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Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Edztorial<br />

"Als Fremder wird der Gast in jene Distanz<br />

gebracht, durch welche er schon<br />

identifiziert ist, ehe wir etwas über ihn<br />

erfahren und wissen. Insofern blieb die<br />

extremste Gestalt des derart verdrängten<br />

Gastes der Tod, als der er dem Ich<br />

selbst entgegenkommt. Und hier setzt<br />

ein bestimmter Typus seiner endlosen<br />

Befragungen ein, Projektionen eines<br />

Wissens, die sich schichtenweise über<br />

diesen Fremdling legen werden, weil<br />

niemand mehr an eine 'Schuldlosigkeit'<br />

des Gastes glaubt: es ist das, was man die<br />

polizeiliche Erzählung nennen kann."<br />

Hans-Dieter Bahr, in diesem Hifl S. 28<br />

Es bedurfte nicht erst der gegenwärtigen<br />

politischen Kampagne gegen Asylsuchende<br />

in der Bundesrepubli, um aufdas prekäre<br />

Verhältnis von Gast und Masse aufinerksam<br />

zu machen, das gerade hierzulande<br />

herrscht. Wie immer, wenn die politische<br />

Klasse von inneren Problemen abzulenken<br />

suchte, denen der Ökonomie, des Politischen<br />

und Sozialen, wird auch diesmal gegen<br />

den Fremden mobil gemacht; wer also<br />

in den Verdacht gerät, Gastfreundschaft<br />

beanspruchen zu wollen, ist potentiell<br />

Staatsfeind: Objekt, an dem sich die politische<br />

Formierung im Innern vollziehen<br />

kann.<br />

Das vorliegende Heft thematisiert die<br />

Frage nach dem Gast wohl nicht auf solch<br />

unmittelbar politischer Ebene - wie überhaupt<br />

~in radikaler Begriff des Politischen<br />

neu erst ausgearbeitet werden muß, soll er<br />

sich nicht in den Strategemen der herrschenden<br />

Parteien verfangen; aber dieses<br />

Heft versucht, einen möglichen Ort des<br />

Gastes zu bedenken, an dem dieser nicht<br />

entweder als Fremder verfolgt oder aber als<br />

Rückständiger missioniert würde. Denn<br />

auch hier ist Missionierung nur die andere<br />

Seite der Verfolgung: so offen~>ichtlich das<br />

Kalkül der politischen Rechten ist, wenn sie<br />

den Gast, der um Asyl nachsucht, als Tod<br />

der Kultur, der Zivilisation, des Sozialen<br />

verfemt und verfremdet, so problematisch<br />

ist andererseits vielfach das Engagement<br />

einer bestimmten Spielart der Linken, die<br />

den Ort des Fremden allzu genau festgelegt<br />

wissen will. Sieht man genau, zieht sich der<br />

Eifer einer Missionierung, einer Angleichung<br />

an die Masse, einer Vereinnahmung<br />

ins Bekannte auch durch oppositionelle<br />

Haltungen: durch literarische Unternehmungen<br />

etwa, die dann in Wallraffs "ich<br />

(Ali)" zu kulturindustriellen Ereignissen<br />

werden können. Stets tritt auch hier der<br />

Gast in einen Bekenntniszwang ein, dessen<br />

polizeiliche Ausprägung eben nur die eine<br />

Variante ist.<br />

In diesem Sinn entziffert Fnedhelm Lüvenichs<br />

Lektüre der Konfrontation Robinsons<br />

mit Freitag die Urgeschichte bürgerlichen<br />

Selbstbewußtseins als Doppelung von Unterwerfung<br />

und Mission: indem er diese<br />

Urgeschichte in Hegeischen Kategorien<br />

erzählt, zeigt Lüvenich, daß in einem sehr<br />

präzisen Sinn das gedankliche Universum<br />

der "Phänomenologie des Geistes" immer<br />

unser Universum geblieben ist. Hans-Dtder<br />

Bahrs Text "Xenia", der in Vorbereitung einer<br />

Ausstellung entstanden ist, die in einiger<br />

Zeit zu sehen sein wird, versucht, gegen<br />

diesen Bann, eine Phänomenologie des Gastes,<br />

die in eine Ethik des Anderen einleiten<br />

könnte: Bahr skizziert sie als eine "Raumzeit<br />

des Entgegenkommens", die von der<br />

LogikderTrennungen und der Vereinnahmungen<br />

nicht verortet werden kann. Vzlem<br />

Flusser beschreibt, ebenso die großen Einheiten<br />

vervielfältigend, den Mittelmeerraum<br />

als einen multiplen Raum, der sich,<br />

neu befragt, als voll von porösen Orten eines<br />

solchen Entgegenkommens erweisen<br />

könnte. Und Hetrmch Kupffir, solche Überlegungen<br />

vom Ort vollendeter Austauschbarkeil<br />

gleichsam paraphrasierend, erinnert<br />

an das Nicht-Kommunizierbare im<br />

"Innern" der herrschenden Kultur.<br />

Sozialdemokratie<br />

Vom Strategem der politischen Klasse war<br />

zu Beginn die Rede, das die ökonomischen<br />

und sozialen Krisen durch die Produktion<br />

des Fremden zu entschärfen sucht. Gehen<br />

solche Versuche auch zunächst von den gegenwärtigen<br />

Regierungsparteien aus, so<br />

soll nicht vergessen werden, daß es eine sozialdemokratische<br />

Landesregierung, die<br />

<strong>Hamburg</strong>er, war, die in den letzten Wochen<br />

eine erneute Probe ihrer innenpolitischen<br />

Vorstellungen gab und den präventiven<br />

Polizeikessel gegen Demonstranten<br />

mit allem Zynismus in das taktische Arsenal<br />

des staatlichen Gewaltapparats einfuhrte.<br />

Hat der Innenausschuß der <strong>Hamburg</strong>er<br />

Bürgerschaft mit den Stimmen von SPD<br />

und CDU auch mittlerweile diese Polizeiaktion<br />

als "unverhältnismäßig" und<br />

"rechtswidrig" eingestuft, so wollte sie andererseits<br />

solche Kessel fiir die Zukunft<br />

nicht prinzipiell ausschließen. Die Vertreter<br />

der Grün-Alternativen Liste (GAL) hatten<br />

wohl recht, wenn sie sich dem abschließenden<br />

Bericht dieses Ausschusses nicht anschließen<br />

wollten. Christian Amdt gab vor<br />

dem Ausschuß einen Augenzeugenbericht<br />

aus dem "<strong>Hamburg</strong>er Kessel", den wir den<br />

Protokollen entnehmen und an den Anfang<br />

des Heftes stellen.<br />

Ham-Joach1in Lenger<br />

2


Impressum<br />

<strong>Spur</strong>en - Zeitschrift fur Kunst und Gesellschaft,<br />

Lerchenfeld 2, 2 Harnburg 76<br />

Zeitschrift des <strong>Spur</strong>en e.V.<br />

in Zusammenarbeit mit der <strong>Hochschule</strong><br />

fur <strong>bildende</strong> Künste Harnburg<br />

Herausgebenn<br />

Karola Bloch<br />

Redakt/on<br />

Hans-Joachim Lenger (verantwortlich),<br />

Jan Robert Bloch, Jochen Hiltmann,<br />

Stephan Lohr, Ursula Pasero<br />

Redaktionsassistenz<br />

Susanne Dudda<br />

Gestaltung und Druck<br />

Jutta Hercher, Bernd Konrad<br />

Satz<br />

Gunda othhorn<br />

Autoren und Mztarbdter dieses Hifies<br />

Hans-Dieter Bahr, Gerhard Bolte,<br />

Vilem Flusser, Martin Hielscher,<br />

Susanne Klippel,Joachim Koch,<br />

Friedrich Kröhnke, Dietrich Kuhlbrodt,<br />

Heinrich Kupffer, Friedhelm Lövenich,<br />

Torsten Meiffert, OlafMeixner,<br />

Arno Münster, Eberhard Sens,<br />

Joachim Strelis, WouteJ1je Pieterse<br />

Die Redaktion lädt zur Mitarbeit ein. Manuskripte<br />

bitte in doppelter Ausfertigung mit Rückporto.<br />

Die Mitarbeit muß bis auf weiteres ohne<br />

Honorar erfolgen. Copyright by the authors.<br />

Nachdruck nurmit Genehmigungund Quellenangabe.<br />

Inhalt<br />

Beobachtungen und Anfragen<br />

Christian Arndt über den "<strong>Hamburg</strong>er Polizeikessel" (S. 4)1<br />

Friedrich Kröhnke: Patrick (S. 8) I<br />

Susanne Klippe! : Foreign Affairs (S. 11) I<br />

Silke Crossmann<br />

Orte. Gesichter<br />

Fotosene<br />

Vilem Flusser<br />

Mittel und Meere<br />

Etn Vortrag. s. 12<br />

Friedhelm Lövenich<br />

Der Herr der Insel<br />

Robtnson, Hege! und das bürgerliche Ich. S. 17<br />

.. Heinrich Kupffer<br />

Asthetik und Massenkultur<br />

Über Versuche, dte Austauschbarkezt des modernen Menschen zu verhtndem. S. 22<br />

Hans-Dietrich Bahr<br />

Xenia<br />

oder der ephemere Auftnthalt. S. 2 7<br />

Eberhard Sens<br />

Von Vergegenwärtigung<br />

Stichworte zur Umweltdiskussion. S. 49<br />

J oachim Koch<br />

Die Poetik des Duftes<br />

s. 52<br />

Dietrich Kuhlbrodt<br />

Sorgen der Kulturherrschaft<br />

Etn Streifiug durch befreite Zonen. S. 55<br />

Die "<strong>Spur</strong>en" sind eine Abonnentenzeitschri.ft.<br />

Ein Abonnement von 6 Heften kostet<br />

DM48,-, ein Abonnement fur Schüler, Studenten,<br />

Arbeitslose DM 30,-, ein Förderabonnement<br />

DM 96,- (Förderabonnenten versetzen uns<br />

in die Lage, bei Bedarf Gratisabonnements zu<br />

vergeben, sie erhalten eine Jahresgabe der Redaktion).<br />

Das Einzelheft kostet in der Buchhandlung<br />

DM 8,-, bei Einzelbestellung an die Redaktion<br />

DM 10,-incl. Versandkosten. Lieferung erfolgt<br />

erst nach Eingang der Zahlungauf unserem<br />

Postscheckkonto <strong>Spur</strong>en e. V., Postscheckkonto<br />

500 891-200 beim Postscheckamt <strong>Hamburg</strong>.<br />

BLZ 200 100 ·20, oder gegen Verrechnungsscheck<br />

Bestellung und Auslieferung von Abonnements<br />

und fur Buchhändler bei der Redaktion.<br />

Magazin<br />

Wouter* Pieterse über QWERTZUIOPÜ (S. 61 ) I Martin Hielscher über den schönen Antonio<br />

(S. 62) I Joachim Strelis über Algarabia (S. 63) I SusanneDudda überden verhörten Held~n (S. 64) I<br />

OlafMeixner über Vergegenwärtigung zur Unzeit (S. 65) I Gerhard Bolte über Vermittlung als<br />

Gott (S. 6 7) I Torsten Meiffert über Gregory Bateson (S. 68) I Leserinbrief (S. 70) I Bücher von<br />

.<strong>Spur</strong>en-Autoren" und "In eigener Sache" (S. 71)<br />

"<strong>Spur</strong>en"-AzifSatz im Mitteltetl:<br />

Arno Münster<br />

Die "Differänz" und die "<strong>Spur</strong>"<br />

Jacques Demdas Dekonstruktion der abendkindischen Metaphysik.<br />

3


4<br />

Foto: Till Schlünz


Christian Arndt<br />

So etwas wie Panik<br />

Augenzeugenbenchi vom "<strong>Hamburg</strong>er Kessel"<br />

Am 8.Juni kesselte die <strong>Hamburg</strong>er Polizei mehrere<br />

hundert Demonstranten vor ihrem Abmarsch<br />

am Heiligengeistfeld ein und hielt sie bis<br />

zu fiinfZehn Stunden an Ort und Stelle fest. Die<br />

Aktion und ihre Umstände erinnern an Praktiken<br />

lateinamerikanischer Militärdiktaturen: die<br />

folgenden Auszüge aus dem Augenzeugenbericht<br />

Christian Arndts belegen den Stand der Eskalation<br />

polizeilicher Gewalt. Der Text stammt<br />

aus einem Protokoll des Innenausschusses der<br />

<strong>Hamburg</strong>er Bürgerschaft, der sich mit den Vorfällen<br />

in mehreren Sitzungen beschäftigte. Resultat<br />

der Untersuchung: die Polizeiaktion sei<br />

"unverhältnismäßig" und "rechtswidrig" gewesen.<br />

Doch um solche Polizeikessel fiir die Zukunft<br />

nicht prinzipiell auszuschließen: "Die Einbeziehung<br />

einer polizeilichen Einschließung in<br />

den polizeilichen Handlungskatalog war aus dieser<br />

Sicht vertretbar." Der Bericht wurde von SPD<br />

und CDU verabschiedet; die Grün-Alternative<br />

Liste (GAL) der <strong>Hamburg</strong>er Bürgerschaft hatte<br />

sich unter Protest aus der Arbeit des Ausschusses<br />

zurückgezogen. Red<br />

Ich war mit einem Buskonvoi aus dem<br />

kirchlichen Bereich der solidarischen Kirche<br />

in Richtung Brokdorf gefahren, und wir<br />

wurden zwischen Elmshorn und Itzehoe<br />

von einer Polizeisperre aufgehalten. Erst<br />

nach Stunden des Wartens konnten wir<br />

weiterfahren nach W ewelsfleth und gingen<br />

von dort aus zu Fuß zum Kernkraftwerk.<br />

Uns kamen schon Demonstranten entgegen,<br />

die sagten, daß die Kundgebung aufgelöst<br />

sei. Mit Entsetzen berichteten sie über<br />

ihreErfahrungen, die sie gerade auch mit<br />

dem Kampfgaseinsatz gemacht hatten. Für<br />

uns war es deutlich, daß wir in unserem<br />

Recht aufDemonstration, aufMeinungsäußerung<br />

in einem erheblichen Maße behindert<br />

worden sind. Es war dann die Information,<br />

daß wir uns am Sonntag um 12.00 Uhr<br />

auf dem Heiligengeistfeld treffen, um miteinander<br />

unsere Erfahrungen auszutauschen,<br />

zu erzählen, zu hören, was woanders<br />

auch gelaufen war. Während wir in Wewelsfleth<br />

waren, kamen dann die Nachrichten,<br />

daß der <strong>Hamburg</strong>er Zug auch aufgehalten<br />

worden war und daß es dort zu erheblichen<br />

Auseinandersetzungen gekommen<br />

sei.<br />

Ich bin dann am Sonntagmorgen kurz<br />

vor 12.00 Uhr von zu Hause losgegangen,<br />

ein Fußweg von 5 bis 7 Minuten. Ich wollte<br />

mich mit Freunden, Bekannten treffen. Ich<br />

wollte wissen, was alles geschehen ist, weil<br />

ich ziemlich sicher war, daß die Presse die<br />

Berichterstattungja anders darstellt, als von<br />

vielen erlebt worden ist. Ich wollte mich<br />

selbst sachkundig machen. Ich konnte<br />

selbst nur eine halbe Stunde bis Dreiviertelstunde<br />

dort bleiben, weil wir um 14.00 Uhr<br />

ein Gemeindefest hatten, an dessen Vorbereitung<br />

ich noch weiterhin teilnehmen<br />

mußte.<br />

Ich kam über das Heiligengeistfeld, bin<br />

gegangen zwischen dem Hallenbad Budapester<br />

Straße und dem Post-Hochhaus.<br />

Als ich dann auf das Heiligengeistfeld<br />

kam, sah ich von weitem schon eine Gruppe<br />

stehen und nahm dann auch wahr, was<br />

ich dann wieder vollkommen vergessen<br />

hatte, daß auf dem Halstenglacis Polizeieinheiten<br />

in Wagen fuhren, das konnte<br />

ich zwischen den Bäumen sehen. Aber das<br />

war fiir mich nicht weiter von Belang. Ich<br />

bin dann dahin gegangen. Ich besuchte Bekannte.<br />

In dem Augenblick kam der Schrei<br />

"Polizei", und ich guckte hoch und sah dann<br />

von seiten der Halstenglacis Polizeieinheiten<br />

lärmmachend auf uns zulaufen.<br />

Es entstand fast wo etwas wie eine Panik.<br />

Wir versuchten noch, zu sagen: ruhig<br />

bleiben, wir hatten nichts getan, ganz ruhig<br />

sich zurückbewegen Richtung Feldstraße.<br />

Es entstand aber dann doch ein Gei


Foto: Till Schlünz<br />

Wir hörten dann, daß die Verhandlungen<br />

abgebrochen worden sein sollten und<br />

wir alle festgenommen werden sollten und<br />

die Personalien bekanntzugeben seien. Der<br />

Kessel wurde immer enger. Die Bitte an<br />

Beamte, die direkt vor mir standen, den<br />

Kessel nicht enger zu machen und die Bewegungsräume<br />

zu lassen, wurde nicht<br />

beantwortet. Ich konnte auch in diesen<br />

Uniformen und hinter den heruntergeklappten<br />

Visieren so keine Menschen<br />

wahrnehmen; es war keine menschliche<br />

Regung. Das war fur mich das Erschrekkende<br />

dabei. Es spiegelte sich mein Gesicht<br />

in den Visieren wieder oder an den Schildern.<br />

Es war dann so, daß ich mich da einmal<br />

hinknien wollte. Mit meinem Kreislauf<br />

war es nicht so gut; ich habe ziemlich niedrigen<br />

Blutdruck, und wenn ich mich hinkniete,<br />

kniete ich direkt vor Polizeistiefeln.<br />

Ich bekam also sofort wieder Angst, wenn<br />

jetzt etwas passiert, nicht daß ich dann -<br />

wie es anderen auch ging- den Gewalttätigkeiten<br />

ausgesetzt bin.<br />

Es kam dann ein junger Mann mit einem<br />

Kinderwagen, wurde von Beamten<br />

durch die äußeren Polizeiketten zur Inneren<br />

gefuhrt, dort wurde dann die Mutter<br />

ausgerufen, weil das Kind gestillt werden<br />

mußte. Die Mutter war nicht zu finden. Ich<br />

hörte nur die Bemerkung: So ein Gesocks<br />

soll doch keine Kinder in die Welt setzen.<br />

Neben mir standen Frauen, die ich bewundert<br />

habe, daß sie in dieser Situation so<br />

ruhig bleiben konnten. Ich weiß nicht, wie<br />

es mir als Frau gegangen wäre. Die Bitte,<br />

auf die Toilette zu gehen, wurde weiterhin<br />

nicht aufgenommen. Ich bekam dann mit,<br />

daßzwischen 18.00 und 18.30 dieMöglichkeit<br />

fur Frauen bestand, begleitet auf die<br />

Toilette zu gehen. Eine Frau, die zurückkam,<br />

erzählte, daß sie dort körpervisitiert<br />

wurde. Sie war vollkommen entsetzt und<br />

eine sagte: Also, das lassen wir nicht über<br />

uns ergehen; das können wir nicht mehr ertragen.<br />

Sie pinkelten dann auch in den<br />

Kreis, so daß zwischen uns Kot und Urin an<br />

vielen Stellen war.<br />

Es gab nichts zu essen, nichts zu trinken;<br />

es gelang dann einigen wie dem Abgeordneten<br />

Herrmann und anderen, zumindest<br />

etwas zu trinken und zu essen herüberzureichen.<br />

Mein Kollege Horst Bloe<br />

kam durch die äußeren Ketten, und er hatte<br />

auch die Genehmigung, nachdem er mich<br />

gesehen hatte, mit mir zu sprechen. Weil er<br />

kein Geld mithatte, gab ich ihm Geld, so<br />

daß er zu essen und zu trinken einkaufen<br />

konnte, was schon sehr schwierig war. Das<br />

wurde dann herumgereicht; wir teilten uns<br />

das Brot und das, was da war. Was manchmal<br />

- das sagten mir Außenstehende - so<br />

als Fröhlichkeit hier und dort zu sehen war,<br />

war mehr eine Fröhlichkeit des Entsetzens<br />

und der psychischen Niedergeschlagenheit.<br />

Es war fur mich ganz wichtig, das noch<br />

einigermaßen verkraften zu können, (Herr<br />

Arndt hält in seinem Vortrag inne) - entschuldigen<br />

Sie bitte-daß ich noch Freunde<br />

und Bekannte draußen sah. So gegen 20.00<br />

Uhr/ 20.15Uhr wurde ich dann von Beamten<br />

des Bundesgrenzschutz rausgefuhrt; in<br />

mir war auch jetzt der dringende Wunsch,<br />

rausgefuhrt zu werden, dies nicht mehr erleben<br />

zu müssen. Ich sah vorher die anderen,<br />

die rausgefuhrt wurden, zum Teil wurden<br />

ihnen die Hände auf den Rücken gedreht,<br />

sie wurden getreten. Ich erwartete<br />

Ähnliches, nur hatte ich davor im Augenblick<br />

nicht mehr solche Apgst, daß ich nicht<br />

diesen Wunsch hatte, rauszukommen.<br />

Ich wurde rausgefuhrt. Da wurde ich<br />

von einem Reporter angesprochen, der<br />

fragte die BGS-Beamten, ob sie Pastor<br />

Arndt fotografieren dürfen.<br />

Da wurde dann bei den Beamten deutlich,<br />

die mich mitgenommen hatten, daß<br />

ich Pastor bin. Und ich wurde vollkommen<br />

anders behandelt als die, die um mich herumstanden.<br />

Neben mir wurde ein junger<br />

6


-...,.) -<br />

.<br />

~~<br />

6/7 b<br />

Mann, der jünger ist als ich, ohne daß ich einen<br />

Grund, einen Anlaß sah, plötzlich mit<br />

diesen Plastikfesseln gefesselt. Zwei Schülerinnen,<br />

die am Montag mündliches Abitur<br />

haben sollten, mußten ihre Strümpfe,<br />

ihre Schuhe ausziehen und wurden abgetastet;<br />

das ist also bei mir nicht geschehen. Ich<br />

wurde nur gefragt, was ich in meinen Taschen<br />

hatte. Ich hatte auch eine Windjacke<br />

mit. Ich habe es aufgezählt. Ich hatte also<br />

auch ein Taschenmesser und Regenschirm;<br />

das wurde mir dann abgenommen.<br />

Meine Personalien wurden aufgenommen.<br />

Ich wurde nicht wie andere mit einer Polaroidkamera<br />

fotografiert. Ich mußte mich<br />

auch nicht an die Wagenwand hinstellen,<br />

um dann besser abgetastet zu werden.<br />

Ich gehe davon aus, daß dieses wohl<br />

aufgrund meines Berufes geschehen ist.<br />

Für mich war es unverständlich, daß<br />

nicht zumindest in dieser entsetzlichen Situation<br />

auch andere so behandelt werden,<br />

wie ich behandelt wurde.<br />

Nach mehrmaligen Versuchen, mich<br />

mit Frau Reumann zusammen in eine Polizeitransportwagen<br />

unterzubringen, wurde<br />

ich dann getrennt. Ich wurde in einen Wagen<br />

gesetzt; ich mußte dann noch eine ganze<br />

Zeit warten. Es wurden dann noch drei<br />

Frauen hereingebracht, sie waren zu funft,<br />

eben auch diese Schülerinnen. Und nach<br />

einiger Zeit des Wartens wurden wir in einer<br />

erschreckenden Alarmfahrt nach Alsterdorf<br />

gebracht. Es ging bei Rot über die<br />

Kreuzung in einem Abstand vom Vorderwagen<br />

vielleicht 5 bis Sm. Wir wurden hinund<br />

hergeschaukelt Ich hatte ständig<br />

Angst, daß jetzt rechts oder links ein Wagen<br />

kommt, der bei grün über die Ampel<br />

fährt. Was passiert dann?<br />

In Alsterdorf angekommen, mußten<br />

wir im Wagen warten und auf unsere Fragen,<br />

was mit uns passiert, hieß es : Ja, Sie<br />

werden in die Sporthalle der Polizeikaserne<br />

gebracht und dann werden Sie aber auch<br />

entlassen. Dort werden dann Ihre Personalien<br />

aufgenommen.<br />

Als es dann dunkel wurde zwischen<br />

22.00 Uhr und 22.30 Uhr, kam ich dann<br />

dran und wurde in die Sporthalle gebracht.<br />

..<br />

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·o...Zt ;,i-f~r -<br />

Ich möchte jetzt von Äußerungen von<br />

Beamten etwas sagen :<br />

Beamte hatten mitbekommen, daß ich<br />

Pastor bin. Einer sagte, fragte entsetzt: Verstößt<br />

das nicht gegen die Menschenrechte,<br />

wenn Menschen nicht einmal auf die Toilette<br />

gehen können, sondern ihre Notdurft<br />

da in der Öffentlichkeit vor den Augen aller<br />

verrichten müssen?<br />

Andere sagten mir, daß sie einfach nicht<br />

begreifen, was hier vorgefallen ist.<br />

Einer berichtete, daß über Polizeifunk<br />

durchgekommen sein soll, daß eine bewaffnete<br />

Einheit durch die <strong>Hamburg</strong>er Innenstadt<br />

zieht. Als ich fragte, wieso das noch<br />

betont wird, daß sie bewaffuet sind : Die<br />

sind doch ständig bewaffuet, das würden sie<br />

doch wissen, weil ich annahm, daß das eine<br />

Polizeieinheit ist. Aber die sagten :Nein, das<br />

sollen Ihre Leute sein.<br />

~ tVh~~<br />

Dann wurde auch gemunkelt, daß sie<br />

Maschinenpistolen dabei hätten und mir<br />

sagten dann andere, die es nicht verstehen<br />

konnten, was mit uns geschah, daß sie zumindest<br />

erwartet hätten, daß festgestellt<br />

wird :diese Kundgebung ist nicht angemeldet<br />

und sie wird aufgelöst. Oder auch wie<br />

einige sagten, das hätten sie schon häufiger<br />

erlebt, daß zumindest Verhandlungen gefuhrt<br />

würden über einen Zeitraum der<br />

Kundgebung und daß abgesprochen wird,<br />

was dann geschieht. Nichts von dem ist geschehen.<br />

Ein anderer sagte mir, daß er einfach<br />

nicht verstehen kann, wie wir in diesem<br />

Kessel so ruhig geblieben sind. Er hätte sich<br />

in dieser Situation ganz sicherlich anders<br />

verhalten und er wäre nicht so zurechtgekommen,<br />

wie wir zurechtgekommen sind.<br />

7


Friedrich Kröhnke<br />

Patrick<br />

f/orläiifige Biographie<br />

Patrick ist ein kleiner Junge in Deutschland.<br />

Klein meint: er ist von geringer<br />

Körpergröße, sieht mit dreizehn aus, als<br />

wäre er zehn. Ist der Kleinste in der Klasse<br />

und Klassensprecher, spricht wie ein<br />

Erwachsener und doch wieder wie nur<br />

ein Kind redet: altklug, ernst, pathetisch.<br />

Seine ersten Lebensjahre hat Patrick<br />

mit dem Blick auf den Jenzig erlebt. Der<br />

Jenzig ist ein kahler, fur die deutschen Mittelgebirge<br />

sonderbar schroffer Berg über<br />

Patricks GeburtsstadtJena hat einen Schiller-Garten<br />

und ein Romantiker-Haus aufzuweisen,<br />

und da waren Goethe und Haekkel<br />

und Becher und Luther hat im Bären<br />

übernachtet. Auf denJenzig hat Karl Liebknecht<br />

mitten im Krieg widerborstige Jungen<br />

gefuhrt und sie gegen die Regierung<br />

aufgehetzt. Ein übermäßig kleiner Junge<br />

namens Patrick steht in der Sommerhizte<br />

da oben und pißt hinter das Liebknecht­<br />

DenkmaL<br />

Patricks Eltern sind jung. Sie hören Unbotmäßiges<br />

(Pannach singt Raimön) und<br />

reden Unbotmäßiges und tun es auch. Erklärungen<br />

einer "Friedensbewegung" werden<br />

bei ihnen abgefaßt, die ein Pfarrer widerwillig<br />

hektografiert. Es gibt eine Haussuchung,<br />

in d.eren VerlaufMänner in Mänteln<br />

viel Unordnung bereiten, im Arbeitszimmer<br />

des Vaters, im Atelier der Mutter,<br />

zwischen Patricks Schulsachen und dem<br />

Spielzeug seines kleinen Bruders.<br />

In der Schule hört Patrick, was seine<br />

Mutter mittags beim Geschirrspülen als<br />

Lügen bezeichnet oder als Scheiße. Patrick<br />

trocknet ab. "Laß den Rest auf dem Spültisch<br />

stehen, wird von selber trocken." Am<br />

Nachmittag ist Patrick in der Wohnung allein.<br />

Er räumt das getrocknete Geschirr in<br />

den Schrank und überdenkt die "Widersprüche".<br />

Er ist allzu klein.<br />

Ich kannte Patrick in diesen Jahren<br />

noch nicht. Er ist auf einem Foto zu sehen,<br />

zehn jährig, mickrig, zwischen den Bäumen<br />

am noch offenen Grab des Robert Havemann.Jemand<br />

zeigte mir das Foto, mir fiel<br />

das langhaarige Kind auf. ich kannte seinen<br />

Namen und seine Eltern damals noch nicht.<br />

Diese Anrufe aus dem Osten der Stadt<br />

in den Westen : der und der, die und die<br />

8<br />

kommen morgen oder kommen heute<br />

abend noch am Bahnhof Friedrichstraße<br />

rüber. Sind dann bei euch, sind dann da, bezieht<br />

ihnen Decken und Kopfkissen furs erste.<br />

Sie kommen dann nur mit einem Koffer,<br />

"der Umzug" kommt hinterher. Aber die<br />

Kinder sind bei "diesen Szenen" am Bahnhof<br />

Friedrichstraße dabei; vielleicht sind<br />

die Hälfte von denen, die der Staat ausspuckt,<br />

Kinder.<br />

Patrick. Sein kleiner Bruder Thorsten.<br />

Wohin mit den paar Willkommensgeschenken,<br />

die man ihnen an den Grenzübergang<br />

gebracht hat, wo sie doch schon<br />

Gepäck haben in den unter Handschuhen<br />

versteckten Händen? Ich stehe dabei, eigentlich<br />

nicht zugehörig, ich bin nicht aus<br />

Jena. Es muß auch solche geben, sage ich<br />

ironisch. Und du bist also der Patrick? Ich<br />

kenn dich von einem Foto.<br />

Wohnungsuchen. Arbeitsuchen. Schule<br />

suchen, Kindergarten. Lange nichts von<br />

Patrick gehört, wie gehts eurem Sohn eigentlich.<br />

Kasap ve bakkaliesy. Özmür Reisen<br />

Köln-Ankara, Köln-Istanbul. Yasasin-Kahrolsun,<br />

pathetische Plakate, die die Hälfte<br />

der Vorübergehenden nicht lesen können,<br />

kleben an den Wänden, werden von kahlrasierten<br />

Kindern im Spiel heruntergerissen.<br />

Patrick geht mit seinem kleinen Bruder an<br />

der Hand Fladenbrot kaufen. Er wohnt in<br />

der Keupstraße in Köln-Mülheim, ich wohne<br />

auf der a~deren Rheinseite, habe Patricks<br />

Eltern geholfen, die Wohnung zu finden,<br />

und komme manchmal herüber. Auf<br />

Patrick freu ich mich immer.<br />

Patrick räumt wie früher am Nachmittag<br />

das getrocknete Geschirr in den<br />

Schrank. Ich bin zu Besuch, es trifft sich gut,<br />

daß die Eltern nicht da sind, er will mir was<br />

zeigen, fuhrt mich in das Zimmer, das er mit<br />

seinem kleinen Bruder teilt. Patrick zieht<br />

sich um, trägtjetzt nur eineJogging-Hose<br />

und ein Unterhemd, zeigt seine rührend<br />

dünnen Ärmchen. Sonderbare Kampfstel­<br />

Jungen nimmt er nun mir gegenüber ein,<br />

plötzlich wechselnde, gewandt mit den<br />

Händen agierend, einsilbige Laute ausstoßend.<br />

Patrick ist Kampfsportler. Er zeigt<br />

mir auch, wie er vom Hochbett mit seinen<br />

bloßen Füßen wie eine Katze zwischen<br />

unübersichtlich aufgestellte Ziegelsteine<br />

springt. Ich stehe an die Tür gelehnt und sage:<br />

"Im Zweifelsfall müßt ich ja Angst vor<br />

dir haben, Patrickl . .. "<br />

Bei meinem nächsten Besuch trete ich<br />

versehentlich auf seinen Gebetsteppich,<br />

Patrick blickt mich zornig an, bleibt aber ruhig<br />

und spricht wie ein Weiser mit mir :<br />

"Das ist eigentlich nicht so gut, daß du diese<br />

Zimmerecke überhaupt betrittst. Ich halte<br />

sie heilig." Ein Bild des Goldenen Horns mit<br />

der Hagia Sofia ist mit Stecknadeln an der<br />

Wand befestigt. Der Koran, Goldschnitt,<br />

geborgt.<br />

Dieses graue rechtsrheinische Köln!<br />

Fleischereien, Hammel und Rind. Feiten &<br />

Guilleaume, Drähte und Kabel. Hundescheiße<br />

und Bierlachen. Rentnerinnen, die<br />

sich aus dem Fenster lehnen und über fußballspielende<br />

"Pänz" zetern. Sogenannte<br />

eingetragene Vereine, in deren Räumen<br />

türkische Männer alkohollos, aber in Tabakwolken<br />

gehüllt Karten spielen. Am<br />

Wiener Platz fahren, Gottseidank, die Bahnen<br />

ab, die über die Zoobrücke dem Stadtzentrum<br />

zustreben. Aber Patrick steigt in<br />

diese Bahnen fast nie, ist "im Veedel" zuhause.<br />

Höchstens daß er nach Nippes ins<br />

"Islamische Kulturzentrum" fährt. Er darf<br />

dort als unbeschnittener Gast beim Gebet<br />

dabeisitzen. Gewerkschaftsartikel informieren<br />

darüber, daß diese "Kulturzentren"<br />

der Sitz :Grauer Wölfe" sind. Seine Aufenthalte<br />

dort und im Kung-Fu-Center in der<br />

Ehrenstraße, wo er an Kursen in Kampfsportarten<br />

teilnimmt, und natürlich die<br />

(lustlos besuchte) Schule sind das einzige,<br />

was ihn aus der Keupstraße zu Köln-Mülheim<br />

herausfuhrt. In der Keupstraße wohnt<br />

ja auch Halil, sein bester Freund, auf den ich<br />

mitunter eifersüchtig bin.<br />

Äußerungen des Dreizehnjährigen :<br />

"Bei meinen Freunden gibt es noch ein Familienleben<br />

gibt es da, und unterdrückt<br />

werden wir Muslime hier wie meine Eltern<br />

damals in Jena!" "Warum ich meine Kusine<br />

gebeten habe, in meiner Anwesenheit ein<br />

Kopftuch zu tragen? Es ist besser, sie gewöhnt<br />

sich schon früh daran. Das kommt ja.<br />

Und findest du es vielleicht gut, wenn sie je-


Foto: Friedrich Seidenstücker<br />

der begehrlich anschauen kann?" "Zur<br />

Friedensbewegung habe ich auch meine<br />

Meinung : Man sollte sich nicht bekriegen,<br />

jedenfalls die Rechtgläubigen nicht untereinander.<br />

Das schwächt uns ja vor der Zeit."<br />

Ich bin aus dem Schlaf geschreckt, aufgestanden<br />

und stehe an meinem Fenster<br />

über der nächtlichen Aachener Straße,<br />

blicke auf die Leuchtschrift des "Millowitsch~Theaters".<br />

Habe Wirres von Wölfe<br />

geträumt und von Mädchen in Kopftüchern.<br />

Ach, Graue Wölfe, die kommen den<br />

Behausungen näher, wenn Winter ist! Ach,<br />

Havemann, steig ausm Grab, scheuch sie<br />

weg! Und gib dem Patrick einen Klaps,<br />

morgen früh, jetzt schläft er ja kindlich und<br />

tief drüben auf der andern Seite des Rheins.<br />

Stünd ich neben seinem Bett, ich sähe ihn<br />

wohl begehrlich an wie früher schon oft.<br />

Hackt nicht in manchen Ländern die Justiz<br />

Körperteile ab, die gefehlt und gesündigt:<br />

Hände, Schwänze, reißt die Augen aus?<br />

Geschickt sind Patricks kleine Hände, bloße<br />

Füße, Muskelärmchen, er ist schon ein<br />

rechter Kung-Fu-Fighter. "Im Zweifelsfall<br />

müßt ich ja Angst vor dir haben."<br />

9


10<br />

Foto: Susanne Klippe!


Susanne Klippel<br />

Foreign Affairs<br />

Der Taxifahrer. Ich bin nicht sicher, ob<br />

er mich verstanden hat. I want to go to<br />

the government, to the prime minister<br />

office, überschrei ich seine laute Musik.<br />

No problem. Ganz Souveränität, wie<br />

schon in undurchschaubaren Kreisverkehren,<br />

weist er auf das eiserne Tor. Botanic<br />

gardens and zoo, lese ich, die Buchstaben<br />

geschmiedet, jeder einen Meter<br />

groß.<br />

Go up so, sagt der Fahrer und wendet.<br />

Ich wandle unter Königspalmen. Die<br />

Wipfel ganz hoch oben, stehen sie rechts<br />

und links des Weges, 8 aufjeder Seite. Hier<br />

sind alle Bäume mit handgeschriebenen<br />

Schildern versehen, auf denen rot auf weiß<br />

ihr Name steht. Cinnamon, das heißt wohl<br />

Zimt.<br />

Ich sehe Schafe und Pfauen, sehe Käfige,<br />

von Schlingpflanzen überwuchert und<br />

leer. Ich sehe einen Käfig, in dem fiinfZoowärter<br />

stehen. Sie haben Schrubber in der<br />

Hand und Eimer mit Putzwasser und mit<br />

Futter.<br />

Ich sehe einen Affen, der, den Wärtern<br />

seinen roten Hintern zuwendend, durch<br />

die Käfigtür verschwindet und sich zu den<br />

Schafen gesellt, die, das tägliche Ritual offensichtlich<br />

gewöhnt, erst ein paar Schritte<br />

weit die F1ucht ergreifen um dann blökend<br />

stehen zu bleiben, den Affen in ihre Gesellschaft<br />

aufZunehmen. Ich sehe die Staatskarosse,<br />

geflaggt. Morgen wird Präsident<br />

Reagan dem Land einen Staatsbesuch bescheren.<br />

Ein flaches weißes Gebäude. Man<br />

schickt mich in den Keller. Ich finde einen<br />

Stuhl und sitze eine lange Zeit im Flur. Sehe<br />

Frauen und Männer hinter Türen verschwinden.<br />

Die Männer in dunkelblauen<br />

Anzügen, die Frauen in Faltenröcken-festlich.<br />

Hinter jeder Tür ein Ministerium. Ich<br />

sitze vor dem Ministry of Foreign A.ffairs.<br />

Weil ich so lange warten muß, studiere ich<br />

die Tür des Ministry for Foreign A.ffairs. Eine<br />

graue Holztür. Niemand geht rein und<br />

niemand kommt raus. Das Schild über der<br />

Tür ist handgeschrieben und rot auf weiß<br />

wie die Schilder an den Bäumen. Über dem<br />

Schild kommen Kabel aus der Wand. Mindestens<br />

dreißig verschiedenfarbige Stränge.<br />

Sie sind völlig ineinander verknäult.Jedes<br />

einzelne Kabel ist unten in seine kupfernen<br />

Bestandteile aufgelöst. Ein Gestrüpp.<br />

Ein Etwas, fiir das es keinen Namen gibt,<br />

das meine Blicke anzieht und abstößt und<br />

anzieht und abstößt, weil es dafii.r keinen<br />

Namen gibt.<br />

Ein gefräßiger Regenwald-Schmarotzer<br />

an einer glatten weißen Wand. Ein<br />

Wirrkopf mit verwuschelten Haaren. Ein<br />

Pflänzchen aus Plastik und Kurzschluß,<br />

Stromschlag und Metall. Ein Dickicht, das<br />

es zu durchdringen gilt. Als ich lange genug<br />

gewartet habe, entdecke ich in seinem Innern<br />

ein Vogelnest<br />

Eine dicke Frau sitzt vor ihrer Hütte<br />

und fragt: the president, what is he more<br />

than me? More than you? gibt ihre Nachbarin<br />

die Frage zurück. Listen: he's got airplanes,<br />

he's got cars und he's got a lifeguard.<br />

And what you got? You got two children.<br />

Am nächsten Tag kommt der Präsident<br />

auf dem neuen F1ughafen an.<br />

Der Konvoi befährt die neue Straße. Sie<br />

ist ein Entwicklungshilfeprojekt aus den<br />

Vereinigten Staaten und gestern Nacht mit<br />

Ach und Krach fertig geworden. Sie fUhrt<br />

vom Flughafen zum Stadion, wo die Volksmassen<br />

warten.<br />

Da es nur eine wirkliche Staatskarosse<br />

gibt, fährt man den Präsidenten im Leichenwagen.<br />

Ein gut erhaltener amerikanischer<br />

Straßenkreuzer. Er gehört dem offensichtlich<br />

wohlhabenden Beerdigungsunternehmer<br />

und unterscheidet sich kaum<br />

von einer Staatskarosse. Lediglich die beiden<br />

Fähnchen vorne rechts und links auf<br />

den Kotflügeln, die die Aufschrift Funeral<br />

tragen, sind entfernt und durch amerikanische<br />

Fähnchen ersetzt worden.<br />

Im Stadion, wo tausend Schulkinder<br />

mit Fähnchen in der Hand seit Stunden<br />

warten, wo hundert Händler Erfrischungen<br />

und Mangos, selbstgebackene Kuchen und<br />

Erdnüsse verkaufen, sehe ich den alten<br />

schwarzen Mann. Er ist fast zwei Meter<br />

groß. Auf Krücken gestützt, bahnt er sich<br />

einen Weg durch die Menge. Weil er keine<br />

Hand frei hat, trägt er einen Hut aus P:::ppe.<br />

Der Hut ist bunt bemalt. Auf seiner Spitze<br />

ist ein Schild befestigt. Darauf steht in bunten<br />

Buchstaben: welcome mister president.<br />

Jedes seiner Worte war mit begeistertem<br />

Beifall quittiert worden.<br />

Jetzt kommt der bejubelte Präsident<br />

zum Schluß seiner Rede.<br />

Man hat mir, sagt der Präsident, eine<br />

Geschichte erzählt. Diese Geschichte hat<br />

sich hier in diesem Land zugetragen. Es ist<br />

schon eine Weile her, vielleicht vierzigJahre,<br />

die älteren werden sich vielleicht noch<br />

daran erinern, da hat es hier in diesem Hafen<br />

ein Wettschwimmen gegeben. Ein kleiner<br />

Junge, der als letzter auf das Ziel zuschwamm,<br />

war plötzlich von Haifischen<br />

umzingelt. Die Aufregung war groß. Alle,<br />

die diese Szene beobachteten, die älteren<br />

werden sich noch daran erinnern, waren<br />

starr vor Schreck. Aber glücklicherweise<br />

gelang es einigen beherzten Männern, den<br />

kleinen Jungen zu retten, ihn an Land zu<br />

ziehen, die Haifische zu vertreiben.<br />

So wie die älteren von euch damals voller<br />

Sorge auf das Geschehen im Hafen geschaut<br />

haben, so haben wir im weißen Haus<br />

jahrelang auf dieses Land geschaut. Ja, ihr<br />

alle seid dieser Schuljunge gewesen, und<br />

danken wir Gott, daß es gelungen ist, die<br />

Gefahr von euch abzuwenden.<br />

Der erwartete Beifall bleibt aus. Ein<br />

paar Sekunden ist es völlig ruhig. Etwas wie<br />

ungläubiges Staunen liegt in der Luft.<br />

11


Der Gast und die Masse<br />

Viiern Flusser<br />

Mittel und Meere<br />

Ein Vortrag<br />

Unser Treffen soll das Mittelmeer, und<br />

vor allem die darin verlaufende Achse<br />

Frankreich/Süditalien bedenken. Sie<br />

haben mich dazu eingeladen, wohl eben<br />

weil Sie von mir erwarten, einen etwas<br />

distanzierten Blick auf unser Thema zu<br />

werfen. Tatsächlich bin ich weder Franzose<br />

noch Süditaliener, und, obwohl ich<br />

in der Provence wohne, besteht mein<br />

Kulturgut vorwiegend aus deutschen,<br />

angelsächsischen und brasilianischen<br />

Kulturemen. Und doch werde ich Sie<br />

enttäuschen müssen. Ich kann zum Mittelmeer,<br />

und zu den zahlreichen darin<br />

verlaufenden Achsen, nicht existentiell<br />

Distanz nehmen, weil ich das Erbe des<br />

Mittelmeers dank den eben erwähnten<br />

Kulturgütern, und dank meines Judeseins,<br />

in meinem Inneren trage. Omnia<br />

mea mecum porto, und das Mittelmeer<br />

ist mare meum. Nicht distanzieren kann<br />

ich mich also, aber ich kann versuchen,<br />

Thnen aus meiner Selbsterfahrung von<br />

den Mitteln zu erzählen, dank welcher<br />

das Mittelmeer in andere Meere dringt,<br />

um ihnen Gestalt zu verleihen.<br />

Ich werde unter den Stichworten<br />

"Reich", "Capitol Hili" und "ultima flor de<br />

Läcio" das Mittelmeer im Deutschen,<br />

Amerikanischen und Brasilianischen zu<br />

würdigen versuchen. Und zwar nicht in einem<br />

wissenschaftlichen Geist (etwa jenem<br />

der Historiker, Kulturkritiker oder Philologen),<br />

sondern ich werde das Mittelmeer als<br />

Herausforderung fur ein kulturelles Engagement<br />

in den drei zu betrachtenden Kulturkreisen<br />

ansehen. Vorher muß ich jedoch,<br />

der Deutlichkeit halber, kurz umreißen,<br />

was mir beim Begriff "Mittelmeer"<br />

vorschwebt. Nämlich eine jener antiken<br />

Landkarten, in denen es als Zentrum des<br />

Erdkreises dargestellt wird. Und diese<br />

Landkarten sehe ich nicht als geographische,<br />

sondern als kulturelle Orientierungstafeln.<br />

Zwar hat sich inzwischen der Erdkreis<br />

zu einer Kugel gerundet, wobei das<br />

Mittelmeer das Recht zu diesem Namen<br />

verlor, und die Kugel selbst hat sich inzwischen<br />

zu einem Planeten eines ziemlich unbedeutenden<br />

Sterns verwandelt, wobei das<br />

12<br />

Mittelmeer völlig aus dem Blickfeld verschwand,<br />

aber als kulturelle Orientierungstafeln<br />

sind die antiken Landkarten mit<br />

Vorbehalt gültig geblieben. Die Vorbehalte<br />

sind diese: wir haben inzwischen andere<br />

Landkarten aufgefunden, zum Beispiel indische,<br />

chinesische und mexikanische, die<br />

nicht einfach mit der Bemerkung "hinc sunt<br />

leones" in die unsere eingebaut werden<br />

können. Sondern wir müssen uns um einen<br />

An- und Ausgleich dieser einander ergänzenden,<br />

einander zum Teil überdeckenden,<br />

und zum Teil einander verdeckenden<br />

Landkarten bemühen. Meine Aufgabe hier<br />

wird sein, Ihnen von einigen dieser grauen<br />

Zonen zwischen der Mittelmeerkarte und<br />

den anderen zu erzählen.<br />

Als erstes bitte ich Sie, diese strahlende<br />

und wohlartikulierte Bucht von Neapel fur<br />

den Augenblick zu verlassen, um sich in die<br />

Nebel der raunenden Wälder jenseits des<br />

Rheins vorzuwagen. Glauben Sie nicht,<br />

daß diese Wälder inzwischen gerodet wurden,<br />

daß ihr Raunen inzwischen elektromagnetisiert<br />

wurde, und daß die Nebel inzwischen<br />

von Umweltverschmutzung sauer<br />

und daher chemisch analysierbar wurden.<br />

Das ist nur ein oberflächlicher, von Volkswirtschaftlern<br />

und Politikern vertretener<br />

Standpunkt auf die jetzt betretene Gegend.<br />

Tatsächlich ist es den Kaufleuten, Legionären<br />

und Mönchen, die den Limes vorzulegen<br />

versuchten oder ihn überschritten, nie<br />

gelungen, den Nebel völlig zu lüften, und<br />

auch jenen nicht, welche in umgekehrter<br />

Richtung gegangen sind, all diesen Italienfahrern,<br />

Humanisten und an der Aufklärung<br />

Engagierten. Im Gegenteil: je mehr<br />

Licht dorthin dringt, desto fantastischere<br />

Formen nehmen die Nebel an, die sich in<br />

diesem Licht wälzen. Ich bitte Sie jedoch,<br />

dieses großartige Schauspiel nicht manichaeistisch<br />

als Kampf zwischen den Söhnen<br />

des Lichts und jenen des Dunkels anzusehen,<br />

selbst wenn die fantastischen Nebelformen<br />

gelegentlich teuflische Fratzen sein<br />

mögen. Denn die deutschen Nebel, die da<br />

vom Mittelmeerlicht durchleuchtet werden,<br />

können strahlen, und das Mittelmeerlicht,<br />

das sich an ihnen bricht, kann unter<br />

der deutschen Brechung kaleidoskopisch<br />

schillern. Nicht als manichaeistischer<br />

Kampf, eher als ein Pendeln zwischen Klassik<br />

und Romantik ist dieses Schauspiel zu<br />

sehen.<br />

Selbstredend: auch über dem Mittelmeer<br />

weben gelegentlich die Nebel der<br />

Mysterien, und auch über Deutschland<br />

scheint gelegentlich die Sonne. Und es gibt<br />

auch andernorts Nebel und Sonne. Die<br />

Klassik ist nicht eine ausschließliche Sache<br />

des Mittelmeers, die Romantik ist nicht<br />

ausschließlich deutsch, und es wäre Unfug,<br />

diese Dialektik zwischen klarer und deutlicher<br />

Form und dem die Formen sprengenden<br />

wallenden Stoff auf das Gespräch "Mittelmeer-Deutschland"<br />

reduzieren zu wollen.<br />

Und doch: in keinem anderen jener<br />

Gespräche, die vom Mittelmeer ausgehen,<br />

ist diese Dialektik so tiefins Bewußtsein gedrungen<br />

wie in diesem. Nicht im Gespräch<br />

mit dem so gewaltigen Westen, nicht in jenem<br />

mit den orthodox gewordenen Sklaven,<br />

nicht einmal im Gespräch mit dem<br />

jetzt an der Tagesordnung stehenden Islam.<br />

Es muß gefragt werden, was eigentlich<br />

dieses Gespräch "Mittelmeer-Deutschland"<br />

von allen übrigen Mittelmeergesprächen<br />

unterscheidet. Und das Stichwort<br />

"Reich" soll dabei helfen.<br />

Das Mittelmeer selbst ist nicht aus einem<br />

Stück gehauen, sondern es ist eine prekäre<br />

Synthese von jüdischen, griechischen<br />

und lateinischen Elementen, die mit dem<br />

Namen "Christentum" gemeint ist. Das<br />

konstantmische Imperium verkörpert diese<br />

Synthese, und es zeigt mit seiner Spaltung,<br />

wie prekär sie ist, welche Widersprüche<br />

zwischen den drei Elementen in ihr wirken.<br />

Diese Spaltung in eine lateinische und eine<br />

sekundär griechische Hälfte zieht eine<br />

schwankende Linie in Richtung Nord-Süd<br />

quer durch das Mittelmeer und quer durch<br />

alle vom Mittelmeer befruchteten Gebiete,<br />

wobei gegenwärtig Washington und Moskau<br />

die beiden Brennpunkte des gespaltenen<br />

Imperiums bilden. Aber das Schicksal<br />

der beiden Hälften, obwohl parallel, ist<br />

doch jeweils anders. In der östlichen Hälfte<br />

verbleibt das Zentrum jahrhundertelang<br />

im Mittelmeer, in Konstantinopel, und erst<br />

in der Neuzeit verschiebt es sich als Drittes


Der Gast und die Masse<br />

Rom nach Moskau. In der westlichen wird<br />

es unter dem Namen "Heiliges Römisches<br />

Reich deutscher Nation" schon im frühen<br />

Mittelalter dem Mittelmeer entrissen. Das<br />

erklärt vielleicht die Sonderstellung des<br />

Gesprächs zwischen dem Mittelmeer und<br />

den Deutschen.<br />

Die Spaltung, von der hier die Rede ist,<br />

kann durch keine ökumenischen Bemühungen,<br />

seien sie beschränkt wie die verschiedenen<br />

Mittelmeertreffen, die eben in<br />

Mode sind, seien sie allgemein wie die Gipfeltreffen<br />

zwischen Reagan und Gorbatschov,<br />

behoben werden, wenn dabei die<br />

Verschiedenheit der beiden Hälften nicht<br />

zu Wort kommt. Es hat zum Beispiel keinen<br />

Sinn, Algier und Syrien als zwei islamische<br />

Mittelmeerländer ansehen zu wollen,<br />

wenn dabei nicht zu Worte kommt, daß Algier<br />

zur westlichen Hälfte gehört (auf arabisch<br />

.Maghreb"), während Syrien zur byzantinischen<br />

Hälfte gehört. Nicht .,Nord­<br />

Süd", sondern das viel frühere .,West-Ost"<br />

ist die kulturelle Mittelmeerspaltung. Und<br />

das Zentrum der Westhälfte war zu einer<br />

Zeit, als das Christentum noch plastisch<br />

war, bereits mindestens theoretisch in Aachen.<br />

Also nicht gegen Mazedonier, sondern<br />

gegen Franken hatten die algerischen<br />

Freiheitskämpfer zu siergen, und die syrischen<br />

gegen Türken. Die westliche Hälfte<br />

des Mittelmeers, der Schauplatz nicht nur<br />

des Kampfs zwischen den Franken und<br />

Mauren, aber auch zwischen Kaiser und<br />

Papst, ist ein Gespräch des Mittelmeers mit<br />

den Deutschen.<br />

Die Idee des Reichs als einer Synthese<br />

von Christentum und deutschen Elementen<br />

ist selbstredend irrefiihrend. Angesichts<br />

des Reichtums der jüdischen, griechischen<br />

und lateinischen Kultureme, und der Armut<br />

der deutschen, ist nicht von Synthese,<br />

sondern von Absorption der deutschen<br />

durch die christlichen zu sprechen. Eigentlich<br />

also hätte Deutschland mindestens so<br />

zu einem Mittelmeerland werden sollen<br />

wie Spanien oder Frankreich. Mindestens,<br />

denn es war der Sitz des Kaisers. Dazu ist es<br />

nicht gekommen. Warum dies nicht gelang,<br />

ist der Reformation anzusehen. Nicht<br />

Kar! der Große, sondern Kar! der Fünfte<br />

zeigt, was hier im Spiel ist. Nämlich die radikale<br />

Inadäquabilität der deutschen Kultureme<br />

ans christliche Kulturgut. Es zeigt<br />

sich, daß es unmöglich ist, zugleich Christ<br />

und Deutscher sein zu wollen, ohne daß<br />

sich dabei das Bewußtsein in die berüchtigten<br />

zwei Seelen spalte, die in einer Brust leben.<br />

Die Reformation hat versucht, das<br />

Christentum der deutschen Mentalität anzupassen,<br />

und hat dabei seltsamerweise an<br />

die jüdischen Elemente im Christentum<br />

appelliert, womit sie die verzwickte und<br />

mörderische Dialektik ,Judentum/<br />

Deutschtum" in die Wege geleitet hat, ohne<br />

dadurch das Problem "Mittelmeer/<br />

Deutschtum" gelöst zu haben. Kar! der<br />

Fünfte zog es vor, das Zentrum des neu entstandenen<br />

Imperiums (in dem die Sonne<br />

nicht unterging) aus Deutschland nach<br />

Spanien zu verlegen.<br />

Die deutsche Mentalität ist selbstredend<br />

eine Abstraktion: niemand ist Deutscher<br />

im Sinn von "vom Mittelmeer unangegriffen".<br />

Aber man kann diese Abstraktion<br />

doch im Konkreten wiedererkennen.<br />

Und zwar nicht nur im konkreten Alltag,<br />

sondern vor allem in den Beiträgen, die<br />

Deutschland zur Mittelmeerkultur, der sogenannten<br />

.,westlichen", geleistet hat, nämlich<br />

in der Musik, der Dichtung, der <strong>bildende</strong>n<br />

Kunst und am klarsten in den philosophischen<br />

Schriften. Dort ist sie unter dem<br />

Namen "deutscher Idealismus" am leichtesten<br />

zu fassen. Hier ist leider nicht genügend<br />

Raum, um dies auszufiihren. Es muß<br />

genügen, auf das radikal Unchristliche,<br />

nämlich zugleich Unjüdische, Ungriechische<br />

und Unrömische darin hinzuweisen.<br />

Das Objekt des Geistes wird nämlich darin<br />

als das Sekundäre, der Geist als das Primäre<br />

angesehen. Das ist unjüdisch, denn wenn<br />

das Christentum jüdischerweise von der<br />

Seele spricht, so sieht es sie immer als .,in<br />

der Welt" an. Es ist ungriechisch, denn der<br />

deutsche Idealismus ist gerade nicht der<br />

platonische Realismus de- Ideen, sondern<br />

ist, mittelalterlich gesprochen, eher ein N :>minalismus.<br />

Und daß es unrömisch ist, muß<br />

nicht bewiesen werden. So unmittelmeerartig<br />

ist der deutsche Idealismus, daß viele<br />

Denker des i9. Jah,hunderts in ihm Paralle-<br />

len zum indischen Denken zu e skennen<br />

vermeinten.<br />

Das .,heilige Römische Reich deutscher<br />

Nation", immer eher der Name einer Ideologie<br />

als einer politischen Wirklicnkeit, nat<br />

im Bewußtsein eines jeden Deutschen den<br />

zu überwindenden Zwiespalt zwischen<br />

"römisch" und .,deutsch" tief eingegraben.<br />

Die deutsche Kultur ist aus diesem zum<br />

Scheitern veru rteilten Versuch einer Überwindung<br />

entstanden, hat sich immer wieder<br />

daraus ernährt, und sie ist nur von daher<br />

verständlich. Jeder Deutsche fiihlt sich, im<br />

Verlauf seines Lebens, immer wieder aufgerufen,<br />

sein Deutschsein den Mittelmeeridealen<br />

oder diese Ideale seinem Deutschsein<br />

zu opfern. Und da ihm dieser Aufruf<br />

meist nicht bewußt wird, schwankt er in seinem<br />

konkreten Engagement zwischen den<br />

Extremen. Aber im Gespräch mit dem Mittelmeer<br />

werden auch die Gesprächspartner<br />

von dieser Spaltung mitgerissen, in Italien<br />

zum Beispiel in Form des Zwiespalts<br />

zwischen Ghibellinen und Gülfen. Daher<br />

ist das deutsche Element aus dem westlichen<br />

Mittelmeer nicht we~zudenken.<br />

Wann immer wir zusammenkommen, um<br />

es zu bedenken (zum Beispiel seine Achse<br />

.,Frankreich/Süditalien") müssen wir es in<br />

Rechnung ziehen. Und zwar nicht nur aus<br />

äußeren, wirtschaftlichen, politischen und<br />

kulturellen Gründen, sondern vor allem,<br />

weil dieses Element in allen beteiligten Gesprächspartnern<br />

ankert.<br />

Ich bitte Sie jetzt, aus dem vernebelten<br />

Norden des Mittelmeers in seinen wilden<br />

Westen zu reisen. Wie Sie wissen, fiihrt diese<br />

Reise nicht mehr über den Atlantik, sondern<br />

über Südgränland und Labrador, und<br />

folgt also ungefähr den fragwürdigen Vikingerspuren.<br />

Wir haben, wie Sie ebenfalls<br />

wissen, beim Aussteigen aus dem F1ugzeug<br />

Gottes eigenes Land betreten, worin sich<br />

die Menschen der Verfolgung des Glücks<br />

(pursuit of happyness) widmen. Etwas<br />

Vergleichbares mußte Platon erlebt haben,<br />

als er in Syrakus ausstieg. Und tatsächlich<br />

haben die Vereinigten Staaten etwas mit<br />

Megale Hellas, aber auch mit dem Neuen<br />

Jerusalem und mit einem neu gegründeten<br />

Rom gemeinsam. Sie können als der Ver-<br />

13


Der Gast tmd die Masse<br />

such angesehen werden, die mißlungene<br />

Mittelmeersynthese anderswo, und in größerem<br />

Maß, herzustellen.<br />

Man ist verleitet, bei Betrachtung, und<br />

beim konkreten Erlebnis dieses riesigen<br />

utopischen Projekts in Banalität zu verfallen.<br />

Ich will versuchen, dies zu vermeiden,<br />

weil diese Banalität zu jener seltsamen Mischung<br />

von Mißachtung und eid fuhrt,<br />

welche so viele Intellektuelle Amerika gegenüber<br />

kennzeichnet. Sie wollen eine, allerdings<br />

unumgängliche, Amerikanisation<br />

des Mittelmeers bekämpfen, ohne sich dabei<br />

Rechenschaft abzulegen, daß diese<br />

Amerikanisation gerade eine Rückkehr des<br />

Mittelmeers zu sich selbst sein könnte. Um<br />

eine Banalisation zu vermeiden, will ich<br />

mich auf einen einzigen Aspekt Amerikas,<br />

nämlich auf das mit "Capitol Hili" Gemeinte,<br />

beschränken.<br />

Das römische Campidoglio (eigentlich<br />

etruskischen Ursprungs) war vor allem ein<br />

Heiligtum des Iuppiter Optimus Maximus<br />

und konnte nur vom Forum aus betreten<br />

werden. Das Kapitol in Washington, dieser<br />

Versuch, das zerstörte Campidoglio neu<br />

aufZurichten, ist jedoch zugleich das Heiligtum<br />

der Freiheit (es beinhaltet ihreStatue)<br />

und zugleich Forum (Senat und Kammer).<br />

In Rom ist das Heilige (templum)<br />

vom Politischen (forum) getrennt, wenn<br />

auch nachträglich verbunden. In Washington<br />

ist das Heilige politisiert, und das Politische<br />

geheiligt. Aber nicht, wie im parallelen<br />

Moskau, um das Politische unter das Heilige<br />

zu stellen, um es orthodox, rechtgläubig<br />

zu machen. Sondern im Gegenteil : um das<br />

Politische als jenen Lebensraum aufZustellen,<br />

innerhalb dessen es überhaupt erst einen<br />

Sinn hat, von "Heil" zu sprechen. Davon<br />

will ich hier ausgehen.<br />

Denn es ist jüdisch. Nicht was im privaten<br />

Raum vor sich geht, im Gewissen, im<br />

Glauben, sondern was sich öffentlich äußert,<br />

in der Handlung, in der zwischenmenschlichen<br />

Beziehung, ist laut demJudenturn<br />

als gut oder schlecht zu erachten.<br />

Laut dem Juden J esus: an ihren Früchten<br />

sollt ihr sie erkennen. Was man, gelegentlich<br />

mit Verachtung, den amerikanischen<br />

Pragmatismus nennt, ist im Grund jenes jü-<br />

14<br />

disehe Mißtrauen allen Glaubensbekenntissen,<br />

allem Dogmatischen gegenüber.<br />

Der Pragmatismus stützt sich auf das jüdische<br />

Element im Christentum und erscheint<br />

damit in Widerspruch mit dem<br />

griechischen, dem "theoretischen", zu treten.<br />

Es scheint die Praxis gegenüber der<br />

Theorie betonen zu wollen. Aber das ist<br />

selbst eine dogmatische Auslegung des<br />

Amerikanismus. Tatsächlich beruht der<br />

Pragmatismus auf immer besser ausgearbeiteten<br />

Theorien, und diese Theorien<br />

werden immer besser, weil sie ständig dem<br />

Test des Versuchs und des Irrtums (trial<br />

and error) unterworfen werden. Die vor<br />

sich gehende Amerikanisation unseres<br />

Denkens kann unter anderem daran erkannt<br />

werden, daß wir die Theorien nicht<br />

mehr als zu beweisende, sondern als zu verfälschende<br />

Aussagen ansehen. Das Kapitol<br />

in Washington ist ein politischer Raum, innerhalb<br />

dessen griechische Theorien dem<br />

Test der Praxis unterworfen werden, um<br />

dem jüdischen Begriff der Gerechtigkeit<br />

(Sieg des Guten über das Böse) zu dienen,<br />

und es ist, wie sein Name sagt, lateinisch.<br />

Man könnte meinen, es gehe im Kapitol<br />

um eine wissenschaftliche Methode, eine<br />

Gesellschaft zu steuern, denn, was eben beschrieben<br />

wurde, ist ja eine wissenschaftliche<br />

Methode. Das wäre ein Irrtum. Im Gegenteil:<br />

im parallelen Moskau wird Anspruch<br />

auf Wissenschaftlichkeit erhoben,<br />

und nicht hier im Wechselspiel der lobbies,<br />

der checks and balances, der gegeneinander<br />

prallenden Privatinteressen. Das Vorbild<br />

des Kremls mag die wissenschaftliche<br />

Akademie sein, das Vorbild des Kapitols ist<br />

der Athener Marktplatz. Eine der Folgen<br />

der Mittelmeerspaltung in West und Ost ist<br />

eben diese unheilvolle Trennungvon experimenteller<br />

Politisation (Westen) und politischer<br />

Orthodoxie (Osten). Um es kybernetisch<br />

zu sagen: Das Kapitol in Washingtonist<br />

ein durchsichtiges Gewirr, der Kreml<br />

eine schwarze Kiste, und beide sind sie Mittelmeerextreme.<br />

Ja, aber es wäre ein Irrtum, diese beiden<br />

Extreme als gleichwertig anzusehen,<br />

gleichsam als extrapolierte Utopien des<br />

Mittelmeers, die gegenwärtig darauf zurückzuschlagen<br />

beginnen. Was Amerika so<br />

einzigartig und von allen übrigen Experimenten<br />

zu unterscheiden macht, ist seine<br />

Anziehungskraft auf außermittelmeerige<br />

Menschen. Um das Kapitol herum wimmelt<br />

es von fur uns exotischen Kulturen,<br />

wobei es gleichgültig ist, ob diese gewaltsam<br />

angezogen wurden (wie die afrikanische)<br />

oder ob sie anderen Motiven gehorchten.<br />

Daher kann Amerika nicht nur<br />

als Mittelmeerutopie, sondern als globale<br />

Utopie angesehen werden. Als ob Rom tatsächlich<br />

zum Brennpunkt des orbis terrarum<br />

geworden wäre, und als ob "katholisch"<br />

tatsächlich "fur alle" bedeuten würde.<br />

Als Universalisierung des Mittelmeers, als<br />

Öffuung des Mittelmeers fur alles Barbarische<br />

muß Amerika angesehen werden.<br />

Und darin liegt seine Problematik fur die<br />

Amerikaner selbst und fur uns, die aus verschiedenen<br />

Gründen nicht dorthin ausgewandert<br />

sind, sondern hier geblieben sind,<br />

fur uns zurückgebliebene Amerikaner.<br />

Die Problematik kann als eine Übertragung<br />

des Mittelmeers in eine höhere Grössenordnung<br />

angesehen werden. Es ist ja bekannt,<br />

daß es zum Beispiel problematisch<br />

ist, in der Architektur aus kleinen Modellen<br />

zu großen Gebäuden überzugehen. Das ursprüngliche<br />

Mittelmeer ist von der<br />

menschlichen Größenordnung, und in ihm<br />

ist der Mensch das Maß aller Dinge. Seine<br />

Inseln können umschritten, seine Küsten<br />

umsegelt, seine Täler überblickt werden.<br />

Das neue Mittelmeer in ordamerika ist<br />

nach menschlichen Maßstäben unermeßlich.<br />

Andere Maßstäbe (und daher Werte)<br />

müssen dort angelegt werden. Aber gerade<br />

das menschlich Maßvolle, das Mäßige und<br />

Gemäßigte unterscheidet es von den maßlosen,<br />

unmäßigen Barbaren. Wenn also das<br />

neue, amerikanische Mittelmeer so anziehend<br />

auf Barbaren wirkt, so eben, weil es<br />

sich selbst in barbarische Größenordnungen<br />

öffuet. Es steht in Gefahr, bei der Assimilation<br />

der Barbarei ans Mittelmeer selbst<br />

zu barbarisieren.<br />

Das ist der Grund, warum Amerika immer<br />

wieder zum ursprünglichen, modellhaften,<br />

maßgebenden Mittelmeer zurückkehren<br />

muß, will es nicht gegen die gren-


Der Gast und die Masse<br />

zenlose Pazifik und das immerwimmelnder<br />

werdende Lateinamerika abgetrieben werden.<br />

Es muß sein Vorbild im Auge behalten,<br />

soll Little Italy nicht von China Town und<br />

Porto Rico überflutet werden, anstatt wie<br />

ein Magnet darauf zu wirken. Die im Mittelmeer<br />

auftauchenden Pseudopodien Amerikas,<br />

seien es Fastfoods, Touristen, Universitätsprofessoren<br />

oder Kriegsschiffe, sind<br />

als Wiederbelebungskanäle der Mittelmeererbschaft<br />

in Amerika aufZufassen.<br />

Und es ist leicht einzusehen, was die Folge<br />

eines etwaigen Abbrechens dieser Kanäle<br />

fiir das Mittelmeer selbst wäre. Nämlich ein<br />

unwiderrufliches Versanden.<br />

Es gehen im Mittelmeer immer stärker<br />

werdende Bewegungen, deren Absicht es<br />

ist, die amerikanischen Pseudopodien darin<br />

zu amputieren. Und als Reaktion darauf<br />

gibt es in Amerika die isolationistische Tendenz,<br />

sie zurückzuziehen. Die amerikanischen<br />

Vorstöße ins Mittelmeer werden als<br />

imperialistisch empfunden. Das sind sie,<br />

aber man muß sich dabei an die ursprüngliche<br />

Bedeutung von "Imperium" erinnern.<br />

Es ist gleichbedeutend mit Frieden (Pax<br />

Romana) und meint eine universale, geregelte<br />

und gemäßigte Gesellschaft. Als Negativ<br />

dient das Imperium sowohl dem<br />

christlichen Bild des Reichs Gottes aufErden<br />

als auch dem islamischen der Umma.<br />

Wer sich anti-imperialistisch engagiert,<br />

sollte dies bedenken. Und wenn er dabei<br />

am Mittelmeer engagiert ist, sollte er die Alternativen<br />

zum amerikanischen Imperialismus<br />

im Auge behalten. Zieht sich nämlich<br />

Amerika auf sich selbst zurück und gibt es<br />

das Mittelmeer als sein Modell auf, dann<br />

wird nicht nur es selbst barbarisch: auch<br />

das Mittelmeer wird es. Selbstredend: Barbarei<br />

muß nicht unbedingt als etwas Negatives<br />

angesehen werden, man kann sie wollen.<br />

Aber die Gegner des amerikanischen<br />

Imperialismus und Verfechter der Eigenständigkeit<br />

des Mittelmeeres sollten sich<br />

bewußt sein, daß sie fur die Errichtung der<br />

Barbarei engagiert sind. Das ist bei allen das<br />

Mittelmeer betreffenden Überlegungen in<br />

Rechnung zu ziehen.<br />

Ich fordere Sie nun auf, in eine den meisten<br />

unter Ihnen nur sagenhaft bekannte<br />

Gegend zu reisen. Die Sagen, die Brasilien<br />

fur den Mittelmeermenschen umweben,<br />

sind zwar untereinander widersprüchlich<br />

(etwa "Samba", "Tropen" und "Brasilia" einerseits<br />

und "Favela", "Staatsschuld" und<br />

",ndianerausrottung" auf der anderen Seite),<br />

aber gemeinsam ist ihnen, daß sie, wie<br />

alle Sagen, die Wirklichkeit, von der sie<br />

sprechen, unerkenntlich machen. Die Folge<br />

ist, daß die Hörer dieser Sagen sich klare<br />

und deutliche Meinungen bilden, die das<br />

Mythische, aber nicht die konkrete Wirklichkeit<br />

treffen. Dadurch wird ein Gespräch<br />

zwischen dem Mittelmeer und Brasilien<br />

(und Lateinamerika überhaupt) zu einer<br />

Kommödie der Irrungen, im Laufe derer<br />

die Brasilianer selbst zu Opfern der Sagen<br />

werden. Ich will hier versuchen, die Sache<br />

zu entmythisieren, weil ich ein authentisches<br />

Gespräch zwischen dem Mittelmeer<br />

und Brasilien fur beiderseits unerläßlich<br />

halte.<br />

Eine romantische Ideologie sagt von<br />

der in Brasilien gesprochenen portugiesischen<br />

Sprache, sie sei "iiltima tlör dc Läcio,<br />

inculta e bela" (die letzte Blüte Laziens, die<br />

barbarisch und schön ist). Davon will ich<br />

ausgehen. Und dabei die Betonung auf"iiltima"<br />

legen. Ich will Brasilien als den letzten<br />

Versuch des Mittelmeers ansehen, die<br />

Menschheit zu seinem Licht zu fUhren und<br />

dabei sich selbst vor dem Untergang zu retten.<br />

Ich wage daher die Hypothese, daß das<br />

Schicksal des Mittelmeers (so wie ich diesen<br />

Begriff in diesen Ausfi.ihrungen verstehe)<br />

in Brasilien auf dem Spiel steht. Um diese<br />

allerdings gewagte Hypothese etwas<br />

glaubwürdig zu machen, will ich die<br />

brasilianische Gesellschaft vom Mittelmeerstandpunkt<br />

aus zu würdigen versuchen.<br />

Im 15. und 16.Jahrhundert explodierte<br />

das bisher und nachher wieder marginale<br />

Portugal nach Afrika und Asien, und es erschloß<br />

jenen Großteil Südamerikas, der gegenwärtig<br />

Brasilien genannt wird. Diese<br />

geheimnisvolle Explosion kann vielleicht<br />

teilweise dank der spanischen Gegenreformation<br />

und Inquisition aufgeklärt werden.<br />

Die verfolgten Juden und Marannen überfluteten<br />

das Land (wie ja auch das ebenfalls<br />

explodierende Holland), um einen beträchtlichen<br />

Teil der Bevölkerung zu bilden,<br />

und sie mögen den Sprengstoff gebildet<br />

haben. Tatsächlich war ein Großteil der<br />

in Brasilien damals ausgesetzten Abenteurer<br />

wahrscheinlich jüdischen Ursprungs<br />

(genaue Angaben diesbezüglich fehlen) .<br />

Man soll sich diese Leute nicht wie Entdekker<br />

oder Eroberer, eher wie Verbannte<br />

oder wie Astronauten vorstellen, deren<br />

Verbindung mit ihrer Herkunft abgeschnitten<br />

wurde. Diese Stimmung des Ausgesetzt-<br />

und sich-Selbst-Überlassenseins, dieses<br />

Gefi.ihl des Verlassenseins, nicht jenes<br />

des Verlassens, kennzeichnet Brasilien bis<br />

heute. Darum ist es ein Irrtum, in Brasilien<br />

etwa ein mißlungenes Amerika sehen zu<br />

wollen. Die amerikanischen Pioniere haben<br />

Europa verlassen, um ein neues zu<br />

gründen, die brasilianischen Bandeirantes<br />

wurden von Europa verlassen.<br />

Diese in die Wildnis Ausgesetzten waren<br />

wie Tropfen des Mittelmeers, die von<br />

den Wellen der Ereignisse ins Nichts geschleudert<br />

wurden. Aber sie trockneten<br />

nicht ein, sondern bildeten den Kern einer<br />

sich um sie herum in Schichten kristallisierenden<br />

Gesellschaft. Sie waren Mittelmeertropfen,<br />

denn sie sprachen eine lateinische<br />

Sprache, waren Christen und trugen<br />

dasjudenturn in sich. Und die sich um sie im<br />

Lauf von vier Jahrhunderten lagernden<br />

Schichten (Ureinwohner, Afrikaner, Süd-,<br />

Mittel- und Osteuropäer, Araber,Japaner,<br />

Chinesen und andere) wurden, da sie untereinander<br />

portugiesisch sprachen und<br />

damit die Kultureme des Mittelmeers übernahmen,<br />

in den Mittelmeerkulturkreis gezogen.<br />

Es war aber ein eigentümliches Mittelmeer,<br />

das hier aufgerichtet wurde. Ein<br />

zugleich archaisches, verwildertes und abwegiges<br />

war es. Es war archaisch (verblieb<br />

auf der Renaissance-Stufe), weil seine Verbindung<br />

mit dem Zentrum zum Großteil<br />

abgebrochen wurde. Es war verwildert,<br />

weil völlig fremde Kultureme (vor allem indianische<br />

und afrikanische) darin aufgesogen<br />

wurden. Und es war abwegig, weil, als<br />

im 19.Jahrhundert eine elitäre Kultur, bürgerlich<br />

und feudal begann, ausgP.arbeitet zu<br />

werden, sich diese auf französische, nicht<br />

15


Der Gast und die Masse<br />

auf eigentlich mediterrane Vorbilder stützte.<br />

Diese seltsame Kulturstruktur ist nicht,<br />

wie in Nordamerika, von einer bewußt utopischen<br />

Idee gestützt, sondern sie wuchs<br />

organisch. Und sie kommt erst jüngst, und<br />

sekundär, in den Sog der Vereinigten Staaten.<br />

Es mag, im 19. Jahrhundert, eine verschwommene<br />

Vorstellung von der zu errichtenden<br />

künftigen Kultur als einer Synthese<br />

des Mittelmeers mit Kulturen von<br />

Schwarzen und Indianern gegeben haben.<br />

Der sogenannten "drei traurigen Rassen",<br />

nämlich Portugiesen, Indianern und<br />

Schwarzen. Diese Vorstellung ist nicht<br />

mehr haltbar. Was sich nämlich gegenwärtig<br />

in Brasilien als fur das Mittelmeer unverdaubar<br />

erweist, sind die ostasiatischen Elemente.<br />

Vom Standpunktjapansund Chinas<br />

gesehen, ist nämlich Brasilien ein riesiges<br />

Land, das seine spärliche Bevölkerung von<br />

kaum hundertfunfZig Millionen nicht anständig<br />

ernähren kann und das darum die<br />

selbstverständliche Gelegenheit fur ein Reservoir<br />

des eigenen Bevölkerungsüberschusses<br />

bietet. Dabei betrachtet die ostasiatische<br />

Kultur die in Brasilien mühselig<br />

herrschende in einem ähnlichen Geist wie<br />

jenem, der einst die Mittelmeerkultur angesichts<br />

aller anderen charakterisierte. Wir<br />

sind in Brasilien Zeugen eines ziemlich bewußten<br />

und strategisch unterbauten Vorstoßes<br />

Ostasiens gegen das Mittelmeer,<br />

wobei Japan vorläufig noch den Vorposten<br />

Chinas bildet. Ziemlich bewußt und strategisch<br />

unterbaut seitens Japan, nicht seitens<br />

der brasilianischen Gesellschaft.<br />

Der Zusammenstoß zwischen der Mittelmeerkultur<br />

und jener Ostasiens, des<br />

Christentums und jener fur uns nicht ganz<br />

durchblickbaren Synthese von Konfuzianismus,<br />

Buddhismus und uralten Grunderlebnissen<br />

geht selbstredend in klarem Licht<br />

in Kalifornien vor sich. Dort wird die unmittelbare<br />

Zukunft alles dessen, was wir die<br />

Werte des Mittelmeeres nennen, entschieden.<br />

Aber was sich in Brasilien abspielt ist,<br />

weil unbewußter und marginaler, noch<br />

weit entscheidender: dort wird die weitere,<br />

die unabsehbare Zukunft entschieden.<br />

Sollte nämlich in Kalifornien (und in Japan)<br />

16<br />

die pragmatisch-technische Seite des Mittelmeeres<br />

die fernöstlichen Kultureme in<br />

sich verdauen, aber zugleich in Brasilien die<br />

Gesellschaft, von ihr selbst unbemerkt,<br />

nach dem Fernen Osten abgleiten, dann ist<br />

auf weite Sicht mit einer Orientalisierung<br />

des Westens überhaupt zu rechnen.<br />

Brasilien ist die "letzte Blüte Laziens",<br />

nicht nur weil sie die jüngste ist, sondern vor<br />

allem, weil sie auf dem äußersten Zweig<br />

blüht. Dort ist das Mittelmeer (so wie ich es<br />

hier verstehe) fur die gegenwärtige Dialektik<br />

gegenüber dem Fernen Osten am weitesten<br />

offen. Dort ist es am gebräuchlichsten,<br />

und auch am plastischsten. Wenn gegenwärtig<br />

das Stadtbild S. Paulos von Kanjis<br />

übersät ist, wenn japanische Studenten dort<br />

an allen Fakultäten die ersten Plätze besetzen<br />

und wenn dort der Sprung aus Palaeoindustrie<br />

direkt in japanische Miniaturisation<br />

und Komputation geleistet wird, so<br />

ist dies ein Zeichen fur die Schlagkraft der<br />

orientalischen Kultureme im Kontext des<br />

mühseligen Übergangs aus der Industrie- in<br />

die Informationsgesellschaft. Sollte es diesen<br />

Kulturemen in Brasilien gelingen, die<br />

Mittelmeerkultur aufZusaugen und dadurch<br />

eine erfolgreiche neue Gesellschaft<br />

zu bilden, dann wird dieser Prozeß weitergehen,<br />

bis er das Zentrum, das Mittelmeer<br />

im geographischen Sinn, sich einverleibt<br />

hat.<br />

Von einer Distanz ist selbstredend<br />

nichts gegen eine Orientalisierung des Mittelmeers<br />

einzuwenden. Es ist ein objektiver<br />

Unsinn, von einer "gelben Gefahr" zu sprechen.<br />

Aber es gibt Leute (und ich glaube,<br />

die meisten von uns zählen zu ihnen), die<br />

sich, aus guten und weniger guten Gründen,<br />

am Erhalten der Mittelmeerwerte engagieren.<br />

Diese Leute sollten sich der Vorgänge<br />

in Brasilien bewußt sein. Darum halte<br />

ich ein Gespräch zwischen Brasilien und<br />

dem Mittelmeer fur unerläßlich, auch und<br />

vor allem in Veranstaltungen wie der unseren.<br />

Ich habe versucht, Ihnen einen Blick auf<br />

drei Grenzzonen des Mittelmeers zu bieten.<br />

Es gibt selbstredend auch andere, die<br />

zu bedenken wären. Ich habe die drei besprochenen<br />

gewählt, weil sie in meinem eigenen<br />

Bewußtsein verlaufen. Aber ich halte<br />

es fur unmöglich, die Frage des Mittelmeers,<br />

und sei es nur jene der Achse<br />

"Frankreich/Süditalien", gebührend ins<br />

Auge zu fassen, ohne dabei die Grenzzonen<br />

in Rechnung zu stellen. Das Mittelmeer<br />

erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit,<br />

und wenn es diesen Anspruch au f­<br />

gibt, dann ist es nicht mehr der Mühe wert,­<br />

sich über das Mittelmeer den Kopf zu zerbrechen.


Der Gast und die Masse<br />

Friedhelm Lövenich<br />

Der Herr der Insel<br />

Robinson, Hege! und das bürgerliche Ich<br />

.Der Friseur gzbt dem Ich neuen Schwung"<br />

(Femsehwerbung Apr./ Mai 1986)<br />

Die Stelle in Daniel Defoes Roman, wo Robinson<br />

am Strand einen Fußabdruck findet,<br />

ist eine der berühmtesten und wohl auch<br />

enthüllendsten in der Mythologie des bürgerlichen<br />

Bewußtseins; alles, was Hege! jemals<br />

über das Selbstbewußtsein und seine<br />

insgeheimen Pathologien ans Licht gebracht<br />

hat, ist hier in einer verdichteten<br />

Szene symbolisch erfaßt. Das reduzierte<br />

Ich, das die bürgerliche Realität des utopischen<br />

Selbstbewußtseins darstellt, basiert<br />

auf der unausgesprochenen Vorstellung<br />

seiner eigenen Absolutheit, der gegenüber<br />

alles andere bloßes Nicht-Ich ist und bleibt;<br />

die Konfrontation mit einem anderen Ich<br />

bringt das größenwahnsinnige Ich, das Robinson<br />

in allseiner Grandiosität, Ohnmacht<br />

und Not repräsentiert, in völlige Panik, die<br />

Überraschung verwandelt sich in der Sekunde<br />

des Realisierens in den absoluten<br />

Schrecken : .,Eines Tages gegen Mittag, als<br />

ich auf dem Wege zu meinem Boot war, erblickte<br />

ich zu meiner größten Bestürzung<br />

am Strand den Abdruck eines nackten<br />

Männerfußes, der im Sand ganz deutlich zu<br />

sehen war. Ich stand da wie vom Donner<br />

gerührt oder als hätte ich einen Geist erblickt."<br />

(1)<br />

Dem isolierten und in seiner Isolation<br />

gefangenen Ich kommt ein anderes wie ein<br />

Geist, wie ein Gespenst vor, wie ein Bote<br />

aus dem Totenreich, denn den Tod<br />

seiner Absolutheit zeigt es an. Der Grund<br />

fur den absoluten Schrecken liegt somit begründet<br />

in der, wie Hege! sagen würde, rein<br />

negativen Abstraktheit dieses Ich, das sich<br />

als einzelnes nur setzt. Diese narzißtische<br />

Identität gilt es fiir das Ich, das zum Begreifen<br />

seiner selbst als gesellschafilichem nicht<br />

in der Lage ist, weil es diesen Gedanken zurückhalten,<br />

verdrängen muß, zu retten<br />

durch die Steigerung der Anstrengung in<br />

der Verleugnung des anderen als gleichwertigem<br />

Subjekt. Die Abwehr des angeblich<br />

Ichfremden erfolgt in der völligen<br />

Verwirrtheit der Panik: .,Als ich meine Burg<br />

erreicht hatte, denn so nannte ich sie wohl<br />

von jetzt an immer, flüchtete ich wie ein<br />

Verfolgter hinein. Ob ich nun über die<br />

zuerst gebaute Leiter oder durch das Loch<br />

im Felsen, das ich eine Tür nannte,<br />

hineingekommen war, darauf kann ich<br />

mich nicht besinnen, denn nie ist mit größerer<br />

Angst ein aufgeschreckter Hase in seine<br />

Deckung oder ein Fuchs in seinen Bau als<br />

ich in diesen Unterschlupf(2)." Das Ich, das<br />

schon zuvor als scheinbar uneinnehmbare<br />

Festung, als Burg aufgebaut worden war,<br />

dient jetzt als Zufluchtsort, als Rettung fiir<br />

genau die Angst, die doch von seinem eigenen<br />

Prinzip verursacht ist, das zur F1ucht<br />

zwingt, weil der andere sofort, noch ohne<br />

ihn zu kennen, als Verfolger imaginiert<br />

wird.<br />

Das menschliche Ich wird als gejagtes<br />

zum Tier, regrediert auf seine 'innere Natur',<br />

die es doch beherrschen zu können<br />

glaubt; dabei wird die selbstverordnete Isolation<br />

streng verschärft; .,drei Tage und<br />

Nächte" bleibt Robinson in seiner Festung<br />

und arbeitet dort die Beruhigung aus, dieeben<br />

weil Beruhigung und nicht Verarbeitung<br />

- genau derselben Struktur folgt, in<br />

der das Ich sein Überleben sichert : wie es<br />

die Welt als bloßes Objekt betrachtet und<br />

an sich als Ich assimiliert, alles Nichtidentische<br />

ausblendet, so übersteigt es jetzt das<br />

Wissen um die Existenz des Anderen, um,<br />

wie Kant, zum Glauben Platz zu bekommen<br />

(3). Wie schon einmal zuvor in einer<br />

ebenso katastrophischen Situation: einer<br />

gefahrliehen Krankheit ohne Medizin ausgeliefert,<br />

greift es auf die Instanz zurück, der<br />

es bisher selten auch nur einen einzigen<br />

Gedanken gewidmet hat. Das selbstherrliche<br />

Ich, das ohne Gott auszukommen<br />

glaubte, ja geradezu gegen ihn opponieren<br />

zu müssen glaubte, hängt sich jetzt, um<br />

Trost zu bekommen, an seinen Gegner,<br />

den es in seiner Verlassenheit in einer Art<br />

Vertrag bestätigt und bestätigend findet.<br />

Die aus der Gewißheit der Geborgenheit in<br />

Gott gezogene Bestätigung - Religion als<br />

Rückhalt und Kompensation in eins - verwandelt<br />

es dann erneut in die Absegnung<br />

seiner Hybris, in den wiedererstarkten<br />

Glauben an sich selbst, an seine imaginäre<br />

Macht, die in ihrer Absolutheit nun wiederum<br />

Gott ersetzen kann. Noch das völlig<br />

Fremde wird imaginär zum Ich gemacht,<br />

notfalls durch die gefahrliebste Eigenschaft<br />

des Ich fiir es selbst, die Phantasie, die auch<br />

zum Gegenteil durchschlagen kann : .,Da<br />

ich mir nun also mit dem Gl


Der Gast und die Masse<br />

benkleine Löcher, etwa so groß, daß ich einen<br />

Arm hindurchstecken konnte. Innen<br />

verdickte ich meinen Wall, bis er ungefähr<br />

zehn Fuß stark war, indem ich ständig Erde<br />

aus meiner Höhle schaffte, sie unten an den<br />

Wall schüttete und daraufherumstampfi:e;<br />

durch die sieben Löcher wollte ich die sieben<br />

Musketen stecken, die ich, wie ich bereits<br />

berichtete, aus dem Schiff an Land gebracht<br />

hatte. Ich pflanzte sie also gleich Kanonen<br />

in einem lafettenähnlichen Gestell<br />

auf, so daß ich alle sieben Gewehre innerhalb<br />

von zwei Minuten abfeuern konnte.<br />

Um diesen Wall zu beenden, brauchte ich<br />

viele Monate saurer Arbeit, aber ich fiihlte<br />

mich erst geborgen, als er fertig war (5). "<br />

Die Identitätsarbeit ist mehr als anstrengend<br />

und zeitraubend; die Maßnahmen<br />

zur Selbsterhaltung gehen bis zur<br />

Selbstverleugnung, Selbstausbeutung, bis<br />

zur Selbst-losigkeit, die das Subjekt verschwinden<br />

läßt; es ähnelt sich -jetzt 'bewußt'<br />

im Gegensatz zum bewußtlosen, onbewußten<br />

'Verfall' in der panikartigen<br />

Flucht- dem an, das es bekämpft: die Natur,<br />

und gibt dabei seinen Geist aufinseiner<br />

völligen Instrumentalisierung: "Als das getan<br />

war, setzte ich außerhalb meines Walles<br />

sehr weit nach allen Richtungen hin so viele<br />

Stecklinge oder Reiser wie nur möglich von<br />

18<br />

jenem weiden artigen Holz, das so leicht<br />

wuchs, in den Boden; ich glaubte, ich<br />

pflanzte etwa zwanzigtausend davon und<br />

ließ zwischen ihnen und meinem Wall einen<br />

ziemlich großen Raum frei, damit ich<br />

die Feinde sehen konnte und sie zwischen<br />

den jungen Bäumen keinen Schutz fanden,<br />

wenn sie versuchten, sich meinem äußeren<br />

Wall zu nähern. Auf diese Weise hatte ich<br />

nach zwei Jahren ein dichtes Gehölz und<br />

nach fiinf, sechs Jahren einen so außerordentlich<br />

dichten und starken Wald vor meiner<br />

Behausung, daß er in der Tat völlig undurchdringlich<br />

war, und kein Mensch, wer<br />

er auch sein mochte, hätte jemals vermutet,<br />

daß sich irgend etwas dahinter befand, viel<br />

weniger noch eine Wohnung. Was den<br />

Weg anbelangt, auf dem ich hinein- und<br />

hinausgehen wollte (denn ich ließ keinen<br />

Pfad), so stellte ich zwei Leitern auf; die eine<br />

stand an der Stelle, wo der Felsen niedrig<br />

war und dann abflachte, so daß es darauf<br />

Platz genug fur eine weitere Leiter gab, und<br />

wenn diese beiden Leitern heruntergenommen<br />

waren, vermochte kein Mensch<br />

zu mir zu gelangen, ohne sich Schaden zuzufiigen,<br />

und wenn er herabgekommen<br />

wäre, dann hätte er sich immer noch außerhalb<br />

meines äußeren Walls befunden.<br />

So traf ich also alle Maßnahmen, die<br />

sich menschliche Vorsicht zu meinem<br />

Schutz ausdenken konnte, und der Leser<br />

wird später noch sehen, daß sie nicht gänzlich<br />

unbegründet waren, obgleich ich damals<br />

nicht mehr voraussah, als meine bloße<br />

Furcht mir eingab (6). "<br />

Zur Rettung des Eigentums wird auch<br />

dieses an verschiedenen, gut versteckten<br />

und unzugänglichen Stellen der Insel verborgen;<br />

Robinson legt Depots an, in dene<br />

seine Subsistenzmittel gespeichert werden;<br />

das Ich organisiert sich als zersplittertes in<br />

verschiedenen Filialen und Zweigstellen,<br />

deren Netz es von seiner Burg aus kontrolliert.<br />

Allein, bei der Suche nach solchen<br />

geeigneten Filialen gerät es an eine bisher<br />

noch unbetretene, und das heißt noch ongesichtete,<br />

ungesicherte Stelle, an der die<br />

Kannibalen der anderen Inseln ihre Gefangenen<br />

verzehrt haben. Daß die anderen, die<br />

sein Reich betreten, dann auch gleich Kannibalen<br />

sein müssen, ist nicht nur in der Logik<br />

des Abenteuerromans, sondern im Rahmen<br />

der ganzen bürgerlichen Identitätsliteratur<br />

konsequent, denn sie sind eben als<br />

andere die Todesgefahr fiirs sich selbst entfremdete<br />

und sich selbst in seiner Wahrheit<br />

unbewußte Selbstbewußtsein. Die Schädelstätte<br />

am Strand bezeichnet den Ga!-


Der Gast und die Masse<br />

genberg des bürgerlichen Ich, das sich auf<br />

nichts als auf sich selbst stützen kann, weil<br />

es sich gegen die ganze Welt setzt, melancholisch<br />

in dem verharren muß, was Hege!<br />

das unglückliche Bewußtsein nennt, weil es<br />

abstraktes Ich, rein negative Freiheit ist.<br />

Die Genialität Hegels bezeugt sich<br />

nicht zuletzt in seinen Ahnungen über die<br />

reale Beschaffenheit des bürgerlichen Bewußtseins<br />

und seiner gesellschaftlichen<br />

Realität; auch in Bezug auf Robinson als<br />

dem Urahn aller bürgerlichen Identifikationsfiguren<br />

trifft er den Kern der Sache. Im<br />

Rahmen der 'Philosophischen Propädeutik'<br />

heißt es in der 'Bewußtseinslehre fur die<br />

Mittelklasse' in Paragraph 35: "diese rein<br />

negative Freiheit, die in der Abstraktion<br />

von dem natürlichen Dasein besteht, entspricht<br />

jedoch dem Begriff der Freiheit<br />

nicht, denn diese ist die Sichselbstgleichheit<br />

im Anderssein, teils der Anschauung<br />

seines Selbst im anderen Selbst, teils der<br />

Freiheit nicht vom Dasein, sondern im Dasein<br />

überhaupt, eine Freiheit, die selbst Dasein<br />

hat. Der Dienende ist selbstlos und hat zu<br />

seinem Selbst ein anderes Selbst, so daß er<br />

im Herrn sich als einzelnes Ich entäußert<br />

und aufgehoben ist und sein wesentliches<br />

Selbst als ein anderes anschaut. Der Herr<br />

hingegen schaut im Dienenden das andere<br />

Ich als ein aufgehobenes und seinen einzelnen<br />

Wtllen als erhalten an. (Geschichte Robinsons<br />

und Freitags)" (7)<br />

Hiermit hat Hege! genau den Punkt<br />

bezeichnet, bis zu dem Defoes Geschichte<br />

von Robinsons Entwicklung, dieser<br />

Bildungsroman des insularen Ich bis<br />

jetzt fortgeschritten ist. Robinson, das Ich<br />

muß, weil allein auf eine Insel verschlagen<br />

und dort dem Kampf ums Dasein, der ot<br />

ausgeliefert, gegen sich, gegen seine Verzweiflung<br />

und gegen seine Natur rigide<br />

sein: es stürzt sich in die Arbeit als Versuch<br />

der Beherrschung der. äußeren und inneren<br />

atur, verdrängt seine Verzweiflung durch<br />

hektische Aktivität. Als Robinson klar wird,<br />

daß er allein auf dieser Insel ist, ist seine Niedergeschlagenheit<br />

nur kurz und wird sofort<br />

durch Arbeit überwunden. Es geht nicht<br />

darum, daß das objektiv berechtigt ist, weil<br />

ja sein Überleben davon abhängt, sondern<br />

darum, daß diese Situation sofort als eine<br />

der Konkurrenz gegen die·äußere und innere<br />

Natur begriffen wird, die sich im Bewußtsein<br />

als Angst manifestiert, die zwar<br />

abnimmt, je mehr dem Ich die Beherrschung<br />

des, äußeren und eigenen, Anderen<br />

gelingt, aber nie ganz verschwindet. Die<br />

Angst als Ausdruck der imaginierten Konkurrenzsituation<br />

wird habituell im Fremdund<br />

Selbstbezug, ist es sogar dann noch, als<br />

Robinson sich als der 'Herr der Insel' fiihlt,<br />

als das Ich alles unter Kontrolle hat, Herr im<br />

eigenen Hause zu sein scheint. Wie Hegels<br />

Herr hat es Angst vor dem, was es unterdrückt,<br />

die Repression schlägt auf es selbst<br />

zurück und macht es hart. Tritt das Andere<br />

dann real auf, und sei es nur als <strong>Spur</strong> im<br />

Sand, ist die Herrschaft gefährdet und zieht<br />

sofort alle ihr zur Verfugung stehenden Register<br />

der Abwehr: die Burg wird zur Festung,<br />

der Wahnsinn Methode; das Andere<br />

wird, analog aller bisherigen Struktur, nicht<br />

nur als inneres, auch als reales äußeres geknechtet.<br />

Die gesellschaftliche Realität dieses abstrakten<br />

Ich ist die "des bürgerlichen Vertrages,<br />

der unmittelbar auf die Einzelheit<br />

und Abhängigkeit der Subjekte geht" (8),<br />

und damit, als Struktur der Beziehung der<br />

Menschen untereinander, die Möglichkeit<br />

19


Der Gast und die Masse<br />

gelingender Interaktion zunichte macht, da<br />

er die imaginäre Absolutheit des Ich nicht<br />

etwa aufhebt, sondern zum Prinzip erhebt;<br />

dies sogar da, wo es einen Gefährten in seiner<br />

Einsamkeit erhält, einen Freund, wie<br />

Hege! es andeutet im Bezug des Verhältnisses<br />

von Herr und Knecht auf das von Robinson<br />

und Freitag. Intersubjektivität wird<br />

so in ihrer Form als Vertrag reduziert auf<br />

den abstrakten Tausch als Prinzip; Lebenswelt<br />

wird systematisiert durch den Einbruch<br />

des Mediums, das die Einzelheit und<br />

Abhängigkeit des Ich kaschiert und zugleich<br />

reproduziert: Macht, in die Sphäre,<br />

in dessen Struktur es eigentlich seinen Wert<br />

verloren hätte: Kommunikation. Diese<br />

geht durch diese Verherrschung zugrunde,<br />

bleibt höchstens als Utopie noch im Bewußtsein,<br />

in der Realität aber ohnmächtig,<br />

so wie Hege! das in der Entgegensetzung<br />

von System und Lebenswelt, bürgerlicher<br />

Gesellschaft und Sittlichkeit (9) zeigt, die<br />

sich nur noch zusammenzwingen, nicht<br />

mehr integrieren lassen im Staat. Leben ist<br />

hier - egal ob Herr oder Knecht - permanentes<br />

Für-andere-sein; das Ich ist gezwungen,<br />

das Prinzip Herrschaft aufrecht zu erhalten<br />

selbst da, wo ihm das unbewußt ist.<br />

Zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts,<br />

als Defoe den Robinson schrieb, war<br />

die Bewußtheit dessen allerdings noch weniger<br />

problematisch als in der voll entfalteten<br />

bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem<br />

Gleichheitsgrundsatz; den kennt Defoe eigentlich<br />

nicht. Robinson rettet Freitag vor<br />

den Kannibalen- als dem absolut Ichfremden,<br />

weil vom Gesichtspunkt des Ich aus in<br />

ihrer aturverfallenheit und Tierheit, obwohl<br />

es sich in seinem panischen Schrekken<br />

zuvor selber als Tier gezeigt hatte, Ichlosen<br />

- mit dem festen Bewußtsein der<br />

Überlegenheit seines Ich, beflügelt von<br />

göttlicher Legitimation- die offenbar doch<br />

noch nötig ist und die die reale Ohnmacht<br />

des vereinzelten Ich enthüllt - und in der<br />

Absicht, sich den ihm zustehenden Knecht<br />

zu verschaffen: "Nun schoß mir ganz hitzig<br />

der geradezu unwiderstehliche Gedanke<br />

durch den Kopf, jetzt sei meine Gelegenheit<br />

gekommen, mir einen Diener, vielleicht<br />

einenGefahrtenoder Gehilfen zu be-<br />

20<br />

schaffen, und ich sei ganz offensichtlich von<br />

der Vorsehung berufen, das Leben dieses<br />

armen Menschen zu retten." (10) Herrschaft<br />

wird zur imaginären Kompensation<br />

der realen Ohnmacht: höllig ineinander<br />

übergegangen ist dem Ich die Vorstellung<br />

von Freund und Diener. Auch der Freund,<br />

so hilfreich er dem Ich auch sei, ist dennoch<br />

nie mehr als Funktion, weil grundsätzlich<br />

ein Anderes als das Ich und damit seiner<br />

Herrschaft zu unterwerfen, dienstbar,<br />

fungibel zu machen, und sei es nur als Spiegel<br />

des Ich in der Dankbarkeit. Denn diese<br />

glaubt das Ich sich zustehend aufgrundder<br />

Gnade, mit der es "den armen Teufel", den<br />

Anderen zur Kenntnis nimmt. Freitag ist<br />

denn auch demütig gegenüber seinem<br />

Herrn, der so doch noch kompensatorisch<br />

und 'real' die Position Gottes einnehmen<br />

kann: "schließlich kam er ganz dicht zu mir<br />

heran, und da kniete er von neuem nieder,<br />

küßte den Boden, legte seinen Kopf auf die<br />

Erde, nahm meinen Fuß und setzte ihn sich<br />

auf den Scheitel. Das schien zu bedeuten, er<br />

schwöre, fi.ir immer mein Sklave zu bleiben";<br />

Robinson nennt ihn denn auch von<br />

nun an "mein Wilder". (11)<br />

In der Vertragsbezeichnung hat so der<br />

Knecht, nicht nur auf der Grundlage materieller<br />

Arbeit, sondern auch der der Anerkennung<br />

der Herrschaft, gewisse Leistungen<br />

zu erbringen, die ihm das Wohlwollen<br />

seines Herrn einbringen: "einen treueren,<br />

liebevolleren, ehrlicheren Diener als Freitag<br />

hat wohl noch nie jemand gehabt. Er<br />

kannte weder Zornesausbrüche noch Eigensinn<br />

noch Ränke, er war im höchsten<br />

Maße zuvorkommend und gewmnend,<br />

und mit seinem ganzen Gefuhl hing er an<br />

mir wie ein Kind an seinem Vater; ich kann<br />

wohl sagen, daß er jederzeit sein Leben<br />

geopfert hätte, um meines zu retten." (12)<br />

Die typischen Tugenden des Dieners sind<br />

somit nicht umsonst auch die des<br />

Freundes :Treue, Ergebenheit, Ehrlichkeit<br />

und Aufopferungsbereitschafi:; das sich<br />

selbst als Herr entfremdete Ich übertüncht<br />

damit vor sich selbst die eigene Entfremdung,<br />

das Für-andere-sein und Durch-andere-sein,<br />

und organisiert die Welt seiner<br />

Beziehungen zum anderen Ich nach dem<br />

Modell der zur Natur, dem Ding, denn "der<br />

Herr ist (zwar- FL) das.forsich seiende Bewußtsein,<br />

aber nicht mehr nur der Begriff<br />

desselben, sondern fi.ir sich seiendes Bewußtsein,<br />

welches durch ein anderes Bewußtsein<br />

mit sich vermittelt ist, nämlich<br />

durch ein solches, zu dessen Wesen es gehört,<br />

daß es mit selbstständigem Sein oder<br />

der Dzizgheit überhaupt synthetisiert ist.<br />

Der Herr bezieht sich auf diese beiden Momente,<br />

auf ein Dzizg als solches, den Gegenstand<br />

der Begierde, und auf das Bewußtsein,<br />

dem die Dingheit das Wesentliche ist."


Der Gast und die Masse<br />

Jedenfalls scheint es so dem Herrn; allerdings<br />

ist das nicht, wie aus dem ersten<br />

Hegelzitat ersichtlich, die echte Freiheit, da<br />

im Vertrag eben gerade das Gegenteil von<br />

Freiheit realisiert ist, nämlich die Ratifizierung<br />

der Einzelheit und damit Abhängigkeit.<br />

Aus der Rigidität gegen das Andere resultiert<br />

somit die gegen die Anderen,<br />

Freund und Feind; dem in der Vorstellung<br />

von der Absolutheit seines Ich befangenen<br />

Bürger stellen sich Beziehungen nur als solche<br />

in der Struktur von Herrschaft dar, die<br />

das Prinzip seiner Gesellschaft ist, die ihn zu<br />

seinem verherrschten und selbstentfremdeten<br />

Ich zwingt. Er ist daher bemüht, diese<br />

Struktur auch deutlich zum Ausdruck zu<br />

bringen, jedenfalls da, wo ein eindeutiger<br />

Vertrag besteht: "ich lehrte ihn auch, 'Master'<br />

zu sagen, und erklärte ihm, daß dies<br />

mein Name sein sollte" (14). Das ist mit das<br />

erste, was Robinson gegen Freitag überhaupt<br />

tut, bald nach seiner Rettung; und als<br />

beide noch andere retten, jubiliert das Ich<br />

im Rausch seiner Herrschaft: "nun war<br />

meine Insel bevölkert, und ich kam mir sehr<br />

reich an Untertanen vor; ich stellte oft die<br />

spaßige Überlegung an, wie sehr ich jetzt<br />

einem König glich: erstens war das ganze<br />

Land mein alleiniges Eigentum, so daß ich<br />

unzweifelhaft ein Recht auf die Herrschaft<br />

darüber hatte; zweitens waren meine Leute<br />

mir gänzlich ergeben, ich war absoluter<br />

Herr und Gesetzgeber, sie verdankten mir<br />

sämtlich ihr Leben und waren bereit, es fur<br />

mich zu opfern, wenn sich ein Anlaß dazu<br />

bot" (15).<br />

Nach dieser wahnsinnigen Logik des<br />

Ich ist eigentlich die Legitimation seiner<br />

Herrschaft überhaupt überflüssig; es erfolgt<br />

fur Robinson auch keine außer der der kulturellen<br />

Überlegenheit gegenüber Freitag.<br />

So ist die Herrschaftsbeziehung von Robinson<br />

zu Freitag noch abgesichert in der<br />

Dopplung der Herrschaft des Zivilisierten<br />

über den Wilden, das schlichtweg ganz<br />

Fremde, total Andere; der Unzivilisierte hat<br />

im Vertrag die Stellung des Objekts, der<br />

Welt zum Ich: die der Unterordnung und<br />

Beherrschtheit. Das ist mehr als eine moralische<br />

Legitimation der Herrschaft, nämlich<br />

die Entwertung des Anderen des Ich als<br />

eigenes Ich, damit es dieses nicht dauernd<br />

an sein eigenes verdrängtes Anderes erinnert;<br />

das Andere wird daher dem Ich in einer<br />

automatisierenden, seine Objekthaftigkeit<br />

betonenden Weise ähnlich gemacht,<br />

hier durch die 'Erfindung' Defoes von Freitag<br />

als Halbzivilisiertem: "er hatte ein sehr<br />

angenehmes Gesicht, dessen Ausdruck<br />

nicht wild und mürrisch war, sondern etwas<br />

sehr Männliches zu haben schien, und doch<br />

zeigte sein Antlitz auch alle Sanftheit und<br />

Weichheit eines Europäers, besonders,<br />

wenn er lächelte; sein Haar war lang und<br />

schwarz; nicht kraus wie Wolle, die Stirn<br />

sehr hoch und breit, und seine Augen<br />

drückten große Lebhaftigkeit und funkelnden<br />

Scharfsinn aus. Seine Hautfarbe war<br />

nicht richtig schwarz, sondern ganz bräunlich,<br />

aber dabei nicht von einem häßlichen,<br />

gelblichen, ekelhaften Braun wie bei den<br />

Brasilianern, den Virginiern und anderen<br />

Eingeborenen von Amerika, sondern von<br />

einem lebhaften Dunkeloliv, das etwas sehr<br />

Angenehmes hatte, sich aber nicht leicht<br />

beschreiben läßt (16)." Der Wilde ist überhaupt<br />

kein Wilder, sondern ein noch unentdeckter<br />

Zivilisierter; die Herrschaft des Zivilisierten<br />

über ihn wird ihm erst zu ihm<br />

selbst verhelfen; Robinson teilt Freitag<br />

nicht sein Wissen mit, um ihn zu bilden,<br />

sondern erzieht ihn nach seinem Ebenbild.<br />

Typisch ist, daß Defoe das kaum eine<br />

detaillierte Darstellung wert ist; die erstmalige<br />

Konfrontation des 'Wilden' mit dem Zivilisierten,<br />

die eben auch fur den Zivilisierten<br />

eine mit seinem eigenen Anderen ist, ist<br />

fur Defoe kein Thema, schon gar nicht Anlaß<br />

zur Reflexion seiner eigenen Lebensweise.<br />

Bald nach der Ankunft Freitags,<br />

nach der im wesentlichen nur noch die<br />

Darstellung der Befreiung der anderen Gefangenen<br />

und der Unterstützung des Kapitäns,<br />

der Robinson nach England zurückbringen<br />

wird, folgt, endet die Inselgeschichte<br />

und wird in England fortgesetzt.<br />

Da, wo die Geschichte des Ich einen wirklichen<br />

Anfang finden und ihre Vorgeschichte<br />

überwinden könnte, da wo ein realer Anderer<br />

auftaucht, der dem Ich die Dezentrierung<br />

ermöglichen könnte, ist sie zuende;<br />

die eigentliche Arbeit des Ich, die der Ver-<br />

mittlung, die es erst zur wahren Realität,<br />

zur Selbstverwirklichung bringen könnte,<br />

wird der Unmittelbarkeit des Selbstbezugs<br />

aufgeopfert; das Ich bleibt im Imaginären.<br />

Wie in den Romanen Kar! Mays, wie in aller<br />

das bürgerliche Ich unhinterfragt lassenden<br />

Reiseliteratur, kehrt das Ich in die Heimat<br />

zurück und läßt das Andere hinter sich, der<br />

Gefahrdung der Vernichtung_ mit dem imaginären<br />

Bewußtsein der Uberlegenheit<br />

entgangen.<br />

Die angebliche Unmittelbarkeit des insularen<br />

Ich bezeugt sich in der fortentwicklungder<br />

bürgerlichen Idee als Paradefall<br />

der Ideologie, die die Wahrheit der allgemeinen<br />

gesellschaftlichen Vermitteltheit<br />

übertünchen soll im 'Erlebnis': ,jeder lebt<br />

seinen Stil ... denn weder Plan noch Konvention<br />

bestimmt den Urlaub bei Robinson"<br />

(17); der sorgsam planende Bürger im<br />

Kapitalismus verkehrt sich im Spätkapitalismus<br />

in sein scheinbares Gegenteil : als<br />

kulturindustrielle Aufhebung der Bevormundung<br />

und der Isolation geriert sich die<br />

postmoderne Robinsonade als gruppendynamisches<br />

Singleturn mit organisierten Beseelern,<br />

das heißt vertraglich gebundenen<br />

Animateuren.<br />

(1) Daniel Defoe, Robinson Crusoe, übers. v. Lore<br />

Krüger, München 1983, S. 175 (im Folgenden<br />

nur noch Seitenzahlen)<br />

(2) S. 176<br />

(3) lmmanuel Kant. KrdrV B XXX<br />

(4) s. 180<br />

(5) s. 182(<br />

(6) S. 183f<br />

(7) S. G.W.F. Hege!, Werke, Ffin. 1971ff., Band<br />

4/ S.120 (Hervorhebung von Hege!), im Folgenden<br />

: Band/ Seitenzahl<br />

(8) 2/ 519<br />

(9) deutlicher noch als in der Rphil in 2/ 517ff.<br />

(10) 228<br />

(11) 229<br />

(12) 235<br />

(13) 3/ 150 (Hervorhebung von Hege!)<br />

(14) 232<br />

(15) 271<br />

(16) 231<br />

(17) Katalog Robinson Club, Winter 85/ 86, ss.<br />

11 und 5. Übrigens : "Nixdorfist Robinsons Freitag"<br />

(Anzeigentext im Spiegel 18/ 86, 28. April<br />

1986, S. 1 OOf)<br />

21


Der Gast und die Masse<br />

Heinrich Kupffer<br />

••<br />

Asthetik und Massenkultur<br />

Über Versuche, die Austauschbarkeil des modernen Menschen zu verhindem<br />

1. Signale statt<br />

Kommunikation<br />

Fast überall bin ich nur einer von vielen. Ich<br />

gehöre zur modernen Massengesellschaft,<br />

muß deren Rituale mitmachen und mich<br />

ihren Spielregeln untetWerfen, sonst komme<br />

ich nicht weiter. Eigene Verhaltensformen<br />

am falschen Platz stiften VetWirrung<br />

und Chaos, das muß ich wissen. Es gibt keine<br />

privaten Verkehrsvorschriften, keine<br />

nur auf mein Kind zugeschnittenen Erziehungsziele,<br />

keine spezifischen Formen von<br />

Leistung und Anerkennung. Der individuell<br />

gestaltete Abenteuerurlaub kann mir<br />

nur angeboten werden, weil er massenhaft<br />

organisiert wird; den besonderen Geschmack<br />

gibt es nur, wenn viele ihn haben;<br />

die SelbstvetWirklichung auf dem Wochenendseminar<br />

ist fur jeden offen.<br />

Das alles ist noch kein Anlaß fur kulturkritische<br />

Klagen. Es gibt eine Ästhetik der<br />

Masse, ohne die unser Alltag gar nicht funktionieren<br />

könnte. Massenkultur ist visualisierte<br />

Kultur, die sich ihren vielen Mitspielern<br />

nur in Bildern verständlich machen<br />

kann. Die Qualität des Abenteuerurlaubs<br />

bemißt sich nicht nach etwa stattv;~habten<br />

Erlebnissen, sondern nach der Ubereinstimmung<br />

von vorgefundenem Prospekt<br />

und selbstgemachtem Foto; das Wochenendseminar<br />

war schön, weil wir uns dort<br />

unbeschwert an den Händen fassen und<br />

damit unserem Identitätsgefuhl Ausdruck<br />

verleihen konnten; die Besonderheit des<br />

besonderen Geschmacks übetWältigt mich<br />

vor der Litfaßsäule, wo ein junger, gesunder<br />

Mensch mir versichert : Ich rauche gern!<br />

Massenkultur ist Kultur in Bildern, beginnt<br />

mit Hinweisschildern auf Bahnhöfen und<br />

Flugplätzen, sie setzt sich fort in Reklame<br />

und Propaganda durch die Medien; und sie<br />

findet sich allenthalben in der totalen<br />

marktgerechten Verpackung aller Lebensbezüge.<br />

Das kann auch nicht anders sein,<br />

denn eine Massengesellschaft reproduziert<br />

sich nicht über das Gehirn und kann nicht<br />

darauf warten, bis alle ein hohes Abstraktionsniveau<br />

erreicht haben.<br />

Problematisch wird die Sache erst dort,<br />

wo das Prinzip der alltäglichen Ästhetikalle<br />

22<br />

anderen Prinzipien außer Kraft setzt, wo<br />

wir schon die Prämissen und Grundfiguren<br />

unseres Denkensund Handeins als optisch<br />

verlockende Billigangebote aus dem kommunikativen<br />

Supermarkt beziehen, wo wir<br />

nur noch das sehen und weiterreichen, was<br />

auf allen Ladentischen wohlfeil zu haben<br />

ist. Weil das so gut funktioniert, gewöhnen<br />

wir uns schnell daran. Wir kommen gar<br />

nicht erst so weit, uns eine eigene Stellungnahme<br />

zu leisten, sondern wir stimmen<br />

ein in einen Jargon, den alle benutzen ("Das<br />

macht mich betroffen", "Das tut mir weh",<br />

"Ich bringe mich ein"). Habe ich das eine<br />

Weile gemacht, dann nimmt mein alltägliches<br />

Auftreten den Charakter von Signalen<br />

an. Ich kann mich schließlich dem Kollegen,<br />

dem Nachbarn, dem Partner nur noch<br />

so mitteilen, als sei er ein Verkehrsteilnehmer,<br />

dem ich meine Absicht kundtun muß.<br />

Damit übertrage ich das Prinzip des fremdbestimmten,<br />

auf den Massenverkehr bezogenen<br />

Zeichens auf die persönlichen Beziehungen.<br />

Meine Äußerungen leuchten<br />

als Lampen in einem Signalsystem auf, dem<br />

ich ebenso angehöre wie alle anderen.<br />

Selbst "eigene" Absichten werden mir erst<br />

verfugbar durch das Vorzeigen von<br />

Versatzstücken, die ich vom Ladentisch bezogen<br />

habe.<br />

Muß das so sein? Ist Massenkultur<br />

gleichbedeutend mit Austauschbarkeit,<br />

oder gibt es ein Medium, das die Austauschbarkeit<br />

verhindert und uns ab und zu<br />

die Chance läßt, aus dem ästhetischen Massenkäfig<br />

auszubrechen? An diesem Punkt<br />

wird es schwierig. Unsere Verständigung<br />

im Alltag beruht auf der stillschweigenden<br />

Übereinkunft, daß jeder nur das empfindet<br />

und mitteilt, was auch alle anderen unter<br />

den gleichen Bedingungen mitteilen und<br />

empfinden können. Meine persönlichen<br />

Bekenntnisse werden nicht deswegen verstanden,<br />

weil die anderen sich bereitwillig<br />

dadurch erschüttern lassen, sondern, weil<br />

sie gelernt haben, mit solchen Bekenntnissen,<br />

die auch ihre eigenen sein könnten,<br />

ästhetisch umzugehen. Je platter meine<br />

Äußerung, umso besser kommt sie an.<br />

Wenn der Mitarbeiter, der beim Erreichen<br />

der Altersgrenze von seinen Kollegen verabschiedet<br />

wird, schlicht erklärt, er habe<br />

sich seit dreißig Jahren nach einem<br />

Rentnerdasein gesehnt, dann versteht ihn<br />

keiner. Er muß sagen: Ich habe immer gern<br />

gearbeitet; ich betrachte es als meine<br />

Pflicht, auch weiterhin zur Verfi.igung zu<br />

stehen, wenn ich gebraucht werde. atürlich<br />

braucht ihn niemand; und ob er gern<br />

gearbeitet hat oder nicht, ist den Kollegen<br />

völlig gleichgültig. Aber er hat das richtige<br />

Signal gesetzt und damit einem Lebensgefuhl<br />

Ausdruck verliehen, das sich an<br />

Fremdbestimmung klammert, weil es<br />

"Sinn" nur von anderen beziehen und eigenes<br />

Wirken lediglich in einem vorgegebenen<br />

ästhetischen Zusammenhang begreifen<br />

kann.<br />

Dieses Verfahren funktioniert überall :<br />

in der Pädagogik, wenn ich anderen erzähle,<br />

daß ich mein Kind "zur Freiheit" oder<br />

"zur Ordnung" erziehe Qe nachdem, welcher<br />

ästhetische Rahmen gerade gängig<br />

ist); oder in der Kommunalpolitik, wenn ein<br />

dringliches Problem nicht etwa gelöst, sondern<br />

"aufgegriffen" und mit einschlägigen<br />

Bemerkungen abgedeckt wird. Vorausgesetzt<br />

ist der Konsens darüber, daß Worte in<br />

erster Linie keinen inhaltlichen Sinn, sondern<br />

eine ästhetische Wirkung haben; daß<br />

Sprechen und Verhalten Signale setzen,<br />

daß nicht nur das, was ich äußere, sondern<br />

schon das, was ich überhaupt zu denken<br />

und zu empfinden wage, in ein System passen<br />

muß, wo es begriffen wird und mir auch<br />

noch die Gewißheit gibt, ich habe mich als<br />

eigenständige Person präsentier!.<br />

Werbung und Alltagsleben, Offentlichkeit<br />

und Privatheit durchdringen sich, beziehen<br />

sich aufeinander und bilden zusammen<br />

einen ästhetischen Gesamtkomplex.<br />

Was ich selber will, läßt sich von dem, was<br />

fi.ir jedermann visualisiert wird, kaum noch<br />

unterscheiden. "Ich rauche gern!" Nun,<br />

vielleicht rauche ich wirklich gern, aber darauf<br />

kommt es nicht an. Es kommt darauf<br />

an, ob sich meine Äußerung ästhetisch unterbringen<br />

läßt und eine gewisse Signalwirkung<br />

auslöst. Auch die Formel "Ich morde<br />

gern!" wäre in einem entsprechenden gesellschaftlichen<br />

Rahmen durchaus denkbar<br />

und ebenso wenig inhaltlich ernst zu neh-


Der Gast und die Masse<br />

men wie alle ähnlichen Floskeln. Verständlich<br />

machen kann ich mich allein unter der<br />

Voraussetzung, daß meine Äußerung nicht<br />

inhaltlich, sondern ästhetisch gemeint ist.<br />

Es geht nicht um Mitteilungen, sondern um<br />

das Abrufen von Stichworten fur eingeübte<br />

Reaktionen. Und darin, daß in diesen Rollenspielen<br />

alles aufeinander abgestimmt<br />

sein muß, wird der Nihilismus des Alltags<br />

sichtbar.<br />

2. "Witz" als ästhetische<br />

Kategorie<br />

Die üblichen Versuche, sich in der Massengesellschaft<br />

ein eigenes Profil zuzulegen,<br />

bewegen sich in der Regel auf ein und derselben<br />

Ebene. Sie laufen daraufhinaus, sich<br />

zu distanzieren und jeden Anschein von<br />

Konformität zu vermeiden. Das tragende<br />

Motiv ist die Angst vor Anpassung und die<br />

Sehnsucht nach Identität. Von vielen möglichen<br />

Beispielen nennen wir nur drei : Aussteigen,<br />

Jagd aufSündenböcke, Erziehung<br />

zum Nonkonformismus. Alle drei sind zum<br />

Scheitern verurteilt, weil sie innerhalb der<br />

Kategorien von Massenkultur bleiben und<br />

keinen Überstieg in ein anderes logisches<br />

System markieren. Aussteigen ist nicht Abkehr<br />

vom "normalen" Leben, sondern eine<br />

seiner möglichen Varianten; denn Massengesellschaft<br />

heißt immer auch pluralistische<br />

Gesellschaft, die viele Möglichkeiten<br />

bereithält, so daß jedermann sich mit seinem<br />

persönlichen Lebensentwurf darin<br />

wiederfinden und sogar aufGleichgesinnte<br />

rechnen kann. Nur in monolithischen, zentral<br />

verwalteten Gesellschaften, wo es keinen<br />

Pluralismus, aber eben darum auch keine<br />

"Masse" gibt, wird Aussteigen zum Problem.<br />

Die Jagd auf Sündenböcke zielt ebenfalls<br />

auf die Unverwechselbarkeit des Individuums,<br />

nur nicht bei mir selbst, sondern<br />

bei anderen. Auch dies ist ein Versuch, die<br />

relativ offene Gesellschaft wieder zu schließen<br />

und etwaige Mißstände aus einer einzigen<br />

Quelle zu "erklären". Wer sich daran<br />

beteiligt, setzt voraus, daß die Gesellschaft<br />

aus einem Guß ist, normalerweise reibungslos<br />

funktioniert und nur von einzelnen<br />

Übeltätern gestört wird. Aber ob Meier<br />

oder Müller eingesperrt wird, ist in einer<br />

Massengesellschaft mit Massendelikten im<br />

Prinzip gleichgültig.<br />

Erziehung zum Nonkonformismus<br />

schließlich will den nicht-austauschbaren,<br />

nach eigenem Entwurf lebenden Menschen<br />

hervorbringen. Sie übersieht, daß ein<br />

beigebrachtes Verhalten niemals originell<br />

ist, weil alles, was es zu lernen gibt, von vielen<br />

anderen ebenso gelernt werden kann.<br />

Erziehung, Lehren und Lernen sind überhaupt<br />

nicht auf einen einzelnen bezogen,<br />

sondern müssen massenhaft organisiert<br />

werden und erweisen sich damit als Elemente<br />

der Gesellschaft insgesamt, ganz<br />

gleich, welche Ziele diese nach eigenem<br />

Dafurhalten verfolgt. Angst vor Anpassung<br />

ist selbst ein Phänomen,_ das nur in einer<br />

pluralistischen Massengesellschaft entstehen<br />

kann. Wer vor allem bestrebt ist, sich<br />

nicht anzupassen, legt sich auf ein voraussehbares<br />

Verhalten fest. Er braucht gerade<br />

fur diese Haltung verläßliche Markierungspunkte,<br />

die ihm signalisieren, daß er auf<br />

dem "richtigen" Wege ist. Damit bezieht er<br />

sein Selbstverständnis nicht aus sich, sondern<br />

von außen. Anpassungund Nicht-Anpassung<br />

werden zu symmetrischen Figuren;<br />

sie lassen sich wegkürzen und heben<br />

einander au(<br />

Falls es eine Chance gibt, die Ästhetik<br />

des bestehenden gesellschaftlichen Systems<br />

mit seiner Dialektik von Anpassung<br />

und Nichtanpassung zu durchbrechen,<br />

dann können wir uns nicht planvoll aufihre<br />

Wahrnehmung vorbereiten. Diese Chance<br />

besteht vielmehr nur bei einzelnen Gelegenheiten;<br />

sie ist bedingt durch Zeit, Raum<br />

und Umstände, kann insofern niemals vorausgesehen<br />

werden und ergibt sich nicht<br />

mit Sicherheit fur jedermann. Unverwechselbar<br />

bin ich, wenn überhaupt, dann nur<br />

dort, wo ich etwas vollbringe, was in dieser<br />

spezifischen Situation kein anderer vollbringt.<br />

Das braucht nichts Spektakuläres zu<br />

sein: kein geniales Werk, keine sportliche<br />

Superleistung, keine Blitzkarriere; es genügt<br />

eine verblüffende Äußerung, eine unvermutete<br />

Handlung, eine überraschende<br />

Entscheidung, um die Ästhetik des Sy-<br />

stems der pluralistischen Massengesellschaft<br />

fur einen Moment sichtbar zu machen<br />

und dadurch außer Funktion zu setzen.<br />

Dies mag mir von Zeit zu Zeit glücken<br />

- oder auch nicht; jedenfalls kann ich keinem<br />

anderen sagen, wie er es machen muß,<br />

denn ich selber weiß das auch nicht. Ich<br />

kann allenfalls sagen: es bedarf dazu einer<br />

gewissen Disposition, die mir dazu verhilft,<br />

strukturelle Zusammenhänge zu erfassen<br />

und nicht auf alles hereinzufallen, was mir<br />

an gängiger Lebenshilfe angedient wird.<br />

Wenn im folgenden drei mögliche Wege<br />

zur Unverwechselbarkeit skizziert werden,<br />

dann kann das aus den genannten<br />

Gründen nur sehr abstrakt geschehen; es<br />

handelt sich also weder um Handlungsanweisungen,<br />

die von vielen befolgt werden<br />

können, noch um anthropologische Bestimmungen,<br />

die "im Prinzip" immer gelten.<br />

Man kann dergleichen - streng genommen-<br />

nicht formulieren; es ist wie mit<br />

Ludwig Wittgensteins Erwägungen zur<br />

Sprache, wenn er am Schluß seines "Tractatus"<br />

erklärt: "Er muß sozusagen die Leiter<br />

wegwerfen ... dann sieht er die Welt<br />

richtig." Unter diesen Einschränkungen<br />

läßt sich sagen: eine Profliierung des Individuums<br />

in der Massengesellschaft kann zustandekomrnen<br />

durch "Witz", durch "Verweigerung",<br />

durch "Gestaltung". Das erste<br />

bezeichnet eine spontane intellektuelle<br />

Zerstörung der herrschenden Ladentisch­<br />

Mentalität; das zweite steht fi.ir einen Versuch,<br />

in bestimmten Situationen dem<br />

Gruppendruck einer Institution zu widerstehen;<br />

das dritte betrifft die mögliche<br />

ästhetische Innovation durch künstlerische<br />

Kreativität.<br />

Der Witz hat eine ähnliche Wirkung<br />

wie ein Kurzschluß, der das bestehende<br />

elektrische System nicht nur in seinen Verzweigungen<br />

sichtbar macht, sondern zugleich<br />

auch lahmlegt. Im Witz leuchten die<br />

ästhetischen Strukturen eines Kommunikationssystems,<br />

einer Institution, eines gewohnten<br />

Verhaltens auf und werden eben<br />

damit schlagartig außer Funktion gesetzt.<br />

Der Witz ist selbst ein ästhetisches Formprinzip:<br />

er macht fur de~enigen, der fur so<br />

etwas Sinn hat, die Lächerlichkeit eines Ri-<br />

23


Der Gast und die Masse<br />

tus, die Borniertheit einer Regelung, die<br />

Brutalität eines Herrschaftsapparates, die<br />

Absurdität einer Vcrschrift, die Hysterie einer<br />

Gemeinschaft sichtbar. Die Logik der<br />

vorgefundenen Lebensform wird relativiert<br />

und als eine unter mehreren möglichen<br />

enthüllt.<br />

In diesem weiten Sinne ist also "Witz"<br />

nicht allein dadurch gekennzeichnet, daß<br />

man schallend darüber lacht. Vielleicht<br />

lacht man überhaupt nicht, vielleicht ist es<br />

gerade so, daß den Zuhörern das Lachen<br />

vergeht; und vielleicht weiß der Urheber<br />

des Witzes nicht einmal, daß er einen Witz<br />

gemacht hat. Ein guter Witz gelingt einem<br />

Menschen nur in seltenen Sternstunden.<br />

Und wenn er ihm gelingt, kann er das nicht<br />

vermitteln; er kann nicht einen anderen<br />

auffordern: Sei witzig! Könnten wir dergleichen<br />

verallgemeinern und das Prinzip des<br />

Witzes pädagogisch beibringen, dann wäre<br />

es um die UnveiWechselbarkeit geschehen.<br />

Natürlich ist der Witz nichts<br />

Außergewöhnliches; er fällt nicht vom<br />

Himmel, sondern setzt voraus, daß der witzige<br />

Mensch sich in der pluralistischen<br />

Massengesellschaft zurechtgefunden hat;<br />

er bedarf einer "normalen" logischen Ebene,<br />

um sich von ihr zu distanzieren. Insofern<br />

muß sich auch der Witzige in gewissem<br />

Sinne "anpassen". Diese Dialektik von gewohnter<br />

Massenlogik und ungewohnter<br />

Logik des Witzes wird manchmal sichtbar<br />

in der Werbung; denn Werbung muß<br />

einerseits die Masse ansprechen und deren<br />

durchschnittliche Sehnsüchte visualisieren,<br />

andererseits aber auch durch witzige<br />

Verfremdung ihre innovative Absicht<br />

kenntlich machen.<br />

3. VeiWeigerun~ von<br />

"Gemeinschaft'<br />

Auch in der "VeiWeigerung" ist Unverwechselbarkeit<br />

möglich, wenngleich nicht<br />

planmäßig erreichbar. Die radikalste Form<br />

der VeiWeigerung ist die bewußte Opposition<br />

gegen ein Terror-Regime bis zum Einsatz<br />

des Lebens. Daß eine solche kompromißlose<br />

Haltung nur jeweils von einem einzelnen<br />

praktiziert, nicht aber vielen empfohlen<br />

werden kann, liegt auf der Hand.<br />

24<br />

Doch selbst in unserem durchschnittlichen<br />

Alltagsleben gibt es immer wieder Gelegenheiten<br />

zur VeiWeigerung. Es geht dann<br />

nicht gleich um Leben und Tod, aber doch<br />

vielleicht um Mut oder Feigheit, um intellektuelle<br />

Redlichkeit oder ästhetisierende<br />

Verharmlosung, um Aushalten oder Verschleiern<br />

von "kognitiver Dissonanz" .. Verweigerung<br />

im Sinne von UnveiWechselbarkeit<br />

kann nur von Individuen odervielleicht<br />

auch von Kleingruppen geleistet werden;<br />

die politische Opposition einer Großgruppe<br />

sagt sicherlich generell etwas über<br />

Denkmuster, moralische Auffassungen<br />

und soziale Zugehörigkeit ihrer Mitglieder<br />

aus, nichts aber darüber, ob sichjeder Einzelne<br />

gegen jeden Gleichgesinnten austauschen<br />

läßt.<br />

Daher ist Sprödigkeit angesagt gegen<br />

Zumutungen, die in der durchschnittlichen<br />

Alltäglichkeit an mich herangetragen werden.<br />

Nehmen wir drei Beispiele: Abwehr<br />

von wohlfeilen Angeboten, die mir Identität<br />

verheißen; Abwehr der Vermittlung von<br />

Perspektiven durch Kundige, die es besser<br />

wissen als ich; Abwehr der eingefahrenen<br />

Spielregeln, die es in jeder Institution gibt,<br />

wo die chronische ästhetische Zustimmungaller<br />

Mitglieder als selbstverständlich<br />

vorausgesetzt wird.<br />

Die Angebote von Identität und harmonischem<br />

Lebensgefuhl gibt es heute<br />

überall auf den pädagogischen, psychologischen<br />

und weltanschaulichen Ladentischen.<br />

Menschen erstreben eine ästhetische<br />

Identität. Sie wollen sich in der Großgruppe<br />

wohlaufgehoben fuhlen und ihre<br />

individuelle Begrenztheit in Gemeinschaftserlebnissen<br />

übeiWinden. Ihnen wird<br />

gesagt, sie könnten das leicht selbst erreichen:<br />

durch Selbstbedienung mit gängigen<br />

Argumenten, Verhaltensmustern un Denkfiguren,<br />

ebenso wie im Supermarkt. Aber<br />

diese Form des Versuchs, sich gegen die<br />

Austauschbarkeit zu wehren, kommt<br />

schnell an ihre Grenze, denn gerade die<br />

dem Einzelnen angebotene Identität ("Wir<br />

sind alle furden Frieden!") ist ja massenweise<br />

zu haben, hebt also die Austauschbarkeit<br />

nicht auf, sondern besiegelt sie.<br />

Die Vermittlung von Perspektiven und<br />

Leb ~ nssinn gilt bei rechtschaffenen Erwachsenen<br />

als Pflicht gegenüber der Jugend.<br />

In der Öffentlichkeit wird ja chronisch<br />

darüber geklagt, daß die Jugend keine<br />

Lebensperspektiven und moralischen Kategorien<br />

mehr besitze. EIWachsene beschuldigen<br />

sich, weil sie versäumt haben,<br />

der Jugend solche Perspektiven zu vermitteln.<br />

Damit halten sie an der autoritären<br />

Lenkung der Jugend fest, denn "Perspektive"<br />

ist eine bestimmte Art des Sehens, die<br />

zielgerichtet gesteuert werden soll. Hier<br />

wird der ästhetische Charakter solcher<br />

Beeinflussung deutlich. Wer dergleichen<br />

fordert oder mitmacht, glaubt immer noch,<br />

es sei generell möglich, jungen Menschen<br />

die "richtige" Sichtweise beizubringen. Der<br />

Versuch, Perspektiven zu vermitteln und<br />

dadurch die Austauschbarkeit zu übeiWinden,<br />

schlägt um in neue Austauschbarkeit,<br />

weil nun wieder alle dasselbe sehen, und<br />

zwar so, wie es von den tonangebenden Instanzen<br />

fur normal gehalten wird.<br />

Die Spielregeln in der Institution (in Behörden,<br />

Internaten, Vereinen) ordnen nicht<br />

nur den äußeren Ablauf, sondern auch das<br />

Denken und die Reaktionsweise, die Moral<br />

und die Orientierung der Mitglieder. Doch<br />

wer die Institution insgesamt ebenso vorbehaltlos<br />

veiWirft, wie die meisten anderen<br />

ihr zustimmen, kann zwar vorübergehend<br />

einigen Wirbel verursachen, wird aber bald<br />

vor die Alternative gestellt werden, sich<br />

entweder zu unteiWerfen oder zu gehen.<br />

UnveiWechselbar wird er erst dann, wenn<br />

er bei gegebener Gelegenheit die Spielregeln<br />

ironisch außer Kraft setzt: etwa indem<br />

er öffentlich kundtut, er habe ein Verbot<br />

übertreten; indem er in einzelnen Fällen die<br />

Inkompetenz eines Funktionsträgers enthüllt;<br />

indem er durch subversive Fragen<br />

den Mangel an Begründung fur geltende<br />

ormen freilegt. Ähnliches kann geschehen<br />

in happenings, Hausbesetzungen und<br />

para-politischen Spontanakti~nen. Aber<br />

der Knalleffekt, mit dem die Asthetik des<br />

bislang anerkannten Systems durch eine<br />

ästhetische Verfremdung und den Überstieg<br />

auf eine andere logische Ebene zerstört<br />

wird, ist nur beim erstenmal zu eiWarten;<br />

wird dieses Vorgehen zur Routine, so


Der Gast und die Masse<br />

verpufft die Wirkung, und die Vorfälle werden<br />

ebenso austauschbar wie die agierenden<br />

Figuren.<br />

Verweigerung zeigt sich dort, wo die<br />

Ästhetik eines herrschenden Systems aufgebrochen<br />

wird. Umgekehrt sind totalitäre<br />

Systeme darauf bedacht, ~ine in sich geschlossene,<br />

umgreifende Asthetik zu bieten,<br />

in der jedermann eine optisch und akustisch<br />

aufbereitete emotionale Heimat finden<br />

kann. So hat der Nationalsozialismus<br />

durch seine sinnlich wirksame Propaganda<br />

einen ästhetischen Zusammenhang geschaffen,<br />

der eine homogene, nicht von Widersprüchen<br />

und unterschiedlichen Interessen<br />

zerrissene Gesellschaft vortäuschte<br />

und mit seiner Ästhetik der totalen Volksgemeinschaft<br />

alle Gruppen umschloß.<br />

Auch die politische Zielsetzungwar letzten<br />

Endes ästhetisch, nicht sachlich aus einem<br />

greifbaren Interesse heraus begründet:<br />

Ließ sich die Welt nicht als ganze erobern,<br />

dann sollte sie als ganze untergehen.<br />

In diesem ästhetischen Klima konnten<br />

sich gerade auch prominente Künstler und<br />

Schriftsteller dem Regime in die Arme werfen.<br />

Ästhetik wurde angewendet wie eine<br />

Droge, die eine direkte Problemlösung anbot<br />

und es nahelegte, vor der politischen<br />

Realität die Augen zu schließen. Das auf<br />

Ästhetik angelegte System und der ästhetisch<br />

existierende Künstler konnten sich<br />

aufeinander beziehen: die Ästhetik des Systems<br />

schien dem Künstler über alle politischen<br />

Bedenken hinweg ein genuines Tätigkeitsfeld<br />

zu eröffuen; und er selber konnte<br />

sich die Totalität der Volksgemeinschaft<br />

ästhetisch zunutze machen: "Für mich existiert<br />

das Volk erst in dem Moment, wo es<br />

Publikum wird." (Richard Strauss)<br />

4. Kritisches Potential<br />

in künstlerischer Kreativität<br />

Damit sind wir bei der dritten möglichen<br />

Form des Kampfes gegen die Austauschbarkeit<br />

des modernen Menschen. Wo<br />

Künstler glauben, die Kunst könne in totalem<br />

Zugriff die Welt wieder in Ordnung<br />

bringen, dort ist allerdings die Versuchung<br />

groß, sich einem ästhetisch drapierten totalitären<br />

System zu unterwerfen und die kritisehe<br />

Funktion der Kunst preiszugeben. Die<br />

Unbedingtheit des künstlerischen Engagements,<br />

die Lösung der Kuns't von der wirklich<br />

existierenden Gesellschaft kann dialektisch<br />

in einen totalen Zusammenbruch<br />

der Kunst umschlagen. Dafur drei Beispiele:<br />

(1) Der heroische Realismus geht davon<br />

aus, daß ein inhaltlicher Bezug zu Moral<br />

und Werten durch eine Entscheidung in<br />

intellektueller Verantwortung überhaupt<br />

nicht mehr hergestellt werden kann. Die<br />

Welt wird so, wie sie ist, hingenommen. Es<br />

ist dann auch im Prinzip gleichgültig, auf<br />

welcher Seite ich stehe. Ich bewahre<br />

Gleichmut, bleibe tapfer auf dem Posten,<br />

habe aber keinen Anlaß fur ein spezifisches<br />

Engagement. Diese Weltsicht verleitet zu<br />

einer Ästhetik des Schreckens. Der Künstler<br />

wird durch Leid und Elend, Grausamkeit<br />

und Tod nicht mehr aufgewühlt. Er<br />

präsentiert als neuen Menschentypus nicht<br />

den kritischen Aufklärer, der Partei ergreift,<br />

sondern den tapferen Einzelnen, der das<br />

ihn umwogende Chaos erträgt, ohne zu<br />

verzagen. Dieser individuelle Heroismus<br />

will die Welt strukturieren, schlägt aber um<br />

in ein beliebiges "Aushalten" jeder Katastrophe;<br />

der Einzelne wird zum Spielball<br />

politischer Gruppen und verfällt gerade in<br />

seiner Einsamkeit erst recht der Massenexistenz.<br />

(2) Auch die Beschlagnahme der Kunstfur<br />

die politische Revolution schlägt dialektisch<br />

in eine Zerstörung der Kunst um. lnsofern<br />

irren die frühsowjetischen Kunsttheoretiker,<br />

wenn sie die (proletarische)<br />

Kunst als unmittelbar wirkendes, bewußt<br />

eingesetztes Werkzeug der Lebensgestaltung<br />

stilisieren. Eine Kunst, die sich in dieser<br />

Weise organisieren läßt, ist eine um ihre<br />

kreative Dimension verkürzte Kunst, mithin<br />

keine Kunst mehr. Kunst wird von denen,<br />

die sie fur vorausgesetzte Ziele einspannen<br />

wollten, immer schon wie eine<br />

fremdbestimmte Veranstaltung verstanden,<br />

die sich zielgerichtet organisieren läßt.<br />

Man möchte sich gern der freiheitlichen<br />

Elemente der Kunst versichern, ohne zu<br />

bemerken, daß dieser Zugriff die Kunst zerfrißt<br />

und ihrer Dialektik beraubt.<br />

(3) Schließlich finden sich die etwa im<br />

Futurismus und Expressionismus unternommenen<br />

Versuche einer radtkalen Verlinderung<br />

der Welt, der Aufschrei des fremdbestimmten<br />

Menschen, die Forderung<br />

nach einer Umwertung der vorgefundenen<br />

Werte dialektisch gerade in der Wirklichkeit<br />

totalitärer Systeme "erfullt". Solange<br />

sich die Innovation noch ästhetisch fassen<br />

ließ, war sie "witzig": "Und wir jagten dahin<br />

und zerquetschten auf den Hausschwellen<br />

die Wachhunde, die sich unter unseren<br />

heißgelaufenen Reifen wie Hemdkragen<br />

unter dem Bügeleisen hogen." (F.T. Marinetti)<br />

Aber der Witz hielt nicht lange vor,<br />

denn schon hier lauerte der Faschismus am<br />

Horizont. Ähnlich lief es mit dem Drama<br />

des Expressionismus, in dem sich die Auf-.<br />

bruchstimmung einer ganzen Generation<br />

ausdrückte. Es war der Kampf des Lebens<br />

gegen die Starrheit, der Söhne gegen die<br />

Väter, der Unterdrückten gegen die Herrschenden,<br />

des Individuums gegen die Masse,<br />

der Gemeinschaft gegen die Gesellschaft,<br />

des Gefuhls gegen die Ratio, der<br />

Mitmenschlichkeit gegen die Entfremdung;<br />

gute und schöne Absichten, auch fur<br />

uns heute durchaus nachvollziehbar; aber<br />

der dialektische Umschlag in die Volksgemeinschaft<br />

und in die ästhetische Totalität<br />

des Nationalsozialismus lie nicht lange auf<br />

sich warten.<br />

Gemeinsam ist allen solchen ästhetischen<br />

Unternehmungen die Sehnsucht<br />

nach dem neuen Menschen und der Glaube,<br />

dessen Hervorkommen durch die<br />

Kunst befördern zu können. Dieses Wagnis<br />

erweist sich als zwiespältig. Der neue<br />

Mensch ist gedacht als der gute neue<br />

Mensch; doch was spricht dagegen, daß<br />

dieser neue Mensch auch der Verneiner<br />

und Zerstörer aller Ordnung wird? Im radikalen<br />

Wandel liegt ein totalitärer Anspruch.<br />

Der Wille zum Neuen kann sich gegen<br />

aufklärerisch auswirken und Innovation<br />

verhindern. Wenn alle schuldig sind,<br />

wenn alle sich ändern müssen, dann verschwinden<br />

die ungerechten Herrschaftsverhältnisse<br />

und die konkrete Schuld einzelner<br />

Menschen aus dem Bewußtsein. Dadurch<br />

wird die feststellbare Verantwortung<br />

25


Der Gast und die Masse<br />

fur bestimmte Fakten und Entwicklungen<br />

eingeebnet. Gesellschaftliche Zusammenhänge<br />

bleiben undurchschaut, da jedes<br />

Phänomen auf die allgemein menschliche<br />

Ebene emporgehoben wird. So muß gefragt<br />

werden: Ist vielleicht die Sehnsucht<br />

nach dem neuen Menschen nur eine Chif-.<br />

fre dafur, daß im Grunde nichts verändert<br />

zu werden braucht? Ist der neue Mensch<br />

nur ein Traum, eine Selbststilisierung, ein<br />

Ausdruck der passiven Haltung des Untertanen?<br />

Wird der neue Mensch nur als der<br />

große Führer hervortreten und mir die<br />

Welt so interpretieren, daß ich mich selbst<br />

nicht zu verändern brauche?<br />

Wie kann der Künstler mit dieser Gefahr<br />

des dialektischen Umschlags fertig<br />

werden und dennoch der Austauschbarkeil<br />

des Menschen in der Massenkultur<br />

entgegenwirken? Eine Antwort läßt sich<br />

nur negativ, durch Ausschließung gewinnen.<br />

Sie könnte lauten: Kunst leistet keine<br />

totale Veränderung; Kunst erfullt keine<br />

"Aufgabe"; Kunst hebt sich ab von chronischer<br />

Visualisierung.<br />

Kunst verzichtet auf eine totale Veriindenmg,<br />

denn sie bliebe mit einem solchen Anspruch<br />

gerade in den logischen Kategorien<br />

der zu verändernden Gesellschaft. Einerseits<br />

sind Kunstwerke selbst Bestandteil der<br />

Gesellschaft, weisen deren Merkmale auf<br />

und akzentuieren ihre Möglichkeiten, denn<br />

sie sind von Raum, Zeit und Gelegenheit<br />

abhängig. Kunstwerke als Steinplastiken,<br />

Kunstwerke mit technischer Apparatur,<br />

Kunstwerke als happenings, Kunstwerke<br />

als Bewegungselemente sind nur Kunstwerke,<br />

solange sie in einer Ausstellung aufgebaut<br />

sind, nicht aber auf dem Transport.<br />

Andererseits markieren sie gerade dadurch<br />

eine Distanz, eine ironische Verfremdung<br />

derselben Gesellschaft: sie treten hier und<br />

da in Erscheinung, "erzählen einen Witz"<br />

und verschwinden wieder. Es kommt also<br />

auf das Arrangement des Umfeldes und auf<br />

die Konstellation der beteiligten Personel'l<br />

an.<br />

Kunst hat kerne Atifkabezu erfullen: Gäbe<br />

es eine solche Aufgabe, so müßten Sinn<br />

und Ziel der Kunst nach den bereits verfugbaren<br />

Kategorien formuliert worden sein,<br />

26<br />

aus denen sich die Kunst gerade gelöst hat.<br />

Es gibt aber keine Instanz mehr, die der<br />

Kunst schon vorausliegt, so daß sie sich an<br />

ihr messen lassen müßte. Vielmehr ist<br />

Kunst selbst ein ursprünglicher Zugangzur<br />

Wirklichkeit. Die Frage, welche Aufgabe<br />

die Kunst in der Gesellschaft zu erfullen habe,<br />

greift allemal zu kurz. Kunst gehört<br />

nicht auf die Ebene der Mittel, sondern auf<br />

die der "Zwecke". Sie ist selbst an der möglichen<br />

Sinngebung beteiligt, liegt also im<br />

Bereich dessen, was das "Ziel" aller denkbaren<br />

Aufgaben sein könnte.<br />

Kunst bildet ein Gegengewichtgegen die<br />

chronische Visualisierung des gesamten<br />

Alltagslebens in den Medien. Der Drang<br />

zur Visualisierung ist ein Kennzeichen von<br />

Massenkultur, wo Wahrnehmung weniger<br />

über das Gehirn als über die Sinne erfolgt.<br />

Die allgemeine Visualisierung hat den Charakter<br />

von Signalen, Verkehrszeichen, Hinweisschildern;<br />

sie ist unkritisch und zweckgebunden;<br />

sie verbreitet Klischees,<br />

reproduziert das Vorhandene, dient der<br />

Unterhaltung und wird zum Erfahrungsersatz.<br />

Massen-Visualisieru ng heißt Leben in<br />

einer Bilderwelt<br />

Sicherlich: auch die Kunst setzt eine<br />

Bilderwelt voraus; und in der Tat sind die<br />

Unterschiede zwischen Kunst und Massenvisualisierung<br />

nur idealtypisch und theoretisch<br />

faßbar, während sie in der Wirklichkeit<br />

oft verschwimmen. Dieser Unterschied<br />

liegt auch nicht in einer absolut vorhandenen<br />

Qualität eines Werkes selbst,<br />

sondern im sozialen Kontext, im Gebrauch,<br />

in der Wirkung, im Publikum. Er liegt in der<br />

Frage: Will ich mich lediglich wiedererkennen,<br />

suche ich Bestätigung und Halt; oder<br />

lasse ich mich zu neuem Sehen, Denken<br />

und Handeln anregen?<br />

5. Fazit: Chancen zur Abwehr<br />

der Austauschbarkeit<br />

Versuchen wir zum Abschluß, ein Fazit<br />

zu ziehen. Ich habe eine dreifache Chance,<br />

die überall und jederzeit wirksame Tendenz<br />

zur Austauschbarkeil vorläufig aufZuhalten.<br />

1. Ich bfJ'ahe die Massenkulturund widerstehe<br />

der Versuchung zu eskapistischen<br />

Privatlösungen. ur wenn ich nicht aussteige,<br />

nurwenn ich keinen "neuen Menschen"<br />

will, nur wenn ich aufTräume von totaler<br />

Veränderung verzichte, wird mir die dialektische<br />

Grundfigur der Massengesellschaft<br />

deutlich. Ich erkenne: Einerseits gerät jede<br />

Innovation, sobald sie zum Programm gemacht<br />

und "pädagogisch" fur viele organisiert<br />

wird, zur venvechselbaren kulturellen<br />

Ware vom Ladentisch; andererseits beruht<br />

der Pluralismus derselben Gesellschaft darauf,<br />

daß nichts mit otwendigkeit vorgegeben<br />

ist.<br />

2. Ich lasse mich aufpersiin!Uhe Beziehungen<br />

ezn und scheue nicht das darin liegende<br />

Risiko. Unverwechselbar werde ich nicht<br />

schlechthin, sondern nur fur bestimmte<br />

Personen. Wer Beziehungen allein in Form<br />

von Waren als "Beziehungskisten" wahrnimmt<br />

und alle Bemühungen zur Überwindung<br />

der Austauschbarkeil selbst schon fur<br />

austauschbar und öffentlich anbietbar hält,<br />

bleibt wirklich austauschbar.<br />

3. Ich habe kezne Angst vor Entfremdung.<br />

Das Gespenst der Entfremdung entspringt<br />

der Sehnsucht nach einer Existenzform, in<br />

welcher der Mensch noch (oder schon wieder)<br />

bei sich selber ist. Aber das Bemühen,<br />

der Entfremdung zu entkommen, fuhrt in<br />

immer neue Frustrationen. Denn ist die<br />

Aufhebung der Entfremdung nicht nur ein<br />

ästhetisches Ziel? Ist das Verlangen nach<br />

Ganzheitlichkeil und Identität nicht nur eine<br />

ästhetische lllusion? Ist Schillers spielender<br />

Mensch wirklich wünschenswert?<br />

Auch Hitler hat in gewissem Sinne "gespielt".<br />

Alle drei Wege haben eine ästhetische<br />

Dimension. Die Bejahung der Massenkultur<br />

ermöglicht die ästhetische Verfremdung<br />

und die aus ihr folgende kritische Abstandnahme;<br />

das Risiko der persönlichen<br />

Beziehung spiegelt sich im Risiko, mich<br />

persönlich auf ein Kunstwerk einzulassen;<br />

die Gelassenheit gegenüber der Entfremdung<br />

erleichtert die Abwehr eines mit dem<br />

Anspruch totaler Ästhetik auftretenden<br />

Menschenbildes.


Der Gast und die Masse<br />

Hans-Dieter Bahr<br />

Xenia<br />

oder der ephemere Aufenthalt<br />

Identität als Verfehlung<br />

Es mag veiWUndern, von der Philosophie<br />

her ein Thema angehen zu wollen, das in<br />

ihr keinen Ort zu haben scheint, nicht einmal<br />

über den Umweg oder im Nachklang<br />

einer mythischen Metaphorik. (Man denke<br />

an Davids Hoffuung oder an Ciceros<br />

Melancholie, nur ein Gast auf dieser Erde,<br />

einer Herberge, zu sein.) Man wird also auf<br />

die Sozialgeschichte und ihre Wissenschaften<br />

verweisen wollen, gleichwohl dabei auf<br />

das Erstaunliche treffen, daß gerade diese<br />

sich nie des Themas angenommen haben.<br />

Und wäre nicht zu vermuten, daß sie es auf<br />

ihre Weise gar nicht konnten?- Nicht, daß<br />

die Erscheinung des Gastes nicht befragt<br />

wurde, stellt das Problem dar, sondern daß<br />

die Art seiner Brfragung, - sei sie ethnologisch,<br />

rechtlich, soziologisch, - zu Identz~<br />

tiitsaussagen über ihn gelangen wird, die seine<br />

Erscheinung wesentlich verfehlen. So<br />

werden die ausgrenzenden Urteile über<br />

den Gast zwar zum Ort seines Schutzes, wo<br />

er aber auch vieldeutig und unkenntlich<br />

bleibt:<br />

Er ist weder nur Fremder noch Einheimischer,<br />

nicht nur der Reisende im Unterschied<br />

zum Ansässigen oder der Unbekannte<br />

im Unterschied zum Bekannten.<br />

Fremden Gesetzen unterworfen kann er als<br />

"Knecht" gelten, den doch die Gastfreundschaft<br />

zum "Herrn" erhebt (Abraham,<br />

Odysseus). In ihm kann ein Freund oder<br />

Feind vermutet, er kann zum Vertrauten<br />

oder zum Verräter werden. Er ist weder<br />

durch Besitz noch durch Besitzlosigkeit zu<br />

definieren, weder durch Rechte noch<br />

durch Rechtlosigkeit, und sein Incognito<br />

oder sein Schicksal vermögen selbst seine<br />

Standeszugehörigkeit und seinen amen<br />

auszulöschen.<br />

Aber der Gast ist nicht wegen einer Armut<br />

an möglichen Bestimmungen unidentifizierbar;<br />

seine versuchte Identifizierung<br />

verHingt sich vielmehr im Netz der endlosen<br />

Geschichten, die er berichtet oder die<br />

über ihn erzählt werden, und in diesen kann<br />

der ungebetene Gast ebenso in den eingeladenen,<br />

der erwartete in den unheimlichen,<br />

der steinerne in den engelhaften Gast<br />

wechseln. Indem der Gast die sozialen Zu-<br />

Schreibungen und Rollen wie einen weiten<br />

Mantel über sich hängt, bewegt er sich immer<br />

schon in den Spielregeln des Anschlusses<br />

und der Zugehörigkeit, in welchen er<br />

aber zugleich jenen rätselhaften Status bezieht,<br />

den die Philosophie der euzeit dem<br />

"Subjekt" im Sinne des ego alter ego zuzuweisen<br />

suchte. Aber der Gast ist auch nicht<br />

durch die Formen einer inneren, reflektierten<br />

Austauschbarkeil bestimmbar, welche<br />

im Gestus einer Zurückhaltung seines Begehrens<br />

und im partiellen Abbruch wechselseitiger<br />

Ersetzungen seine E~enh ezikon ­<br />

stituieren. Ohnehin ist das kodifizierte, äußerlich<br />

binäre Verhältnis von Gast-Wirtein<br />

spätes geschichtliches Resultat, sowohl in<br />

sozio-ökonomischer wie vertragsrechtlicher<br />

Hinsicht. Das Opfer, Gabe und Gegengabe,<br />

der Austausch der Geschenke,<br />

die ewigen Begleichungen einer Schuld gehen<br />

in diesem Verhältnis voraus und verweisen,<br />

zumindest im europäischen Raum<br />

der Antike, auf eine Austauschbarkeit des<br />

"Gastes" (xenos, hospes) als ebenso Gebender<br />

wie Nehmender. Aber im Moment der<br />

Wende bildet er "selbst" die Schwelle zwischen<br />

dem Sakralen und dem Profanen,<br />

unentscheidbar zumeist, ob als ein Elender<br />

oder als ein Gott. Daher blieb die Gastlichkeit<br />

stets die Sphäre, an deren Rändern man<br />

auf das Auftauchen von Botschaften lauerte,<br />

die Klarheit und Erkenntlichkeit bringen<br />

sollten und doch mit diesen Identifizierungen<br />

eben den Gast zum Verschwinden<br />

bringen. Noch Chrysostomos warnte, frage<br />

nie einen Gast, woher kommst du, wie<br />

heißt du, wohin gehst du. Und mache Völker<br />

gewährten den Ankömmlingen exzessivste<br />

Gastfreundschaft, Fest der Begrüßung,<br />

der Bewirtung, Beherbergung und<br />

Beschenkung, die keinen Tausch und kein<br />

Abkommen einleiteten, sondern sich als<br />

Darstellungsweisen über- bieten sollten. Indem<br />

sie sich weigerten, Gegengaben der<br />

Gäste anzunehmen, - nicht einmal in der<br />

Form, sich das Erlebte des Anderen erzählen<br />

zu lassen und sie danach auszufragen, ­<br />

suchten sie die Gesetze des Tausches zu suspendieren,<br />

als existiere der Gast nur in der<br />

Paradoxie seiner "Undankbarkeit", Schuldlosigkeit.<br />

Es geht um nichts als um die Be-<br />

gegnung selbst, die sich inszeniert, um ein<br />

Ent-gegen-kommen, worin die Opposition<br />

des Auseinander und Ineinander, des<br />

Gegeneinander oder Miteinander unterlaufen<br />

werden durch ein sich geledendes<br />

Beiet'nander: der Gast als eine <strong>Spur</strong> unterhalb<br />

oder quer zu den Weisen des Gebens<br />

und Nehmens.<br />

Von dieser extremen Gastlichkeit aus,<br />

die ein Wissen von sich jenseits der Oppositionen<br />

darzustellen sucht, ließe sich die Frage<br />

nach der "Subjektivität" vielleicht anders<br />

wiederholen. Liegt nicht dem abendländischen<br />

Entwurf ihrer "Identität" die verdrängte<br />

Bestimmung einer Ntihe voraus,<br />

die vor der Zertrennung der Unterschiede<br />

in Verschiedenheit und Einerleiheit besteht?<br />

Wobei hier einander nahe sein kann,<br />

was als Meßbares fern liegt,- wie im Begriff<br />

der Folge immer schon angesprochen war;<br />

oder umgekehrt einander fern bleibt, was<br />

meßbar nahe liegt- wie der Begriff des einander<br />

Fremdgewordenseins anzeigt. Die ä­<br />

he der Gäste ist ein "Bei sich als einem Anderen<br />

set'n ': wobei das "Als" nicht Partikel einer<br />

Rückkehr und Spiegelung ist, die immer<br />

nur durch eine Unterwerfung und Beugung<br />

(Reflexion) erreicht werden kann.<br />

"Als" meint hier das "Also" der Folge, und<br />

die Folge zeigt die "Einfaltigkeit" des Subjekts<br />

vielmehr als eine im Zeitstau aufgeworfenen<br />

Vielfaltigkeit, die es nicht zum<br />

Zerfall in bloße, beliebige Pluralitäten kommen<br />

läßt.<br />

In der einfachen Reflexionsbestimmung<br />

des Ich als "in sich seiend mit sich<br />

identisch" klingt die gastliche ähe des<br />

Entgegenkommens noch an ("Mitsein")<br />

und. wird zugleich vertrieben (",nsichsein"<br />

als Aussetzung des Außen). In der Leugnung<br />

und Verdrängung des Gastes konstituiert<br />

sich Identität als der reine, sich selbst<br />

seiende Unterschied überhaupt oder als die<br />

absolute Vereinzelung des Subjekts als Ich.<br />

Von dieser Vereinzelung her, in seiner sozialen<br />

Konstituierung als In-dividuum, verliefen<br />

die abendländischen Strategien der<br />

Vergesellschtifiung als die je besonderen Einheiten<br />

der Vielen gegen die Andersheit vieler<br />

Anderer. Und darin ist die Geschichte<br />

der Gewalt des Zusammenhangs als<br />

27


Der Gast und die Masse<br />

Sicherheit immer schon eine der endlost;n<br />

Gewaltgegen die Gewalt, die Geschichte ihrer<br />

Unlösbarkeit. Und von daher lassen sich<br />

alle Strategien der Identifikation als unentwegte<br />

Verdrängungen einer dadurch erst<br />

beunruhigend und verdächtig gewordenen<br />

Gastlichkeit beschreiben, deren ebenso<br />

unentwegtes Wiederauftauchen die Geschichte<br />

des Zlffolls und der Unsicherheiten<br />

schreibt. Im Gestus der Identifizierung verfehlen<br />

wir den Gast und vereinzeln, so daß<br />

die Vereinigungen gegen solches Ausgeliefertsein<br />

des rein Eigenen aufgerufen werden.<br />

Und vielleicht basieren alle ausweglosen<br />

Zirkelhaftigkeiten auf solchem Verfehlen<br />

des Gastes.<br />

Von der Neugierde<br />

zum V erdacht.:<br />

die polizeiliche Erzählung<br />

Es mag paradox klingen, die Verdrängung<br />

des Gastes als eine Grundstruktur europäischer<br />

Sozialität beschreiben zu wollen und<br />

zugleich zuzugeben, daß die Tendenz unserer<br />

Gesellschaft wie nie zuvor darauf zu<br />

gehen scheint, dem Status des Gastes mehr<br />

Raum zu geben als dem alten Spiel familiärer<br />

Intimitäten und vereinzelter/ vermasster,<br />

"verstaatlichter" Anonymitäten. Es<br />

wird uns immer weniger gelingen, entweder<br />

zuhauseoder unterwegs zu sein. Dazwischen<br />

aber lag immer schon die alte Würde<br />

und die Verehrung des Gastes als das ausgezeichnetste<br />

Merkmal menschlicher Urbanitiit.<br />

Es gibt die unabschließbare, großartige<br />

Neugierde fur den Gast, die uns<br />

selbst geleitet, die ein an sich selbst vorläufiges<br />

Wissen über den Gast vermehrt, ohne<br />

es anhäufen zu können. Man könnte es als<br />

eine Vermehrung bezeichnen, die sich so<br />

sehr verzweigt, daß es kein Zurück zum<br />

ehemaligen Ort der Ab-stammung geben<br />

wird.<br />

Noch ist jedoch der "Stammbaum", der<br />

unser Wissen über den Gast zensiert,<br />

kenntlich: er sei zunächst wesentlich derjenige,<br />

der fremd und unbekannt sei. Als<br />

Fremder wird der Gast in jene Distanz gebracht,<br />

durch welche er schon identifiziert<br />

ist, ehe wir etwas über ihn erfahren und wis-<br />

28<br />

sen. Insofern blieb die extremste Gestalt<br />

des derart verdrängten Gastes der Tod, als<br />

der er dem Ich selbst entgegenkommt. Und<br />

hier setzt ein bestimmter Typus seiner endlosen<br />

Befragungen ein, Projektionen eines<br />

Wissens, die sich schichtenweise über diesen<br />

Fremdling legen werden, weil niemand<br />

mehr an eine "Schuldlosigkeit" des Gastes<br />

glaubt: es ist das, was man die polizezliche<br />

Erzählung nennen kann:<br />

Wie ist dein Name und der deines Geschlechts?<br />

Woher kommst du, wo liegen<br />

Ort und Zeit deiner Geburt? Erzähle mir etwas<br />

über deine persönlichen, deine familiären,<br />

krankengeschichtlichen, standesmäßigen,<br />

beruflichen Verhältnisse, über deine<br />

politischen, religiösen, ästhetischen Ansichten,<br />

über deine Vorlieben und Abneigungen,<br />

über deine Fähigkeiten und<br />

Kenntnisse, über deine erlittenen oder verschuldeten<br />

Erfahrungen, Taten, Handlungen,<br />

Gesinnungen, Absichten und Vorhaben,<br />

über deine Kontakte und Beziehungen.<br />

-<br />

Man wird sich immer schon in solchen<br />

Erkennungsdienst gestellt sehen und sich<br />

ihm mehr oder weniger erkenntlich zeigen.<br />

Die Struktur dieses zuschreibenden Wissens,<br />

unter welcher sich das Subjekt als Person<br />

konstituiert, ist polizeilich, weil sie<br />

mehr durch eine Geschichte des Verdachts<br />

(Personenbeschreibung) als durch eine der<br />

Neugier, - die bekanntlich kein "Bedürfnis"<br />

ist, weil sie nicht befriedigt werden kann, -<br />

geschrieben wurde. Es geht hier um jene<br />

von vorne herein begrenzte Anhäufung eines<br />

überprüfbaren Wissens, die eine Vergewisserungermöglicht.<br />

Der Verdacht richtet<br />

sich nicht nur gegen die stummen und verschwiegenen<br />

Phänomene, sondern auch<br />

gegen jenes Wissen, durch dessen Bekundung<br />

sich die Person in bestimmter, vielleicht<br />

auch fälschender Weise erkenntlich<br />

zeigen will. So begrenzt das polizeiliche<br />

Wissen in sich auch ist, so unersättlich ist es,<br />

an den Punkt der UnveiWechselbarkeit der<br />

einzelnen Person zu gelangen. Die Strategien<br />

der Identifizierungwerden daher nicht<br />

vor den Einheimischen, Zugehörigen, Bekannten<br />

halt machen: unter dem Blick der<br />

ÜbeiWachung wird alles solange "fremd"<br />

bleiben, bis nicht seine unveiWechselbare<br />

Einzelheit feststeht, und sie, diese Strategien,<br />

müssen von der notwendigen IDusion<br />

ausgehen, daß sich damit die Sicherheiten<br />

des Lebens vermehren ließen. Sie werden<br />

daher auch vor wissenschaftichen und philosophischen<br />

Texten nicht haltmachen. In<br />

diesem Sinne sind die abendländischen<br />

Wissenschaften schon "Kritische Theorie"<br />

gewesen, bevor sie "Aufklärung" zum einzigen<br />

Programm erhoben hatten.<br />

Die Person, die sich, in der Verdrängung<br />

des Gastes, durch ÜbeJWachung und<br />

Uberprüfbarkeit, also durch sein Spiegelbild<br />

konstituiert, wird untrennbar von dem<br />

sein, was man in einem weiteren Sinn Ausweis<br />

und Pcys nennen kann: der Ausweis<br />

wäre die Praxis und das stets wiederholbare<br />

Resultat der Beweis.fohnmgen, daß Ich dieser<br />

sei (und nur ein Gott könnte, wie Descartes<br />

spürte, die "Polizei" absolut betrügen);<br />

und der Paß wäre Praxis und Resultat<br />

jener Prü.fongen, die jedes Ich zu bestehen<br />

hat, durch welche alle sozialen Zugänge<br />

gefiltert, die Ein- und Ausgänge geregelt<br />

werden.<br />

Ansässigkeit und Schuld<br />

oder die "Undankbarkeit"<br />

des Gastes<br />

Gleichwohl war es die Neugier selbst, welche<br />

nach diesem Gestus der Identität zu<br />

fragen begann und bemerkte, daß sie, im<br />

Verfehlen des Gastes, sich selbst auf unkorrigierbare<br />

Weise verfehlen mußte: Identität<br />

istUnterschied und die Differenz beider<br />

bleibt uneinholbar. Und so organisieren<br />

sich die abendländischen Diskurse in dem,<br />

was die Linguistik seit Saussure "Oppositionen"<br />

nennt und in seiner Praxis als Dichotomie<br />

wirksam ist. Man könnte die Differenz<br />

als die abstrakteste Form jener verdrängten,<br />

abwesend-anwesenden Gastlichkeit<br />

bezeichnen, welche eine Begegnung und<br />

das Entgegenkommen der Oppositionen<br />

erst ermöglicht, da der Sprechende sie weder<br />

bereisen noch bewohnen kann. Das Soziale<br />

zeigt sich als sprachliches Paradox:<br />

durch Dichotomien verdrängt man jene<br />

Gastlichkeit, ohne welche die Begegnung


Der Gast und die Masse<br />

der Oppositionen selbst unmöglich wäre.<br />

Dieses Paradox bewirkt eine ständige Verschiebung,<br />

so daß die oppositionellen Momente<br />

sich nie in einem Gleichgewicht halten<br />

können; ihre Struktur ist die Jniiquivalenz,<br />

von der aus wiederum unser Begnffdes<br />

Gastes selbst strukturiert wurde: wir denken<br />

von dem aus, was das Abendland "Kultur"<br />

nennt, cultura: Bildung, Pflege und<br />

Kult im Ausgang von der Ansässigkeit, der<br />

Anpflanzung, dem Aufbau. Nennen wir sie<br />

allgemein das Haus, von dem aus wir den<br />

Weg denken. Nur im Moment einer Gründung<br />

könnte es so scheinen, als wäre die<br />

Methode (der Weg) früher als die<br />

Konstruktion (das Haus); wir ziehen die Linie<br />

zum Kreis und schließen durch<br />

die Rückkehr des Weges den Umkreis<br />

eines künftigen Aufenthaltes, der Sitz<br />

und Gebiet werden soll. Gleichwohl<br />

haben wir schon zuvor den Weg bewohnt:<br />

wir können keine Richtung einschlagen,<br />

ohne zuvor den Haltgemacht zu haben, der<br />

uns eine Drehung ermöglicht. Die Festigkeit<br />

des Standes vertieft sich im grabenden<br />

Ausheben, im Bilden des Grundes, der<br />

Fundament wird, über den sich Aufbau und<br />

'Gefi.ige (Struktur und Konstruktion) erheben<br />

werden, die archi-tektonisch zum Abschluß<br />

kommen. Die Lage und der Sitz<br />

werden jene in sich ruhende, bewahrende<br />

Immanenz bestätigen, durch welche wir das<br />

Transzendieren der Wege erst vorstellig machen.<br />

Ohne diese Anpflanzung und Ansässigkeit<br />

wäre eine Geschichte der Abstammungen,<br />

des Erbes, des Eigentums unschreibbar<br />

gewesen. Der Weg, auch wo er<br />

ins Ungewisse der Er-fahrungen und Gefährdungen<br />

fuhrt, ist immer schon von einer<br />

als Rückkunft antizipierten Ankunft gedacht,<br />

als "Wiederbesetzung des Hauses<br />

der Wahrheit".Jeder Wegundjede Methode<br />

ist von dieser vorgängigen, aber keineswegs<br />

anfangliehen Konstruktion und ihrer<br />

Begründung bestimmt; man bewegt hier<br />

keine <strong>Spur</strong>en in eine wüste terra incognita<br />

hinein, weil man sich immer schon auf dem<br />

Weg bifindet, ihn besitzt, von ihm aus alle<br />

Verluste, Abirrungen, Abwege denkt. Man<br />

hat in dieser Kultur die Wege schon erschlossen,<br />

bevor man sie beging oder bahnte.<br />

Jeder Gang ist schon als Sitz bestimmt,<br />

jede Bewegung wohnt in ihrer Form. Von<br />

dieser Ansässigkeit aus beschreiben wir das<br />

Kommen und Gehen der Giiste, unsere Einkehr<br />

und unser Empfangen und vergessen<br />

so die elementarere Struktur der Begegnung<br />

und des Entgegenkommens.<br />

Versucht man, diese Inäquivalenz der<br />

dichotomischen Momente, dieses Überlagertsein<br />

des Weges vom Haus, zu erklären;<br />

versucht man die Vorherrschaft des Sitzes,<br />

der Position, der bewahrten Immanenz,<br />

von der aus alle Überschreitung als Mitnahme<br />

und Überlieferung und insofern als<br />

Angst vor Vergessen, Verlust und Tod erscheinen<br />

muß, zu begreifen; so mag man sie<br />

vielleicht aus einer traumatischen Wende<br />

von nomadischen zu agrikulturischen Lebensformen<br />

beschreiben wollen. Aber einen<br />

Grund fur die Wende läßt sich nicht<br />

mehr angeben ohne das Begründete, die<br />

Ansässigkeit, schon vorausgesetzt zu haben.<br />

Auch eine Theorie des Bedürfnisses<br />

würde das Problem verfehlen, weil es ebenfalls<br />

jene Rückkehr des Mangels zu sich<br />

selbst, eine Ansässigkeit als Bedingung der<br />

Reproduktion, schon voraussetzen würde,<br />

anstatt ihr Auftauchen zu erklären.<br />

Unser möglicher Begriff des Gastes -<br />

und wer wollte nichtamTraum seiner Unschuld<br />

festhalten, die so unendlich unsere<br />

Neugierde belebt - wird so zwar wohl<br />

kaum jenseits unserer Ansässigkeiten<br />

denkbar sein; aber doch so wenig von ihnen<br />

eingefangen sein, wie sie selbst immer fragil<br />

und verletzlich blieben. Vielleicht können<br />

wir sogar mehr sagen, da unser Jahrhundert<br />

im Begriff steht, diese Vorherrschaft der<br />

Ansässigkeit durch die Trans-missionen<br />

seiner Techniken aufZulösen. Und diese<br />

Tendenz hat sich selbst in Form einer "irreparablen"<br />

Entdeckung (der Freuds) angekündigt,<br />

daß die Systeme der Bedürfnisse<br />

nur "representamen" des Begehrens, des<br />

"Von sich selbst lassens", sind.<br />

Die lange "pflanzliche" Genealogie der<br />

Stadt mit ihren Verwurzelungen, Abstammungen,<br />

Verzweigungen, mit den Zeiten<br />

ihrer Blüten und Befruchtungen, ihres Sterbensund<br />

Wiedererblühens, mit ihren Ängsten<br />

vor den Sprüngen einer unbekannt ge-<br />

bliebenen Animalität, - diese Geschichte<br />

kommt an ihr Ende, und im Übergang zur<br />

Metropole beginnen die Dichotomien nicht<br />

deshalb zu verfallen, weil man das "ausgeschlossene<br />

Dritte" gefunden hätte, sondern<br />

weil sie so mannigfaltig wurden, daß die<br />

"Klarheit" ihrer alten politischen Freund­<br />

Feind Orientierungen ebenso zum Lachen<br />

zu reizen beginnt wie ihr tödlicher Ernstfall<br />

zum Verstummen. Das große Unbehaben<br />

heute, weder "im eigenen Hause" noch nur<br />

"in der Fremde" zu sein, ist wohl nicht anders<br />

lesbar denn als eine Botschaft verdrängter<br />

Hospitalität. Das Gefuhl der Unsicherheit<br />

über die Sicherheiten könnte vielleicht<br />

zu einem Umgang mit ihrer, der gast­<br />

Iichen Versehrbarkeit (ein anderer, "chinesischer"<br />

Name fur Kultur?) fuhren. Das wird<br />

nicht durch eine Ausdehnung des Verhältnisses<br />

von Gastgeber-Gastnehmer geschehen<br />

können; die Gesetze des Tausches<br />

(Gast-Wirt) haben von jener Unverträglichkeit<br />

eines Beschenktwerdens befreit,<br />

durch das wir nicht mehr anders als in<br />

Schuld geraten; sie, die Regeln des Tausches,<br />

sind eine Möglichkeit der Schuldbegleichung,<br />

hinter welche nur die Familie zurückfällt.<br />

Unser Traum aber gilt der "Undankbarkeit"<br />

des Gastes, die wir gleichwohl<br />

noch nicht einmal im Gedanken auszuhalten<br />

vermögen, ohne in Zorn zu geraten.<br />

Wir wollen nicht glauben, daß jene Undankbarkeit<br />

mehr sein könnte als eine trotzige<br />

Verweigerung, die Schuld anzuerkennen,<br />

die das Geschenk als Eingrabungen<br />

"notwendig" hinterlassen müsse. - Kurz, es<br />

geht nicht um eine romantische Nostalgie,<br />

in welcher das Gast-Wirt Verhältnis eines<br />

angeblich wärmeren von Gastgeber-Gastnehmer<br />

wegen verlassen werden sollte;<br />

dieser Raum ist vielmehr der einer möglichen<br />

Begegnung der Gäste untereinander.<br />

Vielmehr wäre jener Impetus der Gesetze<br />

des Tausches zu vollenden, der bisher im<br />

Begleichen einer Schuld immer noch auf<br />

deren unentwegter Wiederherstellungverwiesen<br />

bleibt. Es geht, um es zu wiederholen,<br />

um die Unschuld und insofern um die<br />

Undankbarkeit des Gastes; erst sie könnte<br />

den "Dank" aus der Pflicht der Erwiderung<br />

befreien und gleichsam in ein "Kompliment<br />

29


Der Gast und die Masse<br />

aus heiterem Himmel", dem unerwarteten,<br />

verwandeln.<br />

Die Poesie des Denkens<br />

und die Aufgabe des Gastes<br />

Wir hatten Glück: die Geschichte der Identifizierungen<br />

und Verdrängungen des Gastes<br />

wurden selbst begleitet von einer poelt~<br />

sehen Sprache, die als "Dichtung" an die Peripherien<br />

wissenschaftlicher Dichotomien<br />

gedrängt worden war, weil sie die Struktur<br />

der Urtelle als Entscheidungen bedrohte. Im<br />

Unterschied zur Verdrängung des Gastes<br />

durch die Dichotomie, in welcner die Rückkehr<br />

des Verdrängten, - der Gast als unheimlicher<br />

Doppelgänger - garantiert<br />

blieb, h'at die poetische Sprache die Verschiebung<br />

des Gastes als die seiner Verdichtung<br />

geschrieben. Versuchen wir von<br />

hier aus das philosophische Problem zu begreJen:<br />

Es ist vielleicht der auffälligste Stil großer<br />

Philosophien, sich von der seltsam a-topischen<br />

Position, das heißt: von der Paradoxie<br />

nicht beirren zu lassen, zwischen Wissenschaftlichkeit<br />

und Poesie das Problem zu<br />

sein, im Denken von Wissenschaft und<br />

Kunst zugleich eine Poesie des Denkens zu<br />

sem.<br />

Die Logik hatte ihre "Probleme" mit<br />

dem "problematischen Urteil": "S ist vielleicht<br />

p, vielleicht nicht-p." Löst sich damit<br />

nicht jede Urteilsform auf, in der es doch<br />

um eine Wahrheitsentscheidung ginge<br />

(Sigwart)? Oder sollte man mit Kant sagen,<br />

daß die Zugabe einer Modalität das Urteil<br />

gar nicht berührt? Oder verweist nicht das<br />

ln-Schwebe-halten über die Logik hinaus<br />

auf ihren "Grund" in der Einbildungskraft,<br />

(Fichte, Heidegger, W. Schulz)? Sollte die<br />

dichotomische Urteilslogik, die letztbegründend<br />

der Garant der Vernunft unserer<br />

Entscheidungen sein soll, selbst ein problema<br />

sein, einem "Vorwurf' gehorchen und<br />

ihm zugleich widersprechen?<br />

Diese Fragen verweisen jedenfalls auf<br />

einen Überschuß des Problems gegenüber<br />

der Lösung, und in diesem Überschuß ist<br />

Philosophie ebenso "wissenschaftlicher"<br />

wie "poetischer" Diskurs. Daher könnte<br />

30<br />

man vermuten, daß sie an einem Gespräch<br />

zum Gast teilnehmen kann, das bisher einzig<br />

von den europäischen Künsten, aber<br />

von keiner Wissenschaft, hatte gefi.ihrt werden<br />

können; von der Malerei, der Musik,<br />

dem Film nicht weniger als von da aus, wo<br />

der Gast, im Entgegenkommen von Fonn und<br />

Zlffoll, zum Thema, zur Auf-gabe des Gegenstandes,<br />

wurde: in der poetischen Literatur<br />

von Moses und Homer bis zur Gegenwart.<br />

Aber im Unterschied zum Verfahren<br />

der Kunst-und Literaturwissenschaften<br />

wäre die Philosophie vielleicht mehr in der<br />

Lage, ihre notwendig verfehlenden Identifizierunsgen<br />

am Ende- des Gastes wegenwieder<br />

und wieder azifzugeben, ihnen also<br />

selbst den Status eines ephemeren Alffinthaltes<br />

zu verleihen und wieder zu entziehen.<br />

Denn über den Gast läßt sich nur mit ihm,<br />

nur gastlich sprechen.<br />

Gesteht die Philosphie auf diese Weise<br />

ein, daß ihr Diskurs- auch als Erzählung einer<br />

Geschichte - schon ein griechisches<br />

Gastgeschenk an Troja ist, durch welches der<br />

Gast verschwindet, indem er verpflichtetverpflichtend<br />

sich "erkenntlich" zeigt; weiß<br />

die Philosophie um diese erste Falle, in die<br />

zu geraten sie nicht vermeiden kann; - so<br />

kann sie doch die Gastlichkeit nicht dadurch<br />

wahren, daß sie schweigt. Die Chance<br />

gastlicher Begegnungen liegt im Risiko<br />

philosophischen Ver-sagens.<br />

Die Aus-stellung<br />

der Erzählungen<br />

Philosophie hat, vom Moment einer Poesie<br />

des Denkens her, die Möglichkeit, die Verfehlung<br />

des Gastes in ihrem Diskurs selbst<br />

aufzugeben, wobei alle Momente der Azifgabe<br />

sich störend oder einander grüßend<br />

ineinandergreifen: der Verzicht und die Beschickung,<br />

die Beförderung und die Aufforderung.<br />

Sie kann die ausschließenden Einheiten<br />

der Erzählung über den Gast, sie<br />

kann die Linearität des Diskurses, die sein<br />

Auftauchen vereitelt, dadurch brechen und<br />

verzweigen, daß sie mannigfaltige Erzählungen<br />

aus-stellt. Optimistisch könnte man<br />

sagen: ein philosophischer Diskurs, der<br />

sich ausstellt und riskiert, sich als Texte zu<br />

verzetteln, anstatt immer nur fortzufahren<br />

aus Angst vor dem Ende der Aufzählungen<br />

und Erzählungen - ein solcher Diskurs begreift<br />

sich in seiner eigenen Aussetzung als<br />

Gast.<br />

Aber das Problem ist schwieriger; denn<br />

hier geht es nicht mehr nur darum, geschichtliche<br />

und künstlerische Phiinomene<br />

der Gastlichkeit zum Sprechen zu bringen<br />

und in Zeichen zu verwandeln, sondern<br />

ebenso umgekehrt darum, dieses unentwegte<br />

Verweisen auf den unidentifizierbaren<br />

Gast zu verzögern und aufzustauen.<br />

Aber in mehrfachem Sinne wird eine Ausstellung<br />

den repräsentativen Anschein<br />

nicht umgehen, allenfalls zugleich unterlaufen<br />

können:<br />

Die Erzählungen des Gastes haben in<br />

der Linearität ihre Ansässigkeit. Ihre Vielfältigkeit<br />

auszustellen, heißt vom Ergebnis<br />

her, ihnen nur ein anderes Podium verschaffi:<br />

zu haben. Auch in dem Sinne läßt es<br />

sich nicht umgehen, den Gast von der Ansässigkeit<br />

her vorzustellen. Das Unerfahrene,<br />

Unbesehene, Unerhörte der gastlichen<br />

Begegnung wird sich in den Kleidungen<br />

des Begehens, des Ansehens und Anhörens<br />

einer Ausstellung auch weiterhin verhüllen<br />

können. Überall wird man bemerken, wie<br />

sich die Dokumente einer Geschichte und<br />

Kunst der Gastlichkeit in jene Art von Monumenten<br />

(M. Foucault) verwandeln werden,<br />

die als Denkmäler oder Sichtmäler in<br />

einem ständigen Abruf stehen, als Codes<br />

endloser Dechiffiierungen. Dennoch ist das<br />

Monument, noch im vorrangigen Bezug<br />

zur Vergangenheit, zugleich Entwuif, unbeendete<br />

Vergangenheit, Zukunft in ihr<br />

(E. Bloch), <strong>Spur</strong>, die zum <strong>Spur</strong>losen fuhrt,<br />

(U:vinas, Derrida), Raumzeit möglichen<br />

Entgegenkommens. Eine Ausstellung, in<br />

welcher der Gast die Aufgabe ist, kann nur<br />

in einer unbeendbaren Fältelungjener Phänomene<br />

und Anzeichen bestehen. in welchen<br />

wir spüren, daß wir dem Gast entgegenkamen,<br />

auch wo wir ihn verfehlten.<br />

Man wird ihm begegnen weder innerhalb<br />

noch außerhalb eines Spiegels, vielleicht<br />

aber bei den vielfältig zerbrochenen Spiegelscherben.


. , ~<br />

...<br />

".<br />

33


Arno Münster<br />

Die "Dilferiinz" und die "<strong>Spur</strong>"<br />

Jacques Derridas Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik<br />

Um den philosophischen Überschritt über Husserl und Heidegger<br />

hinaus, von dem Derridas Denken die entscheidenden Impulse<br />

bekam, in seiner ganzen Tragweite und revolutionären Sprengkraft<br />

zu erläutern, könnte ein Metaphernvergleich behilflich sein,<br />

den Derrida in seiner Einleitung zu den "Randgängen der Philosophie"<br />

gebraucht. Er beschreibt seine in ständigem kritischem Dialog<br />

mit dem Strukturalismus vollzogene Revolutionierung und<br />

Neuorientierung des philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert<br />

mit den radikalen Worten, es ginge heute vornehmlich darum,<br />

sich der Worte aus Nietzsches "Zarathustra" wieder zu erinnern<br />

: ob es nicht vielleicht nötig wäre, "dem Philosophen das<br />

Trommelfell zu zerschlagen", um ihn so zu zwingen, gewissermaßen<br />

"mit den Augen zu hören". (Marges de Ia Phtlosophte, Paris 1972,<br />

p.6; deutsch: Randgiinge der Phrlosopht"e, Frankfurt 1975. Im folgenden<br />

zitiert als MP.)<br />

Was Derrida hier, gleichsam mit dem Hammer Nietzsches<br />

hantierend, zu zerschlagen sich vornimmt, sind die Identifikationsstrukturen,<br />

in denen sich seit Platon dieBahnungendes subjektund<br />

begriffszentrierten Denkens des okzidentalen Rationalismus<br />

bewegen; Strukturen, die ihrerseits identifiziert sind mit der Fixität<br />

von Begriffen und Diskurstypen, deren Autorität vor Heidegger<br />

im Grunde noch niemand so radikal in Frage zu stellen gewagt hat.<br />

Diese Fixität zu verflüssigen, die Begriffe und vor allem die durch<br />

sie erzeugten Diskurse "gegen den Strich zu bürsten", sie gegebenenfalls<br />

aufZulösen ist nun aber gerade das erklärte Ziel der Derrida'schen<br />

Methode der Differänz; nur daß Derrida sich nicht damit<br />

zufriedengibt, in purer Wiederholung Nietzsches oder unter<br />

Übernahme der Methodik der Strukturalisten die Dogmen bzw.<br />

Grundlagen der abendländischen Metaphysik zu entwerten. Er<br />

will vielmehr mit seiner Kritik an der Diskursivität des neuzeitlichen<br />

metaphysischen Philosophierens von der Kritik der Oberfläche<br />

des Phänomens zum Grund vorstoßen; gewissermaßen die<br />

skripturalen-konzeptuellen Fassaden, die dieses System tragen,<br />

erschüttern und hinter die vorgegebenen Begriffe und Diskursstrukturen<br />

auf ein zeitlos Originäres zurückgreifen, das dieser Entwicklung<br />

als Vorbedingung zugrundeliegt: d.h. auf die Systeme<br />

der Schrift bzw. die Schnfl allgemein.<br />

Einerseits will Derrida nicht-wie Husserl - die Schrift einseitig<br />

auf die Zeichenfunktion einschränken, andererseits aber sträubt er<br />

sich in ständigem, kritischem Dialog mit F. Saussure, vorbehaltlos<br />

die phonozentrische Theorie der strukturalistischen Sprachwissenschaft<br />

zu übernehmen, die im Graphem lediglich die<br />

zeichenhafte Nachbildung und Umsetzung des "signifikant" sieht.<br />

Seine Methodologie und Forschungsmethode richtet ihr Erkenntnisinteresse<br />

vielmehr auf das, was vor, neben bzw. hinter den<br />

zeichenvermittelten, mehr oder weniger eindeutigen<br />

BedeutungsveiWeisungen liegt. Und er vermag dieses "Dazwischen",<br />

"Daneben", "Darunter" und gleichzeitig "Darüberhinaus"<br />

mit keinem anderen Terminus adäquater zu umschreiben als mit<br />

dem der Dilferiinz als einer analytischen Denkbewegung und Methode<br />

der Dekonstruktion.-Was aber beinhaltet genauer- im Unterschied<br />

etwa zu Heidegger- der Derrida'sche Begriff der "Dekonstruktion<br />

'?<br />

In einem in dem Band "Positions" wiedergegebenen Gespräch<br />

mit Henri Ronse definiert Derrida seine Methode der<br />

"Dekonstruktion" folgendermaßen:<br />

"Oe-Konstruktion der Philosophie bedeutet, die strukturhafte<br />

Genealogie ihrer Begriffe in der treuestenWeise gleichsam von Innen<br />

her zu denken, gleichzeitig aber auch von einem von ihr nicht<br />

näher benennbaren Außen her zu bestimmen, was an dieser (Entstehungs)geschichte<br />

verschleiert wurde ... Durch dieses sowohl<br />

übliche wie auch gewaltsame Herangehen an die Philosophie des<br />

Okzidents von Innen wie von Außen entsteht gleichsam eine Arbeit<br />

am Text, die großes Vergnügen bereitet. Dabei handelt es sich<br />

um ein Verfahren, das die Philosopheme und folglich alle unserer<br />

Zivilisation angehörenden Texte lesbarmacht als Symptome<br />

von etwas, das sich in der Geschichte der Philosophie<br />

noch nicht hat darstellen können und das nirgends präsent<br />

ist, da es darum geht, diese wesentliche Bestimmung des<br />

Sinnes von Sein als Präsenz (Gegenwärtigkeit) in Frage<br />

zu stellen, in der Heidegger das Schicksal der Philosophie<br />

sah . .. ''Aber das Symptom ist notwendigeiWeise verborgen ... ;<br />

wenn diese verdeckte Schicht jetzt aufgedeckt wird, so infolge einer<br />

totalen Veränderung, die auch in anderen Forschungsbereichen<br />

spürbar ist, wie z.B. der formalisierten Mathematik und Logik,<br />

der Linguistik, der Ethnologie, der Psychoanalyse etc."<br />

(Post!ions, Paris 1972, S.15 - 16; Übersetzungvon mir, AM. Im folgenden<br />

zitiert als P.)<br />

Derrida folgt also Heidegger nicht nur in der radikalen Anzweiflung<br />

des Theorems vom Sinn des Seins als Präsenz (Gegenwärtigung)<br />

(1), sondern er übernimmt auch Heideggers These<br />

von der UbeiWindung der abendländischen Metaphysik durch<br />

den dezidierten Rekurs auf Ontologie gewissermaßen in der verschärften<br />

Form seiner Dekonstmktion. Oe-konstruiert, zerstört<br />

werden soll nicht nur der Mythos einer philosophischen Diskursivität,<br />

die sich in festgelegten und unveränderbaren philosphischen<br />

Begriffsschemata bewegt, sondern - im Anklang und in Übereinstimmung<br />

mit Heidegger- auch und v.a. die gesamte logozentrische<br />

Tradition des abendländischen Denkens.<br />

Diese Bewegung von den logozentrischen Bahnungen philosophischer<br />

Begriffswelten und Systeme fuhrt Derrida jedoch nicht<br />

-wie Heidegger- zu einem Kult der Archaik unter dem Leit- und<br />

Mahnbild der Erneuerung des philosophischen Denkens aus der<br />

ÜbelWindung der "Seinsvergessenheit"; vielmehr zu einem subtilen<br />

Dekonstruktionsverfuhren an Schriftkörpern und -systemen,<br />

in dem Sehnsucht nach Archaischem nur noch insofern aufscheint,<br />

als es ein gezieltes Interesse an der Auftindung einer Urschnfl<br />

erkennbar werden läßt, das auf eine latente, nicht manifeste<br />

theologische Schicht im Denken Derridas veiWeist.<br />

Der zentrale Begriff und Leitgedanke - von Derrida schon in<br />

seinem ersten großen bahnbrechenden Werk "L'Ecriture et Ia difference"<br />

entwickelt - ist unumstritten der Begriff der "Differiinz ~<br />

(Im folgenden wird "differan.::e stets mit dem in Analogie zum<br />

Französischen gebildeten Terminus "Differänz" wiedergegeben.)<br />

Derrida definiert dieses dekonstruktive Verfahren der Differänz,<br />

das zumindest im Begriff noch eine vage Anlehnung an He-<br />

45


gels Differenz-Begriff aufWeist, auf den Derrida auch mehrfach anspielt,<br />

allerdings in der ganz und gar nicht -hegelianischen Absicht,<br />

ihn der Methode der Hegeischen Dialektik radikal entgegenzusetzen,<br />

folgendermaßen:<br />

1. als eine zugleich aktive und passive Bewegung, die darin besteht,<br />

zu "differieren", d.h. scheinbar normative klare Sinnzusammenhänge<br />

zu verschieben, infragezustellen, anzuzweifeln, aufZulösen<br />

mittels "Aufschub", "Umweg", "Verzögerung", "Retention."<br />

Primär verschoben- differiert- wird jeweils die durch ein Zeichen,<br />

eine <strong>Spur</strong> etc. angekündigte bzw. verlautbarte Präsenz (P., S.17).<br />

2. als die gemeinsame Wurzel aller begriffiich gefaßten Gegensiitze,<br />

die gewissermaßen durch die Bewegung der Differänz freigelegt<br />

werden, die die "differents" hervorbringt. - Hier zitiert Derrida<br />

als Beispiel die Gegensatzpaare "sensibel- intelligibel", "Intuition<br />

- Bedeutung", "Natur - Kultur" etc., was die Identifizierung<br />

der "Differänz" mit dem jeweils Gleichen impliziert (nicht zu verwechseln<br />

mit dem Identischen!), in dem diese Gegensätze begründet<br />

sind (vgl. P., S.l7).<br />

In dieser Definition erscheint die "Differänz" weder als ein klar<br />

strukturalistischer noch als ein genetischer noch als einfacher Begriff<br />

überhaupt; sie ist vielmehr - so Derrida - zu begreifen als<br />

3. die Erzeugung (Produktion) der Differenzen in jener "Dia­<br />

Kritizität", die fiir die von Saussure begründete Linguistik geradezu<br />

Modellcharakter als die Vorbedingungjeder Bedeutungund jeder<br />

Struktur hatte. Das heißt, die Differenzen sind nichts anderes<br />

als die jeweiligen Wirkungen der Differänz, die diese in ihrer Bewegung<br />

hervorbringt (vgl. P., S.17-18).<br />

Wie vielschichtig und komplex auch immer Derridas Definition<br />

der Differänz ausfallen mag (die Hilfskonstruktionen der Begriffe<br />

zur Erfassung der Dimension dieses" icht-Begriffs" vermag<br />

Derrida jedenfalls nicht so ohne weiteres aufZugeben), so sehr<br />

steht doch fest, daß Derridas Differänz sich primär einem wichtigen<br />

Motiv der Heideggerschen Philosophie verdankt, d.h. dem,<br />

was bei Heidegger als die "ontisch-ontologische Differenz" hinsichtlich<br />

der Unterscheidung von Sein und Seiendem fungiert (vgl.<br />

Heidegger: Sein und Zeit,§ 4, S.13-14). Und da Derrida selbst freimütig<br />

zugibt, daß sein theoretischer Ansatz ohne die von Heidegger<br />

formulierten fundamentalen Fragen nicht möglich gewesen<br />

wäre (Derrida: "Rien de ce que je tente n'aurait ete possible sans<br />

l'ouverture des questions heideggeriennes"; P., S.18), mag verwundern,<br />

daß Derrida in seiner offiZiellen Definition der "Differänz"<br />

diese Autorität als den eigentlichen Schöpfer und Verantwortlichen<br />

fiir den Ursprungsgedanken seiner Theorie der Dekonstruktion<br />

durch das Verfahren der D!lfrriinz offtziell weder anfuhrt<br />

noch beschwört. Die einzig mögliche Erklärung dafur wäre- nach<br />

Derridas eigenen Andeutungen -, daß eine derartige Herleitung<br />

(Ableitung) letztlich noch zu sehr einer Metaphysik verpflichtet ist,<br />

deren Dekonstruktion fiir Derrida mehr oder minder programmatischen<br />

Charakter hat (vgl. P., S. 19).<br />

Wichtig bleibt in diesem Kontext, daß, wie Derrida in den<br />

"Randgängen der Philosophie" ausdrücklich unterstreicht, die Differänz<br />

kein gegenwärtig Seiendes ist und somit auch von keinerlei<br />

Kategorie des Seienden abgeleitet werden kann: "Die Differänz ist<br />

nicht nur aufkeinerlei ontologische oder theologische Wiederaneignung<br />

zurückfiihrbar, sondern ist, indem sie den Horizont öffnet,<br />

in dem Ontotheologie- die Philosophie - ihr System und ihre<br />

Geschichte hervorbringt, Teil dieses Raums, den sie ständig beschreibt<br />

und durchbricht." (P., S.6)<br />

In Verfolgung dieser "abenteuerlichen Strategie", gleicht- so<br />

Derrida- die Differänz einer erratischen Bewegung, "die dem logisch-philosophischen<br />

Diskurs genauso folgt wie seinem symetrischen<br />

Gegenbild, dem empirisch-logischen Diskurs." (P., S.7)) An<br />

einer anderen Stelle der "Randgänge der Philosophie" definiert<br />

Derrida die Differänz noch radikaler als die Instanz, "die eine konstitutive,<br />

produktive und ursprüngliche Kausalität bezeichnet,<br />

bzw. als den Prozeß der Spaltung und Teilung, deren Produkte<br />

bzw. Effekte die jevl'eiligen Differenzen sind" (vgl. P., S.9). Im glei-<br />

chen Atemzug hebt er jedoch auch die enge Verwandschaft der<br />

Differänz als Phänomen der Zeitlichkeit ("temporalisation") mit<br />

Heideggers in "Sein und Zeit" geprägtem Begriff der "Zeitlichkeit"<br />

als dem "transzendentalen Horizont der Seinsfrage" hervor, die es<br />

von der traditionellen metaphysischen Beherrschung durch die<br />

Gegenwärtigkeit und das] etzt zu befreien gelte (vgl. MP., S.1 0). Im<br />

Unterschied zu Heidegger, der der "Tyrannei des jetzt" durch die<br />

Flucht in vor- bzw. überzeitlich archaische Sprachzonen zu entrinnen<br />

gedenkt, konkretisiert Derrida die Differiinz explizit als ein<br />

"Bewegungsspiel" (mouvement), demzufolge die Sprache bzw.jedes<br />

andere kodifizierte System der Bezeichnung und der Verweisung<br />

sich geschichtlich als .,Gewebe von Differenzen" konstituiert<br />

(Vgl. MP., S.12-13).<br />

Das mag begreifbar machen, wie sehr Derrida in Übernahme<br />

und gleichzeitiger Erweiterung des Heideggerschen Begriffs der<br />

"Zeitlichkeit" den neuen Begriff der "Differänz" sowohl dynamisch<br />

wie genetisch zu fassen versucht, ohne ihm jedoch jemals so<br />

scharf umrissene Konturen zu geben, die seine Handhabung als<br />

feststehendem Begriff jenseits dieses neo-strukturalistischen Distanzierungs-,<br />

Verschiebungs- und Bewegungsspiels ermöglichen<br />

würde. Wie bereits angedeutet und wie von Derrida auf in den<br />

"Randgängen" auch eingeräumt, ist die Entstehungsgeschichte<br />

des Begriffs der "Differiinz "in seinem Werk auch nicht ohne jegliche<br />

Beziehung zu seiner Hegel-Lektüre. Eine wichtige vermittelnde<br />

Funktion scheint hierbei A. Koyre (2) zuzufallen, d.h. dem<br />

französischen Universitätslehrer, dem- nebenjean Hyppolite und<br />

A. Kojeve - das große Verdienst zufällt, Hegels Werke, d.h. vor allem<br />

die »Phiinomenologiedes Geirter"und die " Logik ~ in Frankreich<br />

eingefuhrt zu haben. un taucht aber- und dies ist der Punkt, den<br />

Derrida in kritischem Selbstrückblick nachdrücklich hervorhebt ­<br />

im spezifischen Interpretationskontext der Hegel'schen "Logik" in<br />

Koyres Vorlesungen aus dem Jahre 1934 das Wort »differente Bezrehung"mehrmals<br />

unterstrichen auf, das bei Hege! allerdings nur<br />

eine sehr sparsame Verwendung findet, im Unterschied zu den<br />

Adjektiven" verschieden" und "zugleich", die von Hege! weit häufiger<br />

benutzt werden. Allerdings fungiert das Adjektiv "different"<br />

zum ersten Mal bereits in der ,Jenenser Reallogik". Hege! z.B.<br />

schreibt: "Diese Beziehung ist Gegenwart als eine differente Beziehung."<br />

Und Koyre kommentiert dies folgendermaßen: "Le termedifferent<br />

est pris ici dans un sens actif" (zit.n. MP., S.15; der Ausdruck<br />

"different" hat hier eine aktive Bedeutung.) Hier aber ergibt<br />

sich nun genau die Nahtstelle zu Derridas Theorie, der diese "aktive<br />

Bedeutung" der Heget-Interpretation Koyres in jene "aktive<br />

Bewegung" umdeutet, welche als "Differänz" die "Differenzen" erzeugt<br />

(vgl. MP., S.15). atürlich stehttrotzder hier aufgewiesenen<br />

Querbezüge zu Hege! und zu Heidegger außer Frage, daß Derrida<br />

zur Untermauerung seiner Theorie der Differänz und der Erzeugung<br />

der semiologischen Differenzen durch die "Differänz" auch<br />

und v.a. bei F Saussure ansetzt, der in seinem »Coursde Lrngustique<br />

Generale" unterstreicht, daß die Sprache nicht als Funktion des<br />

sprechenden Subjekts zu verstehen sei, sondern daß vielmehr umgekehrt<br />

das Subjekt in der Sprache aufgeht, "Funktion" der Sprache<br />

ist, erst sprechendes Subjekt wird durch die Angleichung<br />

seiner Subjektivität an die Regeln und Gesetze der Sprache als<br />

Differenz-System an das allgemeine Gesetz der Differärtz. Derrida<br />

erinnert in diesem Zusammenhang an den Satz von F. Saussure:<br />

"Die Sprache ist notwendig, damit der Sprechakt intelligibel und<br />

wirksam wird." (MP., S.16)<br />

Aber trotz dieser formalen Anlehnung an den strukturalistischen<br />

Ansatz überschreitet Derrida ihn nicht nur- wie bereits angedeutet<br />

- bezüglich seiner Infragestellung und Kritik des Phonozentrismus,<br />

sondern - als Schüler Husserls- sieht er sich auch genötigt,<br />

die Problematik des Differänz-Systems der Sprache mit der<br />

Frage nach dem Verhältnis der Sprache und der Sprechakte zu<br />

den Bewlfßtmnsznhalten zu verknüpfen. Getreu der Methode der<br />

Husserl'schen Phänomenologie von der Vorrangigkeit des Bewzgstsernsvor<br />

dem Zeichen ausgehend, fragt Derrida in direkter An-<br />

46


knüpfung an Heideggers Kritik der Konzeption des Seienden als<br />

Präsenz: "Was ist Bewußtsein anderes als selbsteigene, sich selbst<br />

gewisse Gegenwart (Präsenz)?" (MP., S.17) Und weiter heißt es im<br />

gleichen Kontext: "So wie die Kategorie des Subjekts nicht denkbar<br />

ist ohne Bezug auf die Gegenwart als hypokeimenon oder als<br />

ousia, so kann auch das Subjekt als Bewußtsein sich nicht anders<br />

verlautbaren als als sich-selbst-gewisse (bewußte) Gegenwart .<br />

... Priorität des Bewußtseins bedeutet daher Priorität der Präsenz,<br />

einer Gegenwärtigkeit, die nach Heidegger die onto-theologische<br />

Bestimmung des Seins ausmacht." (MP., S.17) An eben jener Auffassung<br />

der Struktur des Bewußtseins als Präsenz in der Zeitlichkeit<br />

(Emporalisierung) setzt Derridas Kritik an Husserl an. Denn<br />

Derrida zufolge stellt sich die Phänomenologie Husserls von Innen<br />

her selbst in Frage, und zwar durch die phänomenologische Beschreibung<br />

der Bewegung der Zeitlichkeit und der Konstitution<br />

der Inter-Subjektivität. Diese enthülle nämlich ständig die Bedeutung<br />

des icht-Gegenwärtigen, des Nicht-Lebens, der Nicht-Dazugehörigkeit<br />

des Selbst zu einem lebendig Gegenwärtigen, einem<br />

"unentwurzelbaren Nicht-Ursprünglichen." (La voix et lephenomene,<br />

Paris 1967, S.S; deutsch: Die Stimme und das Phänomen; im<br />

folgenden zitiert als VP.) Und auf die Frage, was in der Optik der<br />

Phänomenologie der Erkenntnistheorie eigentlich die Autorität<br />

verleihe, das Wesen und den Ursprung der Sprache zu bestimmen,<br />

repliziert Derrida mit ziemlicher Entschiedenheit in gegen Husserl<br />

gewendeter Absicht: "Husserl geht der Frage nach dem Wesen<br />

der Sprache aus dem Wege. (CE Husserl: Formale und transzendentale<br />

Logik §2); desgleichen der Frage nach dem "transzendentalen<br />

Logos", nach der überkommenen Sprache, in die die<br />

Phänomenologie die Ergebnisse ihrer phänomenologischen Reduktion<br />

kleidet. Letztendlich hat Husserl das Wesen der Sprache<br />

auftraditionelle Weise, von der Logistik und der Normalität des<br />

sprachlichen Telos her bestimmt. Dieses Telos aber impliziere, so<br />

Derrida, die Auffassung des Seins als Gegenwärtigkeit (Präsenz)<br />

(vgl. VP, S.6-7). ach Derrida aber sind es gerade die "Un­<br />

Wirklichkeit der Bedeutung, die Un-Wirklichkeit des idealen Gegenstands,<br />

die Un- Wirklichkeit der Existenz des Sinnes und des<br />

oems im Bewußtsein", die als Garanten dafiir fungieren, daß die<br />

Präsenz im Bewußtsein ein unendlich wiederholbarer Vorgang ist<br />

(VP, S.8).<br />

Derrida verbindet diese kritische Hinterfi-agung der Grundlagen<br />

von Husserls Sprachtheorie und der Theorie von den<br />

Bewußtseinsakten als Präsenz mit der noch weiterreichenden Kritik,<br />

ob die Fonn der Husserlschen Phänomenologie nicht eventuell<br />

immer noch von einem metaphysischen Anspruch geleitet ist; und<br />

er treibt die Skepsis seiner kritischen Hinterfragung der theoretischen<br />

Ansätze Husserls weiter zu der Frage: ",st die Idee der Erkenntnistheorie<br />

an sich nicht schon Metaphysik?" (VP, S. 9) Die eigentlich<br />

philosophische Frage wäre - so Derrida-, ob Husserls radikale<br />

Kritik an den spekulativen Zügen der Metaphysik nicht lediglich<br />

deren Perversion und Entartung stigmatisieren will, aber<br />

lediglich im Interesse der Wiederherstellung einer "authentischen<br />

Metaphysik". Und Derrida meint, daß als Beleg dafiir zweifelsfrei<br />

angeführt werden kann, daß Husserl amEndeseiner "Cartesianischen<br />

Meditationen" eine solche Alternative durchaus andeutet<br />

(VP, S.9).<br />

Unterzieht man nun Derridas kritisches Verhältnis zu F. Saussure<br />

einer näheren Betrachtung, so wird sehr schnell offenkundig,<br />

daß Derrida den Erkenntnissen der strukturalen Linguistik mindestens<br />

ebensoviel Dank abzustatten hat, wie er, insbesondere an ihrem<br />

übersteigerten Phonozentrismus, Kritik an ihr zu üben sich gezwungen<br />

sieht. Positiv an ihr ist - so Derrida in einem Gespräch<br />

mit Julia Kristeva über die Grundfragen der Semiologie und der<br />

"Grammatologie" (P., S.26 ff) - z.B. ihr Beharren darauf zu verbuchen,<br />

gegen die Tradition die Untrennbarkeit von signifiant und<br />

signifie behauptet und des Weiteren unterstrichen zu haben, daß<br />

der signifiant seinem Wesen nach nicht phonetischer atur ist.<br />

Darüber hinaus habe Saussure durch die De-Substanzialisierung<br />

des Bedeutungsinhalts und der nicht notwendig mit der Phone<br />

identischen Ausdruckssubstanz dazu beigetragen, den Begriff des<br />

Zeichens gegen die Tradition der Metaphysik zu wenden, dem er<br />

entliehen ist (vgl. P., S.28). Hinsichtlich des Zeichens aber habe<br />

Saussure sich der Tradition nicht ganz entziehen können. Entscheidend<br />

jedoch sei, daß es fur Saussure keine "unschuldige" oder<br />

"neutrale" Sprache gibt. Sie ist in jedem Falle immer die Sprache<br />

der abendländischen Metaphysik, die eine ganze Reihe von systemischenRegeln<br />

und Voraussetzungen in sich trage. Ferner mache<br />

die Beibehaltung der Unterscheidung von "signans" und "signatum"<br />

(Bezeichnendem und Bezeichnetem") die Annahme eines in<br />

sich selbst bezeichneten Begriffes denkbar, der unabhängig von<br />

der Sprache und ihrem System der signifiants existiere (P., S.29f).<br />

Von dem Augenblick an jedoch, wo die Bedeutung dieses "transzendentalen<br />

signifie" in Frage gestellt wird, werde - so Derrida -<br />

auch die traditionelle Unterscheidung von "signifie", "signifiant"<br />

und "signe" (Zeichen) problematisiert. Dies aber sei wiederum das<br />

erklärte Ziel der Methode der "De-Konstruktion" (vgl. P., S.30).<br />

Schließlich und endlich sah sich Saussure, so Derrida, obwohl<br />

genötigt, die phonetische Substanz des signifiant in Klammern zu<br />

setzen, veranlaßt, aus eben diesen rein metaphysischen Gründen<br />

das gesprochene Wort ("parole") und alles, was das Zeichen mit<br />

dem Phonem verbindet, überzubewerten (vgl. P., S.30). Derridas<br />

Dekonstruktion verfolgte in diesem Punkt den Zweck, bloßzulegen,<br />

inwieweit auch dieses Theorem Saussures eventuell der Tradition<br />

verpflichtet ist und inwieweit dadurch die Linguistik in den<br />

Rang eines regulativen Modells einer allgemeinen Semiologie erhoben<br />

wird, obwohl sie im Grunde nur ein Teilsystem von ihr darstellt.<br />

Zum anderen kritisiert sie Saussures Tendenz, das linguistische<br />

Zeichen als eine doppelgesichtige psychische Entität darzustellen<br />

und die Semiologie allgemein als (Sozial) Psychologie zu<br />

beschreiben (vgl. P., S.31).<br />

Aber Derridas Kritik bleibt nicht auf die phonozentrische Interpretation<br />

des Zeichens durch Saussure und seine Nachfolger<br />

beschränkt. Sie erstreckt sich selbstverständlich auch auf andere<br />

Theoreme und methodologische Voraussetzungen des Strukturalismus.<br />

Bestritten und kritisiert wird von Derrida u.a. die strukturalistische<br />

These vom "epistemologischen Einschnitt" (coupure epistemologique)<br />

durch den Verweis darauf, daß diese Einschnitte ja<br />

in1mer wieder in ein Gewebe von Bedeutungen und Zeichen erfolgen,<br />

die es zu "zerlegen", zu "dissoziieren" gelte, wodurch jedoch<br />

der Sinn und die Notwendigkeit "einiger" solcher Einschnitte<br />

nicht radikal in Frage gestellt werden solle (vgl. P., S.35). Als<br />

unorthodox und kritisch gegenüber dem linguistischen Strukturalismus<br />

erscheint ferner auch die von Derrida in der "Grammatologie"<br />

vorgenommene radikale Ersetzung des semiologischen<br />

"enonce" durch den" Text': Hierin in erster Linie das Zeichen eines<br />

Aufbegehrens Derrid~.s gegen Saussures Verbannung der Schnji als<br />

ein der Repräsention Außerliches aus dem Feld der Linguistik zu<br />

sehen, ist berechtigt.<br />

Bei seiner Analyse der Welt der Zeichen und der Schrift betont<br />

Derrida eindeutig, im Gegensatz zu den Phänomenologen und einigen<br />

Vertretern der strukturalistischen Linguistik, dasMoment<br />

der Kommunikation und das Moment der Unterbrechung (das jedoch<br />

keinesfalls, wie oben angedeutet, mitder "coupure epistemologique"<br />

des Strukturalismus verwechselt werden darf). Die Welt<br />

der Zeichen, betont Derrida, ist in ihrer Entstehung korrelativ zur<br />

Genesis der Phantasie (imagination) und des Erinnerungsvermögens<br />

(memoire); das Zeichen entsteht in der Phantasie des Menschen<br />

aus dem Fehlen, aus der Empfindung des Mangels des Objekts<br />

in der vergegenwärtigenden Vorstellung, d.h. aus einem Bedürfnis<br />

nach Kommunikation. Es ist die Kommunikation, die die<br />

Vorstellung (des bezeichneten Objekts) als idealen Inhalt (Sinn)<br />

trägt und bewegt; und die Schnjiist nichts als eine verallgemeinerte<br />

Form und Auszugsgestalt dieser Kommunikation (vgl. MP.,<br />

S. 3 7 4 ). Gleichzeitig betont Derrida jedoch auch in seiner Analyse<br />

der Entstehung der Schnjiund der Schr(ftzez"chen das Moment der<br />

47


Unterbrechung. So ist in seiner Definition und Herleitung der Zeichen-<br />

und Schriftsysteme ein Schriftzeichen<br />

1. ein prägender Einschnitt (eine Prägung "marque"), der<br />

bleibt, der sich im Akt seiner Niederschrift nicht erschöpft und der<br />

eine Wiederholung unter Abwesenheit des Subjekts und jenseits<br />

der Gegenwart eines empirisch bestimmten Subjekts ermöglicht.<br />

(Gerade hierin liegt ja, betont Derrida, der Unterschied zwischen<br />

einer mündlichen und einer schriftlichen Mitteilung.)<br />

2. ein Einschnitt bzw. ein Bruch gegenüber dem Kontext, d.h.<br />

dem Ensemble von Gegenwartsmomenten, die das Moment der<br />

Niederschrift bestimmen (vgl. MP., S.375).<br />

Dieser Bruch ist keine akzidentelle Bestimmung, sondern integraler<br />

Bestandteil der Struktur des Geschriebenen. Zu diesem<br />

Kontext gehört a) das Moment des Akts der Niederschrift, b) die<br />

Anwesenheit des Skriptors, c) sein intentionaler Horizont, d.h. sein<br />

"Sagen-Wollen" von etwas, etc. "Es gehört zum Wesen des Zeichens,<br />

lesbar zu sein, auch wenn der Augenblick seiner Entstehung<br />

(Erzeugung) unwiderruflich verlorengegangen ist und auch<br />

wenn völlig in Vergessenheit geraten ist, in welchem spezifischen<br />

Bewußtseinszustand sich der Schreiber beim Akt der Niederschrift<br />

befand. Und dies ist auch aufdie Semiotik übertragbar, insofern<br />

als ein Syntagma jederzeit extrapolierbar ist und so auch jederzeit-<br />

künstlich- in einen anderen syntagmatischen und kommunikativen<br />

Kontext gestellt werden kann. Diese Operation ist<br />

nicht kodifizierbar; der einzig existierende Kode ist der der Möglichkeit<br />

bzw. der Nicht--Möglichkeit der Schrift und ihrer Wiederholbarkeit."<br />

(MP., S.377)<br />

Wie aber wird nun die "marque" zum "graphem" ?Wenn Derrida<br />

feststellt, daß es "eine gewisse Identität des Zeichens mit sich<br />

selbst ist, die seine Erkennbarkeit und Wiederholung ermöglicht",<br />

warum ist es dann aber gerade dieses Moment der Dissoziierung<br />

bzw. Spaltung dieser Selbstidentität, das den Übergang vom Phonem<br />

zum Graphem ermöglicht? Die Antwort, die Derrida auf diese<br />

Frage gibt, ist im Grunde bereits in ihrem Begründungsprinzip<br />

enthalten, d.h. in dem Verweis auf die "Iterabilität" und die "Wiederholbarkeit"<br />

des Zeichens, die jedoch als solche fungiert, ohne<br />

explizit auf einen "referant" bzw. einen bestimmten Signifikanten<br />

angewiesen zu sein. So gesehen aber muß jede - und sei es auch<br />

nur mündlich erfolgte - Priigung notwendig zum Graphem werden,<br />

d.h. zum jeglicher Präsentifizierung enthobenen bleibenden<br />

Akt (restance) __ eines d(fferentie/len Ez"nschnitts (MP., S.l78).<br />

Bei dieser Uberschreitung des strukturalistischen Ansatzes beruft<br />

sich Derrida ausdrücklich aufHusserl, der in den "Logischen<br />

Untersuchungen" bereits die These vertreten hatte, daß es in der<br />

Möglichkeitsstruktur des Gesagten liegt, gegebenenfalls auch<br />

leer, d.h. ohne konkreten Referenten funktionieren zu können<br />

(vgl. Logische Untersuclzungen, Kap.l, §8ff} Husserl wird insofern<br />

auch fur die Theorie des FehJens des signife als Kronzeuge zitiert,<br />

als in seiner Phänomenologie auch diese Möglichkeit theoretisch<br />

in Erwägung gezogen wird, wenngleich - wie Derrida selbstkritisch<br />

anzumerken nicht unterläßt-mit starkem Vorbehalt, weil in<br />

Husserls phänomenologischer Anschauung zu sehr die Möglichkeit<br />

einer St"nnknse heraufbeschworen würde. Diese Sinnkrise<br />

bleibt jedoch gebunden - so Derrida - an die wesentliche Möglichkeit<br />

der Schrift als eines der Fundamente und Voraussetzungen<br />

des Entstehens logischer Widersprüche. Darüber hinaus jedoch<br />

liegt - nach Derrida- Husserls großes Verdienst u.a. auch darin,<br />

die Analyse des Zeichens als Ausdruck bzw. "signifiant" streng<br />

von den Phänomenen der Kommunikation getrennt zu haben<br />

(vgl. MP., S.380).<br />

Aus diesem Husserlschen Entwurf einer logischen Grammatik<br />

als System der "Morphologie der Bedeutungen" leitet Derrida nun<br />

die fur ihn sehr wichtige Möglichkeit der "zitatförmigen Herausschneidung<br />

von Zeichen" und differentiellen Schnitten ,jenseits<br />

des semio-linguistischen Verständigungshorizonts" (VP., S.380()<br />

ab, was es ihm wiederum ermöglicht, indirekt Husserl fur seine<br />

Theorie des "espacement" und der "differance" zu reklamieren. In<br />

seinem Buch "Die Stimme und das Phänomen" bemüht er sich<br />

nun explizit um den achweis, daß fur Husserl der "Ausdruck" den<br />

Stellenwert eines rein linguistischen Zeichens hat und "Bedeutung"<br />

mit dem Sinngehalt eines diskursiven Inhalts identisch ist<br />

(vgl. VP., S.l8): "In 'Ideen I' ist die Definition der 'Bedeutung' beschränkt<br />

auf den idealen Sinngehalt des verbalen Ausdrucks, des<br />

gesprochenen Wortes, während 'Sinn' die gesamte noematische<br />

Sphäre abdeckt, Der Geltungsbereich dieser Bedeutung wird jedoch<br />

zwangsläufig erweitert auf die gesamte noetisch-noematische<br />

Sphäre, d.h. auf alle Handlungen (des Subjekts), die in die<br />

Ausdrucksakte verflochten sind." (VP., S.l9)<br />

achzutragen wäre noch, daß sich Derrida bei der Entwicklung<br />

und Begründung des Begriffs der tadikalen "Alterität" und<br />

des präsentisch erfullten Bewußtseins nicht nur bei Heidegger<br />

theoretisch abstützt, sondern in wesentlichen Punkten auch an<br />

dem von ganz anderen theoretischen und philosophischen Quellen<br />

gespeisten Alteritätskonzept von Emmanuel Levinas (3), in<br />

dessen Denken "<strong>Spur</strong>" und "Rätselhaftigkeit der absoluten Alterität"<br />

gleichgesetzt werden mit der kommunikativen Entdeckung<br />

des Anderen. Beide Einflüsse und Linien kreuzen sich bei Derrida<br />

in besonders origineller Weise, was dazu fuhrt, daß im Denken des<br />

"Heideggerianers" Derrida auch eine Öffuung zu den ethischen<br />

und onto-theologischen Grundfragen des Judaismus (bzw. desjüdischen<br />

Messianismus) nachgewiesen werden kann. In diesem<br />

Kontext ist die gedankliche Nähe zu Levinas' Begriff der "<strong>Spur</strong>"<br />

selbstverständlich nicht das einzige Motiv; denn-wie v.a. in neueren<br />

Studien (4) aus den USA zu Derridas Werk hervorgehoben<br />

wird -, Derridas demonstrativer Rekurs auf die Schrfftim Rahmen<br />

der De-konstruktion der logozentrischen Metaphysik kann auch<br />

als das Wiedererstehen einer rabbz"mschen Henneneutz"k in philosophischem<br />

Gewande interpretiert werden. Mit dem gleichen Recht<br />

wäre aber auch Derridas - über Levinas' vermittelte- Übernahme<br />

der Vorstellung vom "verborgenen Gott", die Verteidigung des altüberlieferten<br />

Buchstabens gegen den Geist und Derridas spelulative<br />

"Differenz"-Spiele mit und an der Schrift fur die kabbalistischesoterische<br />

Tradition des Judaismus reklamierbar. Letztendlich<br />

erscheint es als unmöglich, Derridas Spekulationen auf eine "Urschrift",<br />

seine Faszination durch das Palimpsest und seine Kritik<br />

am Phonozentrismus trennen zu wollen von den auf die Hermeneutik<br />

der Schrift fixierten 'gelehrten' rabbinischen Traditionen<br />

der Thora und des Talmud. Natürlich wäre es falsch, diesen Sachverhalt<br />

so zu interpretieren, als ob Derrida sich damit, unbesehen<br />

seines Bekenntnisses zur Phänomenologie Husserls und zur Fundamentalontologie<br />

Heideggers, zum Apologeten eines Neo-Mystizismus<br />

im Zuge der modernen Erneuerungsbewegung des judaischen<br />

Spiritualismus aufschwingen würde. Er designiert lediglich<br />

die Existenz einer im übrigen nie bewußt-explizit eingestandenen<br />

Tiefenbeziehung seines Denkens zu jener Tradition, vollständig<br />

unabhängig von seiner Ausformulierung in den Kategorien<br />

kritischer moderner Rationalität.<br />

(1) Bei Heideggerwird die Problematikdes Sinnsvon Sein, die Frageeines<br />

daseinsmäßig erschließenden Verstehens von Sein überhaupt mit dem<br />

Problem der in der Zeitlichkeit begründeten "existential-ontologischen<br />

Verfassung der Daseinsganzheit" verbunden. Dabei wird postuliert, daß<br />

die Zeitungsweise der ekstatischen Zeitlichkeit "den ekstatischen Entwurf<br />

von Sein überhaupt" erst ermöglicht. Dennoch aber schließt "Sein und<br />

Zeit" bezeichnenderweise mit der Frage :"Führt ein Weg von der ursprünglichen<br />

Zeit zum Sinn des Seins?Offenbart sich die Zeit selbst als Horizont<br />

des Seins?" (Cf Heidegger, Martin:"Sein und Zeit", Tübingen, 1979,<br />

S. 437.)<br />

14) Cf Hierzu:]. Wahl : "Le role de Alexandre Koyre dans le developpementdes<br />

etudes hegeliennes en France", in :"Archives de Philosophie", Paris,<br />

1965, no. 28, S. 323-336<br />

46l Cf Levinas, Emmanuel: Totahle et ziifim; Den Haag, 1961; Autrement<br />

qu 'etre ou au-delii de I' essence, Den Haag, 197 4. Cf auch : Derrida,J. : Violence<br />

et metaphysique in: L 'Ecnture et Ia Difflrence, Pans, 1967, s. 117-228.<br />

4 7) Cf hierzu v.a. :S. Handelmann: Jacques Dernäa and the Heretic Henneneutic,<br />

in : M. Krapnick (Ed.): Displacement, Dernäa and After, Indiana, 1983,<br />

S. 98 ff.<br />

48


Eberhard Sens<br />

Von Vergegenwärtigung<br />

Stichworte zur Umweltdiskussion<br />

Vergegenwärtigung ist das Merkmal<br />

der jetzigen Umweltdiskusson. Die<br />

Hälfte des deutschen Waldes ist krank,<br />

und allmählich lernen wir, woran es<br />

liegt. An uns. Gegen viele Widerstände<br />

arbeitet sich die Wahrnehmung voran.<br />

Was lange zur Routine geworden ist,<br />

fällt nicht mehr auf; immer wieder Eingeübtes<br />

verschwindet aus dem aktuellen<br />

Bewußtsein. Umso schwerer fällt die<br />

Selbsterkenntnis, umso schwerer fällt<br />

die Vergegenwärtigung des Übersehenen,<br />

obwohl zum Bestand des täglichen<br />

Lebens gehört, was die Umwelt krank<br />

macht. Die Ursachen der Umweltmisere<br />

stecken tiefer in unserem Alltag als wir<br />

möchten. Wenn der Lichtschalter angeknipst<br />

wird, beginnt es, und wenn das<br />

Gaspedal heruntergedruckt wird, hört es<br />

nicht auf. Was wir produzieren und wie,<br />

gehört zum Problem ebenso wie die Art<br />

und Weise, das Produzierte zu konsumieren.<br />

Eingespannt in ein kompliziertes<br />

Netz von Ursachen und Wirkungen<br />

ist es schwierig, sich die Folgen der eigenen<br />

Handlungen vor Augen zu fiihren,<br />

wenn sie an den Rand des Blickfeldes geraten,<br />

in der Feme zu entschwinden<br />

scheinen, wenn die Folgen abstrakt geworden<br />

sind und die Lebensstile der lndustriegesellschaft<br />

und ihre vielen Effekte<br />

sich weit weg von den Verursachern<br />

zu ökologischen Krisen verdichten,<br />

von denen wir in der Zeitung lesen.<br />

Was- fragt man sich- habe denn gerade<br />

ich mit dem Waldsterben zu tun?<br />

Der Zusammenhang von Handeln und<br />

Folgen des Handeins war nicht immer so<br />

abstrakt. Blickt man zurück, bemüht man<br />

die Archive und blättert ein wenig in alten<br />

Veröffentlichungen - vielleicht in Dinglers<br />

Polytechnischemjournal von 1881 - so findet<br />

man eine rege Debatte über das Waldsterben.<br />

Daß Luftverschmutzung mit dem<br />

Absterben der Bäume sehr viel zu tun hat,<br />

war schon einmal überraschend gut bekannt<br />

Es wurde wieder vergessen. Industrielle<br />

Ursachen und ökologische Folgen<br />

ließen sich damals gut überschauen. Die<br />

Schäden, die Verhüttungsanlagen und Industriebetriebe<br />

anrichteten, waren erheblieh,<br />

blieben aber lokal begrenzt; in einem<br />

nun hundertjahrealten Bericht über die sogenannten<br />

Rauchschäden im Oberharz<br />

kann man lesen :<br />

"Die zusammenhängende Blösse hat<br />

bei Altenau eine Länge von 1900 m thaiabund<br />

1100 m thalaufWärts .. . . Bei der Clausthaler<br />

Silberhütte befindet sich der am weitesten<br />

.. . thaiabwärts . . . gelegene blössenartige<br />

Schaden .. . am Steimkerberge<br />

... auf eine Entfernung von SOOOm .... Die<br />

Gesamtausdehnung der Rauchschäden<br />

erstreckt sich im Okerthal abwärts<br />

auf 9000 m, während sie thaiaufWärts<br />

nur auf 21 OOm beobachtet werden kann.<br />

Im Innerstethai befindet sich die nördlichste,<br />

zweifellos von Clausthal herrührende<br />

Schädigung an der Kuhbrücke,<br />

Forstort Kranichsberg .. . in einer Entfernung<br />

von 6800m."<br />

Uber Rauchschäden gibt es im 19.Jahrhundert<br />

zahlreiche Veröffentlichungen.<br />

Schon im Mittelalter hat man offenbar von<br />

den schädigenden Wirkungen des Hüttenrauches<br />

gewußt. Mit der Industriellen Revolution<br />

aber stieg der Verbrauch an Steinkohle<br />

explosionsartig an. Und sofort erreicht<br />

auch das Absterben der Bäume ein<br />

bis dahin unbekanntes Ausmaß. Über dessen<br />

Ursachen freilich waren in unmittelbarer<br />

Nähe der Hütten und Industriebetriebe<br />

keine Illusionen möglich. Die Betriebe haben<br />

die Schäden auf die eigene Rechnung<br />

nehmen müssen, haben die sterbenden<br />

Bäume unter Kosten abgebucht oder Entschädigungen<br />

bezahlt. Das umweltpolitische<br />

Verursacherprinzip - so könnte man<br />

sagen-war noch intakt, die Brunnenvergif-.<br />

tung blieb gewissermaßen im Dor(<br />

Dann aber wurde der Schornstein entdeckt<br />

und, daß man ihn höher und höher<br />

bauen kann.Jeder hohe Schornstein ist der<br />

Versuch zu verdrängen, was man nicht haben<br />

will und was man auch nicht wahrhaben<br />

will. Hohe Schornsteine sind der Versuch,<br />

die Verantwortung in alle Winde zu<br />

zerstreuen. Wenn der Versuch gelingt,<br />

dann kommt das Schwefeldioxid scheinbar<br />

von selbst über uns, anonym, von weit her,<br />

unabweisbar, als ereigneten sich sterbende<br />

Wälder und Pseudo-Krupp wie ein Schicksal.<br />

Nur bei überschaubaren Handlungsketten<br />

bleibt Verantwortung sichtbar, kann<br />

man die Schuld noch erkennen. Läßt man<br />

aber hohe Schornsteine die Schadstoffe in<br />

weit entfernte Regionen blasen oder lagert<br />

den radioaktiven Müll fiir eine weit entfernte<br />

Zukunft ein, dann hat es die Schuld des<br />

Verursachcrs leicht und verschwindet hinter<br />

einem undurchsichtigen Nebel, der<br />

Verstrickung, Schicksal oder Tragik heißt.<br />

Die Angriffe des Menschen auf die Natur<br />

sind massiv und direkt, aber die Menschen<br />

organisieren sie verdeckt und anonym. Daher<br />

müssen wir sichtbar machen, wer was<br />

wann wo. Allmählich kehrt das Bewußtsein<br />

von Verantwortung zurück. Vergegenwärtigung<br />

ist das Merkmal der jetzigen Umweltdiskussion.<br />

Die Vergegenwärtigung nähert sich in<br />

Fremdworten. Die lange übersehenen und<br />

unerkannt gebliebenen Folgen bekommen<br />

Namen. In einer technisch-naturwissenschaftlich<br />

beherrschten Welt sind<br />

das zwangsläufig technisch-naturwissenschaftliche<br />

Namen. Schwefeldioxid ist<br />

längst kein Fremdwort mehr, stetig verlängert<br />

sich das Register der Schrecken, jene<br />

neuen und komplizierten Stoffe, von deren<br />

Aussehen und deren Zusammensetzung<br />

man keine Ahnung hat, gerade froh ist,<br />

wenn man weiß, wie 'Formaldehyd' ausgesprochen<br />

wird. Was die Industriegesellschaften<br />

ausstoßen, gerät in ein kaum übersehaubares<br />

Geflecht ökologischer Kreisläufe.<br />

Ursache und Wirkung liegen häufig<br />

weit voneinander entfernt, Einzelursachen<br />

zeitigen eine Vielzahl von Nebenwirkungen,<br />

verbinden sich auf verblüffende Weise<br />

mit den Fernwirkungen anderer Ursachen.<br />

Der Output der industriellen Lebensweise<br />

gerät in die komplizierten biologischen<br />

Wirkungsgefiige, stört Lebensformen und<br />

Symbiosen, und wenn die kritischen<br />

Schwellenwerte überschritten werden,<br />

können die Ökosysteme die industriellen<br />

Einwirkungen nicht mehr abpuffern, dann<br />

steigen in den Nahrungsketten heimlich<br />

die Gifte hoch, welchen Fisch kann man<br />

noch essen, dann sind Artenvielfult und natürliches<br />

Gleichgewicht bedroht. Erst<br />

wenn die Umwelt die Symptome zeigt, be-<br />

49


ginnen wir langsam, die Abspaltungen,<br />

Rückstände und Abgase namhaft zu machen.Die<br />

fremden Wörter kommen in unsere<br />

Lebenswelt zurück wie Boten, die die<br />

Nachricht bringen, daß es so nicht mehr<br />

weitergeht.<br />

Die Nachricht heißt: auf eine komplexe<br />

verwobene Umwelt darf man nur mit großer<br />

Behutsamkeit einwirken, zum Denken<br />

müssen die Bedenken kommen. Solcher<br />

Erkenntnisprozeß fordert nicht nur eine<br />

angemessene Politik, sondern letzten Endes<br />

auch die Bereitschaft zur Veränderung<br />

des eigenen Lebensstils. Das Erkennen<br />

kommt nur langsam und widersprüchlich<br />

voran. Zwar erleben wir gegenwärtig in Sachen<br />

Umwelt einen bisher ungekannten<br />

Lernprozeß, aber die Dinge liegen vertrackter<br />

als es scheint: unsere umweltpolitischen<br />

Einsichten setzen sich nicht direkt in<br />

Verhalten um, nicht linear : erst in Urteilsbildung,<br />

dann in politischen Druck, schließlich<br />

in tatsächliche Veränderungen und in<br />

neues eigenes Verhalten. Schon die umweltpolitischen<br />

Einsichten paaren sich mit<br />

Lebensweisen, die den Einsichten widersprechen.<br />

Eine empirische Studie am Berliner<br />

Wissenschaftszentrum zum Beispiel<br />

zeigt einen bemerkenswerten Widerspruch.<br />

Diejenigen, die wissen, daß die lndustriegesellschaften<br />

ihre natürlichen<br />

Grundlagen auf wahnwitzige Weise zerstören,<br />

sind zugleich auch diejenigen, die<br />

überdurchschnittlich viel Energie verbrauchen,<br />

überhaupt an einen gehobenen Konsum<br />

gewöhnt sind. Die ökologisch Aufgeklärten<br />

also, die das Problem kennen, sind<br />

selbst ein Teil des Problems. Sie fahren mit<br />

dem Zweitwagen zum Einkaufen, aber<br />

bleiben wahrscheinlich noch im Wagen sitzen,<br />

um im Autoradio eine Sendung über<br />

das Waldsterben zu Ende zu hören. Durchaus<br />

zivilisationskritisch haben sie fur das<br />

einfache Leben etwas übrig, um am einsamen<br />

sonnigen Strand nackt baden zu können,<br />

jetten sie auf die fernste Insel. Die gut<br />

Informierten haben eine hohen Lehensumsatz,<br />

und dessen Kennzeichen ist Mobilität.<br />

In unserer Gesellschaft ist die Vorstellung<br />

von Glück gebunden an ein Leben,<br />

das nicht geruhsam ist, sondern schnell.<br />

50<br />

Möglichst viele Glücksgüter, viele Erlebnisse,<br />

viel Bewegung. Die Selbstverwirklichungssongs<br />

singen es frei heraus:<br />

"Ich will nicht viel, ich will mehr;<br />

ich will alles und zwar sofort ... "<br />

Zwischen den Maximen einer ökologisch<br />

einsichtsvollen Lebensfuhrung und<br />

den Bildern des schnellen glücklichen Lebens<br />

liegt eine Kluft.<br />

Die Zeiten sind hart aber modern. Am<br />

Beginn dieses Jahrhunderts schien alle Bewegung<br />

eine Bewegung nach vorn zu sein.<br />

1909 besangen die italieniscpen Futuristen<br />

in ihrem 'Ersten Futuristischen Manifest'<br />

die Geschwindigkeit und die Liebe zur Gefahr.Jenem<br />

Automobil, das das erste Autorennen<br />

gewonnen hatte, wurde in Paris ein<br />

Denkmal errichtet. Heute ist die Geschichte<br />

der Beschleunigung am kritischen Punkt.<br />

Zeichen der Neubewertung und der Umkehr<br />

erscheinen. Beamte, die mit dem Straßenbau<br />

zu tun haben, sprechen von der<br />

Aufhebung und Beseitigung überflüssiger<br />

Straßen. In Berlin denkt ein Politiker öffentlieh<br />

darüber nach, ob man eine Autobahnbrücke,<br />

die einen einstmals schönen Platz<br />

brutal überspannt, nicht wieder abreißen<br />

könne. Etwas rückgängig machen, umkehren,<br />

mindestens aber die Beschleunigung<br />

bremsen : Vieles deutet daraufhin, daß bei<br />

der Zukunftsfahrt der industriellen Moderne<br />

der Fuß vom Gaspedal genommen werden<br />

sollte. So paßt es ins Bild, daß die Entdeckung<br />

der Langsamkeit ganz konkret<br />

diskutiert wird.<br />

Das Gutachten des Umweltbundesamtes<br />

über die umweltschonenden Auswirkungen<br />

von Tempo 100 auf Autobahnen<br />

und Tempo 80 aufLandstraßenkommt unter<br />

anderem zu dem Ergebnis, daß 18 Prozentjener<br />

Stickoxide, die aus bundesdeutschen<br />

PKWs quellen, vom Wald abgehalten<br />

werden könnten. Ein Tempolimit wäre<br />

noch nicht die Lösung, es wäre lediglich ein<br />

kleiner Teil der Lösung. Zur Rettung des<br />

Waldes und in der Umweltpolitik überhaupt<br />

gibt es die eine große rettende Maßnahme<br />

nicht, sondern nur viele, die sich ergänzen<br />

müssen. Insofern gehen alle Argumente<br />

gegen das Tempolimit, die dessen<br />

Wirksamkeit fur zu gering halten, am Kern<br />

der Sache vorbei. Tempo 100wäreeineSoforthilfe<br />

fur den Wald, ohne langfristigen<br />

Forschungsvorlauf und ohne Milliardeninvestitionen,<br />

unmittelbar und unverzüglich.<br />

So darf man sich getrost wundern, daß diese<br />

Soforthilfe nicht versucht wird und die<br />

Politiker, die das Sagen haben, alles auf die<br />

lange Bank schieben; und an diesem Wundern<br />

sollte man naiv-hartnäckig festhalten,<br />

auch wenn wir uns daran gewöhnt haben,<br />

uns über gar nichts mehr zu wundern.<br />

Dabei hätte es die Politik mit der Bevölkerung<br />

so schwer nicht; die meint ohnehin<br />

zu 90 Prozent, daß fur den Umweltschutz<br />

nicht genug getan wird. Jeder Bundesbürger<br />

findet, der Kampf gegen das Waldsterben<br />

sollte verstärkt werden. Und innerhalb<br />

kurzer Zeit ist der Anteil der Befurworter<br />

eines Tempo-100-Limits von 45 auf 55<br />

Prozent gestiegen. Das ist bemerkenswert.<br />

Doch offensichtlich reicht unsere Entschiedenheit<br />

noch nicht aus. Das Tempolimit<br />

wird kommen. Die Bundesrepublik ist das<br />

einzige Land in Europa, auf dessen Autobahnen<br />

unbegrenzt gerast werden darf. In<br />

den USA liegt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit<br />

bei 88 Stundenkilometern;<br />

inj2pan wird jedem, der deutlich mehr als<br />

100 fahrt, der Führerschein entzogen. Bei<br />

uns aber gerät die umweltpolitische Vergegenwärtigung<br />

beim Auto ins Stocken. Im<br />

Ionern der Deutschen liegen Auto und<br />

Wald, die ihm beide unverzichtbar sind,<br />

miteinander in tiefem Konflikt. Der Wald<br />

repräsentiert das Sichere, ewig Bleibende,<br />

und das Auto ist das Bewegungsprinzip an<br />

sich. Nur bleibt das Bleibende nicht, derzeit<br />

gibt es in Deutschland keine gesunde<br />

Weißtanne mehr. DasAuto ist eine Art Verursacherprinzip<br />

auf der Flucht; es verbreitet<br />

Kohlenmonoxid, Stichoxid und Blei und<br />

entfernt sich rasch vom Ort der Tat. Die<br />

Entdeckung der Langsamkeit wäre eine<br />

verantwortliche Form, die Folgen des eigenen<br />

Tuns zu realisieren. Vergegenwärtigung<br />

is.t das Merkmal der jetzigen Umweltdiskussion.<br />

Sie darf sich mit der Verlangsamung<br />

nicht zuviel Zeit lassen.


Joachirn Koch<br />

Die Poetik des Duftes<br />

Vor der Erfindung der Wirklichkeit<br />

regierte die Magie. Die Gestirne waren<br />

ihr Werkzeug, die vier Elemente ihre<br />

Heimat. Die Astrologie erinnert sich<br />

noch. Aus der alten arabischen Welt war<br />

sie gekommen, aus der alten arabischen<br />

Welt entstammt das Wort "Alchemie".<br />

Eine dreifacheSuche zeichnete sie aus:<br />

die Suche nach dem Stein der Weisen,<br />

die Suche nach der Erschaffung des Goldes<br />

und die Suche nach den Düften, dem<br />

Parfum. Was ist im Vergleich zu ihr die<br />

Chemie, was zählt das Periodensystem,<br />

gemessen an Erde, Wasser, Luft und<br />

Feuer. Von diesen vier Elementen laßt<br />

uns sprechen und so das Geheimnis der<br />

Düfte ergründen. Es zu erfahren wird<br />

der Wirklichkeit niemals mehr gelingen.<br />

Was von ihm blieb ist einzig die Poetik<br />

des Duftes.<br />

Der Duft geht durch die Lüfte. Nicht<br />

nur die Riten des Hinduismus wissen von<br />

diesem Medium. Ebenso der geweihte<br />

Rauch der Gotteshäuser, die Räucherstäbchen<br />

der Inder, die milchigen Schwaden<br />

des Opiums, des Mohns, desTabaks. Und<br />

sie wissen von den Räumen, die mit den<br />

Düften entstehen. Diese Räume sind intim<br />

wie der Duft selbst. Sie bilden eine Vertraulichkeit<br />

und beweisen dadurch, daß eine<br />

Gemeinschaft nicht unbedingt umgrenzender<br />

Mauern bedarf, sondern in selber<br />

Weise durch die Verwandlungdes Umfelds<br />

in ein Nichts sich versinnbildlichen kann. Es<br />

ist dies die andere Art einen Luftballon aufzublasen;<br />

ihn verknoten und seine Hülle einem<br />

Vakuum aussetzen. Ein Innen herstellen,<br />

indem das Außen inhaliert wird.<br />

Doch sind es nicht allein die Räume, die<br />

zum Einvernehmen fuhren. Die dreifache<br />

Suche der Alchimisten findet sich wieder in<br />

der Geschichte der drei Könige aus dem<br />

Morgenland, die dem Stern folgten, um seine<br />

Bedeutung zu erfahren. Weise seien sie<br />

gewesen, so heißt es, das Gold war ihre Gabe<br />

und das Rauchwerk. Weihrauch und<br />

Myrrhe. Das Feuer ist deshalb das zweite<br />

Element, das mit dem Duft einhergeht.<br />

Nicht nur den Mittelpunkt jenes uralten<br />

Kreises der Zusammengehörigkeit stellt es<br />

dar, dessen Geruch von verbrennendem<br />

52<br />

Holz und Harz sich niemand entziehen<br />

kann. Gleichfalls ist es der Mittler zwischen<br />

den Göttern und den Menschen. Sein erstes<br />

Vermögen ist es, die Menschen zu läutern<br />

und zu reinigen. Sein zweites aber den<br />

Göttern zu huldigen und mit seinem Duft<br />

ihrefeinen Sinne zu locken. Den nach oben<br />

steigenden Rauch der Brandopfer und Altäre<br />

wußten vor den christlichen bereits die<br />

hebräischen, griechischen und römischen<br />

Priester zu lesen. Und wo der Geruch den<br />

guten Mächten nicht genügt, da reicht er<br />

zumindest fur die Vertreibung der bösen,<br />

was die Mayas lange Zeit mit Erfolg unternahmen.<br />

Die Fähigkeit zu reinigen gehört jedoch<br />

nicht dem Feuer allein. Feuer und Wasser,<br />

die beiden Komplementäre, teilen sich diese<br />

Gunst. Allerdings ist das trockene Element<br />

jünger als das nasse.<br />

Daß das Wasser zuerst war, erkannten<br />

bereits die Babyionier und Ägypter. Daß<br />

das Wasser selbst die Geburt ist, denn alle<br />

Dinge sind aus ihm entstanden, hatte der älteste<br />

Philosoph der griechischen Geschichte-Thai<br />

es von Milet- herausgefunden.<br />

Daß das Feuer das Wasser zu verdunsten<br />

begann und dadurch die Erde entstand,<br />

wußte schließlich Anaximandros aus<br />

Milet im 6. Jahrhundert zu berichten. Die<br />

Unschuld, die mit dem Wasser einhergeht,<br />

ist noch heute uns geläufig. Der Geruch<br />

aber, der mit den Wassern kommt, ist eine<br />

archaische Erinnerung an den Anfang der<br />

Natur. Atme den Duft des Ozeans, die Blume<br />

eines sommerlichen Sees, den Regen,<br />

das Gewitter und die Stunde danach, atme<br />

den Ursprung, den ersten Schnee, den Fluß<br />

in einer Stadt, die Quelle in einer Wiese, das<br />

Moor. Erst das feuchte Element läßt die<br />

Düfte entfalten, erst das feuchte Element<br />

läßt unsere Schleimhäute empfinden. Und<br />

nichts an unserem Körper könnte duften,<br />

wenn nicht das Wasser es wäre, aus dem<br />

wir geformt sind. Blut, Schweiß und Tränen,<br />

was taufte den Menschen mehr als sie.<br />

Gleichwohl sind wir aus allen Elementen<br />

zusammengesetzt, so wie alle Dinge aus<br />

der unterschiedlichen Verbindung von<br />

Luft, Feuer, Wasser und Erde existieren.<br />

Vor mehr als 2400 Jahren hatte Empedokles<br />

aus Agrigent in Sizilien diese Einsicht<br />

gewonnen, ehe er seine Sandalen am Kraterrand<br />

des Ätna zurückgelassen und selbst<br />

fur immer im Feuer der Erdenmitte verschwand.<br />

Wie anders könnten wir sonst zur<br />

Erkenntnis gelangen, so lautete seine pantheistische<br />

Vision, die in den Göttern die<br />

Welt und in unserer Erde die Götter schaute,<br />

wenn nicht die Bausteine des Ganzen in<br />

uns wiederkehrten. In dieser Weise ist das<br />

irdische Element der Wiederspiegelung<br />

des göttlichen Bewußtseins zugeordnet,<br />

dessen Vollkommenheit den Duft der Lotusblüte<br />

ausstrahlt, was der Yoga lehrt.<br />

Zwei einander entgegengesetzte Eigenschaften<br />

sind es, die solches Duften auszeichnen.<br />

Einerseits die Konzentration, deren<br />

Unsichtbarkeit die ase als Essenz<br />

wahrnimmt - das Wesentliche; andererseits<br />

die Ausbreitung, wodurch das Wesentliche<br />

seinen Atem verströmt Vom Exhalieren<br />

ließe sich hier sprechen und damit<br />

neuerlich das Element der Luft wiederholen,<br />

von dem als Inhalieren die Rede war.<br />

Treffender kann die französische Sprache<br />

diese Poetik schreiben. Ihr Verb "exhaler"<br />

kennt sehr gut diese beiden Seiten des Duf-.<br />

tes. Sie verwendet es, um das Geheimnis einer<br />

Sache zum Ausdruck zu bringen, das<br />

über den Hauch sich mitteilt. Das Bild atmet<br />

aus-" Taus desparfumsdes orients"­<br />

alle Düfte des Orients.<br />

Der Duft als Atem, als Hauch, als Lebenshauch,<br />

solche Geistigkeit ist keinem<br />

der funfSinne sonst zu eigen. Dem Sanskrit<br />

sind die Halbgötter Gandharva wohlvertraut,<br />

die sich vom Lebenshauch ernähren.<br />

Vielleicht ist Entsprechendes von den<br />

Pflanzen zu sagen. Und der zweite Schöpfungsbericht<br />

des Buches "Genesis" berichtet<br />

umgekehrt, wie Jahwe den Menschen<br />

als ein lebendiges Wesen schuf, indem er in<br />

seine ase einen Lebenshauch blies. Sie<br />

haben von ihm den Odem erhalten. Welch<br />

eine okkulte Verbindung zwischen dem<br />

Odem des alltestamentarischen Gottes, der<br />

das Leben gibt und ist, und dem Prana, das<br />

die Hindu-Yogis mit der Luft einatmen,<br />

weshalb sie überlieferten, Atem sei Leben.<br />

Was fur ein Geheimnis steckt hinter dem<br />

Wort "Od", was einst die Ausstrahlung des


menschlichen Körpers hieß und das als<br />

Wortstamm gleichermaßen dem Begriff<br />

"Odem" zugrundeliegt, wie dem "Odeur",<br />

womit früher der Duft, der Duftstoff, der<br />

Wohlgeruch bezeichnet worden war. ",ch<br />

rieche Menschenfleisch", lauten die drohenden<br />

Worte im Märchen von des Teufels<br />

drei goldenen Haaren, und erst der in Feuer<br />

und Rauch gegarte Braten vermag diesen<br />

Geruch zu überdecken. Nurdurch die Verbindung<br />

der asemit dem Gaumen gelingt<br />

gleichsam die Ablenkung von jenem<br />

Hauch, der den Duft mit dem Leben<br />

vereinte.<br />

Ist das nicht der Absturz des Geheimnisses<br />

in die Banalität? Als der niedere Sinn<br />

wird das Riechen mittlerweile angesehen,<br />

weil ohne ihn auszukommen leichter zu<br />

verkraften sei als der Verlust des Sehens,<br />

des Hörens, des Schmeckens, des Tastens.<br />

Dabei ist es naheliegend, daß in einer Welt<br />

von Blinden das Sehen wenig zählt. Der<br />

Einäugige wird König.<br />

Was fur ein Schrecken durehRihre uns,<br />

wenn wir plötzlich von Dunkelheit umgeben<br />

wären. Was fur eine Trauer, wenn das<br />

Ohr nicht mehr hörte, Zunge und Gaumen<br />

nicht mehr schmeckten, die Haut nichts<br />

mehr spürte. Wie anders die Nase. Kein Organ<br />

ist eitler gegenüber dem Unschönen.<br />

Und das Schöne bleibt beschränkt auf eine<br />

seltene Überraschung. Die Sinnlichkeit<br />

und Intimität des Wohlgeruchs wird lediglich<br />

wiedererkannt. Der kurze Anflug einer<br />

Erinnerung, der im Duft des Frühlings, im<br />

Parfum der Geliebten auillackert. Der Abstrakteste<br />

der Sinne ist der Geruch und<br />

längst ist er auf dem Wege, das Schicksal<br />

des sechsten Sinns zu teilen.<br />

Wie anders dagegen bewegen sich viele<br />

Tiere. Sie erkennen die Dinge an den Gerüchen.<br />

Sie begrüßen sich mit Wolken. Sie<br />

vermehren sich duftend.<br />

Während wir der Allmacht des Auges<br />

unterliegen, identifizieren jene ihre Welt<br />

schnüffelnd. Schnüiller wird wiederum abwertend<br />

der genannt, der seine ase zu<br />

weit in etwas steckt, was verborgen bleiben<br />

soll. Sehen genügt. Dabei können Dinge in<br />

der Luft liegen, die einem Sehen und Hören<br />

vergehen lassen. Wer dann nicht einen Rieeher<br />

hat fur das Kommende, der wird bald<br />

die Nase voll haben und verduften wollen,<br />

weil ihm alles stinkt. War es in den magischen<br />

Zeiten nicht einzig der Geruch von<br />

Pech und Schwefel, der den Satanall seiner<br />

Täuschungskünste zum Trotz entlarven<br />

konnte? Doch schon damals hatte nicht jeder<br />

eine Nase fur die Gefahr und hielt so<br />

manches fur dufte, was seine Nasenspitze<br />

besser hätte wissen sollen. ,Jemanden nicht<br />

riechen können" - was davon blieb ist oft<br />

genug nur das "nicht riechen können".<br />

Doch nicht allein die Fähigkeit ist es, die<br />

verschwand, auch die Gerüche selbst haben<br />

vielfach die Welt verlassen. Anstelle<br />

des Gestanks der Epidemien in den Straßen<br />

trat das Desinfektionsmittel in den Hospitälern.<br />

Statt der Kloaken riecht die Hygiene.<br />

Die Drüsen sind still geworden, und das<br />

Blut wird konserviert. Der Kunstdünger hat<br />

den Odem abgelöst und der Wohlgefallen<br />

über das gelungene Essen wird entsprechend<br />

mit Worten statt mit lutheranischer<br />

Geste gelobt. In ihren Anfangen wußten<br />

später dann die Maschinen noch, wie man<br />

Nasen zum Rümpfen bringt, ehe deren Abgase<br />

geruchlos vergifteten. Beiall dem handelt<br />

es sich um jenen Zivilisationsprozeß,<br />

der die Düfte und Gerüche beseitigte. Die<br />

Entwicklung zur Kultur ist die Entwicklung<br />

zum Deodorant und - sofern dieses Wort<br />

mit "Entdufter" übersetzt werden kann -<br />

selbst eine deodorante Entwicklung.<br />

Das Geheimnis ist verlorengegangen.<br />

Von allen Vieren sind wir aufgestanden. Mit<br />

erhobener Nase proben wir den aufrechten<br />

Gang. Das sei Verdrängung schlechthin,<br />

mutmaßte Sigmund Freud; die Abstraktion<br />

der Gerüche als Anfang der Zivilisation.<br />

Nicht mehr markiert werden die Räume,<br />

sondern umzäunt. Seither dann die Frage,<br />

wohin mit dem Mist?<br />

Die Vesuv-Straße in Pompeij verdeutlicht<br />

sie unmittelbar. Einem dreidimensionalem<br />

Zebrastreifen vergleichbar verbinden<br />

Steinblöcke die beiden Gehwege der<br />

Straßenseiten. Durch ihre Zwischenräume<br />

wühlen sich die Räder der Fuhrwerke im<br />

Morast. Die ausgetretene Oberfläche der<br />

Quader erlaubt die Überquerung mit trokkenem<br />

Fuß. Am 24. August des Jahres 79 ist<br />

es der Vesuv, der die Verdrängung rückgängig<br />

zu machen versucht. och einmal<br />

drückt er die Horden in den Staub und läßt<br />

sie riechen, wie die Erde riecht und der<br />

Tod. Sein Unternehmen bleibt eine einsame<br />

Tat. Denn längst ist der Mensch seßhaft<br />

geworden, und die Seßhaftigkeit ist es, die<br />

die Gerüche konzentriert. Die Seßhaftigkeit<br />

ist es, die die Hygiene nach sich zieht.<br />

So gehört es zu den Paradoxien des<br />

Duftes, daß die in freier Wildbahn lebenden<br />

Tiere den scharfen, ihm nunmehr eigenen<br />

Geruch des Menschen schon von weitem<br />

wittern, während er ihn selbst selten wahrnimmt.<br />

Auch "transpirieren" wilde Tiere<br />

nicht, weshalb der zweite Widerspruch besagen<br />

kann: Wer riechen kann, riecht nicht<br />

- wer riecht, kann nicht riechen. Und das<br />

dritte Gegenteil vollzieht sich über die deodorante<br />

Entwicklung, indem das Ausmerzen<br />

der Gerüche in selber Weise beginnt,<br />

wie durch die Zivilisation Gerüche erst erzeugt<br />

und virulent werden.<br />

" omos" nannten die alten Griechen<br />

das Gesetz. " omos" ist der Begriff der Philosophie,<br />

der das Ding an sich, das Wesen<br />

der Dinge umschreibt. Das Wesen des Duftes<br />

ist die Sprache des Körpers. Der Duft die<br />

Grammatik der atur. Instinktiv wird<br />

dieseGrammatik verwendet. Ihre Zweckmäßigkeit<br />

bedarfkeiner Übersetzung. Der<br />

Duftder ahrungistdie ahrung.DerDuft<br />

des Feindes der Feind. Der Tod des Artgenossen<br />

keine Vorstellung, sondern sein Geruch.<br />

Die Fortpflanzung keine Fantasie der<br />

Lust, sondern Duft der Arterhaltung. Der<br />

Duft ist das Leben. Geruch ist der Instinkt,<br />

der nichts Stinkendes kennt.<br />

Aus dem Wort "Nomos" wird im Lateinischen<br />

das Wort" omen". Aus dem Gesetz<br />

der "Eigenname". Denn aus der Grammatik<br />

der atur hatte sich das Geheimnis<br />

der Magie entwickelt. Nicht unmittelbar<br />

mehr ist die Sprache der Düfte, statt dessen<br />

bedeutungsvoll. Der Geruch der Verwesung<br />

ist nurmehr der Tod des Körpers, der<br />

die Seele befreit. Die vier Elemente wiesen<br />

uns den Code, demnach der "Spiritus"- der<br />

Geist, die Seele, verbunden ist mit "spirare"<br />

- atmen, und heute "transpirieren" - ausdünsten.<br />

Der Dunst, die Feuchtigkeit der<br />

53


Luft, die durch Erhitzen entsteht.<br />

Der Prozeß schritt voran. Aus dem "Nomen",<br />

der .,Eigenname", wird das Wort<br />

"Namen". Aus dem Geheimnis der Magie<br />

gehen die Bedeutungen verloren. Das daran<br />

"Eigene" verschwindet. Der Name der<br />

Düfte in der Zivilisation ist Effekt. Entsprechend<br />

werden sie ohne instinktiven Zweck,<br />

ohne mythologisches Ziel ausgesandt. Ungelesen<br />

bleiben sie und kennen nurmehr<br />

die Verwendung von angenehmn und<br />

unangenehm, von Lust und Tod. icht<br />

mehr Sprache sind die Düfte oder Bedeutung,<br />

sondern Wirkung. Geruch und Lust,<br />

Geruch und Tod, das eine ist die Wirkung<br />

aus dem anderen.<br />

Doch gleichzeitig beginnt eine parallele<br />

Entwicklung. Während "Nomos" in "Namen"<br />

sich verwandelt, wird allmählich sowohl<br />

das Geheimnis der Magie als auch die<br />

Grammatik der atur verdoppelt. Neben<br />

die Zivilisation tritt die Kultur. Neben den<br />

Nomos das Phänomen. Das ist die Poetik<br />

des Duftes, die aus dem Geheimnis entspringt<br />

und doch nicht das Geheimnis ist.<br />

Der Odeur der Seele kehrt wieder im<br />

Parfum. Das Od der menschlichen Ausstrahlung<br />

kehrt in den Duft der persönlichen<br />

Note. Einer Dame ein anderes Eau de<br />

Cologne zu schenken denn das von ihr gewählte<br />

verkennt die Einzigartigkeit der Edlen.<br />

Bereits die ägyptischen Göttinen waren<br />

an ihrem Duft zu erkennen. Das japanische<br />

Mittelalter hatte gar die Kultur der<br />

Düfte so weit entwickelt, daß die Hülle der<br />

Adligen kein zweitesmal zu finden war.<br />

Das ist die Poetik des Duftes, die aus der<br />

Natur entspringt und doch nicht die Natur<br />

ist. Die Kunst der Parfumeure wird die<br />

Kunst der richtigen Dosierung der Pfortengerüche.<br />

Nicht die Abwesenheit der sogenannten<br />

unangenehmen Gerüche ist es, die<br />

den Wohlgeruch auszeichnet, sondern die<br />

in ihm enthaltenen <strong>Spur</strong>en der Absonderung.<br />

Die Dame fuhrt den Hund an der Leine.<br />

Der Flieder verströmt vor dem Welken.<br />

Der Liebende ahnt die Künstlichkeit des<br />

Unterschieds und versinkt.<br />

"Dir zu mich neigend, Königin der Angebeteten,<br />

glaubte ich deines Duftes Blut<br />

zu atmen."<br />

54<br />

"Die Nacht verdichtete wie eine Wand<br />

sich, und meine Augen im Dunkeln errieten<br />

deine Augensterne, und ich trank deinen<br />

Hauch, o Süße, o Gift!"<br />

"Diese Schwüre, diese Düfte, diese<br />

unendlichen Küsse, werden sie aus einem<br />

Abgrund, den auszuloten uns verwehrt ist,<br />

wiederkehren einst, wie in den Himmel die<br />

verjüngten Sonnen steigen, nachdem sie in<br />

der Tiefe der Meere sich gebadet haben? -<br />

0 Schwüre! 0 Düfte! 0 unendliche Küsse!".<br />

Das ist die Poetik des Duftes, die Baudelaire<br />

1857 zu besingen wußte und mit deren<br />

"Symbolismen" sich eine neue Art, sie zu lesen,<br />

entwickelt.<br />

ImJahre 1884 veröffentlichtJoris-Karl<br />

Huysmans sein Buch "Gegen den Strich".<br />

Wenn sieben Jahre später Oscar Wilde seinen<br />

"Dorian Gray" ins Verderben stürzt, indem<br />

er ihm das "gelbe Buch" in die Hand<br />

gibt, so wird dieses Buch Huysmans symbolistischer<br />

Roman sein, in dessen Dekadenz<br />

die Kunst zum absoluten Gegensatz<br />

der Natur geworden ist. Die ästhetizistischen<br />

Neigungen, denenJean Des Esseintes<br />

darin nachgeht, sind allesamt von dem<br />

Motiv geleitet, die Sinnlichkeit vom Körper<br />

loszulösen und in die Kultur des Geistes zu<br />

transzendieren.<br />

Nicht dasRülpsen, Furzen, Saufen,<br />

Fressen, Schwelgen und Huren eines Rabelais<br />

regt hier die Sinne an, sondern das Einstellen<br />

der Nahrungsaufnahme, die durch<br />

Drogen erzeugten künstlichen Farb- und<br />

Geruchssynästhesien oder die Parfumorgel,<br />

die den Duft auftechnische Weise verströmt.<br />

Die Grammatik der Natur hat sich<br />

auf den Monolog des Menschen mit sich<br />

selbst reduziert, der Instinkt ist zum gezielten<br />

Stimulus geworden.<br />

Neben Baudelaire war es unter anderem<br />

Emile Zola, der Huysmans Symbolismus<br />

hervorbrachte. In dessen .,Naturalismus"<br />

wiederholt sich das "Symbol" natürlich.<br />

Er schrieb im Jahre 1875 den fiinften<br />

Roman seines Zyklus "Les Rougon-Macquart",<br />

der den Titel trägt : "Die Sünde des<br />

Abbe Mouret." Weibliche Hauptperson<br />

darin ist Albine, die Nichte des menschenfeindlichen<br />

PhilosophenJeanbernat. Während<br />

bei den Symbolisten die Blumen geruchlos<br />

sind, läßt Zola sein Mädchen Albine<br />

nach einer unglücklichen Liebe in einem<br />

Meer von Blumen, die einen geschlossenen<br />

Raum fiillen, den freiwilligen Tod suchen.<br />

Die Blumen atmen aus, diejungeFrau den<br />

Lebenshauch und Gandharva werden satt.


Dietrich Kuhlbrodt<br />

Sorgen der Kulturherrschaft<br />

Ein Strezftug durch bqrezte Zonen<br />

Schlechte Zeiten fiir die großen Zentralen.<br />

Die fleißigen Theorieproduzenten<br />

mögen noch so viel Sinn stiften, doch immer<br />

wenigere lassen sich Kultur auf deduktivem<br />

Wege verordnen. Auch die<br />

Kulturverwalter, die ihr Gut zumessen<br />

und gnädig gewähren ("Kultur fiir alle"),<br />

kommen in Schwierigkeiten. Staatsknete<br />

wird gem genommen, mit der Kultur<br />

wird allerdings kein Staat gemacht. Wer<br />

sich sein Medienzentrum subventionieren<br />

läßt, schert sich auch nicht, ob die<br />

Kultur, die er produziert, gesellschaftlich<br />

sanktioniert ist. Frage ist heute, wie<br />

man das Medienzentrum oder den<br />

Stand-Platz, welchen auch immer, umnutzt<br />

und Kultur nach den eigenen Bedürfuissen<br />

produziert. D ie vielen kleinen<br />

Zentren nehmen weder Rücksicht<br />

auf T heorie noch auf Bürokratie, wohl<br />

aber auf das Subjekt. Sie operieren von<br />

unten aus: Kultur vom Subj ek~ aus Görg<br />

Richard).<br />

Dem Großfi.irsten der deutschen Filmkultur<br />

treibt das die Zornesröte ins Gesicht;<br />

er fuhlt vom gegenwärtigen Treiben seinen<br />

Status bedroht, und recht hat er, weil die<br />

Klein-Zentren nicht mehr im Namen von<br />

etwas anderem handeln, auch nicht in dem<br />

von Vergangenheit und Zukunft, was zugegebenermaßen<br />

wenig repräsentativ ist.<br />

Alexander Kluge hat daher den Titel fi.ir<br />

sein letztes Großwerk genial ersonnen<br />

("Der Angriff der Gegenwart auf die übrige<br />

Zeit"). Man könnte sich jedoch fragen, statt<br />

in Ach & Weh-Geschrei auszubrechen, ob<br />

es nicht längst Zeit war, von unten, vom<br />

Subjekt, von der Gegenwart aus, der Vergangenheit<br />

(von der Utopie ist noch zu<br />

sprechen) an den Kragen zu gehen und sie<br />

höchstselbst zu bewältigen.<br />

Bisher war die Bewältigungskultur eine<br />

Frage der Herrschaft, und zwar die über die<br />

Gegenwart. Noch ein Großfilm wie<br />

"Shoah" versucht, im Namen der Vergangenheit<br />

die Gegenwart zu bekriegen. Ein<br />

rigoroser Moralismus besetzt das Terrain<br />

und schreibt auch die kleinste Bewegung<br />

vor. "Shoah" erzwingt Bekenntnisse, ohne<br />

wenn und aber. Ein Fall erfolgreicher Gegenwartsbewältigung<br />

-jedenfalls fiir die 9<br />

112-Stunden-Dauer des Films. Claude<br />

Lanzmann läßt seinen Film lang die Vergangenheit<br />

regieren. "Die Idee war, die Distanz<br />

zwischen Vergangenheit und Gegenwart<br />

aufZuheben, so daß wir sogar vergessen,<br />

daß 43 Jahre vergangen sind seit (der<br />

Judenvernichtung von) 1942. Nichts hat<br />

sich verändert." (Lanzmann)<br />

Verändert hat sich in den Filmen, die<br />

vom Subjekt aus gedreht sind, daß die fi.ir<br />

Herrschaft unerläßliche Hierarchie, auch<br />

die in "Shoah" etablierte Hierarchie, nicht<br />

geachtet wird. Der <strong>Hamburg</strong>er Filmmacher<br />

Franz Winzentsen entdeckt daher in<br />

seinem Animationsfilm "Die Anprobe" die<br />

Hakenkreuze nicht beim bösen Feind, sondern<br />

bei sich zu Haus, nämlich auf den Zeitungen<br />

des Jahres, in das er hereingeboren<br />

wurde. Die Schmetterlingssammlung fliegt<br />

mit dem Dröhnton des Bomberverbandes<br />

über das Druckwerk hinweg. Dann sieht<br />

man, schräg von hinten, jemanden am<br />

Steuer seines Wagens sitzen, den Kopf<br />

durch eine Lederkappe geschützt. Der<br />

Blick geht frei in F1ur und Feld. Es ist das<br />

vertraute Foto vom Führer, einsam fahrend.-<br />

Von unten, vom Vertrauten, vom<br />

Kindlich-Lieben aus geht der Blick, und es<br />

bedarf weder eines großen noch eines kleinen<br />

Zeigefingers, um Hakenkreuz und<br />

Führer als Teil des Selbst anschaulich zu<br />

machen. Die Antwort auf diese Entdekkung<br />

ist daher eine persönliche. Winzentsen<br />

zeigt in der "Anprobe" den biologischen<br />

Sumpf, der ihm als Nährboden zugedacht<br />

ist. Er wird zum Zeichen dafi.ir, daß<br />

sich die Bewältigung der Vergangenheit<br />

nicht losgelöst von der Frage der Identität<br />

erledigen läßt.<br />

Christoph Schlingensief, 24 Jahre alt,<br />

läßt in seinem neuen Spielfilm "Menu total"<br />

die Elterngeneration in Naziuniformen antreten,<br />

KZ-Chargen am heimatlichen Kinderbett,<br />

gröhlend, fressend, kotzend und<br />

liebevoll bemüht. Die kid generationist damit<br />

beschäftigt, das Bewältigungsspektakel<br />

unbeschädigt zu überstehen. - Schlingensiefbannt<br />

die Bilder, die den Schaden in der<br />

zweiten Generation bezeugen. Da er in Bildern<br />

denkt, kann er es deutlich machen,<br />

noch bevor dazu die richtigen Worte gesagt<br />

sind, daß es an der Zeit sein könnte, die<br />

Bewältigungsdiskussion zu bewältigen.<br />

Drittes Beispiel: Der Hitlergruß. Andrea<br />

van der Straeten brachte in ihrem<br />

neuen Dreiminutenvideoclip "Familienausflug<br />

'33" ihre Eltern und Großeltern<br />

ins Bild, die beim Picknick die Arme fröhlich<br />

zum Hitlergruß hoben. Ein Lieblingsfoto,<br />

wie sie dazu berichtet, das so sehr<br />

insFamilienleben integriert war, daß sie<br />

das, was die ausgestreckten Arme bedeuteten,<br />

bis vor kurzem nicht wahrgenommen<br />

hatte.- Was auf diesem Band beunruhigte,<br />

war nicht die Naziehrenbezeugung von<br />

1933, sondern die Tatsache, daß sie fiinfZig<br />

Jahre später in die private Welt der Andrea<br />

van der Straeten hereinbrach. Ob mit dieser<br />

Entdeckung die Kindheit eine andere<br />

wurde, ob der Hitlergruß im Gegenteil ein<br />

lächerliches Phänomen blieb, welches die<br />

Erinnerung nicht weiter beschädigte - diese<br />

Fragen blieben unentschieden. Die Bewältigung<br />

der eigenen Identität war keine<br />

Sache von 180 Sekunden. Andrea van der<br />

Straeten, die ihren Film im <strong>Hamburg</strong>er<br />

Frauen-Medienzentrum Bildwechsel gemacht<br />

hatte, fiihrte ihn Ietztesjahr aufeiner<br />

Werkschau <strong>Hamburg</strong>er Medienzentren<br />

und Mediengruppen vor und wandte sich<br />

in der Diskussion ausdrücklich gegen die<br />

"Zentrierung", gegen die Signifikanz. Das<br />

war inhaltlich gemeint, aber auch medienspezifisch.<br />

Das Medienzentrum will neben<br />

Video auch den anderen Medien offenstehen.<br />

Und es lehnt die Skepsis gegenüber<br />

Formen ab, die Experimente als formalistische<br />

Spielerei abtun. "OhneExperimente<br />

gibt es nichts neu es, genauso wie es bei Super<br />

8 und 16 mm der Fall ist. Würden wir<br />

darauf verzichten, wird zwar alles klar, -<br />

aber auch absehbar." (Birgit Durbahn)<br />

Die Entwicklung der Medienzentren<br />

muß der Kulturherrschaft, die aufZuständigkeiten<br />

und klare Befehlswege sah, Sorgen<br />

bereiten. Die Gruppe Video ex tritt mit<br />

einer Installation auf, zitiert in einem Tafelbild<br />

(von Michael Haller) das Frühstück im<br />

Grünen (von Manet) und läßt dazu auf einem<br />

Monitor bunte Bilder von Terrorakten<br />

in Beirut ablaufen.- Video exsuchte Widersprüche<br />

und Mehrdeutigkeiten und er-<br />

55


zwang Offenheit. Gründlicher konnten die<br />

wegweisend gedachten und sicherlich<br />

auch bequemen Eindeutigkeiten aus der<br />

Geschichte der Medienzentren und der Videoarbeit<br />

nicht abgeschaffi: werden. Vorbei<br />

ist es mit der guten alten Zeit, wo die Videomacher<br />

sich berufen fuhlten, den anderen<br />

zu sagen, wo's längs ging. Video ex stellt<br />

sich in den freien Raum oder aufs freie Feld,<br />

um zuzuhören und zuzusehen und um auszuprobieren<br />

und sich einzulassen auf das,<br />

was sich dem Begreifen noch entzieht. Die<br />

Installationen waren schiere Gegenwart,<br />

und das Konzept (Münzenberg-)Negt-Kluge<br />

der siebziger Jahre, Video als mediales<br />

Hilfsmittel zur Durchsetzung gesellschaftlicher<br />

Gegenmacht zu gebrauchen, erledigte<br />

Geschichte: "Frontberichterstattung"<br />

(Video-ex).<br />

Auch die Funktion der Medienzentren<br />

der frühen achtziger Jahre, sich Betroffenen<br />

als Service zur Vernetzung eigener Erfahrungen<br />

anzubieten, erschien auf dieser<br />

Werkschau nur noch als historischer (und<br />

erfolgloser) Versuch, dem Video eine nützliche<br />

Aufgabe zuzuweisen. Das Medienzentrum<br />

Die Thede, bekannt durch eine<br />

Anzahl Hausbesetzervideos, stellte Anfang<br />

der achtziger Jahre schnelle Gegenöffentlichkeit<br />

her, was "zu diesem Zeitpunkt richtig<br />

war" (Christian Bau). "Die hektische<br />

Vorgehensweise war aber nicht durchzuhalten."<br />

Die Thede hat jetzt den Anspruch,<br />

Zusammenhänge sinnlich darzustellen<br />

("Aus Lust am Schauen") und statt "Oberflächenphänomene"<br />

eigene und fremde Erfahrungen<br />

zu registrieren, nämlich hinzuhören<br />

und hinzusehen. Auch hier hat das<br />

Video die zentrale Rolle verloren, Inhalte<br />

zu transportieren. Stattdessen verhilft der<br />

sichtliche Spaß und der Stolz, ein Werk herzustellen<br />

(nämlich innerhalb eines Mediums<br />

zu arbeiten), den Filmen und Videos<br />

zu neuer Überzeugungskraft. "Wir haben<br />

Lust, Bilder zu machen, Töne aufZunehmen,<br />

Filme zu gestalten." (Die Motte) Die<br />

Video-Collage der Motte, "Sperrmüll", ist<br />

daher mehr als Zielgruppenfilm und Stadtteilkulturmanifest,<br />

nämlich: Fest und Ereignis.<br />

FastzwanzigJahre vorher war es der<br />

Kurzfilm "Anfangszeiten", der eine Radfah-<br />

56<br />

rer-Werbe-Fahrt fur den Super-Scope­<br />

Spielfilm "Der heimliche Kuß" zum Ereignis<br />

machte. Zu den funf radfahrenden<br />

Kunststudenten der Filmklasse Wolfgang<br />

Rambsbott (<strong>Hamburg</strong>) gehörte Holger<br />

Meins, der fur den politischen Kampf später<br />

auf das Medium Film nicht angewiesen<br />

war. Die "Anfangszeiten" von 1966 waren<br />

es, denen die Medienzentrenleute von<br />

1985 ihre Sympathie bezeugten.<br />

Was der Kulturherrschaft unheimlich<br />

wird, ist der Umstand, daß sich immer mehr<br />

Leute Mut machen und sich nicht sagen<br />

lassen, Mut wozu. Programmatisch ist der<br />

Titel des neuen (dritten) Film der Wendländischen<br />

Filmcooperative: "Zwischenzeit".<br />

Die Musik ist von den Einstürzenden<br />

Neubauten, und es werden auch sonst ein<br />

paar Sensorien mehr angesprochen als wir<br />

es vom klassischen Dokumentarftlm gewöhnt<br />

sind. Gorleben und die Anti-AKW­<br />

Bewegung sind wie in den beiden ersten<br />

Filmen - "Die Herren machen das selber,<br />

dass ihnen der arme Mann Feind wird"<br />

(1976-79) und "Traum von einer Sache"<br />

(1980/81) Thema,- aber jetzt entschieden<br />

mittelbar. Direkt geht es um mehr als um<br />

die Sache: um die Menschen, die in Gorleben<br />

1981-1985 zueinanderftnden, aufeinanderstoßen<br />

und sich wieder trennen.<br />

Vom Polizeisprecher, Wachmann und<br />

Standortrepräsentanten zum Untergrundarbeiter,<br />

Freizeitdemonstranten und<br />

Waldbauern. Die Filmmacher (Roswitha<br />

Ziegler, Niels Chr. Bollbrinker,Jochen Fölster,<br />

Gerhard Zigler) zögern nicht, jederzeit<br />

in das Geschehen einzugreifen und mit<br />

ästhetischen Mitteln der Filmdramaturgie<br />

Wirklichkeit zu verschaffen (oder doch<br />

mindestens punktuell zu verändern). Die<br />

Strategie des Films ist gleichzeitig eine<br />

Strategie des Widerstands (und nicht eine<br />

darüber). Und da der Film kreativ, phantasievoll,<br />

provokativ und auf nicht recht zu<br />

fassende Art ironisch-subversiv ist, lädt er<br />

zu entsprechendem, vor allem nicht recht<br />

zu fassendem Widerstand ein. Die Einladung<br />

der "Zwischenzeit" macht neuen<br />

Mut. Dies zunächst. "Zwischenzeit" ist<br />

selbst produziertes Ereignis. Und man sollte<br />

dieses sensationelle Ergebnis dadurch<br />

würdigen, daß man den Ereignis-Film aus<br />

der Sparte des Dokumentarftlms herausnimmt,<br />

der heute überwiegend mit den Negativerlebnissen<br />

Resignation, Frustration<br />

und Melancholie assoziiert wird.<br />

Der "Zwischenzeit"-Polizist, der eine<br />

Wendland-Straße sperrt, zieht plötzlich eine<br />

Pistole. Man spürt seinen Haß und seine<br />

Aggression gegenüber den Demonstranten.<br />

Diese freuen sich sichtlich über die gelungene<br />

Provokation. Über den kleinen<br />

Sieg. Polizistenkollegen reden dem Pistolenträger<br />

gut zu. Es scheint, daß die Demonstranten<br />

Herr dieser Lage sind. Doch<br />

freilich: die Atommülltransporte haben<br />

freie Fahrt. Von der Polizei gut gesichert<br />

und von Blockadeaktionen ungehindert erreichen<br />

sie ihr Ziel- vorbei am Akzeptanzforscher,<br />

der den "Zwischenzeit"-Film hindurch<br />

die Widerstandsaktionen begleitet.­<br />

Mit dieser-fiktiven- Gestalt greift der Film<br />

in die Bewegung ein. Eine Erfindung, die -<br />

jetzt aber im Großen-genauso gut funktioniert,<br />

wie clie reale Szene mit dem Pistole<br />

ziehenden Polizisten. Der Akzeptanzforscher<br />

kommt vor Ort dem vorgeblichen<br />

Auftrag und der Aufgabe nach, die sogenannte<br />

Bewegung zu analysieren und Befriedungsstrategien<br />

zu entwickeln. Die<br />

Filmmacher lassen ihn zur handelnden Person<br />

in einer realen Anhörungsposse werden,<br />

zum absurden Interviewpartner des<br />

Bewachungs- und Sicherungs- Unternehmens,<br />

zu einer Art Empfangschef der Blokkadeorganisation.<br />

Mit falscher Routine begrüßt<br />

er Neuankömmlinge; mit falschem<br />

Verständnis läßt er vermummte Terroristen<br />

Pläne entwickeln; mit falschem Händedruck<br />

gliedert er sich der Menschenkette<br />

ein. Der Film zeigt gesprengte Hochspannungsmastenund<br />

die saubere Niederlegung<br />

eines Fabrikschornsteins.<br />

Das Forscher-Falsifikat operiert in diesem<br />

Film mit schlauen, eleganten Soziologentexten.<br />

Nicht weil der Text falsch oder<br />

mindestens der realen Situation unangemessen<br />

ist (beides triffi zu), sondern weil<br />

der Gebrauch des Textes und darüberhinaus<br />

der Gebrauch, den der Film von der<br />

inszenierten Figur macht, eine überaus befreiende<br />

(und sich im Gelächter ausdrük-


Media Burn, 1975<br />

kende) Erfahrung erlaubt. Mühelos bewegt<br />

sich der Akzeptanzforscher, ob echt, ob<br />

falsch, ob real, ob fiktiv in beiden Lagern:<br />

dem der Freunde, dem des Feindes. Die<br />

Grenzen spielen fur ihn keine Rolle, auch<br />

nicht die Widerstandsformen, ob Folklore,<br />

ob Gewaltakt. Ihm stehen gleich dem Saboteur<br />

in einem Industriesystem alle Möglichkeiten<br />

offen. Die inszenatorische Erfindungdes<br />

Films entzieht sich der Herrschaft<br />

der Theorieproduktion und der der Handlungsanleitung.<br />

"Zwischenzeit" verwischt<br />

die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit,<br />

öffuet die Realität, macht sie operabel<br />

und nirnmtdieAngstvordem,zu dem<br />

der Fälscher, endlich, freien Zugang hat.<br />

Der Film klopft das Vorgefundene zum eigenen<br />

Gebrauch ab. Seine ästhetische Strategie<br />

ist daher der Einsatz (vorgefundener)<br />

Reportage-, Interview- und Statement­<br />

Technik und der Einsatz (vorgefundener)<br />

Texte: vom Anarchisten und Revolutionär<br />

Alexander Herzen (Paris 1848) über das<br />

Kauderwelsch der Zeitschrift fur Semiotik<br />

(Tübingen 1983) bis zu den amtlichen Verlautbarungen<br />

der Bundesrepublik von<br />

1985. Seine politische Strategie ist die der<br />

utzung (des vorhandenen Arsenals) zum<br />

eigenen Gebrauch. Was ist die Jahre geschehen?<br />

Was macht man damit? Die "Zwischenzeit"<br />

entdeckt ihreGeschichte. Die<br />

neue Wissenschaft ist fröhlich. Vorbei die<br />

dumpfe Erwartung des Eintritts der nächsten<br />

Utopie.<br />

Es wäre zu wenig, "Zwischenzeit" dem<br />

Filmmedium zu überlassen (vgl. epd Film<br />

1/86), da hier Kultur und Lebensweise einen<br />

Ausdruck findet, die sich von keiner<br />

Herrschaft sagen läßt, was zu tun ist. Ich habe<br />

versucht, die Strategie, die selbstredend<br />

vor den Grenzen der diversen Medien keinen<br />

Halt macht, zu beschreiben (in einem<br />

Beitrag fur "Kultur auf der Kippe", Elefanten<br />

Press 1985). Aber vielleicht sollte man<br />

es dabei belassen, ein Bild zu finden: einen<br />

Vergleich zwischen dem zentralen Platz<br />

des sozialdemokratischen Alstervergnügens<br />

fur alle (dem <strong>Hamburg</strong>er Rathausmarkt)<br />

und der inszenierten Platzwirklichkeit<br />

vom Winterfeldtplatz und Roten Platz,<br />

in der weder die Stadt Berlin noch die Stadt<br />

Moskau was zum Herrschen haben.<br />

Erstens. Ein Fest auf dem Rathausmarkt.<br />

1983. Von allen fur alle. Ein Schalmeienzug<br />

in weißroten Uniformen. Eine<br />

Pantomimin. Auf den Planken einer historischen<br />

Barkasse aus dem Schiffsmuseum<br />

bietet eine Aerobicgruppe das Allerneueste.<br />

Die Menge treibt weiter, vom Bierausschank<br />

zum Würstchenstand. Der Verkehr<br />

wird um die Bannmeile herumgeleitet. Das<br />

Volk des Volksfestes ist im Herrschaftszentrum.<br />

Der Blick geht auf das Rathaus, es ist<br />

so gut wie besetzt. Die neue Herrschaft simuliert<br />

die alte. Karnevalsstimmung in<br />

<strong>Hamburg</strong>. Was an den Rand geraten ist, da,<br />

wo der Alltag der Stadt weitergeht, beeilt<br />

sich, auf die Platzmitte zu kommen. Im<br />

Zentrum ist die Welt in Ordnung.<br />

Zweitens. Der Rote Platz, der wie von<br />

ungefähr in den Berliner Winterfeldtplatz<br />

übergeht, kommt in der Musik-, Film-, Mal-<br />

Performance der Gruppe Notorische Reflexe<br />

in Unordnung. Der Platz der Plätze ist<br />

dezentralisiert. Einer der vielen neuen Mittelpunkte<br />

ist die Berliner Kamera, die am<br />

Rand steht und einen Stechschritt vorm<br />

Leninmausoleum aufuimmt und gleichdraufPassauten<br />

in irgendwelchen Straßen<br />

Moskaus. Für sie sind die Bilder gleich nah<br />

und weit. Die Hierarchie ist abgeschafft.<br />

Breschnews Portrait hängt als Diaprojektion<br />

während der Performance über der<br />

Bühne. Aufseinen Mund wird ein Film projeziert:<br />

volle rote Lippen in Bewegung, ein<br />

Synchronton auf russisch. Der rote Herrscher<br />

ist von den Notorischen Reflexen liebevoll<br />

entthront. Als lebendes Poster gereicht<br />

er der Berliner Gruppe zur Zierde -<br />

wie die anderen vielen Medienstücke auch.<br />

Mehr noch : die Notorischen Reflexe arbeiten<br />

mit ihm von gleich zu gleich. Er dient<br />

jetzt ihren Zwecken, und doch bleibt er der<br />

gute alte Breschnew. Auf dem Winterfeldtplatz<br />

geraten die vielen neuen Zentren in<br />

lebhafte Bewegung. Die Filmprojektion<br />

zeigt Videoaufnahmen von einer Wanne,<br />

die geschaukelt wird, bis sie endlich kippt.<br />

Und brennt. Überblendet sind Finger, die<br />

auf einer Gitarre spielen: Das Spiel geht<br />

weiter: an einem anderen Zentrum, das in<br />

die großen Computer nicht einprogrammiert<br />

ist und der Erfassung durch die<br />

Obrigkeit sich entzieht. Auch die Allschlußszene<br />

wird nicht hinterfragt. Schlagstöcke<br />

sausen auf die Demonstranten, und<br />

spräche man jetzt vom Bullenterror, wäre<br />

es mit der Fortsetzung der Aktivität vorbei,<br />

57


jedenfalls R.ir diese Performance. Die bekannte<br />

Wut, Angst und Lähmung stellte<br />

sich ein. Und damit wäre die alte durch eine<br />

neue Hierarchie ersetzt: die zwischen Täter<br />

und Opfer. Den Notorischen Reflexen,<br />

die sich den Mut nicht nehmen lassen, ist<br />

das Denken von oben nach unten oder umgekehrt<br />

jedoch fremd. Für sie ist das Polizeizentrum<br />

eins von allen anderen und<br />

folglich ihrem eigenen gleich. Drum ziehen<br />

sie in ihrer Performance selbst die Stöcke.<br />

Ein Scheinwerfer projeziert den Schattenriß<br />

der Trommelstöcke auf die Knüpplerprojektion.<br />

Jetzt sind es die Notorischen<br />

Reflexe selbst, die dreinschlagen : auf<br />

Beamtenrücken, zum lustvollen Iive­<br />

Rhythmus irgendwo zwischen Rock und<br />

Jazz. Was man hört, sieht, erlebt, ist nicht<br />

Polizei-, sondern Reflex-Terror.<br />

Von dem, was in Brüche gegangen ist,<br />

haben die Notorischen Reflexe ein Videoband<br />

gemacht ("Fragment/Video' 83"). Es<br />

ist videospezifisch bearbeitet, sehr schön<br />

bearbeitet, aber kein Videowerk Das Medium<br />

dient, eher zufallig, als Verkehrsmittel,<br />

um das Performancefragment zu transportieren,<br />

welches seinerseits die Medien<br />

mischt, um angesichts der realen Herrschaft<br />

auf dem Roten und Winterfeldt­<br />

Platz oder der simulierten Volksherrschaft<br />

auf dem <strong>Hamburg</strong>er Rathausmarkt die<br />

Beherrschung zu verlieren. Das Reflexband<br />

ist zu Hause sowohl an den Rändern<br />

der großen Plätze als auch an denen unserer<br />

Medien. Seine Heimat ist überall, wo<br />

man den kurzen Wegvom Filmmedium in<br />

das Medium der Bildenden Kunst gehen<br />

kann, von dort ins Musikmedium, von dort<br />

in das Medium der Darstellenden Kunst.<br />

Die Grenzen sind nicht abgesteckt. Das<br />

Niemandsland ist groß und ungewiß, doch<br />

stehen Eingeweihten ausreichend Trampelpfade<br />

zur Verfiigung. Die braucht der,<br />

der der Erfassung sich entziehen möchte:<br />

den Funktionären der Behörden, der Polizei,<br />

aber auch der Kulturarbeit und insbesondere<br />

den leitenden Angestellten unserer<br />

Theorien und Dogmen, ob nun der<br />

ästhetischen oder der gesellschaftlichen<br />

Art. Wenn man von Kunst reden möchte.<br />

dann von einer begriHlich nicht recht faß-<br />

baren Lebenskunst : der Kunst, durch den<br />

fröhlichen, aber verantwortungslosen Gebrauch<br />

dieser unserer ästhetisch-gesellschaftlichen<br />

Einrichtungen sich eben letzteren<br />

zu entziehen. Für den, der sich in dieser<br />

Bewegungskunst übt, gilt weder oben<br />

noch unten, weder rechts noch links. Da er<br />

das Vorhandene nutzt und es soweit affirmiert,<br />

braucht er nichts zu hinterfragen.<br />

Die Stechschrittkolonne vor dem Leninmausoleum,<br />

die Bullenknüppel auf dem<br />

Winterfeldtplatz : sie gelten R.ir sich selbst<br />

und sind Antwort ohne Frage; sie sind<br />

Tummelplatz R.ir eine Strategie, die über<br />

die Taktik des Platzwechsels Auskunft gibt.<br />

Die Plätze, die geografisch beschrieben<br />

werden können, stehen nicht R.ir anderes.<br />

Drum bleiben auf der Platzmitte die Kulturarbeiter<br />

stehen, die zwar die Kultur hinterfragt<br />

haben, aber nicht das, R.ir das sie stehen<br />

soll. Die Funktionäre, die die Kultur<br />

funktionalisiert haben, nicht aber so etwas<br />

wie den gesellschaftlichen Fortschritt, werden<br />

fur eine Lebens-Kunst, die den Schritt<br />

zur Seite trainieren muß, zur zentralen<br />

Größe, mit der sich nicht operieren läßt. Ihre<br />

Prozedur, die kulturelle Erscheinung zu<br />

Gunsten eines nichtkulturellen Anderen<br />

aufZulösen, macht sie R.ir den Verkehr an<br />

den Rändern des Roten und des Winterfeldt<br />

-Platzes untauglich. Denn nur, wer sich<br />

in den realen Brüchen und Antinomien<br />

auskennt (und sie bestätigt), weiß über das<br />

Gelände Bescheid, auf dem er lebt. Für den<br />

Arbeitslosen ist das Überlebenstraining der<br />

neuen Beweglichkeit von Nutzen, weniger<br />

die theoretische Harmonie einer Kulturarbeit,<br />

die nicht erfahren hat, daß R.ir den, der<br />

seine Arbeit los ist, die Arbeiter zur Klasse<br />

der Besitzenden zählen, nämlich der Arbeitsplatzbesitzer,<br />

deren Zentrum der<br />

Deutsche Gewerkschaftsbund ist - eine<br />

Zentrale, die Funktion R.ir Arbeitslose,<br />

Rand- und Minderschichten längst verloren<br />

hat.<br />

Der Kulturarbeiter, dem Kultur lediglich<br />

Beleg und Mittel R.ir die Theorie ist - er<br />

verbreitet Lähmung und Angst. Lähmung,<br />

weil der zu Bearbeitende dem, was ihm vor<br />

Augen gefiihrt wird, nicht trauen soll, da es<br />

einem anderen, fremden Zwecke diene.<br />

Angst, weil er seinen real existierenden Mut<br />

an die Verwalter einer fremden, fernen Utopie<br />

abtreten soll. Denn die Gegenwart sei<br />

schlimm, auch die Kultur sei dazu da, ihm<br />

dies zu bedeuten. Dann bleibt dem, dem in<br />

der Kulturarbeit die GeRihle abhandenkommen,<br />

freilich nur der Wegzur nächsten<br />

Disco. - Der Film "Echtzeit" von Costard<br />

und Ebert zeigt Computerherrschaft, Monitorbilder<br />

und Simulationssysteme. Das<br />

Liebespaar R.ihlt sich vom zentralen System<br />

erfaßt, programmiert. Der Held, sich zur<br />

software reduziert wähnend, stürzt als<br />

Computerbild auf den winterlichen Acker<br />

und bleibt vor den Füßen der Geliebten liegen.<br />

- Der Demonstrant, den ich auf einer<br />

Büßer- und Abwieglerdemonstration in<br />

Harnburg vor der Polizeiwache Kirchenallee<br />

sah, hatte den Angstfilm offenbar nicht<br />

gesehen. Er kletterte die Fassade hoch und<br />

drehte die Videokamera, die den Zug beobachtete<br />

um : ins Fenster rein, hinter dem<br />

die Polizeibeamten auf den Monitoren sodann<br />

ihr eigenes Bild betrachten konnten.<br />

War diese Muttat, die die Demonstranten<br />

weit über den Anlaß beflügelte, etwas, was<br />

der Hinterfragung, der Instruktion bedurfte?<br />

Sie war eine Antwort, als transitorisches<br />

Werk der Lebens-Kunst beschreibbar, keine<br />

Kultur von allen R.ir alle, sondern Minderwerk<br />

R.ir eine Minderheit. Auch schien<br />

mir nicht, daß Kulturarbeiter den Helden<br />

im Griff hatten, der nicht als erfaßbares<br />

Kunstbild auf dem winterlichen Acker lag,<br />

sondern sich, auch der Polizei nicht faßbar,<br />

bewegen konnte : klettern, nach oben und<br />

wieder nach unten.<br />

Die Strategie erlernt sich kinderleicht.<br />

Die Leser von Disneys Lustigen Taschenbüchern<br />

können sich im Heft 68 (" Wohnungsbeschaffungsprograrnm")<br />

mit den<br />

Identifikationsjungenten Tick, Trick und<br />

Track ungezwungen und ungehemmt zwischen<br />

Pränazis-mit -Hindenburgbart -Und­<br />

Pickelhaube in Westland und bösutopischen<br />

kapitalistischen Ausbeutern in Entenhausen<br />

bewegen, wobei es sich bei l~ tzteren<br />

im einzelnen um Onkel Dagobert<br />

handelt, der als Wohnungspekulant den<br />

technischen Fortschritt nutzt, um Behörden<br />

und Mieter auszutricksen. Originalton<br />

58


Tage spater ..<br />

Ich mochte etwas<br />

gegen d•e allgemetne<br />

Wohnungsno!<br />

un1erneh ·<br />

Heute kann ich auf den Zucker verzichten!<br />

Eine solche Nachricht versußt<br />

mir den ganzen Tag!<br />

Dagobert: "Man müßte sowohl die Wohnungen<br />

als auch die Mieter in den vorhandenen<br />

Häusern derart verkleinern, daß<br />

mindestens doppelt so viele Bewohner darin<br />

Platz finden. Die Dimensionen der Mieter<br />

müßten bei Betreten der Winz-Wohnungen<br />

verringert und bei Verlassen wieder<br />

auf ormalgröße gebracht werden."<br />

Verlogen zum Cheftechniker Düsentrieb:<br />

"Bedenken Sie nur, wie vielen Obdachlosen<br />

man auf diese Art helfen könnte!" Düsentrieb:<br />

"Ich bin überzeugt!" Dagobert (allein)<br />

:"Im Grunde habe ich ja nicht gelogen.<br />

Ein guter Zweck ist dabei: Es fließt doppelt<br />

so viel Geld in meine Taschen."- Da Altnazis<br />

und Neokapitalisten weder ihr (gemeinsames?)<br />

System repräsentieren noch sonst<br />

einer Hierarchie unterliegen, brauchen die<br />

Donaldleser vor ihnen keine Angst zu haben.<br />

Mit den anderen geht man um, sie<br />

werden disponibel. Und so sprengen die<br />

azis, zeitlicher, geografischer, ideologischer,<br />

pädagogischer oder sonst dogmatischer<br />

Ordnung ungeachtet, die sowohl<br />

menschenverachtenden als auch ökologisch<br />

bedenklich Dagobert-Duckschen<br />

Kraftwerke in die Luft. Nicht weil die azis<br />

gut sind, sondern weil sie blöd sind und alle<br />

Erscheinungen aufs eigene System beziehen<br />

(sie verwechseln die Ducksehe Ausbeuter-<br />

mit einer Militärstrategie).- Tick,<br />

Trick und Track spielen ihr eigenes Spiel<br />

mit den Erwachsenen-Zentren. Sie haben<br />

gelernt, Onkel Donald gegen Dagobert<br />

Duck auszuspielen, den Asozialen gegen<br />

den Kapitalisten und diesen gegen den Faschisten.<br />

Sie sind in beiden Häusern daheim,<br />

aufder Hut, aufZeitund wieder weg.<br />

Tick, Trick und Track sind fiir ihre treuen<br />

Leser die kleinsten Kulturarbeiter und als<br />

Multiplikatoren die größten. Die Trans­<br />

Duck-Garde fuhrt keinen theoretischen<br />

Diskurs. Er wäre das letzte.<br />

Der Kulturarbeiter, der seine Arbeit<br />

nicht zur Organisation verkümmern lassen<br />

will, verläßt die Herrschaftszentrale, die<br />

sich're Alpenfestung, in der Theorien,<br />

Ideologien, Dogmen und Strukturen ihre<br />

Zuflucht genommen haben und eilt an die<br />

Ränder und Grenzen der Herrschaftszonen,<br />

wenn er es vormachen will, wie man<br />

der allgemeinen Erwartung sich entzieht<br />

und sich nicht fassen läßt - von den Systemen<br />

der Justiz, der Ästhetik, der Psychiatrie,<br />

des Marxismus-Leninismus, der Bundeswehr<br />

und vielleicht auch der Kulturpädagogik<br />

Wohl dem, der vor diesen Systemen<br />

nicht in Angst und Lähmung verfällt<br />

und flieht, sondern geübt hat, sie fiir eigene<br />

Zwecke zu nutzen : mit ihnen umzugehen,<br />

wie man eine leerstehende Wohnung besetzt,<br />

ein Medienzentrum umnutzt oder<br />

sich sonstwie einquartiert.<br />

Die Kulturarbeit könnte, beweglich geworden,<br />

den Mut vermitteln, die Dinge zu<br />

handhaben (was ein affirmatives Verhältnis<br />

zum Werkzeug voraussetzt), statt sie auf einen<br />

Wert fiir irgendein System zu reduzieren<br />

(zu hinterfragen, zu kritisieren). Die<br />

Handhabung- zum eigenen utzen- entkleidet<br />

die vielen schönen Dinge freilich ihrer<br />

sozialen Bedeutung. Die Lebenskunst<br />

59


ist asozial. "Die Kunst ist, per definitionem,<br />

eine asoziale Praxis." (Oliva)- Der Kulturarbeiter,<br />

der denen den gehörigen Elan<br />

vermitteln möchte, den es braucht, um im<br />

System von Schulen, Behörden, Arbeitsund<br />

Ausländerämtern, Drogen- und sonstigen<br />

Vollzugsanstalten, Moral und Sozialismus<br />

weiter- und überleben zu können -<br />

und das möglichst mit Genuß -,ein solcher<br />

Kulturarbeiter müßte seine Arbeit als eine<br />

asoziale begreifen. Dann könnte er sich von<br />

der Mitte des Rathausmarktes entfernen,<br />

sich zu den fließenden Rändern der unzähligen<br />

neuen Mitten begeben und dort -<br />

endlich - auf Menschen stoßen - Menschen,<br />

die system- und arbeitslos sind und<br />

grade dadurch Energie und Vitalität gewinnen<br />

(können/müssen), um existieren zu<br />

können, um das Geld fiir den Abend zusammenzukriegen,<br />

um beispielsweise die<br />

asozialen Notorischen Reflexe zu sehen/<br />

zu hören, um sich dem ZugriffBreschnews,<br />

der deutschen Fernsehanstalten oder des<br />

West-Berliner Polizeipräsidenten zu entziehen.<br />

Im Reich der Kulturherrschaft zeigen<br />

sich besorgte Mienen. Film- und Förderungsbürokratien,<br />

Redaktionen, Veranstalter<br />

der einschlägigen Festivals, Kinobetreiber<br />

und Programmreihenveranstalter verlieren<br />

die Subjekte aus den Augen und<br />

nirchten um die Zuständigkeiten. Experimentelles<br />

und Dokumentarisches flottiert<br />

durch die Medien und Kulturen, gestaltet<br />

sich als Film, Video, Performance, als Theater,<br />

Musik und Buch und als Ausdruckeiner<br />

als gemeinsamen empfundenen Lebensweise<br />

ebenso als Mode, als Lebensstil ("Styling")<br />

und als Aktion und Auftritt der Subjekte,<br />

die sich selbst um die Gestaltung der<br />

eigenen Expressivität kümmern. Einer von<br />

ihnen ist der Künstler, der Nachfahre des<br />

Kulturarbeiters oder der politische Kämpfer,<br />

der inzwischen die Kunst beherrscht,<br />

sich der diversen Medien zu bedienen, sich<br />

gleichzeitig im freundlichen und im feindlichen<br />

Lager zu bewegen, gar ein Weilchen<br />

in die Etappe des Feindes vorzudringen<br />

und wieder woanders zu sein, bevor die Erfassungsinstanzen<br />

reagieren können.<br />

Durch die Strategie der Beweglichkeit, der<br />

60<br />

Gleichzeitigkeit und der Verflüssigung -<br />

"Lyse" nannte Lyotard diese Operation -<br />

entzieht sich das Subjekt der Festschreibung.<br />

Gerade dadurch bleibt es Herr der Situation,<br />

eindeutig und unverfälscht - wieviel<br />

es auch mit Fälschungen, Fiktionen,<br />

Inszenierung, Akzeptanzforschung und -<br />

Dokumentarischem arbeitet. Die Musikgruppen,<br />

die Ausdruck der aktuellen Lebenskultur<br />

sind, können an den verschiedensten<br />

Fronten operieren. Die "Einstürzenden<br />

Neubauten" machten die Musik<br />

zum dritten Gorleben-Film der Wendländischen<br />

Filmcooperative, "Zwischenzeit",<br />

und verschmolzen Avantgarde- und Dokumentarfilm.<br />

Mit derselben Gruppe hat der<br />

japanische Filmregisseur Sogo Ishii ("Die<br />

Familie mit dem umgekehrten Düsenantrieb")<br />

einen Film gemacht- mit dem Titel<br />

der LP dieser Gruppe "Halber Mensch".<br />

Was zu sehen und zu hören ist, ist schlecht<br />

zu rubrizieren: ein SSminütiger Videoclip,<br />

ein reeller Film, Bildzutat zu einer Audioveranstaltung,<br />

in der es wesentlich auillolby-Stereo<br />

ankommt? Die leidigen Zuordnungsfragen<br />

ändern jedoch nichts daran,<br />

daß das visuelle Halber-Mensch-Produkt<br />

ebenso vehementer wie glücklicher Ausdruck<br />

einer Lebens- und Musikkultur ist,<br />

die mühelos zuläßt, ja gebietet, dasjenige<br />

der regionalen und nationalen Kulturen zusammenzubringen,<br />

das sich den Hierarchien<br />

der Kunst und Politik entzieht. Blixa<br />

Bargeld singt Deutschsprachiges - neben<br />

japanischen Bhutotänzern.<br />

Auch Peter Sempel bereitet es in seinem<br />

Psychoexperimentalsmusikfilm "Der<br />

Rabe" keine Schwierigkeit, die Musik -<br />

wieder sind es die Einstürzenden Neubauten-<br />

Edgar All an Poes Gedicht "Der Rabe"<br />

interpretieren zu lassen,- eine Aufgabe, die<br />

ebensogut der New Yorker Tänzer Yves<br />

Musard übernehmen kann.- Im Kulturbereich<br />

zeigt die Herrschaft erste Reaktionen.<br />

Die Duisburger Filmwoche, etabliertes Festival<br />

des langen Dokumentarfilms, eröffnete<br />

im vergangenen Herbst das Programm<br />

mit Klaus Telschers Avantgardefilm<br />

"Aus der alten Welt", der, als künstlerische<br />

Fiktion, die Erfahrung unserer Wirklichkeit<br />

dokumentiert. Und die Oberhausener<br />

Filmtage ölfueten dieses Jahr die Dokumentarfilmveranstaltung<br />

dem experimentellen<br />

Film. Die Medienwerkstatt Freiburg<br />

wird im Herbst dieses Jahres auf dem<br />

jährlichen Festival deutlicher als bisher den<br />

gleichen Weg beschreiten.<br />

Sagen wird, daß diese Entwicklung<br />

mittlerweile funf Jahre alt ist. Begonnen<br />

hatte sie 1981 mit der Initüerungdes "Infermental"<br />

-Magazins, des ersten internationalen<br />

Magazins aufVideokassetten, erschienen<br />

gleichzeitig (und damit programmatisch)<br />

in Budapest undWest-Berlin. Gäbor<br />

Bödy antwortete damals auf das, was sich<br />

überall in der Welt zu artikulieren begann,<br />

mit dem Programm, Medieninseln zu vernetzen<br />

und die gemeinsame internationale<br />

Bild- und Tonsprache der regionalen und<br />

nationalen, hierarchisch nicht-organisierten<br />

Kulturen zu finden. Heute liegt die runfte<br />

Ausgabe vor. Noch ist sie einigermaßen<br />

herrschaftsfrei, die Kultur vom Subjekt aus.


~---~_a_1g_a_z_i<br />

____ _<br />

(K)ein Nachruf auf<br />

QWERTZUIOPÜ<br />

Wer nicht gerade Rolf Roggenbucks einzigartigen<br />

Roman .. Der Nämlichkeitsnachweis" ( 1967 !) kennt<br />

und in erlesener Erinnerung bewahrt hat, um dessentwillen<br />

seinem Autor heute noch der Arno­<br />

Schmidt-Preis f.!achzuwünschen ist, der mag<br />

QWERTZUIOPU für die unerklärliche Entgleisung eines<br />

Setzcomputers oder launige Eigenmächtigkeit<br />

eines zeichengeplagten .. Säzzers" halten, beim<br />

Sprechversuch vielleicht auch für eine aleatorische<br />

Lautkombination -,für etwas Bezeichnendes jedenfalls<br />

kaum. Immerhin geriete er mit den Querverweisen<br />

aus der Hinterhand eigener Erfahrung - z.B. mißmutig<br />

an seiner bescheidenen Olivetti Lettera 36 C -<br />

tatsächlich auf eine aussichtsreiche <strong>Spur</strong> der scheinbar<br />

sinn- und regellosen Zeichenfolge. Aber gleich<br />

auf Anhieb offenbart es sich wohl nicht, dieses<br />

QWERTZUIOPÜ, um dennoch nachdrücklich Zeichen<br />

zu setzen, und zwar gerade auf Anhieb: nämlich<br />

dem der zweiten Tastenreihe von oben auf einer<br />

handelsüblichen Schreibmaschine, links beginnend.<br />

klassischen Typenhebelmechanik,<br />

wonach eine eher bedarfswidrige,<br />

also tempodrosselnde<br />

Buchstabenanordnung auf dem<br />

Tastenfeld geradezu angezeigt<br />

war, um jener fatalen Neigung<br />

derTypenhebelentgegenzuwi~<br />

ken, sich bei allzu rasanter Anschlagsgeschwindigkeit<br />

heftigst<br />

ineinander zu verklemmen.<br />

Also auch damals - wenngleich<br />

unter umgekehrten Vorzeichen<br />

- keine ars combinatoria,<br />

sondern wohldurchdachte<br />

Buchstabierung des technisch<br />

Machbaren.<br />

Und dennoch : Mit dem Verschwinden<br />

von QWERTZUIOPÜ<br />

verlieren wir nicht nur ein Souvenir<br />

des maschinierten Schreibens<br />

aus der Alltagsweit der Gegenwart<br />

an die bloße Erinnerung,<br />

sondern auch ein besonders<br />

anschauliches Stück konkreter<br />

Poesie, eine Fangzeile gewissermaßen<br />

und seit Rolf Rog ­<br />

genbucks .. Nämlichkeitsnachweis"<br />

zugleich ihr konkretestes<br />

Zustandswort -, genial erkannt,<br />

während er, sagen wir, über einer<br />

schlichten Adler Comtessa<br />

Reiseschreibmaschine die Zeichen<br />

der Zeit befragte. Roggenbuck<br />

war es, der QWERTZUIO­<br />

PÜ das angemessene literarische<br />

Denkmal setzte mit einem<br />

Roman, der die Was-Frage des<br />

Erzählens mit der Wie- Frage<br />

So unvertraut ist also zumindest<br />

der Anblick dieser Buchstabenkombination<br />

eigentlich nicht.<br />

Und wenn man bedenkt, wie viele<br />

Schreibmaschinengenerationen<br />

sie inzwischen überdauert<br />

hat, seit 1873 Philo Remington<br />

-nach Endedesamerikanischen<br />

Bürgerkriegs - von Schußwaffenserien<br />

auf typewriterumstellte,<br />

so nimmt es fast ein wenig<br />

wunder, daß QWERTZUIOPU<br />

oder doch wenigstens QWERTZ<br />

nicht auch - wie früher einmal<br />

Abc und später beispielsweise<br />

BTX- zum kulturtragenden Begriff<br />

geworden ist -, symbolisch<br />

zumindest für die technische Alphabetisierung<br />

des schriftsprachlich<br />

versierten Menschen.<br />

Obschon buchstäblich vor<br />

der Hand liegend, blieb diese<br />

sprachhistorische Gelegenheit<br />

eines sinnfälligen Neologismus<br />

ungenutzt, und inzwischen wird<br />

die Schreibtischaussicht auf die<br />

QWERT-Zeile wohl alsbald der<br />

Vergangenheit angehören :<br />

Denn aus Amerika dringt die<br />

Kunde eines neuen Tastenfeldes,<br />

das dort bereits einen<br />

Marktanteil von etwa 10% erobert<br />

hat. Entwickelt wurde es<br />

von dem 1975 gestorbenen Psychologen<br />

und Ergonomen August<br />

Dvorak an der Universität<br />

Washington, und die Neuerung<br />

dieses offenbar erfolgreichen<br />

opus posthumum langjährige<br />

Schreibbürostudien besteht<br />

eben in der völlig veränderten<br />

Zeichenanordnung auf dem Ta ­<br />

stenfeld : Nicht mehr QWERT­<br />

ZUIOPÜ fügt sich dort auf Fin ­<br />

gerkuppenabstand aneinander,<br />

sondern " ;.PYFGCRL?- gar nicht<br />

zu sprechen von den anderen Ta ­<br />

stenreihen oder erst von den<br />

notwendig werdenden Um- und<br />

Nachschulungskursen für .. perfekte<br />

Schreibmaschinenkenntnisse".<br />

Zweifellos soll die Dvorak­<br />

Tastatur dazu beitragen, auf<br />

möglichst angenehme Weise<br />

ein höheres Schreibtempo erreichen<br />

und durchhalten zu können.<br />

Schließlich sind auch die<br />

Zehn-Finger- Fertigsten noch<br />

immer weit davon entfernt, 15<br />

1 / 2 Zeichen zu Papier zu bringen,<br />

pro Sekunde, versteht sich<br />

(= 930 Anschläge in der Minute);<br />

dazu nämlich bot vor Jahrzehnten<br />

schon die elektrische<br />

Schreibmaschine alle technischen<br />

Voraussetzungen, und<br />

noch den eifrig bemühten Benutzer<br />

elektronisch ausgestatteter<br />

Kugelkopf- und Typenradmaschinen<br />

läßt man bis heute<br />

über die stets beibehaltene<br />

QWERTZ-Tastatur stolpern. Sie<br />

aber verdankt sich der pionierhaften<br />

und handfesten Einsicht<br />

in die Trägheitsmomente der<br />

J. F. Bory


Rezensionen<br />

zum betretenen Schwelgen<br />

bringt, der nicht in eine noch für<br />

erzählbar gehaltene Realität<br />

führt, sondern in ihr Schwundsyndrom<br />

auf Zeichenebene, in<br />

die destillierte Sphäre des ehemals<br />

referentiell geglaubten Systems,<br />

das Reich der Sätze,<br />

Schöner Antonio<br />

Wortkombinationen, Wörter<br />

und Buchstaben, eben in den<br />

.. qwertzen Zustand der<br />

Sprache" : das Hoheitsgebiet<br />

von QWERTZ.<br />

Was Roggenbuck auf den<br />

qwertzen Begriff brachte, wird<br />

die Dvorak-Tastatur natürlich<br />

weder ersetzen noch gar aus der<br />

Welt schaffen können; und das<br />

zumindest wird uns über den<br />

Verlust einer bislang unantastbar<br />

scheinenden Realie hinweghelfen,<br />

deren Poesie gewordenes<br />

Zeichen, dank Roggenbuck,<br />

bleibt. Aber wenn man beim<br />

(Wieder-)Lesen des .. Nämlichkeitsnachweises",<br />

was zu empfehlen<br />

hier nicht unversucht<br />

geblieben sein sollte, über einer<br />

Passage innehält, die eine<br />

Hauptfigur namens Sonny<br />

Grützmacher typisiert, so wird<br />

es fürderhin kaum vermeidbar<br />

sein, auch August Dvoraks und<br />

seiner Tastenfeld-lnnovation zu<br />

gedenken : .. So ein Mensch also<br />

liegt da auf dem Sofa -, sprechen<br />

wir es aus: die QWERTZ-heit<br />

oben links im Kopf-, ja bereit, um<br />

einen Gedanken die Welt zu verbiegen.<br />

So einer. "<br />

Woutertje Pieterse, Wallenhorst<br />

" Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung<br />

des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf<br />

die Spitze treiben," schrieb Walter Benjamin 1936 in<br />

dem berühmt gewordenen Essay "Der Erzähler", und<br />

ein beeindruckendes Zeugnis für seine These ist der<br />

Roman "SchönerAntonio" von Vitaliane Brancati,<br />

der zuerst 1949 erschien. Das Inkommensurable in<br />

diesem Roman ist der Kontrast zwischen der fast<br />

überirdischen Schönheit des Helden Antonio Magnano<br />

und einem Gebrechen, das sich dem Leser,<br />

der Schlimmes ahnt, in seiner vollen Tragweite erst<br />

am Schluß des Romans offenbart : Antonio -wir erfahren<br />

von ihm meistens wie von einem Sorgenkinde<br />

nur den Vornamen - ist impotent.<br />

Nun muß man wissen, daß der<br />

Roman in den Jahren zwischen<br />

1930 und 1943 in Italien spieltin<br />

der Zeit des italienischen Faschismus<br />

also- und zwar hauptsächlich<br />

in Catania auf Sizilien,<br />

die eigentliche Heimat auch<br />

Brancatis. lm Mittelpunktdes Interesses<br />

aller Helden des Ro·<br />

mans stehen die Frauen und das<br />

Überleben unterm Faschismus,<br />

zuweilen auch die Karriere unter<br />

den Fittichen des Duce. Auch<br />

Antonio hat glänzende Aussichten.<br />

Während er in Rom weilt, so<br />

jedenfalls will es das Gerücht,<br />

hat er die tollsten Affairen mit<br />

den einflußreichsten Damen der<br />

Stadt und setzt allen wichtigen<br />

Männern Hörner auf. Richtig ist<br />

jedenfalls, daßsich die hübschesten<br />

Mädchen bei ihm die Klinke<br />

in die Hand geben, während Antonio<br />

auf den Moment wartet,<br />

wo er über Beziehungen zu ei ­<br />

nem Ministerposten gelangen<br />

kann, und unterdessen faulenzt<br />

und mit seinem Pudel schmust.<br />

Aber inzwischen wird ihm sein<br />

Glück schon daheim bereitet:<br />

der Frauenheld soll heiraten, und<br />

62<br />

zwar die Tochter des angesehenen<br />

Notars Puglisi, Barbara.<br />

DerTag der Hochzeit, die mit<br />

großem Pomp vollzogen wird,<br />

wird auch zum Tag des Abschiedes<br />

für die schönen und häßlichen<br />

Töchter der Stadt: denn alle<br />

haben sie sich verzehrtvor Liebe<br />

nach Antonio, sich bereits<br />

wegen dem Knaben das Gesicht<br />

zerrissen, von ihm geträumt und<br />

dem Beichtvater erzählt, so daß<br />

dieser in einer denkwürdigen<br />

Szene am Anfang des Romans<br />

die Schönheit Antonios vor den<br />

Ohren der besorgten Mütterverflucht<br />

: Gott solle ihn bald zu sich<br />

nehmen oder zumindest unschädlich<br />

machen.<br />

Und auf ganz schauerliche<br />

und zugleich prosaische Weise<br />

erfüllt sich dieser Fluch denn<br />

auch. Die unschuldige Barbara<br />

muß erst durch ein Dienstmädchen<br />

die Wahrheit über einige<br />

wesentliche Einzelheiten zwischen<br />

Mann und Frau erfahren,<br />

um zu merken, daß der Mann,<br />

den sie geheiratet hat, ein Mann<br />

eigentlich nicht ist. Das<br />

Schreckliche nimmt seinen<br />

Lauf : die Ehe wird, da nicht vollzogen,<br />

mit Hilfe der Kircheannuliert,<br />

der feiste und steinreiche<br />

Herzog von Bronte bekommt die<br />

nun nicht mehr unschuldige Barbara,<br />

die ihn standesgemäß mit<br />

dem Kutscher betrügt, Antonio,<br />

ungläubig, unglücklich wird zum<br />

Gespött von ganz Catania, und<br />

seinen stolzen Vater trifft fast<br />

der Schlag.<br />

Denn der alte Herr ist ein<br />

Mann, wie er sein soll, erzählt<br />

aus lauter Elend seiner Frau all<br />

die Jugendsünden, die er begangen<br />

hat - verbunden mit einer<br />

Anzahl unehelicher Kinder, die<br />

er sein nennen kann - und geht<br />

demonstrativ während eines<br />

Luftangriffs der Amerikaner auf<br />

Sizilien zu einer Hure, um dort<br />

seinen Tod mit ihr in den Trümmern<br />

des Hauses zu finden.<br />

Die Töchter der Stadt aber<br />

wittern ihre Chance : sie lachen<br />

nicht, wie die Männer, über den<br />

armen Antonio, sondern wollen<br />

ihn erlösen. Heiße, schamlose,<br />

beschwörende, bittende, entsagungsvolle<br />

und naive Briefe stapeln<br />

sich auf dem Schreibtisch<br />

des Verzweifelten, der schließlich<br />

seinem Onkel, Ermenegildo,<br />

der sich seiner annimmt, um mit<br />

seiner langjährigen Erfahrung<br />

den in Liebesdingen Untauglichen<br />

zu kurieren, die Geschichte<br />

seines Versagens erzählt. Allzu<br />

große Verehrung der Frau -vor<br />

allem einer bestimmten, eines<br />

schönen deutschen Mädchenshaben<br />

zu Antonios Unglück geführt.<br />

Vielleicht, daß auch die eigene<br />

fast überirdische Schönheit,<br />

die im Unglück noch strahlender<br />

wird, nun umgekehrt<br />

auch nicht duldet, daß eine Frau<br />

ihr Geheimnis auflöst. Zunächst<br />

haben wir es mit jener Idealisierung<br />

und donquichotesken Verkennung<br />

der Frau zu tun, die im<br />

Gespräch Antonios mit dem gewieften<br />

Ermenegildo, der saftige<br />

Kommentare gibt, nur umso<br />

deutlicher zum Vorschein<br />

kommt.<br />

All dies vollzieht sich nun im<br />

Rahmen einer realistischen Geschichte,<br />

die ein genaues Portrait<br />

der sizilianischen Stadt und<br />

vieler ihrer Existenzen gibt, mit<br />

dem Duce im Hintergrund und<br />

einem Reigen von Fasch isten,<br />

Mitläufern, Antifaschisten und<br />

solchen, die das Lager wechseln.<br />

Intrigen, Klatsch, klerikale<br />

Macht, Feste im örtlichen Bordell,<br />

Treffen der Antifaschisten<br />

und inmitten der arme Antonio,<br />

der in allem immer nur Anspielungen<br />

auf die Sphäre seines<br />

Scheiterns vernimmt: .. Auch<br />

Antonio begann den Reden dieser<br />

Männer (der Antifaschisten,<br />

M.H.) zu lauschen, die kein einziges<br />

Mal, auch nichtflüchtig oder<br />

zufällig, sich mit den Frauen beschäftigten.<br />

Anfänglich beruhigte<br />

ihn das, dann aber trieb es<br />

ihm jene Erregung und Verärgerung<br />

ins Blut, die die Worte Freiheit,<br />

Fortschritt, Würde, Wahrheit,<br />

Gewissen usw. immer in<br />

ihm wachriefen. Denn sie stell ­<br />

ten das Gegenteil von jenen anderen<br />

Worten dar, die so unerträglich<br />

auf seinem Leben lasteten<br />

: Heiraten, Ungültigkeitserklärung,<br />

Hochzeitsnacht. sie,<br />

sich ausziehen, Bett, es können,<br />

versuchen, Fiasko usw."<br />

Der Roman endet tragisch,<br />

nichts kann Antonio retten, niemand<br />

ihm helfen, auch den Duce<br />

rettet keiner mehr. Antonio lebt<br />

so hin. Zunächst ist der Roman<br />

eine eindrucksvolle Darstellung<br />

des .. gallismo", des Männlichkeitswahns<br />

der italienischen<br />

Männer (und Frauen), der sich in<br />

einem gewissen Maße auch im<br />

Faschismus verkörpert, in der<br />

Person des Duce, wie in der ganzen<br />

Ideologie, und der sich gerade<br />

in seinen Opfern, wie Antonio<br />

es ist, umso härter manifestiert.<br />

Zugleich ist der für alles politische<br />

Geschehen um ihn herum<br />

völlig blind, einzig beschäftigt<br />

mit seiner Impotenz, so wie auch<br />

die anderen Männer zumeist nur<br />

damit beschäftigt sind, von ihren<br />

Erfolgen zu prahlen oder sie -<br />

falls es Erfolge sind -gerade zu<br />

haben.<br />

Über diese Parabel vom<br />

Wahn der Männlichkeit und der<br />

Idealisierung der Frau (vor allem<br />

in katholischen Ländern) hinaus,<br />

ist der Roman auch eine Parabel<br />

von der Impotenz der Kunst an ­<br />

gesichts des brutalen politischen<br />

Geschehens, das sich in<br />

der Geschichte vollzogen hat.<br />

Das romantische Bild des überirdisch<br />

schönen Knaben oder jungen<br />

Mannes- man kennt es von<br />

Platon, Mann, auch anders akzentuiert,<br />

von Koeppen -, auf<br />

dessen Schönheit ein Fluch waltet<br />

- hier psychologisch plausibilisiert<br />

als Impotenz - ist ein<br />

Bild für die Lockung der Kunst<br />

selbst, der Schwäche und Lebensuntüchtigkeit,<br />

die in ihrem<br />

Reich, zumindest zu Zeiten,<br />

herrscht.<br />

Der Roman ist so realistisch<br />

wie romantisch.<br />

Martin Hielscher, Harnburg<br />

Vitaliano Brancati: Schöner Antonio.<br />

Roman. Aus dem Italienischen<br />

von Arianna Giachi. Mit<br />

Zeichnungen von Hans Hilimann.<br />

Band VII der Anderen Bibliothek,<br />

Verlag Greno, Nördlingen,<br />

333 S.


Rezensionen<br />

Algarabia<br />

Man schreibt den 31. Oktober 1975, der General<br />

Franeo liegt im Sterben und das Ende der Diktatur ist<br />

absehbar. Rafael Artigas, politischer Flüchtling und<br />

Einwohner der Z.U.P., befindet sich auf dem Weg<br />

zum Paßamt, um ein für alle Male seine Identität zu<br />

beweisen. Ein im metaphysischen wie im bürokratischen<br />

Sinne schwieriges Unternehmen, denn sein<br />

Name ist nur Pseudonym, eines der vielen, unter denen<br />

er ein Leben wechselnder ldentitäten führen<br />

mußte. Jetzt will Artigas, der Ältergewordene, nach<br />

Hause, nach Spanien, zu sich selbst, den er einst<br />

dort verlor. Artigas braucht Papiere. Der Weg zum<br />

Polizeipräsidium wird unterbrochen von unerhörten<br />

Zwischenfällen, von Entführungen, Verfolgungen<br />

und Anschlägen; der Weg wird lang werden, er wird<br />

einen Tag und ein ganzes Leben dauern. Kraft seiner<br />

List und Erfahrungen entkommt Artigasseinen Verfolgern.<br />

Erst am Abend wird er sterben. Bis dahin<br />

bleibt dem Erzähler Zeit, die entsetzlichen und die<br />

heiteren Episoden dieses Lebens mit der politischen<br />

Vergangenheit einer ganzen Generation zu einer<br />

phantastischen Textur zu verweben.<br />

Ein phantastischer Roman also?<br />

Ja und nein. Es ist dies ein realistischer<br />

Roman, der die Wirklichkeit<br />

nur in einen fiktiven<br />

Kontext versetzt ... Warum nicht<br />

am Anfang eine Hypothese erfinden,<br />

die die Wirklichkeit umstürzt,<br />

die uns bekannte Geschichte<br />

verändert?" Im Herzen<br />

von Paris nämlich, im Quartier<br />

Latin, so erfährt der ahnungslose<br />

Leser, liegt die Z.U.P., die Zone<br />

utopique populaire - letztes<br />

Überbleibsel des turbulenten<br />

Mai '68. Damals, nachdem de<br />

Gaulle vom CIA ermordet wurde<br />

oder bei einem Hubschrauberuufall<br />

ums Leben kam, gab es in<br />

Frankreich Bürgerkrieg. ln der<br />

Folge der Ereignisse teilte sich<br />

das Land in eine Vielzahl freier<br />

Kommunen, die jedoch bald von<br />

einer provisorischen Zentralregierung<br />

zurückerobert wurden.<br />

Ubrig blieb, wie gesagt, nur die<br />

anarchistische Z.U.P.: isoliert<br />

und von einer Mauer umgeben<br />

wie West-Berlin, zerstritten und<br />

umkämpft wie Beirut und Belfast,<br />

modernes Babel zugleich<br />

und Kulturmetropole der Weit.<br />

Hier hat die Zweite Commune<br />

von Paris, eine Gemeinde spanischer<br />

Anarcho-Syndikalisten,<br />

ihr Refugium neben einer Gruppe<br />

von Maoisten; hier treiben,<br />

vom CIA unterstützt, korsische<br />

Band iten und aggressive Stadtindianer<br />

ihr Unwesen.<br />

Doch allen politischen Riva ­<br />

litäten, allen abenteuerlichen<br />

Scharmützeln und blutigen Zwistigkeiten<br />

zum Trotz, ist diese<br />

sich langsam aufreibende Z.U.P.<br />

vor allem ein Raum der lebenslustigen<br />

Kreativität; geistige Höhenflüge<br />

und Iibertinöse Eska ­<br />

paden gehen hier Hand in Hand.<br />

Unter der Commune kommt es<br />

zu einer Blüte aller kulturellen<br />

Aktivitäten. So lehren an der<br />

Volksuniversität. wie der Erzähler<br />

weiß, von Marcuse bis Habermas,<br />

von Milan Kundera bis Michel<br />

Foucault die größten Intellektuellen<br />

derWelt. Hier verfilmt<br />

man- unter der Mitwirkung von<br />

Marx, der eine Rolle als Brechtscher<br />

Kommentator übernimmt<br />

- Eugen Sues Trivialroman ,.Die<br />

Geheimnisse von Paris". Und<br />

nicht zuletzt ist aus der Kirche<br />

von Saint-Sulpice, die man ansonsten<br />

in ihrer architektonischen<br />

Struktur und mit ihren<br />

Kunstschätzen erhielt, ein Hydrotherapie-<br />

Institut und wahrhaftes<br />

Freudenhaus geworden.<br />

Selbstverständlich werden<br />

alle Möglichkeiten ausgenutzt,<br />

die dieser Tummelplatz der Fiktionen<br />

bietet. Und da überrascht<br />

es auch nicht, wenn der Erzähler<br />

- ein olympic author zwar, jedoch<br />

ein entthronter - manchmal<br />

Schwierigkeiten mit den<br />

Schöpfungen seiner wildernden<br />

Phantasie bekommt. Es passiert<br />

schon, daß sich Figuren verselbständigen,<br />

Verabredungen nicht<br />

einhalten, dem Erzähler Fallen<br />

stellen und die geplante Struktur<br />

des Romans durchkreuzen.<br />

Sch ließlich habe man sich hier,<br />

so die Stellungnahme einer dieser<br />

Quertreiber, nicht von allen<br />

Autoritäten befreit, nur um sich<br />

dann von einem Erzähler Vorschriften<br />

machen zu lassen.<br />

Der Erzähler demonstriert<br />

mit jedem Satz, daß Schreiben<br />

ein Spiel ist und die Schwerkraft<br />

der Wirklichkeit und ihrer Ordnungen<br />

außer Kraft setzt. Souverän,<br />

augenzwinkernd und mit<br />

seinen Schwierigkeiten kokettierend,<br />

nimmt er jede Störung<br />

dieses Spiels zum Anlaß, den sie<br />

meisternden Kunstgriff zu erörtern.<br />

Und jede Verzögerung des<br />

Handlungsablaufs ist ihm recht,<br />

ein witzig- ironisches Loblied auf<br />

die heitere Unschuld des Trivialromans<br />

anzustimmen, in dem<br />

die Macht des Erzählers noch<br />

ungebrochen sei und alles nach<br />

Plan verlaufe.<br />

Jorge Semprun hat mit diesem<br />

Roman der listigen Schelmenstreiche<br />

und der amourösen<br />

Bravourstück zugleich ein intellektuelles<br />

Meisterstück geschaffen,<br />

in dem die Verwandlung<br />

der Realität in Fiktionen und<br />

die Problematik des ästhetischen<br />

Scheins zur poetischen<br />

Selbstreflexion kommen. Dieses<br />

Buch ist Dichtung, Kommentar<br />

und Memoirenwerk in einem.<br />

Und man muß es als snobistisches<br />

Understatement auffassen,<br />

wenn der Autor seinen Erzähler<br />

immer wieder betonen<br />

läßt, daß dieses Buch lediglich<br />

den Fundus der Trivialliteratur<br />

von Sade bis Sue, von Justine bis<br />

Fleur-de- Marie ausbeute. Si ­<br />

cher, der Erzähler greift nach<br />

Gutdünken ein, wenn ihm das<br />

Drunter und Drüberder Ereignisse<br />

zu groß wird, er arrangiert,<br />

nimmt auseinander und setzt<br />

wieder zusammen, er nennt seine<br />

Karten und deckt seine<br />

Trümpfe auf. Aber in der intelligenten<br />

und pointierten Anwendung<br />

dieser Stilmittel des Trivialen<br />

ähnelt diese Dichtung, mit<br />

der Uferlosigkeit ihrer Sätze,<br />

den kunstvollen Hypotaxen, ih ­<br />

ren seitenlangen Parenthesen<br />

und spielerischen Variationen<br />

dann doch eher der Prosa<br />

Prousts. (Ein Vergleich übrigens,<br />

den der listige und eitle Erzähler<br />

selbst anführt, um dann zu erklären,<br />

daß er Proust nicht ausstehen<br />

könne. Man muß ihm das<br />

nicht glauben, und immerhin<br />

versteht er es, wie seine Figuren,<br />

jeder Schmähung ein Lob dranzusetzen<br />

: Proüst sei, wenn überhaupt,<br />

dann nur in den großartigen<br />

Übersetzungen Walter Ben ­<br />

jamins oder Pedro Salinas lesbar.)<br />

DasSchlüsselwort dieses<br />

Abenteuer- und Schelmenromans<br />

heißtAigarabia, wassoviel<br />

wie arabische Sprache, verworrenes<br />

Geschrei, Lärm, Unordnung,<br />

Charivari bedeutet. Zu<br />

diesem Geschrei, das in den verwinkelten<br />

Gassen dieses Buches<br />

widerhallt, trägt der Erzähler<br />

nicht weniges selber bei. Vergeblich<br />

ermahnt er sich und seine<br />

Figuren zur Ordnung : immer<br />

wieder von den eigenen Einfäl ­<br />

len begeistert und seinen Lau ­<br />

nen folgend, verliert er sich in erbaulichen<br />

oder libertinösen, in<br />

ernsten oder ulkigen Ausschweifungen.<br />

Und er treibt sei ­<br />

ne Possen mit dem Leser, wenn<br />

er etwa auf dem Höhepunkt des<br />

spannendsten Treibens (einer<br />

Entführung beispielsweise oder<br />

auch einer Verführung) den Ort<br />

der Handlung verläßt, um dann ­<br />

nachdem er den Leser mit langwierigen,<br />

nie jedoch langweiligen<br />

Exkursen auf die Folter gespannt<br />

hat - lakonisch zu bemerken,<br />

daß für derartige Ausflüge<br />

keine Zeit sei und man sich<br />

unverzüglich den Zwängen der<br />

Haupthandlung wieder zuwenden<br />

müsse; sofortfolgen weitere<br />

Arabesken.<br />

Diese Technik der Verzögerungen<br />

hat Methode, und im<br />

Grunde besteht dieser Roman<br />

nur aus Abschweifungen und<br />

Verirrungen. Sie bilden Reserva ­<br />

te der Langsamkeit, sind Widerstände<br />

gegen den gleichgültigen<br />

Ablauf der Zeit und Kampf<br />

der Erinnerung gegen das Vergessen.<br />

Denn mit dieser Mäander<br />

des Erzählensführt uns Semprun<br />

tief hinein in die Leidensgeschichte<br />

seiner Figuren und in<br />

die Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />

ihrer Hoffnungen, Niederlagen<br />

und Korruptionen, und<br />

er macht historische Ereignisse<br />

lebendig, indem er den <strong>Spur</strong>en<br />

folgt, die sie in seinen Figuren<br />

hinterließen.<br />

Es ist nicht schwer, hinterder<br />

biographischen und politischen<br />

Odyssee dieses Rafael Artigas<br />

die Lebensgeschichte Sempruns<br />

wiederzuerkennen - Sta ­<br />

tionen und Erfahrungen, die er<br />

u.a. in seinem Buch .. Was für ein<br />

schöner Sonntag" beschrieben<br />

hat. Er wurde 1923 in Madrid<br />

geboren und verbrachte das En ­<br />

de seiner Kindheit im französischen<br />

Exil. Hier nahm er an der<br />

Resistance teil und wurde 1943<br />

in das KZ Buchenwald deportiert.<br />

Nach dem Krieg hielt ersieh<br />

in verschiedenen Ländern auf<br />

und wirkte für die illegale spanische<br />

KP, in der er bis zu seinem<br />

Rauswurf 1964 eine hohe Funktion<br />

ausübte.<br />

Man findet in diesem Roman<br />

der Lustbarkeiten, Zoten und<br />

Harlekinaden einen langen Monolog<br />

des Artigas alias Sem-<br />

63


Rezensionen<br />

prun, einen Bericht, der vielleicht<br />

zu den ungeheuerlichsten<br />

seiner Art gehört: Versuch, das<br />

Unwirklichkeits- und Schuldgefühl<br />

des dem KZ Entronnenen zu<br />

beschreiben. Das Gefühl, die<br />

ganze Existenz nur noch in der<br />

Einbildung eines 1944 Ermordeten<br />

zu führen : .. Ein vor dreißig<br />

Jahren Gestorbener der der Lebende<br />

war der ich nicht mehr bin<br />

Dessen ungewisser Traum ich<br />

nur bin Je mehr Zeit vergeht desto<br />

dünner wird die Nabelschnur<br />

die mich mit der Vorhölle jenes<br />

Lebens von vor dreißig Jahren<br />

verbindet Jenes Todes von vor<br />

dreißig Jahren Je mehr Zeit vergeht<br />

und je weniger wir sind die<br />

wir jene gelassene und zähe Gewißheit<br />

unerklärlichen Überlebens<br />

teilen Unschicklichen<br />

Überlebens".<br />

.. Aigarabia" ist- vielleicht im<br />

Adornoschen Sinne - der Versuch,<br />

Wirklichkeit so zu beschreiben,<br />

wie sie sich vom<br />

Standpunkt der Versöhnung aus<br />

darstellte: als unversöhnte, zerrissene,<br />

antagonistische und unwirkliche<br />

... Mein Leben war nur<br />

ein Traum seit dem grauen<br />

Rauch des Lagers Diese Wolke in<br />

der meine unbekannten Genossen<br />

in Rauch aufgingen Oderbekannten<br />

Halbwachs und Maspero<br />

Pjotr und Pedro." Das Buch ist<br />

dieser Traum, der dem Leben<br />

gleicht und dem Tod. Zugleich<br />

ist .. Aigarabia" - gegen Adorno<br />

- die äußerst heikle, weil aus<br />

dem unsagbaren Grauen geborene<br />

Utopie des überschwenglichen<br />

Lebens. Eine Gegenweit<br />

der lyrischen Illusionen. Denn<br />

woher kommt diese bunte Gesellschaft<br />

gealterter Anarchisten<br />

- allesamt intellektuelle<br />

Abenteurer und ruchlose Lebemänner?<br />

Sicher, sie haben ihre<br />

lange Ahnenreihe in den Strolchen,<br />

Tagedieben und Huren,<br />

die im spanischen Schelmenroman<br />

ihre Späße treiben. in<br />

Wahrheit stammen sie aus der<br />

Verzweiflung, wo sie am tiefsten<br />

ist, man könnte sagen, sie haben<br />

das Erlebnis des Todes hinter<br />

sich.<br />

Es sind Genesende, die mit<br />

ihrer Intelligenz, ihrem W issen<br />

und ihren Ideen spielen, um nur<br />

noch dieses Spiel und sich selber<br />

zu genießen. Sie erinnern Ver-<br />

nunftwieder als das, was sie sein<br />

sollte : Mittel zum Zweck des<br />

Glücks, der somatischen Lust. Es<br />

geht ketzerisch zu gegen die<br />

Macht im allgemeinen und die<br />

Macht der Moral im besonderen.<br />

Pietät kennt man da auch vor der<br />

Heiligen Kirche des Marxismus/<br />

Leninismus nicht. Da wird die<br />

Dialektik wieder zum Florett, mit<br />

dem man elegant dogmatische<br />

Behauptungen entwaffnet. Gestrenge<br />

Kampfparolen Maos<br />

werden eulenspiegelhaft verkehrt<br />

und in den Dienst der Liebschaften<br />

und Verführungen genommen.<br />

Einzige Autorität, die<br />

hier unangefochten bleibt ist<br />

Ovid. Seine .. Ars amatoria" oder<br />

die .. Amores" kennt fastjeder im<br />

lateinischen Original, und vor al ­<br />

lem praktiziert sie jeder. Sie sind<br />

gewissermaßen die Handbücher<br />

des richtigen Lebens. Die Lust<br />

sei schließlich das wahre Instrument<br />

der Erkenntnis.<br />

Vielleicht hat dieses Buch,<br />

geistreich wie selten eines und<br />

lustvoll wie ein orientalisches<br />

Frauenhaus, keinen anderen<br />

Sinn als diesen: sich im Feuerwerk<br />

seiner Einfälle zu versprü-<br />

Quellen heranzog, die dazu beitragen,<br />

daß seine Untersuchung<br />

nicht nur für Kafka-lnteressierte<br />

lesenswert ist.<br />

Ulf Abraham zufolge strukturiert<br />

das Motiv des Verhörs die<br />

drei Romane Kafkas. Auf sie<br />

konzentriert er sich; zusätzlich<br />

zieht er Beispiele aus den privaten<br />

Briefen, Kurzgeschichten<br />

und Fragmenten Kafkas zur Veranschaulichung<br />

heran. Die Romane<br />

beschreiben eine Entwicklung,<br />

die mit einer zwar noch<br />

personalisierten Macht beginnt,<br />

an deren Ende aber eine vielköpfige,<br />

nicht mehr benennbare bürokratische<br />

Macht steht, deren<br />

'Urteil ohne Richter' derverhörte<br />

Held machtlos ausgeliefert sein<br />

muß.<br />

Als vorangestelltes exemplarisches<br />

Beispiel für diese Entwicklung<br />

dient Ulf Abraham die<br />

frühe Kurzgeschichte .. Der<br />

Schlag ans Hoftor", in der er vorgeführt<br />

findet, wie ein Held aufgrundvon<br />

Desorientiertheit und<br />

somit Artikulationsunfähigkeit<br />

eine Ohnmacht gegenüber einer<br />

Machtinstanz schon akzeptiert,<br />

bevor er überhaupt auf sie trifft.<br />

Da der Held in einer Weit, die<br />

nicht mehr - wie früher - von<br />

Gottes Wort oder einer transzendentalen<br />

Idee des Gerechten<br />

geleitet ist selbst nicht zu hanhen.<br />

Widerschein dieser Kunst<br />

ist nichtzuletztdie Sprache in ihrer<br />

absichtsvollen Verwilderung.<br />

Im Dickicht der Vielsprachigkeit<br />

dieses Romans, seiner<br />

Neologismen und Fremdwörter,<br />

seiner lyrischen lntonationen<br />

und bildhaften Flüche, seiner<br />

Polyphonie und kontrapunktischen<br />

Stimmführung, erhält die<br />

Sprache sinnliche Präsenz. Sie<br />

wird zum Klangkörper, flüchtig<br />

wie die Musik und die Substanz<br />

der Träume. - Entlassen in die<br />

.. traurige Wirklichkeit", schließt<br />

man dieses Buch und hat den<br />

Kopf voller Traumfragmente :<br />

vage Andeutungen, denen man<br />

nachspürt, unsicher, ob ein anderer<br />

oder man selber sie träumte.<br />

Joachim Strelis, Berlin<br />

Jorge Semprun : Algarabia oder<br />

Die neuen Geheimnisse von Paris.<br />

Roman. Aus dem Französischen<br />

von Traugott König und<br />

Christine De/ory-Momberger.<br />

Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M.<br />

1985. 453 Seiten.<br />

Der verhörte Held<br />

,.Aiexander hat den gordischen Knoten, als er sich<br />

nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert." (Briefe an<br />

Milena) ln seinem Buch ,.Der verhörte Held - Recht<br />

und Schuld im Werk Franz Kafkas" stellt Ulf Abraham<br />

Kafkas literarische Erfahrung einer ,.Entrükkung,<br />

Entgrenzung und Entpersonalisierung" von<br />

Macht dar, die uns auch im alltäglichen Leben als<br />

deren Bürokratisierung begegnet. ln diesem - von<br />

der Macht selbst konstruierten - System von Instanzen,<br />

in ihren Kreisen und Spiralen ist nicht nur die<br />

Verantwortlichkeit versickert, die Macht selbst ist<br />

unauffindbar geworden.<br />

Kafka, der Jura studierte und<br />

seinen Beruf auch ausübte, äußert<br />

sich in seiner 'Rede vom<br />

Recht' .. aus der Perspektive eines<br />

Schreibers der nicht immer<br />

schon zu wissen glaubt wer<br />

Recht hat". Indemer-als Jurist,<br />

Eingeweihter, und damit selbst<br />

Machtinhaber- zu Zweifeln und<br />

Belehrung bereit ist, entlarvt er,<br />

was sich gut verpuppte: Eine Re·<br />

de vom Recht, die sich .,im Namen<br />

der Ordnung" selber führt,<br />

sich als Schutz für den Bü rger,<br />

als Gesetzeskenner und Wahrheitstinder<br />

ausgibt, deren Stellvertreter-Prinzip<br />

jedoch .. nur<br />

noch auf das Fehlen eines transzendenten<br />

'Gesetzes' (verweist).<br />

64<br />

An seine Stelle tritt die Disziplin<br />

- als das 'Gesetz' in Abwesenheit<br />

Gottes." Dieser Entdeckung<br />

folgend steht die Schuld des<br />

Helden gegenüber einer Machtinstanz<br />

schon fest, bevor es<br />

überhaupt zu einem Verhör, vom<br />

'Delikt' ganz zu schweigen, gekommen<br />

ist.<br />

Der Funktion des nachgestellten<br />

Verhörs, welches nicht<br />

der Rechtsfindung dient, sondern<br />

nur noch der nachträglichen<br />

Begründung eines immer<br />

schon vorhandenen Urteils, ist<br />

Ulf Abraham nachgegangen,<br />

wobei er nicht nur literaturwissenschaftliche,<br />

sondern auch<br />

soziologische und juristische<br />

dein weiß, ermöglicht er seinem<br />

Gegenüber, die Definitionsmacht<br />

zu erringen, die eine .. Monopolisierung<br />

der 'Herrschaft<br />

über das Gespräch'" nach sich<br />

zieht. Fortan bestimmt die<br />

Definitionsmacht was Recht<br />

und was Unrecht ist. Sie tut es<br />

immer zuungunsten des verhörten<br />

Helden, der .. die entsetzliche<br />

Zwangsläufigkeit nicht begreifen<br />

(kann), mit der (er) diese 'Gesetze'<br />

immer wieder übertritt:<br />

denn sie werden ja immer erst im<br />

Augenblick ihrer ÜbertFetung<br />

erfunden".<br />

Statt der Frage nach der<br />

Wahrheit stellt sich die Frage,<br />

wer beim Aufeinandertreffen<br />

von Menschen, die einer hierarchischen<br />

Ordnung angehören,<br />

die Definitionsmacht zu erringen<br />

weiß.<br />

Diese Auslegung Abrahams<br />

erinnert sehr an die Auseinandersetzung,<br />

die Nietzsche,<br />

auf den Abraham mehrfach<br />

verweist, in der .. Genealogie<br />

der Moral" über die Entstehungsgeschichte<br />

der Schuld<br />

führt.<br />

Auch bei Kafka geht es<br />

.. nicht um Recht und Unrecht als<br />

vorgegebenen Sachverhalt,<br />

sondern darum, wem es gelingt,<br />

den anderen ins Unrecht zu setzen;<br />

es geht um widersprüchli-


Rezensionen<br />

Opfers treffen". Doch noch eine<br />

andere Möglichkeit zur Rettung<br />

scheint sich anzubieten, die gerade<br />

heute auch in einem anderen<br />

Zusammenhang eine erschreckende<br />

Präsenz bekommen<br />

hat. ln der Auseinandersetzung<br />

mit Kafkas Folterphantasien<br />

fand Abraham, daß er diese<br />

zwar .. zur Ablenkung der<br />

'Schuld' ein(setzte)", an deren<br />

Wirkung jedoch selbst auch<br />

Zweifel trug. Abraham belegt<br />

dies mit folgenden Auszügen<br />

aus einem Brief an Milena: .. Erkenntnis<br />

der Dummheit hilft<br />

nichts" und .. Aiexander hat den<br />

gordischen Knoten, als er sich<br />

nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert".<br />

Dieses historische Bei ­<br />

spiel, was sehr wohl Mut ma ­<br />

chen könnte, stellt sich jedoch<br />

als verfehlt heraus. Abraham<br />

sieht Alexanders .. gordische(n)<br />

Knoten () ins Innere der menschlichen<br />

Psyche verlegt" und<br />

erkennt somit auch die unvermeidbare<br />

Zwangsläufigkeit des<br />

Todes, der sich am Ende als einzige<br />

Rettung in Kafkas Texten<br />

darstellt: .. Das ist Kafkas gordischer<br />

Knoten, und seine 'Lösung'<br />

wäre der Tod."<br />

Einbeachtens-und wissenswertes<br />

Buch (sieht man von den<br />

ärgerlichen Satzfehlern mal ab).<br />

Susanne Dudda<br />

Ulf Abraham: Der verhörte Held­<br />

Recht und Schuld im Werk Franz<br />

Kafkas. Wilhelm Fink Verlag,<br />

München 1985<br />

Vergegenwärtigungen zur<br />

Unzeit?<br />

Zeichnungen<br />

von Franz Kafka<br />

ehe Realitätsdefinitionen, von<br />

denen eine der anderen weichen<br />

muß".<br />

Während im .. Amerika"-Roman<br />

die Machtinstanzen noch<br />

konkrete Personen mit abgegrenzter<br />

Kompetenz (Schiffskapitän,<br />

Onkel, Oberkellner) sind,<br />

ist das Gericht im .. Prozeß"<br />

schon zu einer unbestimmbaren<br />

Funktionsträgergruppe geworden.<br />

Sie bietet dem verhörten<br />

Helden kein ' Gegenüber' mehr,<br />

mit dem- zumindest- eine Konfrontation<br />

möglich wäre. Die urteilende<br />

Instanz tritt hier schon<br />

als vielköpfig auf; durch die<br />

Unauffindbarkeit ihrer Verantwortlichkeit<br />

verhindert sie ein<br />

Einschreiten gegen ihr Urteil von<br />

Seiten 'Ausgeschlossener'. Die<br />

Spitze dieser Entwicklung zur<br />

vollkommenen Gesichtslosigkeitfindet<br />

Abraham im .. Schloß"<br />

dargestellt, wo selbst der einzelne<br />

Beamte (als Beispiel führt er<br />

Klamm (n) viele Gesichter und<br />

Stellvertreter hat. Abraham<br />

schließt daraus, daß man bei der<br />

im .. Schloß" dargestellten<br />

Machtinstanz wegen ihrer Komplexität<br />

.. von absoluter Willkür<br />

sprechen muß". Mancher mag<br />

sich trotzdem noch eine Steigerung<br />

der Entwicklung vorstellen<br />

können, nicht nur weil die Gesichtslosigkeit<br />

sich zu ihrer Legitimation<br />

noch 'vieler Gesichter'<br />

bedienen muß, sondern auch,<br />

weil die Machtinstanz trotz allem<br />

noch einen Namen - das<br />

.. Schloß" -trägt, und: Was benannt<br />

werden kann, birgt in sei ­<br />

ner Struktur auch die Möglichkeit<br />

einer Inbesitznahme durch<br />

andere. Kein Grund zur Resignation<br />

also?<br />

Eine Möglichkeit, sich gar<br />

nicht erst den gnadenlosen Fängen<br />

der bürokratisierten Macht<br />

auszuliefern, eröffnet sich dort,<br />

wo Schuldzuschreibungen<br />

.. nicht auf Entsprechungen<br />

(Schuldgefühle) im lnnern ihres<br />

Die vehemente Entfaltung der Produktivkräfte unter<br />

dem Kapitalverhältnis hat nicht die gesellschaftliche<br />

Autonomie der Menschen hervorgebracht, sondern<br />

deren ausweglos scheinende Unterdrückung durch<br />

die Verhältnisse, die von ihnen selbst geschaffen<br />

worden sind. Was anwachsende Vernunft und Mündigkeit<br />

versprach, schlägt um .. in eine neue Art von<br />

Barbarei". (Horkheimer/ Adorno) .. Gibt es zur Zeit eine<br />

mit adäquaterer Fragestellung angelegte Untersuchung,<br />

die sich dieser Erscheinung annimmt, als<br />

die Dialektik der Aufklärung . .. ?" Das fragte Wolfgang<br />

Abendroth 1958; die Frage scheint unverjährt.<br />

Je schlagender die Befunde der<br />

Dialektik der Aufklärung, desto<br />

schlechter ergeht es der Theorie,<br />

die sie nicht verdrängt. Im Kon ­<br />

kurrenzkampf des akademischen<br />

Betriebs behauptet sich<br />

derzeit eine Art Schrumpfform<br />

Kritischer Theorie. Substantielle<br />

Kritik der Gesellschaft auf dem<br />

Fundament der Marxschen Krit<br />

ik der politischen Ökonomie<br />

wird in ihr duch Kommunika ­<br />

tionstheorie ersetzt; der philosophische<br />

Wahrheitsanspruch<br />

durch das Ideal des Konsens.<br />

Horkheimer und Adorno, die<br />

zeigten, wie die Kehrseite der<br />

Aufklärung sich in der kapitalistischen<br />

Gesellschaft ganz real i­<br />

siert, werden kurzerhand auf Irrationalismus<br />

verrechnet; auf<br />

Klagesund auf einen verkürzten<br />

Nietzsche. Gefordert wird der<br />

Optimismus einer unbegrenzten<br />

Anschluß- und Konsensfähigkeit<br />

des eigenen theoretischen<br />

Gebäudes, das Vertrauen auf Lebenswelt<br />

und symbolische Interaktion.<br />

Insofern kommen die Essays,<br />

die Hermann Schweppenhäuser<br />

in seiner Sammlung vorlegt, tatsächlich<br />

zur Unzeit, wie sein Titel<br />

andeutet. Sie stören die Verdrängungsarbeit.<br />

Denn sie .. vergegenwärtigen"<br />

einen Stand der<br />

Einsicht (und der Formulierung),<br />

der der Gegenwart doppelt opponiert:<br />

sowohl dem realen gesellschaftlichen<br />

Zustand, als<br />

auch der Vereinnahmung Kritischer<br />

Theorie, die eines seiner<br />

Resultate ist. ln Schweppenhäusers<br />

Texten geht es nämlich<br />

nicht, wie in einer Unzahl von<br />

Publikationen, um das beflissene<br />

Thema, wie Kritische Theorie<br />

in den Wissenschaftsbetrieb<br />

einzubauen sei. Vielmehr w ird<br />

die Theorie der Gesellschaft<br />

durchgehalten : bewährt an den<br />

jeweiligen Gegenständen sel ­<br />

ber, deren Erfahrung sie sich<br />

nicht entzieht.<br />

Wie sich Dialektik der Aufklärung<br />

manifestiert, macht<br />

Schweppenhäuser in drei Bereichen<br />

deutlich: Gesellschafts-<br />

65


Rezensionen<br />

theorie, Ästhetik und Philosophie.<br />

Die problemgeschichtliche<br />

Arbeit .,Zur Dialektik der Emanzipation",<br />

die den Band eröffnet,<br />

geht in komprimierter Form den<br />

in Widersprüchen sich vollziehenden<br />

und neue Widersprüche<br />

produzierenden Emanzipationsprozessen<br />

nach. Sie bildet etwas<br />

wie den Rahmen für die folgenden<br />

Aufsätze, ., Über Adernos<br />

soziale lndividuationstheorie",<br />

.. Erinnerung an den aufgeklärten<br />

Begriff des Interesses"<br />

und ., Kulturindustrie und moralische<br />

Regression". Sie zeigen,<br />

wie in der Gegenwart statt der<br />

Aufhebung abstrakter Indivi ­<br />

dualität in einer mit sich und der<br />

Natur versöhnten Gesellschaft,<br />

die einzelnes und allgemeines<br />

Interesse vermitteln würde, vernichtender<br />

Antagonismus<br />

herrscht, über den die Kulturindustrie<br />

ihren alptraumhaften<br />

Schleier legt.<br />

Aufwelche Weise Kunst, oh ­<br />

ne von der gesellschaftlichen<br />

Dialektik und damit von der<br />

Möglichkeit des Mißlingens<br />

ganz ausgenommen zu sein,<br />

dem widerstehen kann, ist Thema<br />

des zweiten Teils der .. Vergegenwärtigungen".<br />

Faszinierend<br />

die Studie .,Tauchen im<br />

Schlamm" über die .,Widmung"<br />

von Botho Strauß, jener großen<br />

Erzählung, die noch nicht in die<br />

neomythisch-problematische<br />

Phase des Künstlers gehört. Hier<br />

wird stringent der Wahrheitsgehalt<br />

eines authentischen Kunstwerks<br />

begrifflich aufgeschlüs-<br />

seit. Der Aufsatz über Hermann<br />

Hesse arbeitet das Auftauchen<br />

der Archaik in der Moderne als<br />

zentrales Motiv bei Hesse heraus.<br />

Er gehört sicher zum interessantesten,<br />

was über Hesse<br />

geschrieben worden ist. Die<br />

., kulturtheoretischen Anmerkungen<br />

zur Bedeutung des<br />

Theaters", sollten Pflichtlektüre<br />

für alle sein, die im gegenwärtigen<br />

Theaterrummel mitmischen.<br />

Denn : .. Wer das entfesselte<br />

Theater will, will die blindwütige<br />

gesellschaftliche Dynamik<br />

selber, die noch das Theater<br />

in sich hineinreißt, das sie nicht<br />

mehr denunzieren kann. Mit der<br />

dagegen mobilisierten Kraft in<br />

den aufgeklärten Repräsentanten<br />

des Theaters ist zu kooperieren<br />

- ob der seiner intelligenten<br />

Stückeschreiber, seiner unbetrogenen<br />

Regisseure und Protagonisten,<br />

ob der im aufgeweckten<br />

Publikum selber, das eher<br />

das Tribunal, die Zeugenschaft<br />

bei Prozessen, als den Zirkus,<br />

dem Kitzel von Spektakeln,<br />

sucht." Der Aufsatz ., Kunst - ei ­<br />

ne unvollendete Weise bestimmter<br />

Negation des Mythischen<br />

und des Historischen" -<br />

Schweppenhäusers Vortrag auf<br />

dem Frankfurter Benjamin­<br />

Colloquium 1982 - gibt eine Rekonstruktion<br />

von Benjamins<br />

Kunstbegriff, der auf die Idee eines<br />

messianischen Endes der<br />

Geschichte bezogen bleibt. Er<br />

leitet hinüber zu den im engeren<br />

Sinn der Philosophie zugehörigen<br />

Arbeiten.<br />

Deren erste istdie über ., Spekulative<br />

und negative Dialektik",<br />

in der an Kernpunkten das Verbindende<br />

und das Trennende<br />

Hegeischen und Adernosehen<br />

Denkens herausgestellt wird.<br />

Ihm folgt ., Nietzsche - Eingedenken<br />

der Natur im Subjekt" .<br />

Dieser Essay ist gerade jetzt von<br />

großer Aktualität : Wo Nietzsche<br />

entweder als Irrationalist verschrien<br />

oder von postmoderner<br />

Apotheose irrationalistisch gefeiert<br />

wird, arbeitet Schweppenhäuser<br />

kritische Gehalte seines<br />

Werkes heraus. ln Gegenüberstellung<br />

u.a. mit Marx wird<br />

Nietzsche als Diagnostiker der<br />

Dialektik der Aufklärung kenntlich,<br />

dessen Diagnose zugleich<br />

soweit begrenzt bleibt, wie sein<br />

.. hellenisches Paradigma" ihm<br />

die volle Einsicht in die gesellschaftliche<br />

W irkl ichkeit seiner<br />

Zeit verstellt .<br />

.,Reale Vergesellschaftung<br />

und soziale Utopie" stellt sympathisierend<br />

., Ernst Bloch als<br />

Sozialphilosoph(en) " dar . .,Zum<br />

Problem des Todes" beschließt<br />

die Aufsatzsammlung. :...chweppenhäuser<br />

knüpft an die Tradition<br />

des authentischen materialistischen<br />

Denkens an, die im<br />

Tod den ., Skandal der Skandale"<br />

erkennt - den Stachel, den alle<br />

kulturelle Anstrengung vergeblich<br />

wegzuarbeiten versuchte.<br />

Heute wird der Tod in gesellschaftliche<br />

Regie genommen.<br />

.,Was läßt die ganze unter Hochdruck<br />

laufende Daseinsmasch i­<br />

nerie eines polit isierten lndustrialismus,<br />

einer industrialisierten<br />

Politik zurück? Die Leichenberge<br />

der Todesfabriken, der<br />

Vernichtungskriege, des vermeidlichen<br />

Hungers. Was produziert<br />

sie unterdessen, neben<br />

der Fülle der Mittel, sich selbst zu<br />

erhalten, und wenn sie daran erstickt?<br />

Die Millionen schon zu<br />

Lebzeiten Toter, um ihr Leben<br />

Betrogener, der Ausgebrannten<br />

und Menschentrümmer, die die<br />

Gesellschaften zu Riesenspitälern<br />

anwachsen lassen, denen zu<br />

absehbarem Zeitpunkt die Helfer<br />

ausgegangen sein werden."<br />

Dem muß nicht nur begreifend<br />

Widerstand geleistet werden,<br />

.,wenn durch die Solidarität der<br />

Sterblichen das Leben human<br />

werden soll".<br />

Solche Gedanken sind nicht<br />

zeitgemäß und sind doch an der<br />

Zeit. Schweppenhäusers Essays<br />

zeigen, daß der .,Zeitgeist" Ungeist<br />

und die Zeit eine .. Unzeit"<br />

ist. Sie verbreiten aber nicht<br />

Endzeitstimmung und entfliehen<br />

nicht in die Zeitlosigkeit ei ­<br />

nes vorgeblichen Post- Histoire.<br />

Sie machen theoretisch und gesellschaftlich<br />

Verdrängtes gegenwärtig<br />

und tragen so zu der<br />

kritischen Besinnung bei, ohne<br />

die es keine befreiende Praxis ·<br />

gibt.<br />

Olaf Meixner, Lüneburg<br />

Hermann Schweppenhäuser:<br />

Vergegenwärtigungen zur Un ­<br />

zeit? Gesammelte Aufsätze und<br />

Vorträge. Dietrich zu Klampen<br />

Verlag, Lüneburg 1986. 251 Seiten.<br />

66<br />

Le pond des planetes


Rezensionen<br />

Vermittlung als Gott<br />

Das Problem der Vermittlung und seine Bedeutung<br />

in der gegenwärtigen Gesellschaft ist das Thema des<br />

Buches .. Vermittlung als Gott" von Christoph Türcke,<br />

in welchem der Autor u.a. über den Erfolgsboom jener<br />

Branche im modernen Wissenschaftsbetrieb<br />

Aufschluß gibt, die sich dem Vermittlungsproblem<br />

besonders angenommen hat, der Didaktik. Die zen ­<br />

trale Aufgabe einer methodischen Bildungstheorie,<br />

als die sich die Didaktik selbst versteht, ist der<br />

Transfer von Bildungsinhalten, von Wissen in die<br />

Köpfe einzelner lernender Menschen, kurz: die Vermittlung<br />

von subjektivem und objektivem Geist.<br />

Wäre die Didaktik in ihrem Bemühen<br />

erfolgreich gewesen, so<br />

gäbe es sie längst nicht mehr.<br />

Denn wie gelungene Vermittlung<br />

von Subjekt und Objekt<br />

nichts anderes wäre als ihre<br />

eigene Aufhebung, so hätte sich<br />

eine Wissenschaft, die das Vermittlungsproblern<br />

gelöst hätte,<br />

selbst überflüssig gemacht.<br />

Doch davon ist die Didaktik weit<br />

entfernt. Weil sie die Vermittlung<br />

für etwas Festes, Substantielles<br />

hält, das man mit empirischen<br />

Methoden in den Griff bekommen<br />

könnte, bringt sie das<br />

zu Vermittelnde, Mensch und<br />

Wissen, nicht zusammen. Der<br />

Autor zeigt, wie die Didaktik, ohne<br />

es zu merken, die metaphysischen<br />

Begriffe Substanz und Relation<br />

verwechselt und deshalb<br />

einer metaphysischen Fiktion<br />

erliegt. Folglich gerät ihr der Gegenstand<br />

ihrer Anstrengungen ­<br />

die Vermittlung von Subjekt und<br />

Objekt - zu einem handfesten<br />

Selbständigen neben den zu<br />

Vermittelnden und wird ihr um<br />

so ungreifbarer und unbegreifbarer,<br />

je mehr die blindwütige<br />

Didakterisierung von allem und<br />

jedem voranschreitet<br />

Die .. metaphysischen Grillen<br />

und theologischen Mucken" der<br />

Didaktik kommen nicht von ungefähr.<br />

Am Scheitern der didaktischen<br />

Bemühungen reißt der<br />

Autor eine metaphysische, theologische<br />

und geschichtliche Dimension<br />

des Vermittlungsproblems<br />

auf, von der die Didaktik<br />

nichts ahnt.<br />

Die klassischen griechischen<br />

Philosophen Platon und<br />

Aristoteles standen vor der<br />

Schwierigkeit, Ideen und Sinnendinge,<br />

Form und Stoff miteinander<br />

zu vermitteln und erkannten<br />

dabei schon, daß die<br />

Vermittlung mißlingen muß,<br />

wenn man sie zu einem selbständigen<br />

Dritten hypostasiert. Zum<br />

gleichen Resultat gelangte Augustinus,<br />

als es galt, Gott und<br />

Mensch, Gott-Vater und Gott­<br />

Sohn in ein der christlichen Erlösungsidee<br />

angemessenes Verhältnis<br />

zu setzen. Doch die Vermittlung<br />

der drei Gestalten Gottes<br />

gelang dem Kirchenvater nur<br />

um den Preis der Auflösung der<br />

göttlichen Substanz in eine absolute<br />

Relation, eine .,Relation<br />

von nichts zu nichts", in der weder<br />

Gott-Vater, noch Gott-Sohn,<br />

noch Heiliger Geist für sich<br />

selbst etwas sind; alle sind bloßes<br />

., Sichbeziehen auf Sichbeziehendes".<br />

Indem Augustinus<br />

Gott zum Subjekt seiner Vermittlung<br />

mit sich selbst machte,<br />

löste er die göttliche und damit<br />

alle theologische Substanz auf<br />

in .,absolute Vermittlung". An<br />

der augustinischen Trinitätsspekulation<br />

entwickelt der Autordie<br />

zentrale These des Buches : Jeder<br />

theologische und philosophische<br />

Idealismus, der begriffen<br />

hat, daß die Vermittlung kein<br />

selbständiges Drittes sein kann,<br />

muß mit zwingender Konsequenz<br />

aus seiner falschen Voraussetzung,<br />

daß der reine Geist<br />

das Erste sein, den Geistzum Absoluten,<br />

das Absolute zum Subjekt<br />

seiner Selbstvermittlung,<br />

d.h. aber die Vermittlung zum<br />

Gott machen. Hätten die frühen<br />

Christen die theoretischen Konsequenzen<br />

aus der augustinischen<br />

Spekulation gezogen, so<br />

wäre der Anfang der Theologie<br />

zugleich ihr Ende gewesen. Dies<br />

ließ freilich noch auf sich warten,<br />

denn die christliche Kirche erklärte<br />

das substantielle Sein<br />

Gottes zum Dogma und stellte<br />

im Einverständnis mit dem Kirchenvater<br />

das Resultat dessen<br />

geistiger Anstrengung, die absolute<br />

Vermittlung, des religiösen<br />

Skandalswegen unter Denkverbot.<br />

Was Hegel in dieser Hinsicht<br />

von Augustinus unterscheidet,<br />

ist einzig, daß jener zum Programm<br />

seiner Philosophie<br />

machte, was dieser nicht wahrhaben<br />

wollte, aber dennoch, wie<br />

Hegel wohl wußte, Quintessenz<br />

des philosophischen Idealismus<br />

ist : die Apotheose der Vermittlung.<br />

Seine Anstößigkeit hatte<br />

der Gedanke der absoluten Vermittlung<br />

inzwischen verloren,<br />

weil er von der gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit eingeholt<br />

worden war. Hegels Substanz,<br />

die zugleich Subjekt ihrer<br />

Selbstvermittlung sein soll, ist<br />

der absolute Geist, der sich in die<br />

Natur entäußert und als endlicher<br />

Geist derWeit in seineeigene<br />

Geburtsstätte zurückkehren<br />

soll, indem er sich zum Bewußtsein<br />

der Freiheit, zur Philosophie<br />

erhebt. ln dieser Trinität des absoluten<br />

Geistes erkennt der Autor<br />

den philosophisch verschlüsselten<br />

Ausdruck der Bewegung<br />

des Kapitals, jenes unsichtbaren<br />

Gesellschaftsgottes,<br />

der die bürgerliche Weit als ihr<br />

geheimer Motor im Innersten<br />

konstituiert und als Geld und<br />

Ware auf ihrer Oberfläche erscheint;<br />

der ihrechaotische Ordnung<br />

mitsamt der jeglicher Vernunft<br />

spottenden Verteilung des<br />

Reichtums stiftet, ihr die Plusmacherei<br />

als einzigen Zweck<br />

vorgibt und sie bis in ihre subtilsten<br />

Regungen durchherrscht<br />

Der Wert, dieses Realabstraktum,<br />

hat sich in seiner Gestalt als<br />

Kapital zum .. automatischen<br />

Subjekt" (Marx) des gesellschaftlichen<br />

Prozesses aufgeschwungen<br />

Ljnd ihn in sei ­<br />

nen Dienst genommen, zum<br />

Zwecke der Verwertung seiner<br />

selbst, was nichts anderes ist als<br />

eine spezifische Form absoluter<br />

Vermittlung, die aber historisch<br />

die allgemeine geworden ist. An<br />

der Kapitalbewegung zeigt der<br />

Autor, wie die Aufklärung und<br />

Säkularisierung der modernen<br />

Gesellschaft in finsterste Mythologie<br />

umgeschlagen ist. Das Kapital<br />

ist in all seiner Ungöttlichkeit<br />

der einzig beweisbare Gott,<br />

der einzige, der sich wirklich<br />

vom Opfer (an Menschen und<br />

Material) ernährt, und alle Veranstaltungen,<br />

die die Menschen<br />

treffen, um die permanente Verwertung<br />

des göttlichen Ungeheuers<br />

zu bewerkstelligen, damit<br />

ihnen als Abfallprodukt der<br />

Verwertung die Gnade der Reproduktion<br />

zuteil wird, kritisiert<br />

der Autor als einen gigantischen<br />

Fetischdienst. ln der besten Tra ­<br />

dition der Aufklärung, nämlich<br />

der Marxischen, führt er vor, wie<br />

Theorie zur .. Waffe der Kritik"<br />

geschärft wird, indem er an sei ­<br />

nem Gegenstand nicht nur die<br />

philosophisch-spekulative Di ­<br />

mension aufreißt, sondern auch<br />

die Objektivationen menschlichen<br />

Geistesals Ch iffrentragender<br />

Strukturen der gesellschaftlichen<br />

Reproduktionsbasis zu lesen<br />

versteht.<br />

Der Weg von Hegel zurück<br />

zur Didaktik führt auf die Kornmunikationstheorie<br />

G.H . Meads.<br />

Während das Hegeische System<br />

ein philosophisches Sublimat<br />

begriffener gesellschaftlicher<br />

Totalität ist, präsentiert sich der<br />

symbolische Interaktionismus<br />

Meads nur als deren unbegriffene<br />

Verdopplung, zur Gesellschaftstheorie<br />

aufgeblähtes Bewußtsein<br />

des Kommunikationsschaffenden,<br />

wie denn auch sei ­<br />

ne Theorie nichts anderes ist als<br />

eine mißglückte Aureole der<br />

Kornmuni kationsi ndustrie.<br />

Kommunikation macht er zum<br />

Konstituens von Geist, zum Natur<br />

und Geist Vermittelnden,<br />

vermöge dessen sich der Geist<br />

aus der Natur erhoben habe. Da ­<br />

gegen wendet der Autor ein, daß<br />

die Kommunikation das, was sie<br />

nach Mead leisten soll, nicht leisten<br />

kann, weil jede Kommunikation<br />

den Geist bereits voraussetzt.<br />

Ferner fixiert Mead die<br />

Vermittlung wieder alsselbständiges<br />

Drittes neben Natur und<br />

Geist, die sie vermitteln soll; und<br />

damit fällt er, der von Metaphysik<br />

nichts wissen will, zurück<br />

hinter die Einsicht der Metaphysik<br />

seit Platon und Aristoteles,<br />

daß die Vermittlung gerade kein<br />

Drittes sein kann. Wie die Didaktik<br />

verwechselt Mead Substanz<br />

und Relation. Die Didaktik ist<br />

denn auch nichts weiter als angewandte,<br />

d.h. losgelassene<br />

Kommunikationstheorie. Die Di ­<br />

daktik ist eine Wissenschaft, die<br />

den Wald vor lauter Bäumen<br />

nicht sieht. Krampfhaft sucht sie<br />

die Vermittlung, möchte sie zum<br />

Anfassen haben und merkt<br />

nicht, daßdas Wesen der Gesellschaftaus<br />

nichts weiter als Vermittlung,<br />

in Gestalt der Verwertung<br />

des Werts, besteht und der<br />

gesamte gesellschaftliche Betrieb<br />

- Produktion, Handel und<br />

Wandel- in deren Dienste steht.<br />

Gemessen an der geistigen Tradition<br />

der Metaphysik, von der<br />

sie ohnehin nichts mehr weiß, ist<br />

die Didaktik das Spottbild einer<br />

Wissenschaft.<br />

Doch auf den letzten Seiten<br />

seines Buches lüftet der Autor<br />

das Erfolgsgeheimnis der Didaktik<br />

und zeigt, warum sie trotzdem<br />

keineswegs dysfunktional<br />

ist und sogar zu einer .,Wissenschaft<br />

der Wissenschaften"<br />

avancierte. Ihren Aufstieg zu einer<br />

Metawissenschaft, wie es<br />

früher die Philosophie war, verdankt<br />

sie gerade ihrem sachlichen<br />

Scheitern, das sie zwar<br />

67


Rezensionen<br />

nicht begreift, aber immerhin in<br />

einen Geschäftserfolg umzukehren<br />

verssteht. Weil sie die<br />

flüchtige Vermittlung für etwas<br />

Suqstantielles hält und einer<br />

metaphysischen Fiktion nachjagt.<br />

gelangt sie nie ans Ziel. Gerade<br />

darin aber ähnelt sie strukturell<br />

der Kapitalbewegung und<br />

sorgt als idealisiertes pädagogisches<br />

Abbild maß- und zielloser<br />

Produktion von Produktivität<br />

dafür, daß alle geistigen Gehalte<br />

die Form von Waren annehmen<br />

und die Menschen gemäß ihrer<br />

ökonomischen Grundbestimmung<br />

-Ware Arbeitskraft- nur<br />

noch als Qualifikationsbündel<br />

herumlaufen. Ansehnliches hat<br />

die Didaktik also geleistet zur<br />

Subsumtion des gesamten Bildungs-<br />

und Wissenschaftsbetriebes<br />

unter das Kapital, zur<br />

Verewigung und immer perfekteren<br />

Organisation von etwas.<br />

als dessen paradigmatischer<br />

Ausdruck sie gelten kann : des<br />

bewußtlosen Taumels der Menschen<br />

durch die Vorgeschichte.<br />

Bestechend ist nicht zuletzt<br />

das sprachliche Niveau des Bu ­<br />

ches, mit dem sich Christoph<br />

Türcke im Sommersemester<br />

1985 am Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />

I Humanwissenschaften<br />

der Gesamthochschule<br />

Kassel habilitiert<br />

hat. Der Autor verzichtet absichtlich<br />

auf das heute gerade in<br />

wissenschaftlichen Arbeiten<br />

übliche und als gelehrt sich aufspreizende<br />

Trivialkauderwelsch<br />

und auch auf jenen .. Zuhälterjargon",<br />

als den Walter Benjamin<br />

die Terminologie der Philosophen<br />

polemisch charakterisierte.<br />

Ihm ist das Kunststück gelungen,<br />

die subtile philosophische<br />

und theologische Materie ohne<br />

Einbuße an theoretischer Konsistenz<br />

und argumentativer<br />

Schärfe in auch für Nicht- Fachleute<br />

verständlicher Form so<br />

darzustellen, daß die Lektüre ein<br />

Vergnügen ist. ln einer Zeit dunkelster<br />

Gegenaufklärung folgt<br />

Christoph Türcke damit dem Imperativ<br />

Nietzsches, die Aufklärung<br />

ins Volk zu treiben und<br />

überführt- ohne daß das explizit<br />

erwähnt wird - den restringierten<br />

Wissenschaftcode positivistischer<br />

und kommunikationstheoretischer<br />

Provenienz seiner<br />

Unwahrheit.<br />

Gerhard Botte<br />

Christoph Türcke : Vermittlung<br />

als Gott. Metaphysische Grillen<br />

und theologische Mucken didaktisierter<br />

Wissenschaft, Dietrich<br />

zu Klampen Verlag, Lüneburg<br />

1986, 136 Seiten.<br />

68<br />

uWhere angels fear tp treadu<br />

Dies ist keine Rezension. Obwohl eine solche dem<br />

Schreiben sicherlich einen Vorteil böte. Denn Rezen~<br />

sionen haben 'nurr Bücher zum Gegenstand und<br />

nicht jene Themen, die in diesen behandelt werden.<br />

Der Vorteil darin liegt auf der Hand: der Rezensent<br />

muß nicht auf der Höhe des Wissens stehen, die der<br />

Autor eingenommen hat. Der Nachteil dabei: einmal<br />

mehr schreibt man über Geschriebenes statt über<br />

die Sachen selbst.<br />

Eine Rezension zu Hans Günter<br />

Halls Essaysammlung 'Das lokkere<br />

und das strenge Denken'<br />

wäre diesem spiegelnden Nominalismus<br />

der Schrift besonders<br />

ausgesetzt, denn sie handelt selber<br />

schon von Geschriebenem,<br />

vom Werk Gregory Batesons<br />

nämlich.<br />

Hall hat ins Deutsche übersetzt.<br />

davor promovierte er über<br />

Adorno und Whitehead. Nicht<br />

zuletzt dieser Hintergrund<br />

macht seine Essays interessant.<br />

Denn ganz unspektakulär (für<br />

manchen vielleicht zu unspektakulär)<br />

öffnen sie Auswege aus<br />

der postmodernen Paralyse. Hol I<br />

liefert nämlich die Skizze einer<br />

Vernunftkritik, die sich von den<br />

Szenarien der kritischen Theorie<br />

oder ihrer französischen Dekonstruktion<br />

unterscheidet. Der entscheidende<br />

Fehler moderner<br />

Vernunft ist für Hall nicht in der<br />

Verdinglichung einersich in Fluß<br />

befindlichen Wirklichkeit oder<br />

im Hochmut sich aufspreizender<br />

Subjektivität zu suchen. Beide<br />

Erscheinungen sind vielmehrdie<br />

Folge eines tiefer liegenden, dabei<br />

wesentlich trivialeren Irrtums:<br />

der Verkennung des Unterschieds<br />

zwischen Abstraktem<br />

und Konkretem. Daherredet<br />

Hall denn auch einer gewissen<br />

Verdinglichung das Wort, wenn<br />

er 'gelungene Abstraktion' als<br />

'Übersteigerung der Realität',<br />

die einen Stillstand bewirkt, versteht.<br />

ln gewisser Nähe zu Walter<br />

Benjamins 'Dialektik im Stilistand'<br />

soll diese Übersteigerung<br />

oder Transzendierung helfen,<br />

Probleme zu lösen oder sie spekulierend<br />

erst einmal zu erkennen.<br />

Die Verkennung des Unterschieds<br />

zwischen Abstraktem<br />

und Konkretem löst dagegen<br />

keine Probleme, sondern schafft<br />

laufend neue - unter anderem<br />

das der Verdinglichung :<br />

..... die Abstraktion des<br />

menschlichen Denkens wird mit<br />

Hi!fe von Instrumenten in die<br />

Dingweit hineingepreßt, und die<br />

ungeheure Energie, die dazu erforderlich<br />

ist, schlägt aus dieser<br />

zurück ... Der Triumph moderner<br />

Technik basiert auf einer<br />

schonungslosen Implantation<br />

des Abstrakten ins Konkrete und<br />

damit auf der Verwandlung von<br />

Konkretem in Abstraktes. Das<br />

Wort 'Naturbeherrschung' trifft<br />

diesen Sachverhalt nicht mehr<br />

ganz; es handelt sich vielmehr<br />

um einen fortgesetzten und sich<br />

steigernden Akt der Destruktion,<br />

der Vergewaltigung."<br />

Im Felde der Philosophie -<br />

denn sie hatte im 17. und 18.<br />

Jahrhundert mit dem Projektder<br />

Aufklärung diese Entwicklung in<br />

Gang gebracht - sieht Hall drei<br />

mögliche Reaktionsweisen auf<br />

die Verkennung der Vernunft :<br />

.. 1. Die Philosophie muß<br />

sich, um der historisch gewordenen<br />

Realität gerecht zu werden,<br />

den mächtigen Standards der instrumentellen<br />

Wissenschaften<br />

angleichen oder gar unterordnen<br />

...<br />

2. Sie ... bezieht sich kritisch<br />

auf ihre eigene Tradition.<br />

3. Die Philosophie wird kosmologisch,<br />

das heißt, sie versucht,<br />

ein übergreifendes Denkmodell<br />

zu entwickeln ...<br />

Die erste Position sieht Hall<br />

am konsequentesten durch Niklas<br />

Luhmann vertreten, in dessen<br />

Systemtheorie 'irgendwie<br />

alles stimmt', doch 'grundfalsch<br />

erscheint', wenn man auf einem<br />

transzendierenden Konzept von<br />

Philosphie beharrt. Die zweite<br />

Variante beginnt für Hall mit<br />

Kant und verzweigt sich heute zu<br />

den verschiedensten Spielarten<br />

von Vernunftkritik, die unter<br />

dem, von niemandem gelittenen,<br />

aber von allen gebrauchten,<br />

Stichwort 'Postmoderne' diskutiert<br />

werden. Was die dritte Variante<br />

angeht- sie wird von den<br />

Anhängern der beiden ersten<br />

abschätzig murmelnd verworfen.<br />

Genügt es doch den Vernunftkritikern,<br />

sich gegenseitig<br />

technokratischer Rationalisierung<br />

oder mystifizierender Nebelwerferei<br />

zu zeihen, da<br />

braucht man sich nicht auch<br />

noch mit jenen New-Age-Philosophen<br />

zu beschäftigen, die<br />

konsequent einen halben Meter<br />

über dem Erdboden schweben.<br />

Nun, auch Hall macht das nicht,<br />

aber in seinen Essays setzt er<br />

sich mitjenem universellen Denker<br />

auseinander- Hol I nennt ihn<br />

einen 'General ist der Lücken'-,<br />

den viele New-Age-Gläubige zu<br />

ihrem geistigen Mentor erkoren<br />

haben- magderdas nungewollt<br />

haben oder auch nicht.<br />

Zu ihm ein paar Worte. Gregory<br />

Bateson wurde 1904 geboren<br />

und trat, was seinen intellektuellen<br />

Werdegang anging, in<br />

die Fußstapfen seines Vaters,<br />

des antidarwinistischen Biologen<br />

William Bateson. Aus dessen<br />

Schatten löste er sich, indem<br />

er die Grenzen der Biologie überschritt<br />

und sich mit Ethnologie,<br />

Anthropologie, Psychologie sowie<br />

Kybernetik und schließlicham<br />

Ende seines Lebens - mit<br />

Ästhetik beschäftigte. Frucht<br />

des letzten Arbeitsfeldes sollte<br />

ein Buch mit dem Titel 'Where<br />

angels fear to tread' werden<br />

(Nicht zu verwechseln mit Mink<br />

de Villes gleichnamiger Schallplatte).<br />

Doch bevor Bateson es<br />

beenden ·konnte, sta"rb er, am<br />

7. Juli 1980, in Esalen, dem wohl<br />

bekanntesten Zen und New­<br />

Age-Zentrum in Kalifornien, am<br />

dem schon Fritz Perls seine Gestalt-Workshops<br />

abgehalten<br />

hatte. Sein letzter Aufenthaltsort<br />

sagt einiges über Batesons<br />

Persönlichkeit aus. Zeitlebens<br />

verband ihn mehr mit den zaghaften<br />

bis versponnenen Ansätzen<br />

sanfter Wissenschaften als<br />

mit der kühl kalkulierenden<br />

Sachlichkeit technokratischen<br />

Denkens oder der entsprechenden<br />

Kälte verzweifelter Resignation.<br />

Andererseits wollte und<br />

konnte er auch nicht in jene<br />

dümmliche Behaglichkeit abgleiten,<br />

die das Eintauchen in die<br />

flachen Wasser eines aufgewärmten<br />

Spiritualismus mit sich<br />

bringt.<br />

Gregory Bateson wird von<br />

Hall als 'Denker des Kontextes'<br />

vorgestellt:<br />

.. Für (Bateson waren) der<br />

Charakter oder die Eigenschaften<br />

nicht als substantielle Qualitäten<br />

von Individuen, sondern<br />

nur als relationale Aspekte eines<br />

bestimmten Kontextes denkbar."<br />

DieseEinstellung von systemtheoretischen<br />

genauso wie<br />

von strukturalistischen oder<br />

kommunikationstheoretischen<br />

Haltungen zu unterscheiden, ist<br />

wichtig für das Veständnis von<br />

Batesons holistisch-kosmologischer<br />

Erkenntnistheorie. Alle<br />

drei Haltungen stehen nach wie


Rezensionen<br />

vor in der Tradition des subjektzentrierten<br />

Denkens, und sei<br />

dies nur, um es zu überwinden<br />

(denn auch der Wunsch zu überwinden<br />

ist noch subjektiver<br />

Wunsch). Sie setzen den Hebel<br />

bei diesem Unternehmen - ganz<br />

mechanisch gedacht - am Gegenstand<br />

der Kritik, dem Denken<br />

des Subjekts, an und nicht schon<br />

bei dem Verhältnis von Abstraktem<br />

und Konkretem. Doch es ist<br />

genau die Verkennung dieses<br />

Verhältnisses, was zu der Vorstellung<br />

des Subjekts als 'denkendem<br />

Ding' allererst führte.<br />

Denken wird spätestens seit<br />

Descartes als- um es mit Holl zu<br />

sagen - substantielle Qualität<br />

von Individuen und nicht mehr<br />

als relationaler Aspekt eines<br />

Kontextes verstanden. Die Definition<br />

des Subjekts, das sich<br />

durchs Denken und durch Vernunft<br />

konstituiert wähnte, geriet<br />

dadurch hoffnungslos selbstbezügl<br />

ich . Die Konsequenzen dieses<br />

Zirkelschlusses bestehen in<br />

der bis heute gültigen Teilung<br />

der W irklichkeit in eine Weit materieller<br />

Körper und eine Sphäre<br />

geistiger 'Ereignisse' - eine Teilung,<br />

die nur im Kopf produziert<br />

wird, die aber dennoch oder ge-<br />

rade deshalb äußerst rea l ist.<br />

Diese Teilung ging schon auf<br />

Platon zurück, doch der cartesische<br />

Dualismus unterschied<br />

sich von platonischen dadurch,<br />

daß er an die Stelle einer holistischen<br />

Teilhabe der Materie an<br />

den Ideen die mechanische Verbindung<br />

von Körper und Geist<br />

setzte. Es war diese Setzung, die<br />

das so überaus erfolgreiche<br />

Konzept der empirischen Wissenschaften<br />

endgültig etablierte.<br />

Diesenwar nichtlängermeditative<br />

Wesensschau das Wichtigste<br />

an menschlicher Erkenntnis,<br />

sondern die Herstellung ei ­<br />

nes technischen Instrumentariums<br />

zur Beherrschbarmachung<br />

der Natur. Heute erleben<br />

wir immer augenfälliger - und<br />

nicht erst seit Tschernobyl -wie<br />

dieses Instrumentarium mit der<br />

ganzen Energie, mit der es in die<br />

Natur ' hineingepreßt' wurde,<br />

'zurückschlägt' : in Gestalt von<br />

ökologischer Zerstörung und<br />

technischen Katastrophen.<br />

Doch die auf Descartes folgende<br />

Ausgrenzung des Geistes<br />

aus der Materie (oder war sie<br />

umgekehrt?), beschränkte sich<br />

nicht nur auf die Naturwissenschaften.<br />

Auch die Geisteswissensehaften<br />

wurden von ihr betroffen,<br />

vielleicht in noch stärkerem<br />

Maße. Wenn keine Teilhabe,<br />

wie noch bei Platon, die Weit<br />

des Geistes und die WeltderMaterie<br />

verbindet, wie hat man sich<br />

deren Verhältnis zu denken?<br />

Kant beantwortet die Frage auf<br />

eine äußerst einfache, aber wie<br />

Holl meint, für seine Nachfolger<br />

' unerträgliche' Weise : er schlug<br />

vor, daß der an seinen Körpergebundene<br />

Mensch so tun solle,<br />

'als ob' ihm der metaphysische<br />

Bereich des Geistes zugänglich<br />

sei, obwohl er ganz genau wisse,<br />

daß er nie zu dessen genauer Erkenntis<br />

gelangen könne. ln dieser<br />

Antwort ist die gleiche Verkennung<br />

zu entdecken wie<br />

schon bei Descartes. Denn Kant<br />

bezeifelt an keinerStelle die<br />

Dualität von Geist und Materie.<br />

Doch er läßt es schulterzuckend<br />

dabei bewenden und beweist<br />

damit, laut Holl, eine spielerischere<br />

Haltung als seine Nachfolger.<br />

Diesen war Kants ' als ob'­<br />

Lösung ein philosphischer<br />

Skandal. Sie versuchten - allen<br />

voran Hegel - von nun an jene<br />

Zerteilung der Wirklichkeit, die<br />

der Preis fürdie Installierung des<br />

Subjekts als 'denkendem Ding'<br />

war, zu überwinden. Es ist der<br />

Diskurs der Moderne, den Kants<br />

philosphischer Skandal nach<br />

sich zog . Nicht nurfür Habermas<br />

dreht sich dieser Diskurs um eine<br />

Vernunftkritik, die die realen Rat<br />

ionalisierungsschübe der gesellschaftlichen<br />

Entwicklung<br />

zum Gegenstand nimmt. Das<br />

Kritikwürdige daran ist, daß die<br />

selbstläufig gewordenen Entwicklung<br />

der Gesellschaft genausowenig<br />

wie der verlassene<br />

Traditionsfundus und der Ideenhimmel<br />

das intensive Bedürfnis<br />

des Subjekts nach Selbstvergew<br />

isserung in Freiheit befriedigen.<br />

Vernunftkrit ik wurde daher<br />

zu einer Gesellschaftskritik, die<br />

auf einem Standort beharrte,<br />

von dem aus die schlechte<br />

gesellschaftliche Wirklichkeit<br />

moralisch integer werden konnte.<br />

Genauso wie die Naturwissenschaften<br />

gingen die Geistesund<br />

Sozialwissenschaften dabei<br />

von der Trennung zwischen<br />

Theorie und Praxis aus. Es war<br />

die theoretische Vernunft, die<br />

sich moralisch integer wähnte<br />

und immer wieder den Irrtum<br />

wiederholte, der sie selbst erst<br />

bilden half: daß Theorie grundsätzlich<br />

in Praxis überführbar<br />

oder Abstraktes 'in Konkretes<br />

implantierbar' ist, wurde zu ihrer<br />

axiomatischen Staatsraison. Es<br />

war Nietzsche, derdieses Axiom<br />

als erster bezweifelte. Doch<br />

nicht nur das, er macht es auch<br />

lächerlich : jede Theorie war ihm<br />

mindestens so kritikwürdig wie<br />

die übelste Praxis. Hier nahm ei ­<br />

ne ldeolgiekritik ihren Anfang,<br />

die ihren Höhepunkt in der kritischen<br />

Theorie finden sollte. Sie<br />

sah die theoretischen und kritischen<br />

Potentiale der Philosophie<br />

selber als Teil der schlechten<br />

Wirklichkeit an und brachte<br />

sich auf paradoxe Weise scheinbar<br />

um den eigenen Standort.<br />

Von dieser sich selbst dementierenden<br />

und strangulierenden<br />

Vernunftkritik ist Batesons<br />

Verbindung von ' lockerem<br />

und strengem Denken' zu unterscheiden,<br />

in der ein kontextuelles<br />

Denken erprobt werden soll,<br />

das die ParadoYie von Vernunftkritik<br />

nicht eleminiert, sondern,<br />

auf eine an die Widersinnigkeit<br />

des Zen erinnernden Weise,<br />

fruchtbar nutzen soll. Mit dem<br />

Begriff des Kontextes unternahm<br />

Bateson den Versuch, das<br />

Verhältnis von Geist und Materie<br />

nicht mehr mechanisch zu denken.<br />

Selbstbezüglichkeit ist nur<br />

möglich durch die Transzendierung<br />

des Kontextes, in dem man<br />

sich gerade befindet. Man<br />

beachte allerdings, daß Bateson<br />

den Begriff des Kontextes über<br />

den menschlichen Selbstbezug<br />

hinaus auf die gesamte Biosphäre<br />

ausdehnte. Diese versuchte er<br />

als 'geistigen Prozess' zu beschreiben<br />

oder- wie ein anderer<br />

Ausdruck lautet - als 'ökologisches<br />

Diskursuniversum'. Man<br />

sehe sich die sechs Kriterien an,<br />

die für Bateson einen geistigen<br />

Prozess kennzeichnen:<br />

1. Er ist ein Aggregat mit<br />

Wechselwirkungen (Diese können<br />

entweder relational oder in<br />

Hinblick auf die wirkenden Teile<br />

beschrieben werden).<br />

2. Wechselwirkungen werden<br />

durch Unterschiede ausgelöst<br />

(Sie können zwischen Gegenständen,<br />

zwischen Relationen<br />

oder zwischen Gegenständen<br />

und Relationen bestehen).<br />

3. Der geistige Prozess besitzt<br />

kollaterale Energ ie (Das bedeutet,<br />

daß z.B. Bewegung nicht<br />

nur mechanisch übertragen wird<br />

- was zu der peinlichen Frage<br />

nach dem ersten Beweger<br />

führt -, sondern daß sie im geistigen<br />

Prozeß auf nicht- mechanische<br />

Weise und dezentral entsteht.<br />

So läuft ein getretener<br />

Hund nicht, weil ihn die Energie<br />

des Tritts in Bewegung setzt.<br />

sondern weil er selbst aktiv<br />

wird).<br />

4 . Der geistige Prozeß ist zirkulär<br />

bestimmt (Das versteht<br />

sich fast von selbst, da Wechselwirkungen<br />

nirgends in Leere laufen,<br />

sondern allenfalls in andere,<br />

69


Leserinbrief<br />

höhere oder niedrigere Kontexte<br />

hineinwirken).<br />

5. Die durch Unterschiede<br />

ausgelösten Wechselwirkungen<br />

werden codiert (Kurz, der geistige<br />

Prozeß besitzt Gedächtnis).<br />

6. Der geistige Prozeß ist<br />

durch die Hierarchie von logischen<br />

Ebenen oder Kontexten<br />

bestimmt (Was auf einer Ebene<br />

nur Element in einem Kontext, ist<br />

auf einer höheren Ebene selber<br />

Kontext und umgekehrt).<br />

Die Biosphäre wird, versteht<br />

man sie als 'geistigen Prozeß'<br />

oder als 'ökologisches Diskursuniversum',<br />

zu einem offenen Zu ­<br />

sammenhang von Kontexten,<br />

der, ins Makroskopische wie ins<br />

Mikroskopische hinein, prinzipiell<br />

unendlich ist. Zwischen den<br />

Kontexten herrscht ein labiles<br />

Fl ießgleichgewicht. in das der<br />

Mensch mittels transzendierender<br />

Abstraktion Einblick erlangen,<br />

in das er aber auch, mittels<br />

instrumenteller Abstraktion,<br />

Technik implantieren kann . Bei -<br />

Leserinbrief<br />

Lieber Jochen,<br />

da auch in eurem Heft ,.<strong>Spur</strong>en"<br />

1 5/ 86 der Mythos grassierend<br />

auftaucht, möchte ich darauf<br />

einmal mit ein paar Gedan ­<br />

ken antworten.<br />

Da ist die Rede von ,.mythischen<br />

Resten", von der .. Wichtigkeit<br />

der Mythen für uns alle",<br />

von .. kleinen Mythen des Privaten",<br />

von Mythen als .. heiliger<br />

Geschichte", und daß .. Die Literatur<br />

beginnt, wo mehrere Mythen<br />

aufeinandertreffen" (Bu ­<br />

tor).<br />

Es scheint sich, im ersten Anlauf,<br />

um eine Vokabel zu handeln,<br />

die genug Ferne und Weiches<br />

besitzt, um den Lücken unseres<br />

Daseins, in der durchformulierten<br />

Gesellschaft, Dimension<br />

zu verleihen, Tiefe, Grund<br />

und Halt im flachen Gewässer<br />

der Gegenwart. Eine Art Freiheit<br />

von uns umstellenden Begriffen;<br />

man fühlt sich umzäunt und entweicht<br />

ins Eigentliche, wo der<br />

Mensch sich noch mit Göttern<br />

unterhielt und nicht mit dem TV,<br />

undsoweiter. Bemerkenswert ist<br />

nur, daß dieser Fischzug nach al ­<br />

ten .. Schätzen" auf altgewohnte<br />

Weise geschieht. Die Denkweise<br />

hat sich gar nicht geändert, es<br />

wird nur nach Alt-Neuem gefischt,<br />

als seis an der Zeit, die<br />

marode Gesellschaft ein bißchen<br />

mit Frischzellen alt-neu-zu<br />

beleben.<br />

Warum ausgerechnet Mythen?<br />

Nicht wahr, das fragt man<br />

sich im turnusmäßigen Rück-<br />

70<br />

des hat Rückwirkungen auf die<br />

in die Biosphäre eingebundenen<br />

Lebenszusammenhänge des<br />

Menschen. Die Selbstbezüglichkeit<br />

von Vernunftkritik sollte<br />

nichts anderes als diese Rückwirkungen<br />

zum Gegenstand haben.<br />

Den kontextuellen Denken<br />

Batesons liegt die Überzeugung<br />

(oder ist es der Glaube?) zugrunde,<br />

daß es ein Muster gibt, das<br />

alle Lebewesen miteinander verbindet.<br />

Dieser wahrhaft holistische<br />

und kosmologische Gedanke<br />

besaß für Bateson die<br />

gleiche Notwendigkeit wie für<br />

manche Physiker eine noch<br />

nicht beobachtete Erscheinung,<br />

die sie in der Theorie schon<br />

' nachgewiesen' hatten. Daß es<br />

ein Muster gibt, dasalle Lebewesen<br />

miteinander verbindet und<br />

daß die Kenntnis und Achtung<br />

dieses Mustersfürdas menschliche<br />

überleben von äußerster<br />

Wichtigkeit sei, machte den<br />

ökologischen Glutkern seines<br />

griff, wenn die Schubladen leer<br />

werden. Gibt es denn wirklich ei ­<br />

ne existentielle dringende Notwendigkeit?<br />

Gibt es wirklich<br />

Trauer? Gibt es denn Sehnsüchte,<br />

die nicht restaurativ sind?<br />

Hier, an dieser Stelle, setzen<br />

meine Einwände, meine Kritik,<br />

meine Bosheit, mein Forschen,<br />

meine Dringlichkeit ein, denn<br />

tatsächlich, ich, Frau, habe eine.<br />

Ich wünsche etwas, und zwar<br />

keine Klagen, keine Larmoyanz,<br />

keine Bitterkeit, sondern<br />

schlichte Klarheit. Mein, Frau,<br />

Zeitalter der Klarheit bricht erst<br />

an, was heißt, daß ich dies zu tun<br />

habe unter Bedingungen, dieder<br />

mythischen Vorzeit unbekannt<br />

waren, nämlich unter den Folgen<br />

des sog. Fortschritts.<br />

Soweit dazu.<br />

Aber nun zu den Mythen. Ich<br />

kann dir (und der Redaktion und<br />

sonstwem) versichern, daß ich,<br />

Frau, mich keineswegs mit irgendwelchen<br />

Mythen identifizieren<br />

kann (und es künftighin<br />

auch nicht werde), weder jenen<br />

der griechischen Tradition noch<br />

den hebräischen (Butor), noch<br />

mit den Märchen und Sagen,<br />

noch, wie bekannt, mit der Geschichte.<br />

Kain, Abel, Gott und<br />

Adam, Theseus, Zeus und die<br />

lange Liste sonstiger Götter und<br />

Halbgötter, Helden und Geister<br />

sind für mich, Frau, ein Material,<br />

das ich gründlich zu befragen<br />

habe.<br />

Mythos also, um auf den<br />

Kern zu kommen, stellt für mich<br />

die göttliche Rückversicherung,<br />

Schutz und Halt jenes lnspirier-<br />

Denkens aus.<br />

Nach der Erfahrung von der<br />

Nichtexistenz Gottes und dem<br />

damit einhergehenden Verlust<br />

metaphysisch bindenderWerte,<br />

die der Menscc im Zeichen der<br />

Aufklärung - zum Wohle seines<br />

Selbstbewußtseins - machen<br />

konnte, zeigt sich in der ökologischen<br />

Zerstörung ein ungeheurer<br />

Mangel an Sinn. Daß Sinnlosigkeit<br />

und Zerstörung letztendlich<br />

Synonyme sind, diese Erfah ­<br />

rung steht, am äußersten Ende<br />

der Aufklärung, noch aus. Sich<br />

der paradoxen Verbindung von<br />

lockerem und strengem Denken<br />

anzunähern, hieße, die Aufklärung<br />

nicht selbstdementierend<br />

verenden zu lassen. Sei es im<br />

funktionalistischen Kalkül technokratischen<br />

Denkens, das jene<br />

Zerstörung auch weiterhin als<br />

Fortschritt feiern w ird und am<br />

liebsten noch die Ge isteswissenschaften<br />

zur Jubelperserei<br />

verdonnerte, oder sei es in der<br />

Wiederkehr von welchem Myten,<br />

Gläubigen, männlich, dar,<br />

der sich in die Lage versetzte,<br />

durch Selbstversenkung, Ekstase,<br />

usw. diesen göttlichen Fun ­<br />

ken zu empfangen, oder andersherum,<br />

ihn zu produzieren. Der<br />

Initiationsakt Empfängnis,<br />

Hingabe an jene/ jenen Übermächtigen<br />

- war/ ist nicht nur<br />

Gewißwerden großer mächtiger<br />

Kräfte, sondern ein Wachrufen,<br />

Hervorrufen eigener Kräfte. Der<br />

Initiant/ Gläubige empfängt se i­<br />

ne - eigenen Kräfte.<br />

Christentum, Buddhismus,<br />

Islam, forsche es nach, enthalten<br />

für Frauen lediglich den Opfergang,<br />

Abwaschen des ihnen zu ­<br />

geteilten Schmutzes, Schmutz<br />

des Geschlechtes, usw. Ihr Bedarf<br />

nach Göttlichen ist nichts<br />

weiter als Reinigung von den ihnen<br />

auferlegten Bürde des<br />

Weiblichen. Ac herrjeh, lies es<br />

nach. (Verzeih, es ist nicht persönlich)<br />

Vom weiblichen Inventar erhobener<br />

weiblicher Figuren<br />

bleibt zwischen der schrecklichen<br />

Nacht und der Jungfrau<br />

Maria ziemlich wenig erfreuliches.<br />

Jetzt mache ich einen gewagten<br />

Sprung; er führt mich<br />

von Longinus über Burke, Kant<br />

zu Schiller und selbstverständlich<br />

direkt in die Gegenwart, in<br />

der nach wie vor scheints die<br />

Zweipoligkeit schwelt und<br />

schwelt, nicht einmal befragt<br />

von Sirnone de Beauvoir, aber<br />

ein seltsames Potential an Restaurativem,<br />

womöglich mehr.<br />

Ich meine das Schöne und<br />

thos auch immer. Eine auf<br />

schöpferischer Vernunft gründende<br />

Aufklärung wüßte um<br />

diese Paradoxie des seiner<br />

selbst gewissen Menschen.<br />

Denn diese Gewißheit beruht<br />

gänzlich auf dem Mangel an aus<br />

sich selbst seiender Existenz.<br />

Fruchtbar wird diese Paradoxie<br />

in jenem kontextuellen Denken,<br />

das wie Adornos ' negative Dialektik'<br />

oder Benjamins 'Dialektik<br />

im Stillstand' einen Glutkern besitzt.<br />

Doch eben keinen theologischen<br />

mehr, sondern einen<br />

ökologischen (obwohl für Bateson<br />

persönlich diese Begriffe<br />

kaum einen Unterschied machten).<br />

in diesem Glutkern leuchtet<br />

die Utopie eines ästhetischen<br />

Zustands auf, derals Konvenienz<br />

bezeichenbar ist. Er ist das Muster,<br />

das alle Lebewesen verbindet.<br />

- in ihm scheuen sogar Engel<br />

sich aufzutreten.<br />

Torsten Meiffert, Harnburg<br />

Erhabene. Aus der Taufe gehoben,<br />

wie gesagt, vor 1700 Jahren<br />

und weiterhin Quelle vieler<br />

schrecklicher Dinge. Profane<br />

Fortsetzung des Mythos, da nun<br />

nicht mehr die Götter herrschen,<br />

sondern die .. erkannte Natur", in<br />

ihrer gewaltigen, überwältigenden<br />

Natur erhaben genannt. Der<br />

alte Mann und das Meer. Wrack<br />

im Eismeer. Mönch am Meer,<br />

ach so vieles. Überwältigende<br />

Massevon Gebirg, von Schlucht,<br />

Gewitter, Meer. Wärs anschaulich,<br />

dürfte man Tschernobyl dazuzählen.<br />

Aber es ist nicht zu sehen,<br />

zu fühlen, zu hören ... Die<br />

Kategorie hat sich ins Vorstellungsvermögen<br />

verkrochen,<br />

scheints.<br />

Aber gilt nicht, von Longinus<br />

bis heute, derselbe lnitiationsritus?<br />

Und das Schöne?<br />

Leicht zu erratende weibliche<br />

Komponente, Harmonie,<br />

mildernd eingeschoben, begütigend<br />

und ideal, nie zu erreichende<br />

Schönheit. Kategorie des<br />

Zwischen. Pause im Weltgeschehen.<br />

Ruhe der Erschöpften.<br />

Die Schönheitslinie von Hogarth<br />

wäre, ohne Zwischenfälle, ins<br />

Unendliche fortzusetzen.<br />

Und zum Schluß eine vage<br />

Erinnerung ans Dritte Reich. Das<br />

Schöne und das Erhabene. Kein<br />

Kommentar.<br />

Liebe Grüße U 'sula<br />

P.S. Ich habe nun wild an<br />

dich geschrieben, aber es meint<br />

dich nicht persönlich. Es ist meine<br />

Antwort aufeine Tendenz und<br />

du bist mein Ansprech.


ln eigener Sache<br />

Bücher von " <strong>Spur</strong>en-Autoren ..<br />

Wie ernst istdas .. Post" der Postmoderne<br />

zu nehmen? Kann, was<br />

sich in Poststrukturalismus<br />

(Derrida, Foucault) und postmodern<br />

.. neuer" Philosophie (Lyotard,<br />

Baudrillard) geltend macht,<br />

tatsächlich praktische politische<br />

Gültigkeit beanspruchen?<br />

ln seinem Essay nimmt Raulet<br />

die Herausforderung der<br />

neuen französischen Denkbewegung<br />

an - insbesondere ihre<br />

Absage an die moderne Selbstbehauptung<br />

der Vernunft- und<br />

konfrontiert sie mit den kritischen<br />

Theorien der Moderne,<br />

wie sie von Bloch, Benjamin,<br />

Adorno und Horkheimer und zuletzt<br />

Habermas entwickelt wurden.<br />

Damit wird eine fruchtbare<br />

deutsch-französiche Debatte<br />

eröffnet. Wesentlich dafür ist<br />

Raulets Verfahren, die postmodernen<br />

Fragestellungen aufzugreifen<br />

und diese auf Berührungen<br />

mit den kritischen Positionen<br />

vor allem Adornos, Benjamins<br />

und Blochs zu befragen.<br />

Waren die von ihnen vorgenommenen<br />

,. Differenzierungen im<br />

Begriff Fortschritt" radikal genug,<br />

um die forcierte, vor allem<br />

kommuni kationstechnische<br />

Entwicklung seither und deren<br />

soziokulturelle Folgen zu parieren?<br />

Oder ist den Autoren der<br />

Postmoderne recht zu geben,<br />

die vom endgültigen Zerfall ei ­<br />

nes konsistenten Wirklichkeitsbegriffs,<br />

damit aller verbindlichen<br />

Sinnstrukturen und praktischen<br />

Perspektiven ausgehen?<br />

Die uns auf Nietzsche und sein<br />

erhabenenes Ja zum Zerfall der<br />

Moderne verweisen und Marx zu<br />

den Akten legen?<br />

Raulet zeigt, daß derlei Absagen<br />

zumindest diagnostischen<br />

Wert besitzen, daß sie unsere<br />

Einsichten in die ,.Dialektik<br />

der Aufklärung" aktualisieren<br />

und daß man ihnen mit einer<br />

,. Philosophie dtr symbolischen<br />

Formen", wie sie bei Bloch und<br />

Benjamin vorformuliert sind, begegnen<br />

kann - auch im politisch-praktischen<br />

Interesse.<br />

Gerard Raufet, Gehemmte Zukunft,<br />

Luchterhand-Verlag<br />

1986, 258 S.<br />

Nach seinen Sachbüchern ,.Jungen<br />

in schlechter Gesellschaft"<br />

(1981 ), .. Propaganda für Klaus<br />

Mann" ( 1981 ). ..Gennariello<br />

könnte ein Mädchen sein. Essays<br />

über Pasolini" (1983) und manchem<br />

anderen hat Friedrich<br />

Kröhnke in diesem Frühjahr sei ­<br />

nen ersten größeren belletristischen<br />

Text vorgelegt: den .. Ratten-Roman".<br />

Auf dem Klappentext<br />

heißt es : ,. Friedrich Kröhnke<br />

erzählt von kleinen Nagern, d ie<br />

in den letzten Jahren von allen<br />

Seiten in unser Bewußtsein huschen-<br />

einem Mann, der an se i­<br />

ne Leidenschaft für schöne Kna ­<br />

ben brüchige Ideologien knüpft<br />

- einer Frau, die sich von ihm,<br />

weil sie ihn mag, ausnützen läßt<br />

- einem blonden Engel namens<br />

Ratte - einem fettarsehigen<br />

Stofftier - Günter Grass- dem<br />

Jahr 1984- einem' Plädoyervor<br />

dem Rat der Stadt Hameln' -<br />

Rattenfänger-Feierlichkeiten -<br />

Trunk und Ernüchterung eines<br />

pädagogischen Erotikers, der<br />

keiner mehr sein will - 'modernen<br />

Zeiten'. "<br />

Friedrich Kröhnke : Ratten-Roman.<br />

Verlag rosa Winkel Berlin<br />

1986.<br />

Errata<br />

Leider ist uns in dem Beitrag von<br />

Rainer Rother ,. Film - Produkt ­<br />

Werbung" ein Grund zum Mittel<br />

geworden. Auf Seite 61 , rechte<br />

Spalte, erste Zeile muß es<br />

heißen : ... .. weil Gleichrangigkeit<br />

mit einem schlechten Film ja<br />

kein Genußgrundwäre." Wir bitten,<br />

den sinneswandelnden<br />

Satzfehler zu entschuldigen. Au ­<br />

ßerdem möchten wir - auf Bitte<br />

von Herrn Rother - darauf hinweisen,<br />

daß die Zwischenüberschriften<br />

nicht von ihm, sondern<br />

von der Redaktion stammen. -<br />

Red .


Hans-Joachim Lenger über Denkpnue!'.!'.e der Führung 1 Friedrich Kröhnke über Patrick<br />

Susanne Klippel über Foreign Affair!'.<br />

Vilcm Flusser über das Mittelmeer I Fricdhclm I ,()venich über Robinson<br />

Heinrich Kupffer über Ästhetik und Ma!-.!'.enkultur Hans-Dietrich Bahr über den Gast<br />

Eberhard Sens zur Umweltdiskussion · Joachim Koch über die Poetik des Dutte!'.<br />

Dietrich Kuhlbrodt über Sorgen der Kulturherrschaft/ Arno Münster<br />

über Jacques Derrida/ Fotoserie von Silke Grossmann/ 9 Seiten Rezensionen

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