Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Rezensionen<br />
zum betretenen Schwelgen<br />
bringt, der nicht in eine noch für<br />
erzählbar gehaltene Realität<br />
führt, sondern in ihr Schwundsyndrom<br />
auf Zeichenebene, in<br />
die destillierte Sphäre des ehemals<br />
referentiell geglaubten Systems,<br />
das Reich der Sätze,<br />
Schöner Antonio<br />
Wortkombinationen, Wörter<br />
und Buchstaben, eben in den<br />
.. qwertzen Zustand der<br />
Sprache" : das Hoheitsgebiet<br />
von QWERTZ.<br />
Was Roggenbuck auf den<br />
qwertzen Begriff brachte, wird<br />
die Dvorak-Tastatur natürlich<br />
weder ersetzen noch gar aus der<br />
Welt schaffen können; und das<br />
zumindest wird uns über den<br />
Verlust einer bislang unantastbar<br />
scheinenden Realie hinweghelfen,<br />
deren Poesie gewordenes<br />
Zeichen, dank Roggenbuck,<br />
bleibt. Aber wenn man beim<br />
(Wieder-)Lesen des .. Nämlichkeitsnachweises",<br />
was zu empfehlen<br />
hier nicht unversucht<br />
geblieben sein sollte, über einer<br />
Passage innehält, die eine<br />
Hauptfigur namens Sonny<br />
Grützmacher typisiert, so wird<br />
es fürderhin kaum vermeidbar<br />
sein, auch August Dvoraks und<br />
seiner Tastenfeld-lnnovation zu<br />
gedenken : .. So ein Mensch also<br />
liegt da auf dem Sofa -, sprechen<br />
wir es aus: die QWERTZ-heit<br />
oben links im Kopf-, ja bereit, um<br />
einen Gedanken die Welt zu verbiegen.<br />
So einer. "<br />
Woutertje Pieterse, Wallenhorst<br />
" Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung<br />
des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf<br />
die Spitze treiben," schrieb Walter Benjamin 1936 in<br />
dem berühmt gewordenen Essay "Der Erzähler", und<br />
ein beeindruckendes Zeugnis für seine These ist der<br />
Roman "SchönerAntonio" von Vitaliane Brancati,<br />
der zuerst 1949 erschien. Das Inkommensurable in<br />
diesem Roman ist der Kontrast zwischen der fast<br />
überirdischen Schönheit des Helden Antonio Magnano<br />
und einem Gebrechen, das sich dem Leser,<br />
der Schlimmes ahnt, in seiner vollen Tragweite erst<br />
am Schluß des Romans offenbart : Antonio -wir erfahren<br />
von ihm meistens wie von einem Sorgenkinde<br />
nur den Vornamen - ist impotent.<br />
Nun muß man wissen, daß der<br />
Roman in den Jahren zwischen<br />
1930 und 1943 in Italien spieltin<br />
der Zeit des italienischen Faschismus<br />
also- und zwar hauptsächlich<br />
in Catania auf Sizilien,<br />
die eigentliche Heimat auch<br />
Brancatis. lm Mittelpunktdes Interesses<br />
aller Helden des Ro·<br />
mans stehen die Frauen und das<br />
Überleben unterm Faschismus,<br />
zuweilen auch die Karriere unter<br />
den Fittichen des Duce. Auch<br />
Antonio hat glänzende Aussichten.<br />
Während er in Rom weilt, so<br />
jedenfalls will es das Gerücht,<br />
hat er die tollsten Affairen mit<br />
den einflußreichsten Damen der<br />
Stadt und setzt allen wichtigen<br />
Männern Hörner auf. Richtig ist<br />
jedenfalls, daßsich die hübschesten<br />
Mädchen bei ihm die Klinke<br />
in die Hand geben, während Antonio<br />
auf den Moment wartet,<br />
wo er über Beziehungen zu ei <br />
nem Ministerposten gelangen<br />
kann, und unterdessen faulenzt<br />
und mit seinem Pudel schmust.<br />
Aber inzwischen wird ihm sein<br />
Glück schon daheim bereitet:<br />
der Frauenheld soll heiraten, und<br />
62<br />
zwar die Tochter des angesehenen<br />
Notars Puglisi, Barbara.<br />
DerTag der Hochzeit, die mit<br />
großem Pomp vollzogen wird,<br />
wird auch zum Tag des Abschiedes<br />
für die schönen und häßlichen<br />
Töchter der Stadt: denn alle<br />
haben sie sich verzehrtvor Liebe<br />
nach Antonio, sich bereits<br />
wegen dem Knaben das Gesicht<br />
zerrissen, von ihm geträumt und<br />
dem Beichtvater erzählt, so daß<br />
dieser in einer denkwürdigen<br />
Szene am Anfang des Romans<br />
die Schönheit Antonios vor den<br />
Ohren der besorgten Mütterverflucht<br />
: Gott solle ihn bald zu sich<br />
nehmen oder zumindest unschädlich<br />
machen.<br />
Und auf ganz schauerliche<br />
und zugleich prosaische Weise<br />
erfüllt sich dieser Fluch denn<br />
auch. Die unschuldige Barbara<br />
muß erst durch ein Dienstmädchen<br />
die Wahrheit über einige<br />
wesentliche Einzelheiten zwischen<br />
Mann und Frau erfahren,<br />
um zu merken, daß der Mann,<br />
den sie geheiratet hat, ein Mann<br />
eigentlich nicht ist. Das<br />
Schreckliche nimmt seinen<br />
Lauf : die Ehe wird, da nicht vollzogen,<br />
mit Hilfe der Kircheannuliert,<br />
der feiste und steinreiche<br />
Herzog von Bronte bekommt die<br />
nun nicht mehr unschuldige Barbara,<br />
die ihn standesgemäß mit<br />
dem Kutscher betrügt, Antonio,<br />
ungläubig, unglücklich wird zum<br />
Gespött von ganz Catania, und<br />
seinen stolzen Vater trifft fast<br />
der Schlag.<br />
Denn der alte Herr ist ein<br />
Mann, wie er sein soll, erzählt<br />
aus lauter Elend seiner Frau all<br />
die Jugendsünden, die er begangen<br />
hat - verbunden mit einer<br />
Anzahl unehelicher Kinder, die<br />
er sein nennen kann - und geht<br />
demonstrativ während eines<br />
Luftangriffs der Amerikaner auf<br />
Sizilien zu einer Hure, um dort<br />
seinen Tod mit ihr in den Trümmern<br />
des Hauses zu finden.<br />
Die Töchter der Stadt aber<br />
wittern ihre Chance : sie lachen<br />
nicht, wie die Männer, über den<br />
armen Antonio, sondern wollen<br />
ihn erlösen. Heiße, schamlose,<br />
beschwörende, bittende, entsagungsvolle<br />
und naive Briefe stapeln<br />
sich auf dem Schreibtisch<br />
des Verzweifelten, der schließlich<br />
seinem Onkel, Ermenegildo,<br />
der sich seiner annimmt, um mit<br />
seiner langjährigen Erfahrung<br />
den in Liebesdingen Untauglichen<br />
zu kurieren, die Geschichte<br />
seines Versagens erzählt. Allzu<br />
große Verehrung der Frau -vor<br />
allem einer bestimmten, eines<br />
schönen deutschen Mädchenshaben<br />
zu Antonios Unglück geführt.<br />
Vielleicht, daß auch die eigene<br />
fast überirdische Schönheit,<br />
die im Unglück noch strahlender<br />
wird, nun umgekehrt<br />
auch nicht duldet, daß eine Frau<br />
ihr Geheimnis auflöst. Zunächst<br />
haben wir es mit jener Idealisierung<br />
und donquichotesken Verkennung<br />
der Frau zu tun, die im<br />
Gespräch Antonios mit dem gewieften<br />
Ermenegildo, der saftige<br />
Kommentare gibt, nur umso<br />
deutlicher zum Vorschein<br />
kommt.<br />
All dies vollzieht sich nun im<br />
Rahmen einer realistischen Geschichte,<br />
die ein genaues Portrait<br />
der sizilianischen Stadt und<br />
vieler ihrer Existenzen gibt, mit<br />
dem Duce im Hintergrund und<br />
einem Reigen von Fasch isten,<br />
Mitläufern, Antifaschisten und<br />
solchen, die das Lager wechseln.<br />
Intrigen, Klatsch, klerikale<br />
Macht, Feste im örtlichen Bordell,<br />
Treffen der Antifaschisten<br />
und inmitten der arme Antonio,<br />
der in allem immer nur Anspielungen<br />
auf die Sphäre seines<br />
Scheiterns vernimmt: .. Auch<br />
Antonio begann den Reden dieser<br />
Männer (der Antifaschisten,<br />
M.H.) zu lauschen, die kein einziges<br />
Mal, auch nichtflüchtig oder<br />
zufällig, sich mit den Frauen beschäftigten.<br />
Anfänglich beruhigte<br />
ihn das, dann aber trieb es<br />
ihm jene Erregung und Verärgerung<br />
ins Blut, die die Worte Freiheit,<br />
Fortschritt, Würde, Wahrheit,<br />
Gewissen usw. immer in<br />
ihm wachriefen. Denn sie stell <br />
ten das Gegenteil von jenen anderen<br />
Worten dar, die so unerträglich<br />
auf seinem Leben lasteten<br />
: Heiraten, Ungültigkeitserklärung,<br />
Hochzeitsnacht. sie,<br />
sich ausziehen, Bett, es können,<br />
versuchen, Fiasko usw."<br />
Der Roman endet tragisch,<br />
nichts kann Antonio retten, niemand<br />
ihm helfen, auch den Duce<br />
rettet keiner mehr. Antonio lebt<br />
so hin. Zunächst ist der Roman<br />
eine eindrucksvolle Darstellung<br />
des .. gallismo", des Männlichkeitswahns<br />
der italienischen<br />
Männer (und Frauen), der sich in<br />
einem gewissen Maße auch im<br />
Faschismus verkörpert, in der<br />
Person des Duce, wie in der ganzen<br />
Ideologie, und der sich gerade<br />
in seinen Opfern, wie Antonio<br />
es ist, umso härter manifestiert.<br />
Zugleich ist der für alles politische<br />
Geschehen um ihn herum<br />
völlig blind, einzig beschäftigt<br />
mit seiner Impotenz, so wie auch<br />
die anderen Männer zumeist nur<br />
damit beschäftigt sind, von ihren<br />
Erfolgen zu prahlen oder sie -<br />
falls es Erfolge sind -gerade zu<br />
haben.<br />
Über diese Parabel vom<br />
Wahn der Männlichkeit und der<br />
Idealisierung der Frau (vor allem<br />
in katholischen Ländern) hinaus,<br />
ist der Roman auch eine Parabel<br />
von der Impotenz der Kunst an <br />
gesichts des brutalen politischen<br />
Geschehens, das sich in<br />
der Geschichte vollzogen hat.<br />
Das romantische Bild des überirdisch<br />
schönen Knaben oder jungen<br />
Mannes- man kennt es von<br />
Platon, Mann, auch anders akzentuiert,<br />
von Koeppen -, auf<br />
dessen Schönheit ein Fluch waltet<br />
- hier psychologisch plausibilisiert<br />
als Impotenz - ist ein<br />
Bild für die Lockung der Kunst<br />
selbst, der Schwäche und Lebensuntüchtigkeit,<br />
die in ihrem<br />
Reich, zumindest zu Zeiten,<br />
herrscht.<br />
Der Roman ist so realistisch<br />
wie romantisch.<br />
Martin Hielscher, Harnburg<br />
Vitaliano Brancati: Schöner Antonio.<br />
Roman. Aus dem Italienischen<br />
von Arianna Giachi. Mit<br />
Zeichnungen von Hans Hilimann.<br />
Band VII der Anderen Bibliothek,<br />
Verlag Greno, Nördlingen,<br />
333 S.