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Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Der Gast und die Masse<br />

auf eigentlich mediterrane Vorbilder stützte.<br />

Diese seltsame Kulturstruktur ist nicht,<br />

wie in Nordamerika, von einer bewußt utopischen<br />

Idee gestützt, sondern sie wuchs<br />

organisch. Und sie kommt erst jüngst, und<br />

sekundär, in den Sog der Vereinigten Staaten.<br />

Es mag, im 19. Jahrhundert, eine verschwommene<br />

Vorstellung von der zu errichtenden<br />

künftigen Kultur als einer Synthese<br />

des Mittelmeers mit Kulturen von<br />

Schwarzen und Indianern gegeben haben.<br />

Der sogenannten "drei traurigen Rassen",<br />

nämlich Portugiesen, Indianern und<br />

Schwarzen. Diese Vorstellung ist nicht<br />

mehr haltbar. Was sich nämlich gegenwärtig<br />

in Brasilien als fur das Mittelmeer unverdaubar<br />

erweist, sind die ostasiatischen Elemente.<br />

Vom Standpunktjapansund Chinas<br />

gesehen, ist nämlich Brasilien ein riesiges<br />

Land, das seine spärliche Bevölkerung von<br />

kaum hundertfunfZig Millionen nicht anständig<br />

ernähren kann und das darum die<br />

selbstverständliche Gelegenheit fur ein Reservoir<br />

des eigenen Bevölkerungsüberschusses<br />

bietet. Dabei betrachtet die ostasiatische<br />

Kultur die in Brasilien mühselig<br />

herrschende in einem ähnlichen Geist wie<br />

jenem, der einst die Mittelmeerkultur angesichts<br />

aller anderen charakterisierte. Wir<br />

sind in Brasilien Zeugen eines ziemlich bewußten<br />

und strategisch unterbauten Vorstoßes<br />

Ostasiens gegen das Mittelmeer,<br />

wobei Japan vorläufig noch den Vorposten<br />

Chinas bildet. Ziemlich bewußt und strategisch<br />

unterbaut seitens Japan, nicht seitens<br />

der brasilianischen Gesellschaft.<br />

Der Zusammenstoß zwischen der Mittelmeerkultur<br />

und jener Ostasiens, des<br />

Christentums und jener fur uns nicht ganz<br />

durchblickbaren Synthese von Konfuzianismus,<br />

Buddhismus und uralten Grunderlebnissen<br />

geht selbstredend in klarem Licht<br />

in Kalifornien vor sich. Dort wird die unmittelbare<br />

Zukunft alles dessen, was wir die<br />

Werte des Mittelmeeres nennen, entschieden.<br />

Aber was sich in Brasilien abspielt ist,<br />

weil unbewußter und marginaler, noch<br />

weit entscheidender: dort wird die weitere,<br />

die unabsehbare Zukunft entschieden.<br />

Sollte nämlich in Kalifornien (und in Japan)<br />

16<br />

die pragmatisch-technische Seite des Mittelmeeres<br />

die fernöstlichen Kultureme in<br />

sich verdauen, aber zugleich in Brasilien die<br />

Gesellschaft, von ihr selbst unbemerkt,<br />

nach dem Fernen Osten abgleiten, dann ist<br />

auf weite Sicht mit einer Orientalisierung<br />

des Westens überhaupt zu rechnen.<br />

Brasilien ist die "letzte Blüte Laziens",<br />

nicht nur weil sie die jüngste ist, sondern vor<br />

allem, weil sie auf dem äußersten Zweig<br />

blüht. Dort ist das Mittelmeer (so wie ich es<br />

hier verstehe) fur die gegenwärtige Dialektik<br />

gegenüber dem Fernen Osten am weitesten<br />

offen. Dort ist es am gebräuchlichsten,<br />

und auch am plastischsten. Wenn gegenwärtig<br />

das Stadtbild S. Paulos von Kanjis<br />

übersät ist, wenn japanische Studenten dort<br />

an allen Fakultäten die ersten Plätze besetzen<br />

und wenn dort der Sprung aus Palaeoindustrie<br />

direkt in japanische Miniaturisation<br />

und Komputation geleistet wird, so<br />

ist dies ein Zeichen fur die Schlagkraft der<br />

orientalischen Kultureme im Kontext des<br />

mühseligen Übergangs aus der Industrie- in<br />

die Informationsgesellschaft. Sollte es diesen<br />

Kulturemen in Brasilien gelingen, die<br />

Mittelmeerkultur aufZusaugen und dadurch<br />

eine erfolgreiche neue Gesellschaft<br />

zu bilden, dann wird dieser Prozeß weitergehen,<br />

bis er das Zentrum, das Mittelmeer<br />

im geographischen Sinn, sich einverleibt<br />

hat.<br />

Von einer Distanz ist selbstredend<br />

nichts gegen eine Orientalisierung des Mittelmeers<br />

einzuwenden. Es ist ein objektiver<br />

Unsinn, von einer "gelben Gefahr" zu sprechen.<br />

Aber es gibt Leute (und ich glaube,<br />

die meisten von uns zählen zu ihnen), die<br />

sich, aus guten und weniger guten Gründen,<br />

am Erhalten der Mittelmeerwerte engagieren.<br />

Diese Leute sollten sich der Vorgänge<br />

in Brasilien bewußt sein. Darum halte<br />

ich ein Gespräch zwischen Brasilien und<br />

dem Mittelmeer fur unerläßlich, auch und<br />

vor allem in Veranstaltungen wie der unseren.<br />

Ich habe versucht, Ihnen einen Blick auf<br />

drei Grenzzonen des Mittelmeers zu bieten.<br />

Es gibt selbstredend auch andere, die<br />

zu bedenken wären. Ich habe die drei besprochenen<br />

gewählt, weil sie in meinem eigenen<br />

Bewußtsein verlaufen. Aber ich halte<br />

es fur unmöglich, die Frage des Mittelmeers,<br />

und sei es nur jene der Achse<br />

"Frankreich/Süditalien", gebührend ins<br />

Auge zu fassen, ohne dabei die Grenzzonen<br />

in Rechnung zu stellen. Das Mittelmeer<br />

erhebt Anspruch auf Allgemeingültigkeit,<br />

und wenn es diesen Anspruch au f­<br />

gibt, dann ist es nicht mehr der Mühe wert,­<br />

sich über das Mittelmeer den Kopf zu zerbrechen.

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