zur Seite trainieren muß, zur zentralen<br />
Größe, mit der sich nicht operieren läßt. Ihre<br />
Prozedur, die kulturelle Erscheinung zu<br />
Gunsten eines nichtkulturellen Anderen<br />
aufZulösen, macht sie R.ir den Verkehr an<br />
den Rändern des Roten und des Winterfeldt<br />
-Platzes untauglich. Denn nur, wer sich<br />
in den realen Brüchen und Antinomien<br />
auskennt (und sie bestätigt), weiß über das<br />
Gelände Bescheid, auf dem er lebt. Für den<br />
Arbeitslosen ist das Überlebenstraining der<br />
neuen Beweglichkeit von Nutzen, weniger<br />
die theoretische Harmonie einer Kulturarbeit,<br />
die nicht erfahren hat, daß R.ir den, der<br />
seine Arbeit los ist, die Arbeiter zur Klasse<br />
der Besitzenden zählen, nämlich der Arbeitsplatzbesitzer,<br />
deren Zentrum der<br />
Deutsche Gewerkschaftsbund ist - eine<br />
Zentrale, die Funktion R.ir Arbeitslose,<br />
Rand- und Minderschichten längst verloren<br />
hat.<br />
Der Kulturarbeiter, dem Kultur lediglich<br />
Beleg und Mittel R.ir die Theorie ist - er<br />
verbreitet Lähmung und Angst. Lähmung,<br />
weil der zu Bearbeitende dem, was ihm vor<br />
Augen gefiihrt wird, nicht trauen soll, da es<br />
einem anderen, fremden Zwecke diene.<br />
Angst, weil er seinen real existierenden Mut<br />
an die Verwalter einer fremden, fernen Utopie<br />
abtreten soll. Denn die Gegenwart sei<br />
schlimm, auch die Kultur sei dazu da, ihm<br />
dies zu bedeuten. Dann bleibt dem, dem in<br />
der Kulturarbeit die GeRihle abhandenkommen,<br />
freilich nur der Wegzur nächsten<br />
Disco. - Der Film "Echtzeit" von Costard<br />
und Ebert zeigt Computerherrschaft, Monitorbilder<br />
und Simulationssysteme. Das<br />
Liebespaar R.ihlt sich vom zentralen System<br />
erfaßt, programmiert. Der Held, sich zur<br />
software reduziert wähnend, stürzt als<br />
Computerbild auf den winterlichen Acker<br />
und bleibt vor den Füßen der Geliebten liegen.<br />
- Der Demonstrant, den ich auf einer<br />
Büßer- und Abwieglerdemonstration in<br />
Harnburg vor der Polizeiwache Kirchenallee<br />
sah, hatte den Angstfilm offenbar nicht<br />
gesehen. Er kletterte die Fassade hoch und<br />
drehte die Videokamera, die den Zug beobachtete<br />
um : ins Fenster rein, hinter dem<br />
die Polizeibeamten auf den Monitoren sodann<br />
ihr eigenes Bild betrachten konnten.<br />
War diese Muttat, die die Demonstranten<br />
weit über den Anlaß beflügelte, etwas, was<br />
der Hinterfragung, der Instruktion bedurfte?<br />
Sie war eine Antwort, als transitorisches<br />
Werk der Lebens-Kunst beschreibbar, keine<br />
Kultur von allen R.ir alle, sondern Minderwerk<br />
R.ir eine Minderheit. Auch schien<br />
mir nicht, daß Kulturarbeiter den Helden<br />
im Griff hatten, der nicht als erfaßbares<br />
Kunstbild auf dem winterlichen Acker lag,<br />
sondern sich, auch der Polizei nicht faßbar,<br />
bewegen konnte : klettern, nach oben und<br />
wieder nach unten.<br />
Die Strategie erlernt sich kinderleicht.<br />
Die Leser von Disneys Lustigen Taschenbüchern<br />
können sich im Heft 68 (" Wohnungsbeschaffungsprograrnm")<br />
mit den<br />
Identifikationsjungenten Tick, Trick und<br />
Track ungezwungen und ungehemmt zwischen<br />
Pränazis-mit -Hindenburgbart -Und<br />
Pickelhaube in Westland und bösutopischen<br />
kapitalistischen Ausbeutern in Entenhausen<br />
bewegen, wobei es sich bei l~ tzteren<br />
im einzelnen um Onkel Dagobert<br />
handelt, der als Wohnungspekulant den<br />
technischen Fortschritt nutzt, um Behörden<br />
und Mieter auszutricksen. Originalton<br />
58
Tage spater ..<br />
Ich mochte etwas<br />
gegen d•e allgemetne<br />
Wohnungsno!<br />
un1erneh ·<br />
Heute kann ich auf den Zucker verzichten!<br />
Eine solche Nachricht versußt<br />
mir den ganzen Tag!<br />
Dagobert: "Man müßte sowohl die Wohnungen<br />
als auch die Mieter in den vorhandenen<br />
Häusern derart verkleinern, daß<br />
mindestens doppelt so viele Bewohner darin<br />
Platz finden. Die Dimensionen der Mieter<br />
müßten bei Betreten der Winz-Wohnungen<br />
verringert und bei Verlassen wieder<br />
auf ormalgröße gebracht werden."<br />
Verlogen zum Cheftechniker Düsentrieb:<br />
"Bedenken Sie nur, wie vielen Obdachlosen<br />
man auf diese Art helfen könnte!" Düsentrieb:<br />
"Ich bin überzeugt!" Dagobert (allein)<br />
:"Im Grunde habe ich ja nicht gelogen.<br />
Ein guter Zweck ist dabei: Es fließt doppelt<br />
so viel Geld in meine Taschen."- Da Altnazis<br />
und Neokapitalisten weder ihr (gemeinsames?)<br />
System repräsentieren noch sonst<br />
einer Hierarchie unterliegen, brauchen die<br />
Donaldleser vor ihnen keine Angst zu haben.<br />
Mit den anderen geht man um, sie<br />
werden disponibel. Und so sprengen die<br />
azis, zeitlicher, geografischer, ideologischer,<br />
pädagogischer oder sonst dogmatischer<br />
Ordnung ungeachtet, die sowohl<br />
menschenverachtenden als auch ökologisch<br />
bedenklich Dagobert-Duckschen<br />
Kraftwerke in die Luft. Nicht weil die azis<br />
gut sind, sondern weil sie blöd sind und alle<br />
Erscheinungen aufs eigene System beziehen<br />
(sie verwechseln die Ducksehe Ausbeuter-<br />
mit einer Militärstrategie).- Tick,<br />
Trick und Track spielen ihr eigenes Spiel<br />
mit den Erwachsenen-Zentren. Sie haben<br />
gelernt, Onkel Donald gegen Dagobert<br />
Duck auszuspielen, den Asozialen gegen<br />
den Kapitalisten und diesen gegen den Faschisten.<br />
Sie sind in beiden Häusern daheim,<br />
aufder Hut, aufZeitund wieder weg.<br />
Tick, Trick und Track sind fiir ihre treuen<br />
Leser die kleinsten Kulturarbeiter und als<br />
Multiplikatoren die größten. Die Trans<br />
Duck-Garde fuhrt keinen theoretischen<br />
Diskurs. Er wäre das letzte.<br />
Der Kulturarbeiter, der seine Arbeit<br />
nicht zur Organisation verkümmern lassen<br />
will, verläßt die Herrschaftszentrale, die<br />
sich're Alpenfestung, in der Theorien,<br />
Ideologien, Dogmen und Strukturen ihre<br />
Zuflucht genommen haben und eilt an die<br />
Ränder und Grenzen der Herrschaftszonen,<br />
wenn er es vormachen will, wie man<br />
der allgemeinen Erwartung sich entzieht<br />
und sich nicht fassen läßt - von den Systemen<br />
der Justiz, der Ästhetik, der Psychiatrie,<br />
des Marxismus-Leninismus, der Bundeswehr<br />
und vielleicht auch der Kulturpädagogik<br />
Wohl dem, der vor diesen Systemen<br />
nicht in Angst und Lähmung verfällt<br />
und flieht, sondern geübt hat, sie fiir eigene<br />
Zwecke zu nutzen : mit ihnen umzugehen,<br />
wie man eine leerstehende Wohnung besetzt,<br />
ein Medienzentrum umnutzt oder<br />
sich sonstwie einquartiert.<br />
Die Kulturarbeit könnte, beweglich geworden,<br />
den Mut vermitteln, die Dinge zu<br />
handhaben (was ein affirmatives Verhältnis<br />
zum Werkzeug voraussetzt), statt sie auf einen<br />
Wert fiir irgendein System zu reduzieren<br />
(zu hinterfragen, zu kritisieren). Die<br />
Handhabung- zum eigenen utzen- entkleidet<br />
die vielen schönen Dinge freilich ihrer<br />
sozialen Bedeutung. Die Lebenskunst<br />
59
ist asozial. "Die Kunst ist, per definitionem,<br />
eine asoziale Praxis." (Oliva)- Der Kulturarbeiter,<br />
der denen den gehörigen Elan<br />
vermitteln möchte, den es braucht, um im<br />
System von Schulen, Behörden, Arbeitsund<br />
Ausländerämtern, Drogen- und sonstigen<br />
Vollzugsanstalten, Moral und Sozialismus<br />
weiter- und überleben zu können -<br />
und das möglichst mit Genuß -,ein solcher<br />
Kulturarbeiter müßte seine Arbeit als eine<br />
asoziale begreifen. Dann könnte er sich von<br />
der Mitte des Rathausmarktes entfernen,<br />
sich zu den fließenden Rändern der unzähligen<br />
neuen Mitten begeben und dort -<br />
endlich - auf Menschen stoßen - Menschen,<br />
die system- und arbeitslos sind und<br />
grade dadurch Energie und Vitalität gewinnen<br />
(können/müssen), um existieren zu<br />
können, um das Geld fiir den Abend zusammenzukriegen,<br />
um beispielsweise die<br />
asozialen Notorischen Reflexe zu sehen/<br />
zu hören, um sich dem ZugriffBreschnews,<br />
der deutschen Fernsehanstalten oder des<br />
West-Berliner Polizeipräsidenten zu entziehen.<br />
Im Reich der Kulturherrschaft zeigen<br />
sich besorgte Mienen. Film- und Förderungsbürokratien,<br />
Redaktionen, Veranstalter<br />
der einschlägigen Festivals, Kinobetreiber<br />
und Programmreihenveranstalter verlieren<br />
die Subjekte aus den Augen und<br />
nirchten um die Zuständigkeiten. Experimentelles<br />
und Dokumentarisches flottiert<br />
durch die Medien und Kulturen, gestaltet<br />
sich als Film, Video, Performance, als Theater,<br />
Musik und Buch und als Ausdruckeiner<br />
als gemeinsamen empfundenen Lebensweise<br />
ebenso als Mode, als Lebensstil ("Styling")<br />
und als Aktion und Auftritt der Subjekte,<br />
die sich selbst um die Gestaltung der<br />
eigenen Expressivität kümmern. Einer von<br />
ihnen ist der Künstler, der Nachfahre des<br />
Kulturarbeiters oder der politische Kämpfer,<br />
der inzwischen die Kunst beherrscht,<br />
sich der diversen Medien zu bedienen, sich<br />
gleichzeitig im freundlichen und im feindlichen<br />
Lager zu bewegen, gar ein Weilchen<br />
in die Etappe des Feindes vorzudringen<br />
und wieder woanders zu sein, bevor die Erfassungsinstanzen<br />
reagieren können.<br />
Durch die Strategie der Beweglichkeit, der<br />
60<br />
Gleichzeitigkeit und der Verflüssigung -<br />
"Lyse" nannte Lyotard diese Operation -<br />
entzieht sich das Subjekt der Festschreibung.<br />
Gerade dadurch bleibt es Herr der Situation,<br />
eindeutig und unverfälscht - wieviel<br />
es auch mit Fälschungen, Fiktionen,<br />
Inszenierung, Akzeptanzforschung und -<br />
Dokumentarischem arbeitet. Die Musikgruppen,<br />
die Ausdruck der aktuellen Lebenskultur<br />
sind, können an den verschiedensten<br />
Fronten operieren. Die "Einstürzenden<br />
Neubauten" machten die Musik<br />
zum dritten Gorleben-Film der Wendländischen<br />
Filmcooperative, "Zwischenzeit",<br />
und verschmolzen Avantgarde- und Dokumentarfilm.<br />
Mit derselben Gruppe hat der<br />
japanische Filmregisseur Sogo Ishii ("Die<br />
Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb")<br />
einen Film gemacht- mit dem Titel<br />
der LP dieser Gruppe "Halber Mensch".<br />
Was zu sehen und zu hören ist, ist schlecht<br />
zu rubrizieren: ein SSminütiger Videoclip,<br />
ein reeller Film, Bildzutat zu einer Audioveranstaltung,<br />
in der es wesentlich auillolby-Stereo<br />
ankommt? Die leidigen Zuordnungsfragen<br />
ändern jedoch nichts daran,<br />
daß das visuelle Halber-Mensch-Produkt<br />
ebenso vehementer wie glücklicher Ausdruck<br />
einer Lebens- und Musikkultur ist,<br />
die mühelos zuläßt, ja gebietet, dasjenige<br />
der regionalen und nationalen Kulturen zusammenzubringen,<br />
das sich den Hierarchien<br />
der Kunst und Politik entzieht. Blixa<br />
Bargeld singt Deutschsprachiges - neben<br />
japanischen Bhutotänzern.<br />
Auch Peter Sempel bereitet es in seinem<br />
Psychoexperimentalsmusikfilm "Der<br />
Rabe" keine Schwierigkeit, die Musik -<br />
wieder sind es die Einstürzenden Neubauten-<br />
Edgar All an Poes Gedicht "Der Rabe"<br />
interpretieren zu lassen,- eine Aufgabe, die<br />
ebensogut der New Yorker Tänzer Yves<br />
Musard übernehmen kann.- Im Kulturbereich<br />
zeigt die Herrschaft erste Reaktionen.<br />
Die Duisburger Filmwoche, etabliertes Festival<br />
des langen Dokumentarfilms, eröffnete<br />
im vergangenen Herbst das Programm<br />
mit Klaus Telschers Avantgardefilm<br />
"Aus der alten Welt", der, als künstlerische<br />
Fiktion, die Erfahrung unserer Wirklichkeit<br />
dokumentiert. Und die Oberhausener<br />
Filmtage ölfueten dieses Jahr die Dokumentarfilmveranstaltung<br />
dem experimentellen<br />
Film. Die Medienwerkstatt Freiburg<br />
wird im Herbst dieses Jahres auf dem<br />
jährlichen Festival deutlicher als bisher den<br />
gleichen Weg beschreiten.<br />
Sagen wird, daß diese Entwicklung<br />
mittlerweile funf Jahre alt ist. Begonnen<br />
hatte sie 1981 mit der Initüerungdes "Infermental"<br />
-Magazins, des ersten internationalen<br />
Magazins aufVideokassetten, erschienen<br />
gleichzeitig (und damit programmatisch)<br />
in Budapest undWest-Berlin. Gäbor<br />
Bödy antwortete damals auf das, was sich<br />
überall in der Welt zu artikulieren begann,<br />
mit dem Programm, Medieninseln zu vernetzen<br />
und die gemeinsame internationale<br />
Bild- und Tonsprache der regionalen und<br />
nationalen, hierarchisch nicht-organisierten<br />
Kulturen zu finden. Heute liegt die runfte<br />
Ausgabe vor. Noch ist sie einigermaßen<br />
herrschaftsfrei, die Kultur vom Subjekt aus.
~---~_a_1g_a_z_i<br />
____ _<br />
(K)ein Nachruf auf<br />
QWERTZUIOPÜ<br />
Wer nicht gerade Rolf Roggenbucks einzigartigen<br />
Roman .. Der Nämlichkeitsnachweis" ( 1967 !) kennt<br />
und in erlesener Erinnerung bewahrt hat, um dessentwillen<br />
seinem Autor heute noch der Arno<br />
Schmidt-Preis f.!achzuwünschen ist, der mag<br />
QWERTZUIOPU für die unerklärliche Entgleisung eines<br />
Setzcomputers oder launige Eigenmächtigkeit<br />
eines zeichengeplagten .. Säzzers" halten, beim<br />
Sprechversuch vielleicht auch für eine aleatorische<br />
Lautkombination -,für etwas Bezeichnendes jedenfalls<br />
kaum. Immerhin geriete er mit den Querverweisen<br />
aus der Hinterhand eigener Erfahrung - z.B. mißmutig<br />
an seiner bescheidenen Olivetti Lettera 36 C -<br />
tatsächlich auf eine aussichtsreiche <strong>Spur</strong> der scheinbar<br />
sinn- und regellosen Zeichenfolge. Aber gleich<br />
auf Anhieb offenbart es sich wohl nicht, dieses<br />
QWERTZUIOPÜ, um dennoch nachdrücklich Zeichen<br />
zu setzen, und zwar gerade auf Anhieb: nämlich<br />
dem der zweiten Tastenreihe von oben auf einer<br />
handelsüblichen Schreibmaschine, links beginnend.<br />
klassischen Typenhebelmechanik,<br />
wonach eine eher bedarfswidrige,<br />
also tempodrosselnde<br />
Buchstabenanordnung auf dem<br />
Tastenfeld geradezu angezeigt<br />
war, um jener fatalen Neigung<br />
derTypenhebelentgegenzuwi~<br />
ken, sich bei allzu rasanter Anschlagsgeschwindigkeit<br />
heftigst<br />
ineinander zu verklemmen.<br />
Also auch damals - wenngleich<br />
unter umgekehrten Vorzeichen<br />
- keine ars combinatoria,<br />
sondern wohldurchdachte<br />
Buchstabierung des technisch<br />
Machbaren.<br />
Und dennoch : Mit dem Verschwinden<br />
von QWERTZUIOPÜ<br />
verlieren wir nicht nur ein Souvenir<br />
des maschinierten Schreibens<br />
aus der Alltagsweit der Gegenwart<br />
an die bloße Erinnerung,<br />
sondern auch ein besonders<br />
anschauliches Stück konkreter<br />
Poesie, eine Fangzeile gewissermaßen<br />
und seit Rolf Rog <br />
genbucks .. Nämlichkeitsnachweis"<br />
zugleich ihr konkretestes<br />
Zustandswort -, genial erkannt,<br />
während er, sagen wir, über einer<br />
schlichten Adler Comtessa<br />
Reiseschreibmaschine die Zeichen<br />
der Zeit befragte. Roggenbuck<br />
war es, der QWERTZUIO<br />
PÜ das angemessene literarische<br />
Denkmal setzte mit einem<br />
Roman, der die Was-Frage des<br />
Erzählens mit der Wie- Frage<br />
So unvertraut ist also zumindest<br />
der Anblick dieser Buchstabenkombination<br />
eigentlich nicht.<br />
Und wenn man bedenkt, wie viele<br />
Schreibmaschinengenerationen<br />
sie inzwischen überdauert<br />
hat, seit 1873 Philo Remington<br />
-nach Endedesamerikanischen<br />
Bürgerkriegs - von Schußwaffenserien<br />
auf typewriterumstellte,<br />
so nimmt es fast ein wenig<br />
wunder, daß QWERTZUIOPU<br />
oder doch wenigstens QWERTZ<br />
nicht auch - wie früher einmal<br />
Abc und später beispielsweise<br />
BTX- zum kulturtragenden Begriff<br />
geworden ist -, symbolisch<br />
zumindest für die technische Alphabetisierung<br />
des schriftsprachlich<br />
versierten Menschen.<br />
Obschon buchstäblich vor<br />
der Hand liegend, blieb diese<br />
sprachhistorische Gelegenheit<br />
eines sinnfälligen Neologismus<br />
ungenutzt, und inzwischen wird<br />
die Schreibtischaussicht auf die<br />
QWERT-Zeile wohl alsbald der<br />
Vergangenheit angehören :<br />
Denn aus Amerika dringt die<br />
Kunde eines neuen Tastenfeldes,<br />
das dort bereits einen<br />
Marktanteil von etwa 10% erobert<br />
hat. Entwickelt wurde es<br />
von dem 1975 gestorbenen Psychologen<br />
und Ergonomen August<br />
Dvorak an der Universität<br />
Washington, und die Neuerung<br />
dieses offenbar erfolgreichen<br />
opus posthumum langjährige<br />
Schreibbürostudien besteht<br />
eben in der völlig veränderten<br />
Zeichenanordnung auf dem Ta <br />
stenfeld : Nicht mehr QWERT<br />
ZUIOPÜ fügt sich dort auf Fin <br />
gerkuppenabstand aneinander,<br />
sondern " ;.PYFGCRL?- gar nicht<br />
zu sprechen von den anderen Ta <br />
stenreihen oder erst von den<br />
notwendig werdenden Um- und<br />
Nachschulungskursen für .. perfekte<br />
Schreibmaschinenkenntnisse".<br />
Zweifellos soll die Dvorak<br />
Tastatur dazu beitragen, auf<br />
möglichst angenehme Weise<br />
ein höheres Schreibtempo erreichen<br />
und durchhalten zu können.<br />
Schließlich sind auch die<br />
Zehn-Finger- Fertigsten noch<br />
immer weit davon entfernt, 15<br />
1 / 2 Zeichen zu Papier zu bringen,<br />
pro Sekunde, versteht sich<br />
(= 930 Anschläge in der Minute);<br />
dazu nämlich bot vor Jahrzehnten<br />
schon die elektrische<br />
Schreibmaschine alle technischen<br />
Voraussetzungen, und<br />
noch den eifrig bemühten Benutzer<br />
elektronisch ausgestatteter<br />
Kugelkopf- und Typenradmaschinen<br />
läßt man bis heute<br />
über die stets beibehaltene<br />
QWERTZ-Tastatur stolpern. Sie<br />
aber verdankt sich der pionierhaften<br />
und handfesten Einsicht<br />
in die Trägheitsmomente der<br />
J. F. Bory
Rezensionen<br />
zum betretenen Schwelgen<br />
bringt, der nicht in eine noch für<br />
erzählbar gehaltene Realität<br />
führt, sondern in ihr Schwundsyndrom<br />
auf Zeichenebene, in<br />
die destillierte Sphäre des ehemals<br />
referentiell geglaubten Systems,<br />
das Reich der Sätze,<br />
Schöner Antonio<br />
Wortkombinationen, Wörter<br />
und Buchstaben, eben in den<br />
.. qwertzen Zustand der<br />
Sprache" : das Hoheitsgebiet<br />
von QWERTZ.<br />
Was Roggenbuck auf den<br />
qwertzen Begriff brachte, wird<br />
die Dvorak-Tastatur natürlich<br />
weder ersetzen noch gar aus der<br />
Welt schaffen können; und das<br />
zumindest wird uns über den<br />
Verlust einer bislang unantastbar<br />
scheinenden Realie hinweghelfen,<br />
deren Poesie gewordenes<br />
Zeichen, dank Roggenbuck,<br />
bleibt. Aber wenn man beim<br />
(Wieder-)Lesen des .. Nämlichkeitsnachweises",<br />
was zu empfehlen<br />
hier nicht unversucht<br />
geblieben sein sollte, über einer<br />
Passage innehält, die eine<br />
Hauptfigur namens Sonny<br />
Grützmacher typisiert, so wird<br />
es fürderhin kaum vermeidbar<br />
sein, auch August Dvoraks und<br />
seiner Tastenfeld-lnnovation zu<br />
gedenken : .. So ein Mensch also<br />
liegt da auf dem Sofa -, sprechen<br />
wir es aus: die QWERTZ-heit<br />
oben links im Kopf-, ja bereit, um<br />
einen Gedanken die Welt zu verbiegen.<br />
So einer. "<br />
Woutertje Pieterse, Wallenhorst<br />
" Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung<br />
des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf<br />
die Spitze treiben," schrieb Walter Benjamin 1936 in<br />
dem berühmt gewordenen Essay "Der Erzähler", und<br />
ein beeindruckendes Zeugnis für seine These ist der<br />
Roman "SchönerAntonio" von Vitaliane Brancati,<br />
der zuerst 1949 erschien. Das Inkommensurable in<br />
diesem Roman ist der Kontrast zwischen der fast<br />
überirdischen Schönheit des Helden Antonio Magnano<br />
und einem Gebrechen, das sich dem Leser,<br />
der Schlimmes ahnt, in seiner vollen Tragweite erst<br />
am Schluß des Romans offenbart : Antonio -wir erfahren<br />
von ihm meistens wie von einem Sorgenkinde<br />
nur den Vornamen - ist impotent.<br />
Nun muß man wissen, daß der<br />
Roman in den Jahren zwischen<br />
1930 und 1943 in Italien spieltin<br />
der Zeit des italienischen Faschismus<br />
also- und zwar hauptsächlich<br />
in Catania auf Sizilien,<br />
die eigentliche Heimat auch<br />
Brancatis. lm Mittelpunktdes Interesses<br />
aller Helden des Ro·<br />
mans stehen die Frauen und das<br />
Überleben unterm Faschismus,<br />
zuweilen auch die Karriere unter<br />
den Fittichen des Duce. Auch<br />
Antonio hat glänzende Aussichten.<br />
Während er in Rom weilt, so<br />
jedenfalls will es das Gerücht,<br />
hat er die tollsten Affairen mit<br />
den einflußreichsten Damen der<br />
Stadt und setzt allen wichtigen<br />
Männern Hörner auf. Richtig ist<br />
jedenfalls, daßsich die hübschesten<br />
Mädchen bei ihm die Klinke<br />
in die Hand geben, während Antonio<br />
auf den Moment wartet,<br />
wo er über Beziehungen zu ei <br />
nem Ministerposten gelangen<br />
kann, und unterdessen faulenzt<br />
und mit seinem Pudel schmust.<br />
Aber inzwischen wird ihm sein<br />
Glück schon daheim bereitet:<br />
der Frauenheld soll heiraten, und<br />
62<br />
zwar die Tochter des angesehenen<br />
Notars Puglisi, Barbara.<br />
DerTag der Hochzeit, die mit<br />
großem Pomp vollzogen wird,<br />
wird auch zum Tag des Abschiedes<br />
für die schönen und häßlichen<br />
Töchter der Stadt: denn alle<br />
haben sie sich verzehrtvor Liebe<br />
nach Antonio, sich bereits<br />
wegen dem Knaben das Gesicht<br />
zerrissen, von ihm geträumt und<br />
dem Beichtvater erzählt, so daß<br />
dieser in einer denkwürdigen<br />
Szene am Anfang des Romans<br />
die Schönheit Antonios vor den<br />
Ohren der besorgten Mütterverflucht<br />
: Gott solle ihn bald zu sich<br />
nehmen oder zumindest unschädlich<br />
machen.<br />
Und auf ganz schauerliche<br />
und zugleich prosaische Weise<br />
erfüllt sich dieser Fluch denn<br />
auch. Die unschuldige Barbara<br />
muß erst durch ein Dienstmädchen<br />
die Wahrheit über einige<br />
wesentliche Einzelheiten zwischen<br />
Mann und Frau erfahren,<br />
um zu merken, daß der Mann,<br />
den sie geheiratet hat, ein Mann<br />
eigentlich nicht ist. Das<br />
Schreckliche nimmt seinen<br />
Lauf : die Ehe wird, da nicht vollzogen,<br />
mit Hilfe der Kircheannuliert,<br />
der feiste und steinreiche<br />
Herzog von Bronte bekommt die<br />
nun nicht mehr unschuldige Barbara,<br />
die ihn standesgemäß mit<br />
dem Kutscher betrügt, Antonio,<br />
ungläubig, unglücklich wird zum<br />
Gespött von ganz Catania, und<br />
seinen stolzen Vater trifft fast<br />
der Schlag.<br />
Denn der alte Herr ist ein<br />
Mann, wie er sein soll, erzählt<br />
aus lauter Elend seiner Frau all<br />
die Jugendsünden, die er begangen<br />
hat - verbunden mit einer<br />
Anzahl unehelicher Kinder, die<br />
er sein nennen kann - und geht<br />
demonstrativ während eines<br />
Luftangriffs der Amerikaner auf<br />
Sizilien zu einer Hure, um dort<br />
seinen Tod mit ihr in den Trümmern<br />
des Hauses zu finden.<br />
Die Töchter der Stadt aber<br />
wittern ihre Chance : sie lachen<br />
nicht, wie die Männer, über den<br />
armen Antonio, sondern wollen<br />
ihn erlösen. Heiße, schamlose,<br />
beschwörende, bittende, entsagungsvolle<br />
und naive Briefe stapeln<br />
sich auf dem Schreibtisch<br />
des Verzweifelten, der schließlich<br />
seinem Onkel, Ermenegildo,<br />
der sich seiner annimmt, um mit<br />
seiner langjährigen Erfahrung<br />
den in Liebesdingen Untauglichen<br />
zu kurieren, die Geschichte<br />
seines Versagens erzählt. Allzu<br />
große Verehrung der Frau -vor<br />
allem einer bestimmten, eines<br />
schönen deutschen Mädchenshaben<br />
zu Antonios Unglück geführt.<br />
Vielleicht, daß auch die eigene<br />
fast überirdische Schönheit,<br />
die im Unglück noch strahlender<br />
wird, nun umgekehrt<br />
auch nicht duldet, daß eine Frau<br />
ihr Geheimnis auflöst. Zunächst<br />
haben wir es mit jener Idealisierung<br />
und donquichotesken Verkennung<br />
der Frau zu tun, die im<br />
Gespräch Antonios mit dem gewieften<br />
Ermenegildo, der saftige<br />
Kommentare gibt, nur umso<br />
deutlicher zum Vorschein<br />
kommt.<br />
All dies vollzieht sich nun im<br />
Rahmen einer realistischen Geschichte,<br />
die ein genaues Portrait<br />
der sizilianischen Stadt und<br />
vieler ihrer Existenzen gibt, mit<br />
dem Duce im Hintergrund und<br />
einem Reigen von Fasch isten,<br />
Mitläufern, Antifaschisten und<br />
solchen, die das Lager wechseln.<br />
Intrigen, Klatsch, klerikale<br />
Macht, Feste im örtlichen Bordell,<br />
Treffen der Antifaschisten<br />
und inmitten der arme Antonio,<br />
der in allem immer nur Anspielungen<br />
auf die Sphäre seines<br />
Scheiterns vernimmt: .. Auch<br />
Antonio begann den Reden dieser<br />
Männer (der Antifaschisten,<br />
M.H.) zu lauschen, die kein einziges<br />
Mal, auch nichtflüchtig oder<br />
zufällig, sich mit den Frauen beschäftigten.<br />
Anfänglich beruhigte<br />
ihn das, dann aber trieb es<br />
ihm jene Erregung und Verärgerung<br />
ins Blut, die die Worte Freiheit,<br />
Fortschritt, Würde, Wahrheit,<br />
Gewissen usw. immer in<br />
ihm wachriefen. Denn sie stell <br />
ten das Gegenteil von jenen anderen<br />
Worten dar, die so unerträglich<br />
auf seinem Leben lasteten<br />
: Heiraten, Ungültigkeitserklärung,<br />
Hochzeitsnacht. sie,<br />
sich ausziehen, Bett, es können,<br />
versuchen, Fiasko usw."<br />
Der Roman endet tragisch,<br />
nichts kann Antonio retten, niemand<br />
ihm helfen, auch den Duce<br />
rettet keiner mehr. Antonio lebt<br />
so hin. Zunächst ist der Roman<br />
eine eindrucksvolle Darstellung<br />
des .. gallismo", des Männlichkeitswahns<br />
der italienischen<br />
Männer (und Frauen), der sich in<br />
einem gewissen Maße auch im<br />
Faschismus verkörpert, in der<br />
Person des Duce, wie in der ganzen<br />
Ideologie, und der sich gerade<br />
in seinen Opfern, wie Antonio<br />
es ist, umso härter manifestiert.<br />
Zugleich ist der für alles politische<br />
Geschehen um ihn herum<br />
völlig blind, einzig beschäftigt<br />
mit seiner Impotenz, so wie auch<br />
die anderen Männer zumeist nur<br />
damit beschäftigt sind, von ihren<br />
Erfolgen zu prahlen oder sie -<br />
falls es Erfolge sind -gerade zu<br />
haben.<br />
Über diese Parabel vom<br />
Wahn der Männlichkeit und der<br />
Idealisierung der Frau (vor allem<br />
in katholischen Ländern) hinaus,<br />
ist der Roman auch eine Parabel<br />
von der Impotenz der Kunst an <br />
gesichts des brutalen politischen<br />
Geschehens, das sich in<br />
der Geschichte vollzogen hat.<br />
Das romantische Bild des überirdisch<br />
schönen Knaben oder jungen<br />
Mannes- man kennt es von<br />
Platon, Mann, auch anders akzentuiert,<br />
von Koeppen -, auf<br />
dessen Schönheit ein Fluch waltet<br />
- hier psychologisch plausibilisiert<br />
als Impotenz - ist ein<br />
Bild für die Lockung der Kunst<br />
selbst, der Schwäche und Lebensuntüchtigkeit,<br />
die in ihrem<br />
Reich, zumindest zu Zeiten,<br />
herrscht.<br />
Der Roman ist so realistisch<br />
wie romantisch.<br />
Martin Hielscher, Harnburg<br />
Vitaliano Brancati: Schöner Antonio.<br />
Roman. Aus dem Italienischen<br />
von Arianna Giachi. Mit<br />
Zeichnungen von Hans Hilimann.<br />
Band VII der Anderen Bibliothek,<br />
Verlag Greno, Nördlingen,<br />
333 S.
Rezensionen<br />
Algarabia<br />
Man schreibt den 31. Oktober 1975, der General<br />
Franeo liegt im Sterben und das Ende der Diktatur ist<br />
absehbar. Rafael Artigas, politischer Flüchtling und<br />
Einwohner der Z.U.P., befindet sich auf dem Weg<br />
zum Paßamt, um ein für alle Male seine Identität zu<br />
beweisen. Ein im metaphysischen wie im bürokratischen<br />
Sinne schwieriges Unternehmen, denn sein<br />
Name ist nur Pseudonym, eines der vielen, unter denen<br />
er ein Leben wechselnder ldentitäten führen<br />
mußte. Jetzt will Artigas, der Ältergewordene, nach<br />
Hause, nach Spanien, zu sich selbst, den er einst<br />
dort verlor. Artigas braucht Papiere. Der Weg zum<br />
Polizeipräsidium wird unterbrochen von unerhörten<br />
Zwischenfällen, von Entführungen, Verfolgungen<br />
und Anschlägen; der Weg wird lang werden, er wird<br />
einen Tag und ein ganzes Leben dauern. Kraft seiner<br />
List und Erfahrungen entkommt Artigasseinen Verfolgern.<br />
Erst am Abend wird er sterben. Bis dahin<br />
bleibt dem Erzähler Zeit, die entsetzlichen und die<br />
heiteren Episoden dieses Lebens mit der politischen<br />
Vergangenheit einer ganzen Generation zu einer<br />
phantastischen Textur zu verweben.<br />
Ein phantastischer Roman also?<br />
Ja und nein. Es ist dies ein realistischer<br />
Roman, der die Wirklichkeit<br />
nur in einen fiktiven<br />
Kontext versetzt ... Warum nicht<br />
am Anfang eine Hypothese erfinden,<br />
die die Wirklichkeit umstürzt,<br />
die uns bekannte Geschichte<br />
verändert?" Im Herzen<br />
von Paris nämlich, im Quartier<br />
Latin, so erfährt der ahnungslose<br />
Leser, liegt die Z.U.P., die Zone<br />
utopique populaire - letztes<br />
Überbleibsel des turbulenten<br />
Mai '68. Damals, nachdem de<br />
Gaulle vom CIA ermordet wurde<br />
oder bei einem Hubschrauberuufall<br />
ums Leben kam, gab es in<br />
Frankreich Bürgerkrieg. ln der<br />
Folge der Ereignisse teilte sich<br />
das Land in eine Vielzahl freier<br />
Kommunen, die jedoch bald von<br />
einer provisorischen Zentralregierung<br />
zurückerobert wurden.<br />
Ubrig blieb, wie gesagt, nur die<br />
anarchistische Z.U.P.: isoliert<br />
und von einer Mauer umgeben<br />
wie West-Berlin, zerstritten und<br />
umkämpft wie Beirut und Belfast,<br />
modernes Babel zugleich<br />
und Kulturmetropole der Weit.<br />
Hier hat die Zweite Commune<br />
von Paris, eine Gemeinde spanischer<br />
Anarcho-Syndikalisten,<br />
ihr Refugium neben einer Gruppe<br />
von Maoisten; hier treiben,<br />
vom CIA unterstützt, korsische<br />
Band iten und aggressive Stadtindianer<br />
ihr Unwesen.<br />
Doch allen politischen Riva <br />
litäten, allen abenteuerlichen<br />
Scharmützeln und blutigen Zwistigkeiten<br />
zum Trotz, ist diese<br />
sich langsam aufreibende Z.U.P.<br />
vor allem ein Raum der lebenslustigen<br />
Kreativität; geistige Höhenflüge<br />
und Iibertinöse Eska <br />
paden gehen hier Hand in Hand.<br />
Unter der Commune kommt es<br />
zu einer Blüte aller kulturellen<br />
Aktivitäten. So lehren an der<br />
Volksuniversität. wie der Erzähler<br />
weiß, von Marcuse bis Habermas,<br />
von Milan Kundera bis Michel<br />
Foucault die größten Intellektuellen<br />
derWelt. Hier verfilmt<br />
man- unter der Mitwirkung von<br />
Marx, der eine Rolle als Brechtscher<br />
Kommentator übernimmt<br />
- Eugen Sues Trivialroman ,.Die<br />
Geheimnisse von Paris". Und<br />
nicht zuletzt ist aus der Kirche<br />
von Saint-Sulpice, die man ansonsten<br />
in ihrer architektonischen<br />
Struktur und mit ihren<br />
Kunstschätzen erhielt, ein Hydrotherapie-<br />
Institut und wahrhaftes<br />
Freudenhaus geworden.<br />
Selbstverständlich werden<br />
alle Möglichkeiten ausgenutzt,<br />
die dieser Tummelplatz der Fiktionen<br />
bietet. Und da überrascht<br />
es auch nicht, wenn der Erzähler<br />
- ein olympic author zwar, jedoch<br />
ein entthronter - manchmal<br />
Schwierigkeiten mit den<br />
Schöpfungen seiner wildernden<br />
Phantasie bekommt. Es passiert<br />
schon, daß sich Figuren verselbständigen,<br />
Verabredungen nicht<br />
einhalten, dem Erzähler Fallen<br />
stellen und die geplante Struktur<br />
des Romans durchkreuzen.<br />
Sch ließlich habe man sich hier,<br />
so die Stellungnahme einer dieser<br />
Quertreiber, nicht von allen<br />
Autoritäten befreit, nur um sich<br />
dann von einem Erzähler Vorschriften<br />
machen zu lassen.<br />
Der Erzähler demonstriert<br />
mit jedem Satz, daß Schreiben<br />
ein Spiel ist und die Schwerkraft<br />
der Wirklichkeit und ihrer Ordnungen<br />
außer Kraft setzt. Souverän,<br />
augenzwinkernd und mit<br />
seinen Schwierigkeiten kokettierend,<br />
nimmt er jede Störung<br />
dieses Spiels zum Anlaß, den sie<br />
meisternden Kunstgriff zu erörtern.<br />
Und jede Verzögerung des<br />
Handlungsablaufs ist ihm recht,<br />
ein witzig- ironisches Loblied auf<br />
die heitere Unschuld des Trivialromans<br />
anzustimmen, in dem<br />
die Macht des Erzählers noch<br />
ungebrochen sei und alles nach<br />
Plan verlaufe.<br />
Jorge Semprun hat mit diesem<br />
Roman der listigen Schelmenstreiche<br />
und der amourösen<br />
Bravourstück zugleich ein intellektuelles<br />
Meisterstück geschaffen,<br />
in dem die Verwandlung<br />
der Realität in Fiktionen und<br />
die Problematik des ästhetischen<br />
Scheins zur poetischen<br />
Selbstreflexion kommen. Dieses<br />
Buch ist Dichtung, Kommentar<br />
und Memoirenwerk in einem.<br />
Und man muß es als snobistisches<br />
Understatement auffassen,<br />
wenn der Autor seinen Erzähler<br />
immer wieder betonen<br />
läßt, daß dieses Buch lediglich<br />
den Fundus der Trivialliteratur<br />
von Sade bis Sue, von Justine bis<br />
Fleur-de- Marie ausbeute. Si <br />
cher, der Erzähler greift nach<br />
Gutdünken ein, wenn ihm das<br />
Drunter und Drüberder Ereignisse<br />
zu groß wird, er arrangiert,<br />
nimmt auseinander und setzt<br />
wieder zusammen, er nennt seine<br />
Karten und deckt seine<br />
Trümpfe auf. Aber in der intelligenten<br />
und pointierten Anwendung<br />
dieser Stilmittel des Trivialen<br />
ähnelt diese Dichtung, mit<br />
der Uferlosigkeit ihrer Sätze,<br />
den kunstvollen Hypotaxen, ih <br />
ren seitenlangen Parenthesen<br />
und spielerischen Variationen<br />
dann doch eher der Prosa<br />
Prousts. (Ein Vergleich übrigens,<br />
den der listige und eitle Erzähler<br />
selbst anführt, um dann zu erklären,<br />
daß er Proust nicht ausstehen<br />
könne. Man muß ihm das<br />
nicht glauben, und immerhin<br />
versteht er es, wie seine Figuren,<br />
jeder Schmähung ein Lob dranzusetzen<br />
: Proüst sei, wenn überhaupt,<br />
dann nur in den großartigen<br />
Übersetzungen Walter Ben <br />
jamins oder Pedro Salinas lesbar.)<br />
DasSchlüsselwort dieses<br />
Abenteuer- und Schelmenromans<br />
heißtAigarabia, wassoviel<br />
wie arabische Sprache, verworrenes<br />
Geschrei, Lärm, Unordnung,<br />
Charivari bedeutet. Zu<br />
diesem Geschrei, das in den verwinkelten<br />
Gassen dieses Buches<br />
widerhallt, trägt der Erzähler<br />
nicht weniges selber bei. Vergeblich<br />
ermahnt er sich und seine<br />
Figuren zur Ordnung : immer<br />
wieder von den eigenen Einfäl <br />
len begeistert und seinen Lau <br />
nen folgend, verliert er sich in erbaulichen<br />
oder libertinösen, in<br />
ernsten oder ulkigen Ausschweifungen.<br />
Und er treibt sei <br />
ne Possen mit dem Leser, wenn<br />
er etwa auf dem Höhepunkt des<br />
spannendsten Treibens (einer<br />
Entführung beispielsweise oder<br />
auch einer Verführung) den Ort<br />
der Handlung verläßt, um dann <br />
nachdem er den Leser mit langwierigen,<br />
nie jedoch langweiligen<br />
Exkursen auf die Folter gespannt<br />
hat - lakonisch zu bemerken,<br />
daß für derartige Ausflüge<br />
keine Zeit sei und man sich<br />
unverzüglich den Zwängen der<br />
Haupthandlung wieder zuwenden<br />
müsse; sofortfolgen weitere<br />
Arabesken.<br />
Diese Technik der Verzögerungen<br />
hat Methode, und im<br />
Grunde besteht dieser Roman<br />
nur aus Abschweifungen und<br />
Verirrungen. Sie bilden Reserva <br />
te der Langsamkeit, sind Widerstände<br />
gegen den gleichgültigen<br />
Ablauf der Zeit und Kampf<br />
der Erinnerung gegen das Vergessen.<br />
Denn mit dieser Mäander<br />
des Erzählensführt uns Semprun<br />
tief hinein in die Leidensgeschichte<br />
seiner Figuren und in<br />
die Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
ihrer Hoffnungen, Niederlagen<br />
und Korruptionen, und<br />
er macht historische Ereignisse<br />
lebendig, indem er den <strong>Spur</strong>en<br />
folgt, die sie in seinen Figuren<br />
hinterließen.<br />
Es ist nicht schwer, hinterder<br />
biographischen und politischen<br />
Odyssee dieses Rafael Artigas<br />
die Lebensgeschichte Sempruns<br />
wiederzuerkennen - Sta <br />
tionen und Erfahrungen, die er<br />
u.a. in seinem Buch .. Was für ein<br />
schöner Sonntag" beschrieben<br />
hat. Er wurde 1923 in Madrid<br />
geboren und verbrachte das En <br />
de seiner Kindheit im französischen<br />
Exil. Hier nahm er an der<br />
Resistance teil und wurde 1943<br />
in das KZ Buchenwald deportiert.<br />
Nach dem Krieg hielt ersieh<br />
in verschiedenen Ländern auf<br />
und wirkte für die illegale spanische<br />
KP, in der er bis zu seinem<br />
Rauswurf 1964 eine hohe Funktion<br />
ausübte.<br />
Man findet in diesem Roman<br />
der Lustbarkeiten, Zoten und<br />
Harlekinaden einen langen Monolog<br />
des Artigas alias Sem-<br />
63
Rezensionen<br />
prun, einen Bericht, der vielleicht<br />
zu den ungeheuerlichsten<br />
seiner Art gehört: Versuch, das<br />
Unwirklichkeits- und Schuldgefühl<br />
des dem KZ Entronnenen zu<br />
beschreiben. Das Gefühl, die<br />
ganze Existenz nur noch in der<br />
Einbildung eines 1944 Ermordeten<br />
zu führen : .. Ein vor dreißig<br />
Jahren Gestorbener der der Lebende<br />
war der ich nicht mehr bin<br />
Dessen ungewisser Traum ich<br />
nur bin Je mehr Zeit vergeht desto<br />
dünner wird die Nabelschnur<br />
die mich mit der Vorhölle jenes<br />
Lebens von vor dreißig Jahren<br />
verbindet Jenes Todes von vor<br />
dreißig Jahren Je mehr Zeit vergeht<br />
und je weniger wir sind die<br />
wir jene gelassene und zähe Gewißheit<br />
unerklärlichen Überlebens<br />
teilen Unschicklichen<br />
Überlebens".<br />
.. Aigarabia" ist- vielleicht im<br />
Adornoschen Sinne - der Versuch,<br />
Wirklichkeit so zu beschreiben,<br />
wie sie sich vom<br />
Standpunkt der Versöhnung aus<br />
darstellte: als unversöhnte, zerrissene,<br />
antagonistische und unwirkliche<br />
... Mein Leben war nur<br />
ein Traum seit dem grauen<br />
Rauch des Lagers Diese Wolke in<br />
der meine unbekannten Genossen<br />
in Rauch aufgingen Oderbekannten<br />
Halbwachs und Maspero<br />
Pjotr und Pedro." Das Buch ist<br />
dieser Traum, der dem Leben<br />
gleicht und dem Tod. Zugleich<br />
ist .. Aigarabia" - gegen Adorno<br />
- die äußerst heikle, weil aus<br />
dem unsagbaren Grauen geborene<br />
Utopie des überschwenglichen<br />
Lebens. Eine Gegenweit<br />
der lyrischen Illusionen. Denn<br />
woher kommt diese bunte Gesellschaft<br />
gealterter Anarchisten<br />
- allesamt intellektuelle<br />
Abenteurer und ruchlose Lebemänner?<br />
Sicher, sie haben ihre<br />
lange Ahnenreihe in den Strolchen,<br />
Tagedieben und Huren,<br />
die im spanischen Schelmenroman<br />
ihre Späße treiben. in<br />
Wahrheit stammen sie aus der<br />
Verzweiflung, wo sie am tiefsten<br />
ist, man könnte sagen, sie haben<br />
das Erlebnis des Todes hinter<br />
sich.<br />
Es sind Genesende, die mit<br />
ihrer Intelligenz, ihrem W issen<br />
und ihren Ideen spielen, um nur<br />
noch dieses Spiel und sich selber<br />
zu genießen. Sie erinnern Ver-<br />
nunftwieder als das, was sie sein<br />
sollte : Mittel zum Zweck des<br />
Glücks, der somatischen Lust. Es<br />
geht ketzerisch zu gegen die<br />
Macht im allgemeinen und die<br />
Macht der Moral im besonderen.<br />
Pietät kennt man da auch vor der<br />
Heiligen Kirche des Marxismus/<br />
Leninismus nicht. Da wird die<br />
Dialektik wieder zum Florett, mit<br />
dem man elegant dogmatische<br />
Behauptungen entwaffnet. Gestrenge<br />
Kampfparolen Maos<br />
werden eulenspiegelhaft verkehrt<br />
und in den Dienst der Liebschaften<br />
und Verführungen genommen.<br />
Einzige Autorität, die<br />
hier unangefochten bleibt ist<br />
Ovid. Seine .. Ars amatoria" oder<br />
die .. Amores" kennt fastjeder im<br />
lateinischen Original, und vor al <br />
lem praktiziert sie jeder. Sie sind<br />
gewissermaßen die Handbücher<br />
des richtigen Lebens. Die Lust<br />
sei schließlich das wahre Instrument<br />
der Erkenntnis.<br />
Vielleicht hat dieses Buch,<br />
geistreich wie selten eines und<br />
lustvoll wie ein orientalisches<br />
Frauenhaus, keinen anderen<br />
Sinn als diesen: sich im Feuerwerk<br />
seiner Einfälle zu versprü-<br />
Quellen heranzog, die dazu beitragen,<br />
daß seine Untersuchung<br />
nicht nur für Kafka-lnteressierte<br />
lesenswert ist.<br />
Ulf Abraham zufolge strukturiert<br />
das Motiv des Verhörs die<br />
drei Romane Kafkas. Auf sie<br />
konzentriert er sich; zusätzlich<br />
zieht er Beispiele aus den privaten<br />
Briefen, Kurzgeschichten<br />
und Fragmenten Kafkas zur Veranschaulichung<br />
heran. Die Romane<br />
beschreiben eine Entwicklung,<br />
die mit einer zwar noch<br />
personalisierten Macht beginnt,<br />
an deren Ende aber eine vielköpfige,<br />
nicht mehr benennbare bürokratische<br />
Macht steht, deren<br />
'Urteil ohne Richter' derverhörte<br />
Held machtlos ausgeliefert sein<br />
muß.<br />
Als vorangestelltes exemplarisches<br />
Beispiel für diese Entwicklung<br />
dient Ulf Abraham die<br />
frühe Kurzgeschichte .. Der<br />
Schlag ans Hoftor", in der er vorgeführt<br />
findet, wie ein Held aufgrundvon<br />
Desorientiertheit und<br />
somit Artikulationsunfähigkeit<br />
eine Ohnmacht gegenüber einer<br />
Machtinstanz schon akzeptiert,<br />
bevor er überhaupt auf sie trifft.<br />
Da der Held in einer Weit, die<br />
nicht mehr - wie früher - von<br />
Gottes Wort oder einer transzendentalen<br />
Idee des Gerechten<br />
geleitet ist selbst nicht zu hanhen.<br />
Widerschein dieser Kunst<br />
ist nichtzuletztdie Sprache in ihrer<br />
absichtsvollen Verwilderung.<br />
Im Dickicht der Vielsprachigkeit<br />
dieses Romans, seiner<br />
Neologismen und Fremdwörter,<br />
seiner lyrischen lntonationen<br />
und bildhaften Flüche, seiner<br />
Polyphonie und kontrapunktischen<br />
Stimmführung, erhält die<br />
Sprache sinnliche Präsenz. Sie<br />
wird zum Klangkörper, flüchtig<br />
wie die Musik und die Substanz<br />
der Träume. - Entlassen in die<br />
.. traurige Wirklichkeit", schließt<br />
man dieses Buch und hat den<br />
Kopf voller Traumfragmente :<br />
vage Andeutungen, denen man<br />
nachspürt, unsicher, ob ein anderer<br />
oder man selber sie träumte.<br />
Joachim Strelis, Berlin<br />
Jorge Semprun : Algarabia oder<br />
Die neuen Geheimnisse von Paris.<br />
Roman. Aus dem Französischen<br />
von Traugott König und<br />
Christine De/ory-Momberger.<br />
Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M.<br />
1985. 453 Seiten.<br />
Der verhörte Held<br />
,.Aiexander hat den gordischen Knoten, als er sich<br />
nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert." (Briefe an<br />
Milena) ln seinem Buch ,.Der verhörte Held - Recht<br />
und Schuld im Werk Franz Kafkas" stellt Ulf Abraham<br />
Kafkas literarische Erfahrung einer ,.Entrükkung,<br />
Entgrenzung und Entpersonalisierung" von<br />
Macht dar, die uns auch im alltäglichen Leben als<br />
deren Bürokratisierung begegnet. ln diesem - von<br />
der Macht selbst konstruierten - System von Instanzen,<br />
in ihren Kreisen und Spiralen ist nicht nur die<br />
Verantwortlichkeit versickert, die Macht selbst ist<br />
unauffindbar geworden.<br />
Kafka, der Jura studierte und<br />
seinen Beruf auch ausübte, äußert<br />
sich in seiner 'Rede vom<br />
Recht' .. aus der Perspektive eines<br />
Schreibers der nicht immer<br />
schon zu wissen glaubt wer<br />
Recht hat". Indemer-als Jurist,<br />
Eingeweihter, und damit selbst<br />
Machtinhaber- zu Zweifeln und<br />
Belehrung bereit ist, entlarvt er,<br />
was sich gut verpuppte: Eine Re·<br />
de vom Recht, die sich .,im Namen<br />
der Ordnung" selber führt,<br />
sich als Schutz für den Bü rger,<br />
als Gesetzeskenner und Wahrheitstinder<br />
ausgibt, deren Stellvertreter-Prinzip<br />
jedoch .. nur<br />
noch auf das Fehlen eines transzendenten<br />
'Gesetzes' (verweist).<br />
64<br />
An seine Stelle tritt die Disziplin<br />
- als das 'Gesetz' in Abwesenheit<br />
Gottes." Dieser Entdeckung<br />
folgend steht die Schuld des<br />
Helden gegenüber einer Machtinstanz<br />
schon fest, bevor es<br />
überhaupt zu einem Verhör, vom<br />
'Delikt' ganz zu schweigen, gekommen<br />
ist.<br />
Der Funktion des nachgestellten<br />
Verhörs, welches nicht<br />
der Rechtsfindung dient, sondern<br />
nur noch der nachträglichen<br />
Begründung eines immer<br />
schon vorhandenen Urteils, ist<br />
Ulf Abraham nachgegangen,<br />
wobei er nicht nur literaturwissenschaftliche,<br />
sondern auch<br />
soziologische und juristische<br />
dein weiß, ermöglicht er seinem<br />
Gegenüber, die Definitionsmacht<br />
zu erringen, die eine .. Monopolisierung<br />
der 'Herrschaft<br />
über das Gespräch'" nach sich<br />
zieht. Fortan bestimmt die<br />
Definitionsmacht was Recht<br />
und was Unrecht ist. Sie tut es<br />
immer zuungunsten des verhörten<br />
Helden, der .. die entsetzliche<br />
Zwangsläufigkeit nicht begreifen<br />
(kann), mit der (er) diese 'Gesetze'<br />
immer wieder übertritt:<br />
denn sie werden ja immer erst im<br />
Augenblick ihrer ÜbertFetung<br />
erfunden".<br />
Statt der Frage nach der<br />
Wahrheit stellt sich die Frage,<br />
wer beim Aufeinandertreffen<br />
von Menschen, die einer hierarchischen<br />
Ordnung angehören,<br />
die Definitionsmacht zu erringen<br />
weiß.<br />
Diese Auslegung Abrahams<br />
erinnert sehr an die Auseinandersetzung,<br />
die Nietzsche,<br />
auf den Abraham mehrfach<br />
verweist, in der .. Genealogie<br />
der Moral" über die Entstehungsgeschichte<br />
der Schuld<br />
führt.<br />
Auch bei Kafka geht es<br />
.. nicht um Recht und Unrecht als<br />
vorgegebenen Sachverhalt,<br />
sondern darum, wem es gelingt,<br />
den anderen ins Unrecht zu setzen;<br />
es geht um widersprüchli-
Rezensionen<br />
Opfers treffen". Doch noch eine<br />
andere Möglichkeit zur Rettung<br />
scheint sich anzubieten, die gerade<br />
heute auch in einem anderen<br />
Zusammenhang eine erschreckende<br />
Präsenz bekommen<br />
hat. ln der Auseinandersetzung<br />
mit Kafkas Folterphantasien<br />
fand Abraham, daß er diese<br />
zwar .. zur Ablenkung der<br />
'Schuld' ein(setzte)", an deren<br />
Wirkung jedoch selbst auch<br />
Zweifel trug. Abraham belegt<br />
dies mit folgenden Auszügen<br />
aus einem Brief an Milena: .. Erkenntnis<br />
der Dummheit hilft<br />
nichts" und .. Aiexander hat den<br />
gordischen Knoten, als er sich<br />
nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert".<br />
Dieses historische Bei <br />
spiel, was sehr wohl Mut ma <br />
chen könnte, stellt sich jedoch<br />
als verfehlt heraus. Abraham<br />
sieht Alexanders .. gordische(n)<br />
Knoten () ins Innere der menschlichen<br />
Psyche verlegt" und<br />
erkennt somit auch die unvermeidbare<br />
Zwangsläufigkeit des<br />
Todes, der sich am Ende als einzige<br />
Rettung in Kafkas Texten<br />
darstellt: .. Das ist Kafkas gordischer<br />
Knoten, und seine 'Lösung'<br />
wäre der Tod."<br />
Einbeachtens-und wissenswertes<br />
Buch (sieht man von den<br />
ärgerlichen Satzfehlern mal ab).<br />
Susanne Dudda<br />
Ulf Abraham: Der verhörte Held<br />
Recht und Schuld im Werk Franz<br />
Kafkas. Wilhelm Fink Verlag,<br />
München 1985<br />
Vergegenwärtigungen zur<br />
Unzeit?<br />
Zeichnungen<br />
von Franz Kafka<br />
ehe Realitätsdefinitionen, von<br />
denen eine der anderen weichen<br />
muß".<br />
Während im .. Amerika"-Roman<br />
die Machtinstanzen noch<br />
konkrete Personen mit abgegrenzter<br />
Kompetenz (Schiffskapitän,<br />
Onkel, Oberkellner) sind,<br />
ist das Gericht im .. Prozeß"<br />
schon zu einer unbestimmbaren<br />
Funktionsträgergruppe geworden.<br />
Sie bietet dem verhörten<br />
Helden kein ' Gegenüber' mehr,<br />
mit dem- zumindest- eine Konfrontation<br />
möglich wäre. Die urteilende<br />
Instanz tritt hier schon<br />
als vielköpfig auf; durch die<br />
Unauffindbarkeit ihrer Verantwortlichkeit<br />
verhindert sie ein<br />
Einschreiten gegen ihr Urteil von<br />
Seiten 'Ausgeschlossener'. Die<br />
Spitze dieser Entwicklung zur<br />
vollkommenen Gesichtslosigkeitfindet<br />
Abraham im .. Schloß"<br />
dargestellt, wo selbst der einzelne<br />
Beamte (als Beispiel führt er<br />
Klamm (n) viele Gesichter und<br />
Stellvertreter hat. Abraham<br />
schließt daraus, daß man bei der<br />
im .. Schloß" dargestellten<br />
Machtinstanz wegen ihrer Komplexität<br />
.. von absoluter Willkür<br />
sprechen muß". Mancher mag<br />
sich trotzdem noch eine Steigerung<br />
der Entwicklung vorstellen<br />
können, nicht nur weil die Gesichtslosigkeit<br />
sich zu ihrer Legitimation<br />
noch 'vieler Gesichter'<br />
bedienen muß, sondern auch,<br />
weil die Machtinstanz trotz allem<br />
noch einen Namen - das<br />
.. Schloß" -trägt, und: Was benannt<br />
werden kann, birgt in sei <br />
ner Struktur auch die Möglichkeit<br />
einer Inbesitznahme durch<br />
andere. Kein Grund zur Resignation<br />
also?<br />
Eine Möglichkeit, sich gar<br />
nicht erst den gnadenlosen Fängen<br />
der bürokratisierten Macht<br />
auszuliefern, eröffnet sich dort,<br />
wo Schuldzuschreibungen<br />
.. nicht auf Entsprechungen<br />
(Schuldgefühle) im lnnern ihres<br />
Die vehemente Entfaltung der Produktivkräfte unter<br />
dem Kapitalverhältnis hat nicht die gesellschaftliche<br />
Autonomie der Menschen hervorgebracht, sondern<br />
deren ausweglos scheinende Unterdrückung durch<br />
die Verhältnisse, die von ihnen selbst geschaffen<br />
worden sind. Was anwachsende Vernunft und Mündigkeit<br />
versprach, schlägt um .. in eine neue Art von<br />
Barbarei". (Horkheimer/ Adorno) .. Gibt es zur Zeit eine<br />
mit adäquaterer Fragestellung angelegte Untersuchung,<br />
die sich dieser Erscheinung annimmt, als<br />
die Dialektik der Aufklärung . .. ?" Das fragte Wolfgang<br />
Abendroth 1958; die Frage scheint unverjährt.<br />
Je schlagender die Befunde der<br />
Dialektik der Aufklärung, desto<br />
schlechter ergeht es der Theorie,<br />
die sie nicht verdrängt. Im Kon <br />
kurrenzkampf des akademischen<br />
Betriebs behauptet sich<br />
derzeit eine Art Schrumpfform<br />
Kritischer Theorie. Substantielle<br />
Kritik der Gesellschaft auf dem<br />
Fundament der Marxschen Krit<br />
ik der politischen Ökonomie<br />
wird in ihr duch Kommunika <br />
tionstheorie ersetzt; der philosophische<br />
Wahrheitsanspruch<br />
durch das Ideal des Konsens.<br />
Horkheimer und Adorno, die<br />
zeigten, wie die Kehrseite der<br />
Aufklärung sich in der kapitalistischen<br />
Gesellschaft ganz real i<br />
siert, werden kurzerhand auf Irrationalismus<br />
verrechnet; auf<br />
Klagesund auf einen verkürzten<br />
Nietzsche. Gefordert wird der<br />
Optimismus einer unbegrenzten<br />
Anschluß- und Konsensfähigkeit<br />
des eigenen theoretischen<br />
Gebäudes, das Vertrauen auf Lebenswelt<br />
und symbolische Interaktion.<br />
Insofern kommen die Essays,<br />
die Hermann Schweppenhäuser<br />
in seiner Sammlung vorlegt, tatsächlich<br />
zur Unzeit, wie sein Titel<br />
andeutet. Sie stören die Verdrängungsarbeit.<br />
Denn sie .. vergegenwärtigen"<br />
einen Stand der<br />
Einsicht (und der Formulierung),<br />
der der Gegenwart doppelt opponiert:<br />
sowohl dem realen gesellschaftlichen<br />
Zustand, als<br />
auch der Vereinnahmung Kritischer<br />
Theorie, die eines seiner<br />
Resultate ist. ln Schweppenhäusers<br />
Texten geht es nämlich<br />
nicht, wie in einer Unzahl von<br />
Publikationen, um das beflissene<br />
Thema, wie Kritische Theorie<br />
in den Wissenschaftsbetrieb<br />
einzubauen sei. Vielmehr w ird<br />
die Theorie der Gesellschaft<br />
durchgehalten : bewährt an den<br />
jeweiligen Gegenständen sel <br />
ber, deren Erfahrung sie sich<br />
nicht entzieht.<br />
Wie sich Dialektik der Aufklärung<br />
manifestiert, macht<br />
Schweppenhäuser in drei Bereichen<br />
deutlich: Gesellschafts-<br />
65
Rezensionen<br />
theorie, Ästhetik und Philosophie.<br />
Die problemgeschichtliche<br />
Arbeit .,Zur Dialektik der Emanzipation",<br />
die den Band eröffnet,<br />
geht in komprimierter Form den<br />
in Widersprüchen sich vollziehenden<br />
und neue Widersprüche<br />
produzierenden Emanzipationsprozessen<br />
nach. Sie bildet etwas<br />
wie den Rahmen für die folgenden<br />
Aufsätze, ., Über Adernos<br />
soziale lndividuationstheorie",<br />
.. Erinnerung an den aufgeklärten<br />
Begriff des Interesses"<br />
und ., Kulturindustrie und moralische<br />
Regression". Sie zeigen,<br />
wie in der Gegenwart statt der<br />
Aufhebung abstrakter Indivi <br />
dualität in einer mit sich und der<br />
Natur versöhnten Gesellschaft,<br />
die einzelnes und allgemeines<br />
Interesse vermitteln würde, vernichtender<br />
Antagonismus<br />
herrscht, über den die Kulturindustrie<br />
ihren alptraumhaften<br />
Schleier legt.<br />
Aufwelche Weise Kunst, oh <br />
ne von der gesellschaftlichen<br />
Dialektik und damit von der<br />
Möglichkeit des Mißlingens<br />
ganz ausgenommen zu sein,<br />
dem widerstehen kann, ist Thema<br />
des zweiten Teils der .. Vergegenwärtigungen".<br />
Faszinierend<br />
die Studie .,Tauchen im<br />
Schlamm" über die .,Widmung"<br />
von Botho Strauß, jener großen<br />
Erzählung, die noch nicht in die<br />
neomythisch-problematische<br />
Phase des Künstlers gehört. Hier<br />
wird stringent der Wahrheitsgehalt<br />
eines authentischen Kunstwerks<br />
begrifflich aufgeschlüs-<br />
seit. Der Aufsatz über Hermann<br />
Hesse arbeitet das Auftauchen<br />
der Archaik in der Moderne als<br />
zentrales Motiv bei Hesse heraus.<br />
Er gehört sicher zum interessantesten,<br />
was über Hesse<br />
geschrieben worden ist. Die<br />
., kulturtheoretischen Anmerkungen<br />
zur Bedeutung des<br />
Theaters", sollten Pflichtlektüre<br />
für alle sein, die im gegenwärtigen<br />
Theaterrummel mitmischen.<br />
Denn : .. Wer das entfesselte<br />
Theater will, will die blindwütige<br />
gesellschaftliche Dynamik<br />
selber, die noch das Theater<br />
in sich hineinreißt, das sie nicht<br />
mehr denunzieren kann. Mit der<br />
dagegen mobilisierten Kraft in<br />
den aufgeklärten Repräsentanten<br />
des Theaters ist zu kooperieren<br />
- ob der seiner intelligenten<br />
Stückeschreiber, seiner unbetrogenen<br />
Regisseure und Protagonisten,<br />
ob der im aufgeweckten<br />
Publikum selber, das eher<br />
das Tribunal, die Zeugenschaft<br />
bei Prozessen, als den Zirkus,<br />
dem Kitzel von Spektakeln,<br />
sucht." Der Aufsatz ., Kunst - ei <br />
ne unvollendete Weise bestimmter<br />
Negation des Mythischen<br />
und des Historischen" -<br />
Schweppenhäusers Vortrag auf<br />
dem Frankfurter Benjamin<br />
Colloquium 1982 - gibt eine Rekonstruktion<br />
von Benjamins<br />
Kunstbegriff, der auf die Idee eines<br />
messianischen Endes der<br />
Geschichte bezogen bleibt. Er<br />
leitet hinüber zu den im engeren<br />
Sinn der Philosophie zugehörigen<br />
Arbeiten.<br />
Deren erste istdie über ., Spekulative<br />
und negative Dialektik",<br />
in der an Kernpunkten das Verbindende<br />
und das Trennende<br />
Hegeischen und Adernosehen<br />
Denkens herausgestellt wird.<br />
Ihm folgt ., Nietzsche - Eingedenken<br />
der Natur im Subjekt" .<br />
Dieser Essay ist gerade jetzt von<br />
großer Aktualität : Wo Nietzsche<br />
entweder als Irrationalist verschrien<br />
oder von postmoderner<br />
Apotheose irrationalistisch gefeiert<br />
wird, arbeitet Schweppenhäuser<br />
kritische Gehalte seines<br />
Werkes heraus. ln Gegenüberstellung<br />
u.a. mit Marx wird<br />
Nietzsche als Diagnostiker der<br />
Dialektik der Aufklärung kenntlich,<br />
dessen Diagnose zugleich<br />
soweit begrenzt bleibt, wie sein<br />
.. hellenisches Paradigma" ihm<br />
die volle Einsicht in die gesellschaftliche<br />
W irkl ichkeit seiner<br />
Zeit verstellt .<br />
.,Reale Vergesellschaftung<br />
und soziale Utopie" stellt sympathisierend<br />
., Ernst Bloch als<br />
Sozialphilosoph(en) " dar . .,Zum<br />
Problem des Todes" beschließt<br />
die Aufsatzsammlung. :...chweppenhäuser<br />
knüpft an die Tradition<br />
des authentischen materialistischen<br />
Denkens an, die im<br />
Tod den ., Skandal der Skandale"<br />
erkennt - den Stachel, den alle<br />
kulturelle Anstrengung vergeblich<br />
wegzuarbeiten versuchte.<br />
Heute wird der Tod in gesellschaftliche<br />
Regie genommen.<br />
.,Was läßt die ganze unter Hochdruck<br />
laufende Daseinsmasch i<br />
nerie eines polit isierten lndustrialismus,<br />
einer industrialisierten<br />
Politik zurück? Die Leichenberge<br />
der Todesfabriken, der<br />
Vernichtungskriege, des vermeidlichen<br />
Hungers. Was produziert<br />
sie unterdessen, neben<br />
der Fülle der Mittel, sich selbst zu<br />
erhalten, und wenn sie daran erstickt?<br />
Die Millionen schon zu<br />
Lebzeiten Toter, um ihr Leben<br />
Betrogener, der Ausgebrannten<br />
und Menschentrümmer, die die<br />
Gesellschaften zu Riesenspitälern<br />
anwachsen lassen, denen zu<br />
absehbarem Zeitpunkt die Helfer<br />
ausgegangen sein werden."<br />
Dem muß nicht nur begreifend<br />
Widerstand geleistet werden,<br />
.,wenn durch die Solidarität der<br />
Sterblichen das Leben human<br />
werden soll".<br />
Solche Gedanken sind nicht<br />
zeitgemäß und sind doch an der<br />
Zeit. Schweppenhäusers Essays<br />
zeigen, daß der .,Zeitgeist" Ungeist<br />
und die Zeit eine .. Unzeit"<br />
ist. Sie verbreiten aber nicht<br />
Endzeitstimmung und entfliehen<br />
nicht in die Zeitlosigkeit ei <br />
nes vorgeblichen Post- Histoire.<br />
Sie machen theoretisch und gesellschaftlich<br />
Verdrängtes gegenwärtig<br />
und tragen so zu der<br />
kritischen Besinnung bei, ohne<br />
die es keine befreiende Praxis ·<br />
gibt.<br />
Olaf Meixner, Lüneburg<br />
Hermann Schweppenhäuser:<br />
Vergegenwärtigungen zur Un <br />
zeit? Gesammelte Aufsätze und<br />
Vorträge. Dietrich zu Klampen<br />
Verlag, Lüneburg 1986. 251 Seiten.<br />
66<br />
Le pond des planetes
Rezensionen<br />
Vermittlung als Gott<br />
Das Problem der Vermittlung und seine Bedeutung<br />
in der gegenwärtigen Gesellschaft ist das Thema des<br />
Buches .. Vermittlung als Gott" von Christoph Türcke,<br />
in welchem der Autor u.a. über den Erfolgsboom jener<br />
Branche im modernen Wissenschaftsbetrieb<br />
Aufschluß gibt, die sich dem Vermittlungsproblem<br />
besonders angenommen hat, der Didaktik. Die zen <br />
trale Aufgabe einer methodischen Bildungstheorie,<br />
als die sich die Didaktik selbst versteht, ist der<br />
Transfer von Bildungsinhalten, von Wissen in die<br />
Köpfe einzelner lernender Menschen, kurz: die Vermittlung<br />
von subjektivem und objektivem Geist.<br />
Wäre die Didaktik in ihrem Bemühen<br />
erfolgreich gewesen, so<br />
gäbe es sie längst nicht mehr.<br />
Denn wie gelungene Vermittlung<br />
von Subjekt und Objekt<br />
nichts anderes wäre als ihre<br />
eigene Aufhebung, so hätte sich<br />
eine Wissenschaft, die das Vermittlungsproblern<br />
gelöst hätte,<br />
selbst überflüssig gemacht.<br />
Doch davon ist die Didaktik weit<br />
entfernt. Weil sie die Vermittlung<br />
für etwas Festes, Substantielles<br />
hält, das man mit empirischen<br />
Methoden in den Griff bekommen<br />
könnte, bringt sie das<br />
zu Vermittelnde, Mensch und<br />
Wissen, nicht zusammen. Der<br />
Autor zeigt, wie die Didaktik, ohne<br />
es zu merken, die metaphysischen<br />
Begriffe Substanz und Relation<br />
verwechselt und deshalb<br />
einer metaphysischen Fiktion<br />
erliegt. Folglich gerät ihr der Gegenstand<br />
ihrer Anstrengungen <br />
die Vermittlung von Subjekt und<br />
Objekt - zu einem handfesten<br />
Selbständigen neben den zu<br />
Vermittelnden und wird ihr um<br />
so ungreifbarer und unbegreifbarer,<br />
je mehr die blindwütige<br />
Didakterisierung von allem und<br />
jedem voranschreitet<br />
Die .. metaphysischen Grillen<br />
und theologischen Mucken" der<br />
Didaktik kommen nicht von ungefähr.<br />
Am Scheitern der didaktischen<br />
Bemühungen reißt der<br />
Autor eine metaphysische, theologische<br />
und geschichtliche Dimension<br />
des Vermittlungsproblems<br />
auf, von der die Didaktik<br />
nichts ahnt.<br />
Die klassischen griechischen<br />
Philosophen Platon und<br />
Aristoteles standen vor der<br />
Schwierigkeit, Ideen und Sinnendinge,<br />
Form und Stoff miteinander<br />
zu vermitteln und erkannten<br />
dabei schon, daß die<br />
Vermittlung mißlingen muß,<br />
wenn man sie zu einem selbständigen<br />
Dritten hypostasiert. Zum<br />
gleichen Resultat gelangte Augustinus,<br />
als es galt, Gott und<br />
Mensch, Gott-Vater und Gott<br />
Sohn in ein der christlichen Erlösungsidee<br />
angemessenes Verhältnis<br />
zu setzen. Doch die Vermittlung<br />
der drei Gestalten Gottes<br />
gelang dem Kirchenvater nur<br />
um den Preis der Auflösung der<br />
göttlichen Substanz in eine absolute<br />
Relation, eine .,Relation<br />
von nichts zu nichts", in der weder<br />
Gott-Vater, noch Gott-Sohn,<br />
noch Heiliger Geist für sich<br />
selbst etwas sind; alle sind bloßes<br />
., Sichbeziehen auf Sichbeziehendes".<br />
Indem Augustinus<br />
Gott zum Subjekt seiner Vermittlung<br />
mit sich selbst machte,<br />
löste er die göttliche und damit<br />
alle theologische Substanz auf<br />
in .,absolute Vermittlung". An<br />
der augustinischen Trinitätsspekulation<br />
entwickelt der Autordie<br />
zentrale These des Buches : Jeder<br />
theologische und philosophische<br />
Idealismus, der begriffen<br />
hat, daß die Vermittlung kein<br />
selbständiges Drittes sein kann,<br />
muß mit zwingender Konsequenz<br />
aus seiner falschen Voraussetzung,<br />
daß der reine Geist<br />
das Erste sein, den Geistzum Absoluten,<br />
das Absolute zum Subjekt<br />
seiner Selbstvermittlung,<br />
d.h. aber die Vermittlung zum<br />
Gott machen. Hätten die frühen<br />
Christen die theoretischen Konsequenzen<br />
aus der augustinischen<br />
Spekulation gezogen, so<br />
wäre der Anfang der Theologie<br />
zugleich ihr Ende gewesen. Dies<br />
ließ freilich noch auf sich warten,<br />
denn die christliche Kirche erklärte<br />
das substantielle Sein<br />
Gottes zum Dogma und stellte<br />
im Einverständnis mit dem Kirchenvater<br />
das Resultat dessen<br />
geistiger Anstrengung, die absolute<br />
Vermittlung, des religiösen<br />
Skandalswegen unter Denkverbot.<br />
Was Hegel in dieser Hinsicht<br />
von Augustinus unterscheidet,<br />
ist einzig, daß jener zum Programm<br />
seiner Philosophie<br />
machte, was dieser nicht wahrhaben<br />
wollte, aber dennoch, wie<br />
Hegel wohl wußte, Quintessenz<br />
des philosophischen Idealismus<br />
ist : die Apotheose der Vermittlung.<br />
Seine Anstößigkeit hatte<br />
der Gedanke der absoluten Vermittlung<br />
inzwischen verloren,<br />
weil er von der gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit eingeholt<br />
worden war. Hegels Substanz,<br />
die zugleich Subjekt ihrer<br />
Selbstvermittlung sein soll, ist<br />
der absolute Geist, der sich in die<br />
Natur entäußert und als endlicher<br />
Geist derWeit in seineeigene<br />
Geburtsstätte zurückkehren<br />
soll, indem er sich zum Bewußtsein<br />
der Freiheit, zur Philosophie<br />
erhebt. ln dieser Trinität des absoluten<br />
Geistes erkennt der Autor<br />
den philosophisch verschlüsselten<br />
Ausdruck der Bewegung<br />
des Kapitals, jenes unsichtbaren<br />
Gesellschaftsgottes,<br />
der die bürgerliche Weit als ihr<br />
geheimer Motor im Innersten<br />
konstituiert und als Geld und<br />
Ware auf ihrer Oberfläche erscheint;<br />
der ihrechaotische Ordnung<br />
mitsamt der jeglicher Vernunft<br />
spottenden Verteilung des<br />
Reichtums stiftet, ihr die Plusmacherei<br />
als einzigen Zweck<br />
vorgibt und sie bis in ihre subtilsten<br />
Regungen durchherrscht<br />
Der Wert, dieses Realabstraktum,<br />
hat sich in seiner Gestalt als<br />
Kapital zum .. automatischen<br />
Subjekt" (Marx) des gesellschaftlichen<br />
Prozesses aufgeschwungen<br />
Ljnd ihn in sei <br />
nen Dienst genommen, zum<br />
Zwecke der Verwertung seiner<br />
selbst, was nichts anderes ist als<br />
eine spezifische Form absoluter<br />
Vermittlung, die aber historisch<br />
die allgemeine geworden ist. An<br />
der Kapitalbewegung zeigt der<br />
Autor, wie die Aufklärung und<br />
Säkularisierung der modernen<br />
Gesellschaft in finsterste Mythologie<br />
umgeschlagen ist. Das Kapital<br />
ist in all seiner Ungöttlichkeit<br />
der einzig beweisbare Gott,<br />
der einzige, der sich wirklich<br />
vom Opfer (an Menschen und<br />
Material) ernährt, und alle Veranstaltungen,<br />
die die Menschen<br />
treffen, um die permanente Verwertung<br />
des göttlichen Ungeheuers<br />
zu bewerkstelligen, damit<br />
ihnen als Abfallprodukt der<br />
Verwertung die Gnade der Reproduktion<br />
zuteil wird, kritisiert<br />
der Autor als einen gigantischen<br />
Fetischdienst. ln der besten Tra <br />
dition der Aufklärung, nämlich<br />
der Marxischen, führt er vor, wie<br />
Theorie zur .. Waffe der Kritik"<br />
geschärft wird, indem er an sei <br />
nem Gegenstand nicht nur die<br />
philosophisch-spekulative Di <br />
mension aufreißt, sondern auch<br />
die Objektivationen menschlichen<br />
Geistesals Ch iffrentragender<br />
Strukturen der gesellschaftlichen<br />
Reproduktionsbasis zu lesen<br />
versteht.<br />
Der Weg von Hegel zurück<br />
zur Didaktik führt auf die Kornmunikationstheorie<br />
G.H . Meads.<br />
Während das Hegeische System<br />
ein philosophisches Sublimat<br />
begriffener gesellschaftlicher<br />
Totalität ist, präsentiert sich der<br />
symbolische Interaktionismus<br />
Meads nur als deren unbegriffene<br />
Verdopplung, zur Gesellschaftstheorie<br />
aufgeblähtes Bewußtsein<br />
des Kommunikationsschaffenden,<br />
wie denn auch sei <br />
ne Theorie nichts anderes ist als<br />
eine mißglückte Aureole der<br />
Kornmuni kationsi ndustrie.<br />
Kommunikation macht er zum<br />
Konstituens von Geist, zum Natur<br />
und Geist Vermittelnden,<br />
vermöge dessen sich der Geist<br />
aus der Natur erhoben habe. Da <br />
gegen wendet der Autor ein, daß<br />
die Kommunikation das, was sie<br />
nach Mead leisten soll, nicht leisten<br />
kann, weil jede Kommunikation<br />
den Geist bereits voraussetzt.<br />
Ferner fixiert Mead die<br />
Vermittlung wieder alsselbständiges<br />
Drittes neben Natur und<br />
Geist, die sie vermitteln soll; und<br />
damit fällt er, der von Metaphysik<br />
nichts wissen will, zurück<br />
hinter die Einsicht der Metaphysik<br />
seit Platon und Aristoteles,<br />
daß die Vermittlung gerade kein<br />
Drittes sein kann. Wie die Didaktik<br />
verwechselt Mead Substanz<br />
und Relation. Die Didaktik ist<br />
denn auch nichts weiter als angewandte,<br />
d.h. losgelassene<br />
Kommunikationstheorie. Die Di <br />
daktik ist eine Wissenschaft, die<br />
den Wald vor lauter Bäumen<br />
nicht sieht. Krampfhaft sucht sie<br />
die Vermittlung, möchte sie zum<br />
Anfassen haben und merkt<br />
nicht, daßdas Wesen der Gesellschaftaus<br />
nichts weiter als Vermittlung,<br />
in Gestalt der Verwertung<br />
des Werts, besteht und der<br />
gesamte gesellschaftliche Betrieb<br />
- Produktion, Handel und<br />
Wandel- in deren Dienste steht.<br />
Gemessen an der geistigen Tradition<br />
der Metaphysik, von der<br />
sie ohnehin nichts mehr weiß, ist<br />
die Didaktik das Spottbild einer<br />
Wissenschaft.<br />
Doch auf den letzten Seiten<br />
seines Buches lüftet der Autor<br />
das Erfolgsgeheimnis der Didaktik<br />
und zeigt, warum sie trotzdem<br />
keineswegs dysfunktional<br />
ist und sogar zu einer .,Wissenschaft<br />
der Wissenschaften"<br />
avancierte. Ihren Aufstieg zu einer<br />
Metawissenschaft, wie es<br />
früher die Philosophie war, verdankt<br />
sie gerade ihrem sachlichen<br />
Scheitern, das sie zwar<br />
67
Rezensionen<br />
nicht begreift, aber immerhin in<br />
einen Geschäftserfolg umzukehren<br />
verssteht. Weil sie die<br />
flüchtige Vermittlung für etwas<br />
Suqstantielles hält und einer<br />
metaphysischen Fiktion nachjagt.<br />
gelangt sie nie ans Ziel. Gerade<br />
darin aber ähnelt sie strukturell<br />
der Kapitalbewegung und<br />
sorgt als idealisiertes pädagogisches<br />
Abbild maß- und zielloser<br />
Produktion von Produktivität<br />
dafür, daß alle geistigen Gehalte<br />
die Form von Waren annehmen<br />
und die Menschen gemäß ihrer<br />
ökonomischen Grundbestimmung<br />
-Ware Arbeitskraft- nur<br />
noch als Qualifikationsbündel<br />
herumlaufen. Ansehnliches hat<br />
die Didaktik also geleistet zur<br />
Subsumtion des gesamten Bildungs-<br />
und Wissenschaftsbetriebes<br />
unter das Kapital, zur<br />
Verewigung und immer perfekteren<br />
Organisation von etwas.<br />
als dessen paradigmatischer<br />
Ausdruck sie gelten kann : des<br />
bewußtlosen Taumels der Menschen<br />
durch die Vorgeschichte.<br />
Bestechend ist nicht zuletzt<br />
das sprachliche Niveau des Bu <br />
ches, mit dem sich Christoph<br />
Türcke im Sommersemester<br />
1985 am Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />
I Humanwissenschaften<br />
der Gesamthochschule<br />
Kassel habilitiert<br />
hat. Der Autor verzichtet absichtlich<br />
auf das heute gerade in<br />
wissenschaftlichen Arbeiten<br />
übliche und als gelehrt sich aufspreizende<br />
Trivialkauderwelsch<br />
und auch auf jenen .. Zuhälterjargon",<br />
als den Walter Benjamin<br />
die Terminologie der Philosophen<br />
polemisch charakterisierte.<br />
Ihm ist das Kunststück gelungen,<br />
die subtile philosophische<br />
und theologische Materie ohne<br />
Einbuße an theoretischer Konsistenz<br />
und argumentativer<br />
Schärfe in auch für Nicht- Fachleute<br />
verständlicher Form so<br />
darzustellen, daß die Lektüre ein<br />
Vergnügen ist. ln einer Zeit dunkelster<br />
Gegenaufklärung folgt<br />
Christoph Türcke damit dem Imperativ<br />
Nietzsches, die Aufklärung<br />
ins Volk zu treiben und<br />
überführt- ohne daß das explizit<br />
erwähnt wird - den restringierten<br />
Wissenschaftcode positivistischer<br />
und kommunikationstheoretischer<br />
Provenienz seiner<br />
Unwahrheit.<br />
Gerhard Botte<br />
Christoph Türcke : Vermittlung<br />
als Gott. Metaphysische Grillen<br />
und theologische Mucken didaktisierter<br />
Wissenschaft, Dietrich<br />
zu Klampen Verlag, Lüneburg<br />
1986, 136 Seiten.<br />
68<br />
uWhere angels fear tp treadu<br />
Dies ist keine Rezension. Obwohl eine solche dem<br />
Schreiben sicherlich einen Vorteil böte. Denn Rezen~<br />
sionen haben 'nurr Bücher zum Gegenstand und<br />
nicht jene Themen, die in diesen behandelt werden.<br />
Der Vorteil darin liegt auf der Hand: der Rezensent<br />
muß nicht auf der Höhe des Wissens stehen, die der<br />
Autor eingenommen hat. Der Nachteil dabei: einmal<br />
mehr schreibt man über Geschriebenes statt über<br />
die Sachen selbst.<br />
Eine Rezension zu Hans Günter<br />
Halls Essaysammlung 'Das lokkere<br />
und das strenge Denken'<br />
wäre diesem spiegelnden Nominalismus<br />
der Schrift besonders<br />
ausgesetzt, denn sie handelt selber<br />
schon von Geschriebenem,<br />
vom Werk Gregory Batesons<br />
nämlich.<br />
Hall hat ins Deutsche übersetzt.<br />
davor promovierte er über<br />
Adorno und Whitehead. Nicht<br />
zuletzt dieser Hintergrund<br />
macht seine Essays interessant.<br />
Denn ganz unspektakulär (für<br />
manchen vielleicht zu unspektakulär)<br />
öffnen sie Auswege aus<br />
der postmodernen Paralyse. Hol I<br />
liefert nämlich die Skizze einer<br />
Vernunftkritik, die sich von den<br />
Szenarien der kritischen Theorie<br />
oder ihrer französischen Dekonstruktion<br />
unterscheidet. Der entscheidende<br />
Fehler moderner<br />
Vernunft ist für Hall nicht in der<br />
Verdinglichung einersich in Fluß<br />
befindlichen Wirklichkeit oder<br />
im Hochmut sich aufspreizender<br />
Subjektivität zu suchen. Beide<br />
Erscheinungen sind vielmehrdie<br />
Folge eines tiefer liegenden, dabei<br />
wesentlich trivialeren Irrtums:<br />
der Verkennung des Unterschieds<br />
zwischen Abstraktem<br />
und Konkretem. Daherredet<br />
Hall denn auch einer gewissen<br />
Verdinglichung das Wort, wenn<br />
er 'gelungene Abstraktion' als<br />
'Übersteigerung der Realität',<br />
die einen Stillstand bewirkt, versteht.<br />
ln gewisser Nähe zu Walter<br />
Benjamins 'Dialektik im Stilistand'<br />
soll diese Übersteigerung<br />
oder Transzendierung helfen,<br />
Probleme zu lösen oder sie spekulierend<br />
erst einmal zu erkennen.<br />
Die Verkennung des Unterschieds<br />
zwischen Abstraktem<br />
und Konkretem löst dagegen<br />
keine Probleme, sondern schafft<br />
laufend neue - unter anderem<br />
das der Verdinglichung :<br />
..... die Abstraktion des<br />
menschlichen Denkens wird mit<br />
Hi!fe von Instrumenten in die<br />
Dingweit hineingepreßt, und die<br />
ungeheure Energie, die dazu erforderlich<br />
ist, schlägt aus dieser<br />
zurück ... Der Triumph moderner<br />
Technik basiert auf einer<br />
schonungslosen Implantation<br />
des Abstrakten ins Konkrete und<br />
damit auf der Verwandlung von<br />
Konkretem in Abstraktes. Das<br />
Wort 'Naturbeherrschung' trifft<br />
diesen Sachverhalt nicht mehr<br />
ganz; es handelt sich vielmehr<br />
um einen fortgesetzten und sich<br />
steigernden Akt der Destruktion,<br />
der Vergewaltigung."<br />
Im Felde der Philosophie -<br />
denn sie hatte im 17. und 18.<br />
Jahrhundert mit dem Projektder<br />
Aufklärung diese Entwicklung in<br />
Gang gebracht - sieht Hall drei<br />
mögliche Reaktionsweisen auf<br />
die Verkennung der Vernunft :<br />
.. 1. Die Philosophie muß<br />
sich, um der historisch gewordenen<br />
Realität gerecht zu werden,<br />
den mächtigen Standards der instrumentellen<br />
Wissenschaften<br />
angleichen oder gar unterordnen<br />
...<br />
2. Sie ... bezieht sich kritisch<br />
auf ihre eigene Tradition.<br />
3. Die Philosophie wird kosmologisch,<br />
das heißt, sie versucht,<br />
ein übergreifendes Denkmodell<br />
zu entwickeln ...<br />
Die erste Position sieht Hall<br />
am konsequentesten durch Niklas<br />
Luhmann vertreten, in dessen<br />
Systemtheorie 'irgendwie<br />
alles stimmt', doch 'grundfalsch<br />
erscheint', wenn man auf einem<br />
transzendierenden Konzept von<br />
Philosphie beharrt. Die zweite<br />
Variante beginnt für Hall mit<br />
Kant und verzweigt sich heute zu<br />
den verschiedensten Spielarten<br />
von Vernunftkritik, die unter<br />
dem, von niemandem gelittenen,<br />
aber von allen gebrauchten,<br />
Stichwort 'Postmoderne' diskutiert<br />
werden. Was die dritte Variante<br />
angeht- sie wird von den<br />
Anhängern der beiden ersten<br />
abschätzig murmelnd verworfen.<br />
Genügt es doch den Vernunftkritikern,<br />
sich gegenseitig<br />
technokratischer Rationalisierung<br />
oder mystifizierender Nebelwerferei<br />
zu zeihen, da<br />
braucht man sich nicht auch<br />
noch mit jenen New-Age-Philosophen<br />
zu beschäftigen, die<br />
konsequent einen halben Meter<br />
über dem Erdboden schweben.<br />
Nun, auch Hall macht das nicht,<br />
aber in seinen Essays setzt er<br />
sich mitjenem universellen Denker<br />
auseinander- Hol I nennt ihn<br />
einen 'General ist der Lücken'-,<br />
den viele New-Age-Gläubige zu<br />
ihrem geistigen Mentor erkoren<br />
haben- magderdas nungewollt<br />
haben oder auch nicht.<br />
Zu ihm ein paar Worte. Gregory<br />
Bateson wurde 1904 geboren<br />
und trat, was seinen intellektuellen<br />
Werdegang anging, in<br />
die Fußstapfen seines Vaters,<br />
des antidarwinistischen Biologen<br />
William Bateson. Aus dessen<br />
Schatten löste er sich, indem<br />
er die Grenzen der Biologie überschritt<br />
und sich mit Ethnologie,<br />
Anthropologie, Psychologie sowie<br />
Kybernetik und schließlicham<br />
Ende seines Lebens - mit<br />
Ästhetik beschäftigte. Frucht<br />
des letzten Arbeitsfeldes sollte<br />
ein Buch mit dem Titel 'Where<br />
angels fear to tread' werden<br />
(Nicht zu verwechseln mit Mink<br />
de Villes gleichnamiger Schallplatte).<br />
Doch bevor Bateson es<br />
beenden ·konnte, sta"rb er, am<br />
7. Juli 1980, in Esalen, dem wohl<br />
bekanntesten Zen und New<br />
Age-Zentrum in Kalifornien, am<br />
dem schon Fritz Perls seine Gestalt-Workshops<br />
abgehalten<br />
hatte. Sein letzter Aufenthaltsort<br />
sagt einiges über Batesons<br />
Persönlichkeit aus. Zeitlebens<br />
verband ihn mehr mit den zaghaften<br />
bis versponnenen Ansätzen<br />
sanfter Wissenschaften als<br />
mit der kühl kalkulierenden<br />
Sachlichkeit technokratischen<br />
Denkens oder der entsprechenden<br />
Kälte verzweifelter Resignation.<br />
Andererseits wollte und<br />
konnte er auch nicht in jene<br />
dümmliche Behaglichkeit abgleiten,<br />
die das Eintauchen in die<br />
flachen Wasser eines aufgewärmten<br />
Spiritualismus mit sich<br />
bringt.<br />
Gregory Bateson wird von<br />
Hall als 'Denker des Kontextes'<br />
vorgestellt:<br />
.. Für (Bateson waren) der<br />
Charakter oder die Eigenschaften<br />
nicht als substantielle Qualitäten<br />
von Individuen, sondern<br />
nur als relationale Aspekte eines<br />
bestimmten Kontextes denkbar."<br />
DieseEinstellung von systemtheoretischen<br />
genauso wie<br />
von strukturalistischen oder<br />
kommunikationstheoretischen<br />
Haltungen zu unterscheiden, ist<br />
wichtig für das Veständnis von<br />
Batesons holistisch-kosmologischer<br />
Erkenntnistheorie. Alle<br />
drei Haltungen stehen nach wie
Rezensionen<br />
vor in der Tradition des subjektzentrierten<br />
Denkens, und sei<br />
dies nur, um es zu überwinden<br />
(denn auch der Wunsch zu überwinden<br />
ist noch subjektiver<br />
Wunsch). Sie setzen den Hebel<br />
bei diesem Unternehmen - ganz<br />
mechanisch gedacht - am Gegenstand<br />
der Kritik, dem Denken<br />
des Subjekts, an und nicht schon<br />
bei dem Verhältnis von Abstraktem<br />
und Konkretem. Doch es ist<br />
genau die Verkennung dieses<br />
Verhältnisses, was zu der Vorstellung<br />
des Subjekts als 'denkendem<br />
Ding' allererst führte.<br />
Denken wird spätestens seit<br />
Descartes als- um es mit Holl zu<br />
sagen - substantielle Qualität<br />
von Individuen und nicht mehr<br />
als relationaler Aspekt eines<br />
Kontextes verstanden. Die Definition<br />
des Subjekts, das sich<br />
durchs Denken und durch Vernunft<br />
konstituiert wähnte, geriet<br />
dadurch hoffnungslos selbstbezügl<br />
ich . Die Konsequenzen dieses<br />
Zirkelschlusses bestehen in<br />
der bis heute gültigen Teilung<br />
der W irklichkeit in eine Weit materieller<br />
Körper und eine Sphäre<br />
geistiger 'Ereignisse' - eine Teilung,<br />
die nur im Kopf produziert<br />
wird, die aber dennoch oder ge-<br />
rade deshalb äußerst rea l ist.<br />
Diese Teilung ging schon auf<br />
Platon zurück, doch der cartesische<br />
Dualismus unterschied<br />
sich von platonischen dadurch,<br />
daß er an die Stelle einer holistischen<br />
Teilhabe der Materie an<br />
den Ideen die mechanische Verbindung<br />
von Körper und Geist<br />
setzte. Es war diese Setzung, die<br />
das so überaus erfolgreiche<br />
Konzept der empirischen Wissenschaften<br />
endgültig etablierte.<br />
Diesenwar nichtlängermeditative<br />
Wesensschau das Wichtigste<br />
an menschlicher Erkenntnis,<br />
sondern die Herstellung ei <br />
nes technischen Instrumentariums<br />
zur Beherrschbarmachung<br />
der Natur. Heute erleben<br />
wir immer augenfälliger - und<br />
nicht erst seit Tschernobyl -wie<br />
dieses Instrumentarium mit der<br />
ganzen Energie, mit der es in die<br />
Natur ' hineingepreßt' wurde,<br />
'zurückschlägt' : in Gestalt von<br />
ökologischer Zerstörung und<br />
technischen Katastrophen.<br />
Doch die auf Descartes folgende<br />
Ausgrenzung des Geistes<br />
aus der Materie (oder war sie<br />
umgekehrt?), beschränkte sich<br />
nicht nur auf die Naturwissenschaften.<br />
Auch die Geisteswissensehaften<br />
wurden von ihr betroffen,<br />
vielleicht in noch stärkerem<br />
Maße. Wenn keine Teilhabe,<br />
wie noch bei Platon, die Weit<br />
des Geistes und die WeltderMaterie<br />
verbindet, wie hat man sich<br />
deren Verhältnis zu denken?<br />
Kant beantwortet die Frage auf<br />
eine äußerst einfache, aber wie<br />
Holl meint, für seine Nachfolger<br />
' unerträgliche' Weise : er schlug<br />
vor, daß der an seinen Körpergebundene<br />
Mensch so tun solle,<br />
'als ob' ihm der metaphysische<br />
Bereich des Geistes zugänglich<br />
sei, obwohl er ganz genau wisse,<br />
daß er nie zu dessen genauer Erkenntis<br />
gelangen könne. ln dieser<br />
Antwort ist die gleiche Verkennung<br />
zu entdecken wie<br />
schon bei Descartes. Denn Kant<br />
bezeifelt an keinerStelle die<br />
Dualität von Geist und Materie.<br />
Doch er läßt es schulterzuckend<br />
dabei bewenden und beweist<br />
damit, laut Holl, eine spielerischere<br />
Haltung als seine Nachfolger.<br />
Diesen war Kants ' als ob'<br />
Lösung ein philosphischer<br />
Skandal. Sie versuchten - allen<br />
voran Hegel - von nun an jene<br />
Zerteilung der Wirklichkeit, die<br />
der Preis fürdie Installierung des<br />
Subjekts als 'denkendem Ding'<br />
war, zu überwinden. Es ist der<br />
Diskurs der Moderne, den Kants<br />
philosphischer Skandal nach<br />
sich zog . Nicht nurfür Habermas<br />
dreht sich dieser Diskurs um eine<br />
Vernunftkritik, die die realen Rat<br />
ionalisierungsschübe der gesellschaftlichen<br />
Entwicklung<br />
zum Gegenstand nimmt. Das<br />
Kritikwürdige daran ist, daß die<br />
selbstläufig gewordenen Entwicklung<br />
der Gesellschaft genausowenig<br />
wie der verlassene<br />
Traditionsfundus und der Ideenhimmel<br />
das intensive Bedürfnis<br />
des Subjekts nach Selbstvergew<br />
isserung in Freiheit befriedigen.<br />
Vernunftkrit ik wurde daher<br />
zu einer Gesellschaftskritik, die<br />
auf einem Standort beharrte,<br />
von dem aus die schlechte<br />
gesellschaftliche Wirklichkeit<br />
moralisch integer werden konnte.<br />
Genauso wie die Naturwissenschaften<br />
gingen die Geistesund<br />
Sozialwissenschaften dabei<br />
von der Trennung zwischen<br />
Theorie und Praxis aus. Es war<br />
die theoretische Vernunft, die<br />
sich moralisch integer wähnte<br />
und immer wieder den Irrtum<br />
wiederholte, der sie selbst erst<br />
bilden half: daß Theorie grundsätzlich<br />
in Praxis überführbar<br />
oder Abstraktes 'in Konkretes<br />
implantierbar' ist, wurde zu ihrer<br />
axiomatischen Staatsraison. Es<br />
war Nietzsche, derdieses Axiom<br />
als erster bezweifelte. Doch<br />
nicht nur das, er macht es auch<br />
lächerlich : jede Theorie war ihm<br />
mindestens so kritikwürdig wie<br />
die übelste Praxis. Hier nahm ei <br />
ne ldeolgiekritik ihren Anfang,<br />
die ihren Höhepunkt in der kritischen<br />
Theorie finden sollte. Sie<br />
sah die theoretischen und kritischen<br />
Potentiale der Philosophie<br />
selber als Teil der schlechten<br />
Wirklichkeit an und brachte<br />
sich auf paradoxe Weise scheinbar<br />
um den eigenen Standort.<br />
Von dieser sich selbst dementierenden<br />
und strangulierenden<br />
Vernunftkritik ist Batesons<br />
Verbindung von ' lockerem<br />
und strengem Denken' zu unterscheiden,<br />
in der ein kontextuelles<br />
Denken erprobt werden soll,<br />
das die ParadoYie von Vernunftkritik<br />
nicht eleminiert, sondern,<br />
auf eine an die Widersinnigkeit<br />
des Zen erinnernden Weise,<br />
fruchtbar nutzen soll. Mit dem<br />
Begriff des Kontextes unternahm<br />
Bateson den Versuch, das<br />
Verhältnis von Geist und Materie<br />
nicht mehr mechanisch zu denken.<br />
Selbstbezüglichkeit ist nur<br />
möglich durch die Transzendierung<br />
des Kontextes, in dem man<br />
sich gerade befindet. Man<br />
beachte allerdings, daß Bateson<br />
den Begriff des Kontextes über<br />
den menschlichen Selbstbezug<br />
hinaus auf die gesamte Biosphäre<br />
ausdehnte. Diese versuchte er<br />
als 'geistigen Prozess' zu beschreiben<br />
oder- wie ein anderer<br />
Ausdruck lautet - als 'ökologisches<br />
Diskursuniversum'. Man<br />
sehe sich die sechs Kriterien an,<br />
die für Bateson einen geistigen<br />
Prozess kennzeichnen:<br />
1. Er ist ein Aggregat mit<br />
Wechselwirkungen (Diese können<br />
entweder relational oder in<br />
Hinblick auf die wirkenden Teile<br />
beschrieben werden).<br />
2. Wechselwirkungen werden<br />
durch Unterschiede ausgelöst<br />
(Sie können zwischen Gegenständen,<br />
zwischen Relationen<br />
oder zwischen Gegenständen<br />
und Relationen bestehen).<br />
3. Der geistige Prozess besitzt<br />
kollaterale Energ ie (Das bedeutet,<br />
daß z.B. Bewegung nicht<br />
nur mechanisch übertragen wird<br />
- was zu der peinlichen Frage<br />
nach dem ersten Beweger<br />
führt -, sondern daß sie im geistigen<br />
Prozeß auf nicht- mechanische<br />
Weise und dezentral entsteht.<br />
So läuft ein getretener<br />
Hund nicht, weil ihn die Energie<br />
des Tritts in Bewegung setzt.<br />
sondern weil er selbst aktiv<br />
wird).<br />
4 . Der geistige Prozeß ist zirkulär<br />
bestimmt (Das versteht<br />
sich fast von selbst, da Wechselwirkungen<br />
nirgends in Leere laufen,<br />
sondern allenfalls in andere,<br />
69
Leserinbrief<br />
höhere oder niedrigere Kontexte<br />
hineinwirken).<br />
5. Die durch Unterschiede<br />
ausgelösten Wechselwirkungen<br />
werden codiert (Kurz, der geistige<br />
Prozeß besitzt Gedächtnis).<br />
6. Der geistige Prozeß ist<br />
durch die Hierarchie von logischen<br />
Ebenen oder Kontexten<br />
bestimmt (Was auf einer Ebene<br />
nur Element in einem Kontext, ist<br />
auf einer höheren Ebene selber<br />
Kontext und umgekehrt).<br />
Die Biosphäre wird, versteht<br />
man sie als 'geistigen Prozeß'<br />
oder als 'ökologisches Diskursuniversum',<br />
zu einem offenen Zu <br />
sammenhang von Kontexten,<br />
der, ins Makroskopische wie ins<br />
Mikroskopische hinein, prinzipiell<br />
unendlich ist. Zwischen den<br />
Kontexten herrscht ein labiles<br />
Fl ießgleichgewicht. in das der<br />
Mensch mittels transzendierender<br />
Abstraktion Einblick erlangen,<br />
in das er aber auch, mittels<br />
instrumenteller Abstraktion,<br />
Technik implantieren kann . Bei -<br />
Leserinbrief<br />
Lieber Jochen,<br />
da auch in eurem Heft ,.<strong>Spur</strong>en"<br />
1 5/ 86 der Mythos grassierend<br />
auftaucht, möchte ich darauf<br />
einmal mit ein paar Gedan <br />
ken antworten.<br />
Da ist die Rede von ,.mythischen<br />
Resten", von der .. Wichtigkeit<br />
der Mythen für uns alle",<br />
von .. kleinen Mythen des Privaten",<br />
von Mythen als .. heiliger<br />
Geschichte", und daß .. Die Literatur<br />
beginnt, wo mehrere Mythen<br />
aufeinandertreffen" (Bu <br />
tor).<br />
Es scheint sich, im ersten Anlauf,<br />
um eine Vokabel zu handeln,<br />
die genug Ferne und Weiches<br />
besitzt, um den Lücken unseres<br />
Daseins, in der durchformulierten<br />
Gesellschaft, Dimension<br />
zu verleihen, Tiefe, Grund<br />
und Halt im flachen Gewässer<br />
der Gegenwart. Eine Art Freiheit<br />
von uns umstellenden Begriffen;<br />
man fühlt sich umzäunt und entweicht<br />
ins Eigentliche, wo der<br />
Mensch sich noch mit Göttern<br />
unterhielt und nicht mit dem TV,<br />
undsoweiter. Bemerkenswert ist<br />
nur, daß dieser Fischzug nach al <br />
ten .. Schätzen" auf altgewohnte<br />
Weise geschieht. Die Denkweise<br />
hat sich gar nicht geändert, es<br />
wird nur nach Alt-Neuem gefischt,<br />
als seis an der Zeit, die<br />
marode Gesellschaft ein bißchen<br />
mit Frischzellen alt-neu-zu<br />
beleben.<br />
Warum ausgerechnet Mythen?<br />
Nicht wahr, das fragt man<br />
sich im turnusmäßigen Rück-<br />
70<br />
des hat Rückwirkungen auf die<br />
in die Biosphäre eingebundenen<br />
Lebenszusammenhänge des<br />
Menschen. Die Selbstbezüglichkeit<br />
von Vernunftkritik sollte<br />
nichts anderes als diese Rückwirkungen<br />
zum Gegenstand haben.<br />
Den kontextuellen Denken<br />
Batesons liegt die Überzeugung<br />
(oder ist es der Glaube?) zugrunde,<br />
daß es ein Muster gibt, das<br />
alle Lebewesen miteinander verbindet.<br />
Dieser wahrhaft holistische<br />
und kosmologische Gedanke<br />
besaß für Bateson die<br />
gleiche Notwendigkeit wie für<br />
manche Physiker eine noch<br />
nicht beobachtete Erscheinung,<br />
die sie in der Theorie schon<br />
' nachgewiesen' hatten. Daß es<br />
ein Muster gibt, dasalle Lebewesen<br />
miteinander verbindet und<br />
daß die Kenntnis und Achtung<br />
dieses Mustersfürdas menschliche<br />
überleben von äußerster<br />
Wichtigkeit sei, machte den<br />
ökologischen Glutkern seines<br />
griff, wenn die Schubladen leer<br />
werden. Gibt es denn wirklich ei <br />
ne existentielle dringende Notwendigkeit?<br />
Gibt es wirklich<br />
Trauer? Gibt es denn Sehnsüchte,<br />
die nicht restaurativ sind?<br />
Hier, an dieser Stelle, setzen<br />
meine Einwände, meine Kritik,<br />
meine Bosheit, mein Forschen,<br />
meine Dringlichkeit ein, denn<br />
tatsächlich, ich, Frau, habe eine.<br />
Ich wünsche etwas, und zwar<br />
keine Klagen, keine Larmoyanz,<br />
keine Bitterkeit, sondern<br />
schlichte Klarheit. Mein, Frau,<br />
Zeitalter der Klarheit bricht erst<br />
an, was heißt, daß ich dies zu tun<br />
habe unter Bedingungen, dieder<br />
mythischen Vorzeit unbekannt<br />
waren, nämlich unter den Folgen<br />
des sog. Fortschritts.<br />
Soweit dazu.<br />
Aber nun zu den Mythen. Ich<br />
kann dir (und der Redaktion und<br />
sonstwem) versichern, daß ich,<br />
Frau, mich keineswegs mit irgendwelchen<br />
Mythen identifizieren<br />
kann (und es künftighin<br />
auch nicht werde), weder jenen<br />
der griechischen Tradition noch<br />
den hebräischen (Butor), noch<br />
mit den Märchen und Sagen,<br />
noch, wie bekannt, mit der Geschichte.<br />
Kain, Abel, Gott und<br />
Adam, Theseus, Zeus und die<br />
lange Liste sonstiger Götter und<br />
Halbgötter, Helden und Geister<br />
sind für mich, Frau, ein Material,<br />
das ich gründlich zu befragen<br />
habe.<br />
Mythos also, um auf den<br />
Kern zu kommen, stellt für mich<br />
die göttliche Rückversicherung,<br />
Schutz und Halt jenes lnspirier-<br />
Denkens aus.<br />
Nach der Erfahrung von der<br />
Nichtexistenz Gottes und dem<br />
damit einhergehenden Verlust<br />
metaphysisch bindenderWerte,<br />
die der Menscc im Zeichen der<br />
Aufklärung - zum Wohle seines<br />
Selbstbewußtseins - machen<br />
konnte, zeigt sich in der ökologischen<br />
Zerstörung ein ungeheurer<br />
Mangel an Sinn. Daß Sinnlosigkeit<br />
und Zerstörung letztendlich<br />
Synonyme sind, diese Erfah <br />
rung steht, am äußersten Ende<br />
der Aufklärung, noch aus. Sich<br />
der paradoxen Verbindung von<br />
lockerem und strengem Denken<br />
anzunähern, hieße, die Aufklärung<br />
nicht selbstdementierend<br />
verenden zu lassen. Sei es im<br />
funktionalistischen Kalkül technokratischen<br />
Denkens, das jene<br />
Zerstörung auch weiterhin als<br />
Fortschritt feiern w ird und am<br />
liebsten noch die Ge isteswissenschaften<br />
zur Jubelperserei<br />
verdonnerte, oder sei es in der<br />
Wiederkehr von welchem Myten,<br />
Gläubigen, männlich, dar,<br />
der sich in die Lage versetzte,<br />
durch Selbstversenkung, Ekstase,<br />
usw. diesen göttlichen Fun <br />
ken zu empfangen, oder andersherum,<br />
ihn zu produzieren. Der<br />
Initiationsakt Empfängnis,<br />
Hingabe an jene/ jenen Übermächtigen<br />
- war/ ist nicht nur<br />
Gewißwerden großer mächtiger<br />
Kräfte, sondern ein Wachrufen,<br />
Hervorrufen eigener Kräfte. Der<br />
Initiant/ Gläubige empfängt se i<br />
ne - eigenen Kräfte.<br />
Christentum, Buddhismus,<br />
Islam, forsche es nach, enthalten<br />
für Frauen lediglich den Opfergang,<br />
Abwaschen des ihnen zu <br />
geteilten Schmutzes, Schmutz<br />
des Geschlechtes, usw. Ihr Bedarf<br />
nach Göttlichen ist nichts<br />
weiter als Reinigung von den ihnen<br />
auferlegten Bürde des<br />
Weiblichen. Ac herrjeh, lies es<br />
nach. (Verzeih, es ist nicht persönlich)<br />
Vom weiblichen Inventar erhobener<br />
weiblicher Figuren<br />
bleibt zwischen der schrecklichen<br />
Nacht und der Jungfrau<br />
Maria ziemlich wenig erfreuliches.<br />
Jetzt mache ich einen gewagten<br />
Sprung; er führt mich<br />
von Longinus über Burke, Kant<br />
zu Schiller und selbstverständlich<br />
direkt in die Gegenwart, in<br />
der nach wie vor scheints die<br />
Zweipoligkeit schwelt und<br />
schwelt, nicht einmal befragt<br />
von Sirnone de Beauvoir, aber<br />
ein seltsames Potential an Restaurativem,<br />
womöglich mehr.<br />
Ich meine das Schöne und<br />
thos auch immer. Eine auf<br />
schöpferischer Vernunft gründende<br />
Aufklärung wüßte um<br />
diese Paradoxie des seiner<br />
selbst gewissen Menschen.<br />
Denn diese Gewißheit beruht<br />
gänzlich auf dem Mangel an aus<br />
sich selbst seiender Existenz.<br />
Fruchtbar wird diese Paradoxie<br />
in jenem kontextuellen Denken,<br />
das wie Adornos ' negative Dialektik'<br />
oder Benjamins 'Dialektik<br />
im Stillstand' einen Glutkern besitzt.<br />
Doch eben keinen theologischen<br />
mehr, sondern einen<br />
ökologischen (obwohl für Bateson<br />
persönlich diese Begriffe<br />
kaum einen Unterschied machten).<br />
in diesem Glutkern leuchtet<br />
die Utopie eines ästhetischen<br />
Zustands auf, derals Konvenienz<br />
bezeichenbar ist. Er ist das Muster,<br />
das alle Lebewesen verbindet.<br />
- in ihm scheuen sogar Engel<br />
sich aufzutreten.<br />
Torsten Meiffert, Harnburg<br />
Erhabene. Aus der Taufe gehoben,<br />
wie gesagt, vor 1700 Jahren<br />
und weiterhin Quelle vieler<br />
schrecklicher Dinge. Profane<br />
Fortsetzung des Mythos, da nun<br />
nicht mehr die Götter herrschen,<br />
sondern die .. erkannte Natur", in<br />
ihrer gewaltigen, überwältigenden<br />
Natur erhaben genannt. Der<br />
alte Mann und das Meer. Wrack<br />
im Eismeer. Mönch am Meer,<br />
ach so vieles. Überwältigende<br />
Massevon Gebirg, von Schlucht,<br />
Gewitter, Meer. Wärs anschaulich,<br />
dürfte man Tschernobyl dazuzählen.<br />
Aber es ist nicht zu sehen,<br />
zu fühlen, zu hören ... Die<br />
Kategorie hat sich ins Vorstellungsvermögen<br />
verkrochen,<br />
scheints.<br />
Aber gilt nicht, von Longinus<br />
bis heute, derselbe lnitiationsritus?<br />
Und das Schöne?<br />
Leicht zu erratende weibliche<br />
Komponente, Harmonie,<br />
mildernd eingeschoben, begütigend<br />
und ideal, nie zu erreichende<br />
Schönheit. Kategorie des<br />
Zwischen. Pause im Weltgeschehen.<br />
Ruhe der Erschöpften.<br />
Die Schönheitslinie von Hogarth<br />
wäre, ohne Zwischenfälle, ins<br />
Unendliche fortzusetzen.<br />
Und zum Schluß eine vage<br />
Erinnerung ans Dritte Reich. Das<br />
Schöne und das Erhabene. Kein<br />
Kommentar.<br />
Liebe Grüße U 'sula<br />
P.S. Ich habe nun wild an<br />
dich geschrieben, aber es meint<br />
dich nicht persönlich. Es ist meine<br />
Antwort aufeine Tendenz und<br />
du bist mein Ansprech.
ln eigener Sache<br />
Bücher von " <strong>Spur</strong>en-Autoren ..<br />
Wie ernst istdas .. Post" der Postmoderne<br />
zu nehmen? Kann, was<br />
sich in Poststrukturalismus<br />
(Derrida, Foucault) und postmodern<br />
.. neuer" Philosophie (Lyotard,<br />
Baudrillard) geltend macht,<br />
tatsächlich praktische politische<br />
Gültigkeit beanspruchen?<br />
ln seinem Essay nimmt Raulet<br />
die Herausforderung der<br />
neuen französischen Denkbewegung<br />
an - insbesondere ihre<br />
Absage an die moderne Selbstbehauptung<br />
der Vernunft- und<br />
konfrontiert sie mit den kritischen<br />
Theorien der Moderne,<br />
wie sie von Bloch, Benjamin,<br />
Adorno und Horkheimer und zuletzt<br />
Habermas entwickelt wurden.<br />
Damit wird eine fruchtbare<br />
deutsch-französiche Debatte<br />
eröffnet. Wesentlich dafür ist<br />
Raulets Verfahren, die postmodernen<br />
Fragestellungen aufzugreifen<br />
und diese auf Berührungen<br />
mit den kritischen Positionen<br />
vor allem Adornos, Benjamins<br />
und Blochs zu befragen.<br />
Waren die von ihnen vorgenommenen<br />
,. Differenzierungen im<br />
Begriff Fortschritt" radikal genug,<br />
um die forcierte, vor allem<br />
kommuni kationstechnische<br />
Entwicklung seither und deren<br />
soziokulturelle Folgen zu parieren?<br />
Oder ist den Autoren der<br />
Postmoderne recht zu geben,<br />
die vom endgültigen Zerfall ei <br />
nes konsistenten Wirklichkeitsbegriffs,<br />
damit aller verbindlichen<br />
Sinnstrukturen und praktischen<br />
Perspektiven ausgehen?<br />
Die uns auf Nietzsche und sein<br />
erhabenenes Ja zum Zerfall der<br />
Moderne verweisen und Marx zu<br />
den Akten legen?<br />
Raulet zeigt, daß derlei Absagen<br />
zumindest diagnostischen<br />
Wert besitzen, daß sie unsere<br />
Einsichten in die ,.Dialektik<br />
der Aufklärung" aktualisieren<br />
und daß man ihnen mit einer<br />
,. Philosophie dtr symbolischen<br />
Formen", wie sie bei Bloch und<br />
Benjamin vorformuliert sind, begegnen<br />
kann - auch im politisch-praktischen<br />
Interesse.<br />
Gerard Raufet, Gehemmte Zukunft,<br />
Luchterhand-Verlag<br />
1986, 258 S.<br />
Nach seinen Sachbüchern ,.Jungen<br />
in schlechter Gesellschaft"<br />
(1981 ), .. Propaganda für Klaus<br />
Mann" ( 1981 ). ..Gennariello<br />
könnte ein Mädchen sein. Essays<br />
über Pasolini" (1983) und manchem<br />
anderen hat Friedrich<br />
Kröhnke in diesem Frühjahr sei <br />
nen ersten größeren belletristischen<br />
Text vorgelegt: den .. Ratten-Roman".<br />
Auf dem Klappentext<br />
heißt es : ,. Friedrich Kröhnke<br />
erzählt von kleinen Nagern, d ie<br />
in den letzten Jahren von allen<br />
Seiten in unser Bewußtsein huschen-<br />
einem Mann, der an se i<br />
ne Leidenschaft für schöne Kna <br />
ben brüchige Ideologien knüpft<br />
- einer Frau, die sich von ihm,<br />
weil sie ihn mag, ausnützen läßt<br />
- einem blonden Engel namens<br />
Ratte - einem fettarsehigen<br />
Stofftier - Günter Grass- dem<br />
Jahr 1984- einem' Plädoyervor<br />
dem Rat der Stadt Hameln' -<br />
Rattenfänger-Feierlichkeiten -<br />
Trunk und Ernüchterung eines<br />
pädagogischen Erotikers, der<br />
keiner mehr sein will - 'modernen<br />
Zeiten'. "<br />
Friedrich Kröhnke : Ratten-Roman.<br />
Verlag rosa Winkel Berlin<br />
1986.<br />
Errata<br />
Leider ist uns in dem Beitrag von<br />
Rainer Rother ,. Film - Produkt <br />
Werbung" ein Grund zum Mittel<br />
geworden. Auf Seite 61 , rechte<br />
Spalte, erste Zeile muß es<br />
heißen : ... .. weil Gleichrangigkeit<br />
mit einem schlechten Film ja<br />
kein Genußgrundwäre." Wir bitten,<br />
den sinneswandelnden<br />
Satzfehler zu entschuldigen. Au <br />
ßerdem möchten wir - auf Bitte<br />
von Herrn Rother - darauf hinweisen,<br />
daß die Zwischenüberschriften<br />
nicht von ihm, sondern<br />
von der Redaktion stammen. -<br />
Red .
Hans-Joachim Lenger über Denkpnue!'.!'.e der Führung 1 Friedrich Kröhnke über Patrick<br />
Susanne Klippel über Foreign Affair!'.<br />
Vilcm Flusser über das Mittelmeer I Fricdhclm I ,()venich über Robinson<br />
Heinrich Kupffer über Ästhetik und Ma!-.!'.enkultur Hans-Dietrich Bahr über den Gast<br />
Eberhard Sens zur Umweltdiskussion · Joachim Koch über die Poetik des Dutte!'.<br />
Dietrich Kuhlbrodt über Sorgen der Kulturherrschaft/ Arno Münster<br />
über Jacques Derrida/ Fotoserie von Silke Grossmann/ 9 Seiten Rezensionen