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Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Der Gast und die Masse<br />

Hans-Dieter Bahr<br />

Xenia<br />

oder der ephemere Aufenthalt<br />

Identität als Verfehlung<br />

Es mag veiWUndern, von der Philosophie<br />

her ein Thema angehen zu wollen, das in<br />

ihr keinen Ort zu haben scheint, nicht einmal<br />

über den Umweg oder im Nachklang<br />

einer mythischen Metaphorik. (Man denke<br />

an Davids Hoffuung oder an Ciceros<br />

Melancholie, nur ein Gast auf dieser Erde,<br />

einer Herberge, zu sein.) Man wird also auf<br />

die Sozialgeschichte und ihre Wissenschaften<br />

verweisen wollen, gleichwohl dabei auf<br />

das Erstaunliche treffen, daß gerade diese<br />

sich nie des Themas angenommen haben.<br />

Und wäre nicht zu vermuten, daß sie es auf<br />

ihre Weise gar nicht konnten?- Nicht, daß<br />

die Erscheinung des Gastes nicht befragt<br />

wurde, stellt das Problem dar, sondern daß<br />

die Art seiner Brfragung, - sei sie ethnologisch,<br />

rechtlich, soziologisch, - zu Identz~<br />

tiitsaussagen über ihn gelangen wird, die seine<br />

Erscheinung wesentlich verfehlen. So<br />

werden die ausgrenzenden Urteile über<br />

den Gast zwar zum Ort seines Schutzes, wo<br />

er aber auch vieldeutig und unkenntlich<br />

bleibt:<br />

Er ist weder nur Fremder noch Einheimischer,<br />

nicht nur der Reisende im Unterschied<br />

zum Ansässigen oder der Unbekannte<br />

im Unterschied zum Bekannten.<br />

Fremden Gesetzen unterworfen kann er als<br />

"Knecht" gelten, den doch die Gastfreundschaft<br />

zum "Herrn" erhebt (Abraham,<br />

Odysseus). In ihm kann ein Freund oder<br />

Feind vermutet, er kann zum Vertrauten<br />

oder zum Verräter werden. Er ist weder<br />

durch Besitz noch durch Besitzlosigkeit zu<br />

definieren, weder durch Rechte noch<br />

durch Rechtlosigkeit, und sein Incognito<br />

oder sein Schicksal vermögen selbst seine<br />

Standeszugehörigkeit und seinen amen<br />

auszulöschen.<br />

Aber der Gast ist nicht wegen einer Armut<br />

an möglichen Bestimmungen unidentifizierbar;<br />

seine versuchte Identifizierung<br />

verHingt sich vielmehr im Netz der endlosen<br />

Geschichten, die er berichtet oder die<br />

über ihn erzählt werden, und in diesen kann<br />

der ungebetene Gast ebenso in den eingeladenen,<br />

der erwartete in den unheimlichen,<br />

der steinerne in den engelhaften Gast<br />

wechseln. Indem der Gast die sozialen Zu-<br />

Schreibungen und Rollen wie einen weiten<br />

Mantel über sich hängt, bewegt er sich immer<br />

schon in den Spielregeln des Anschlusses<br />

und der Zugehörigkeit, in welchen er<br />

aber zugleich jenen rätselhaften Status bezieht,<br />

den die Philosophie der euzeit dem<br />

"Subjekt" im Sinne des ego alter ego zuzuweisen<br />

suchte. Aber der Gast ist auch nicht<br />

durch die Formen einer inneren, reflektierten<br />

Austauschbarkeil bestimmbar, welche<br />

im Gestus einer Zurückhaltung seines Begehrens<br />

und im partiellen Abbruch wechselseitiger<br />

Ersetzungen seine E~enh ezikon ­<br />

stituieren. Ohnehin ist das kodifizierte, äußerlich<br />

binäre Verhältnis von Gast-Wirtein<br />

spätes geschichtliches Resultat, sowohl in<br />

sozio-ökonomischer wie vertragsrechtlicher<br />

Hinsicht. Das Opfer, Gabe und Gegengabe,<br />

der Austausch der Geschenke,<br />

die ewigen Begleichungen einer Schuld gehen<br />

in diesem Verhältnis voraus und verweisen,<br />

zumindest im europäischen Raum<br />

der Antike, auf eine Austauschbarkeit des<br />

"Gastes" (xenos, hospes) als ebenso Gebender<br />

wie Nehmender. Aber im Moment der<br />

Wende bildet er "selbst" die Schwelle zwischen<br />

dem Sakralen und dem Profanen,<br />

unentscheidbar zumeist, ob als ein Elender<br />

oder als ein Gott. Daher blieb die Gastlichkeit<br />

stets die Sphäre, an deren Rändern man<br />

auf das Auftauchen von Botschaften lauerte,<br />

die Klarheit und Erkenntlichkeit bringen<br />

sollten und doch mit diesen Identifizierungen<br />

eben den Gast zum Verschwinden<br />

bringen. Noch Chrysostomos warnte, frage<br />

nie einen Gast, woher kommst du, wie<br />

heißt du, wohin gehst du. Und mache Völker<br />

gewährten den Ankömmlingen exzessivste<br />

Gastfreundschaft, Fest der Begrüßung,<br />

der Bewirtung, Beherbergung und<br />

Beschenkung, die keinen Tausch und kein<br />

Abkommen einleiteten, sondern sich als<br />

Darstellungsweisen über- bieten sollten. Indem<br />

sie sich weigerten, Gegengaben der<br />

Gäste anzunehmen, - nicht einmal in der<br />

Form, sich das Erlebte des Anderen erzählen<br />

zu lassen und sie danach auszufragen, ­<br />

suchten sie die Gesetze des Tausches zu suspendieren,<br />

als existiere der Gast nur in der<br />

Paradoxie seiner "Undankbarkeit", Schuldlosigkeit.<br />

Es geht um nichts als um die Be-<br />

gegnung selbst, die sich inszeniert, um ein<br />

Ent-gegen-kommen, worin die Opposition<br />

des Auseinander und Ineinander, des<br />

Gegeneinander oder Miteinander unterlaufen<br />

werden durch ein sich geledendes<br />

Beiet'nander: der Gast als eine <strong>Spur</strong> unterhalb<br />

oder quer zu den Weisen des Gebens<br />

und Nehmens.<br />

Von dieser extremen Gastlichkeit aus,<br />

die ein Wissen von sich jenseits der Oppositionen<br />

darzustellen sucht, ließe sich die Frage<br />

nach der "Subjektivität" vielleicht anders<br />

wiederholen. Liegt nicht dem abendländischen<br />

Entwurf ihrer "Identität" die verdrängte<br />

Bestimmung einer Ntihe voraus,<br />

die vor der Zertrennung der Unterschiede<br />

in Verschiedenheit und Einerleiheit besteht?<br />

Wobei hier einander nahe sein kann,<br />

was als Meßbares fern liegt,- wie im Begriff<br />

der Folge immer schon angesprochen war;<br />

oder umgekehrt einander fern bleibt, was<br />

meßbar nahe liegt- wie der Begriff des einander<br />

Fremdgewordenseins anzeigt. Die ä­<br />

he der Gäste ist ein "Bei sich als einem Anderen<br />

set'n ': wobei das "Als" nicht Partikel einer<br />

Rückkehr und Spiegelung ist, die immer<br />

nur durch eine Unterwerfung und Beugung<br />

(Reflexion) erreicht werden kann.<br />

"Als" meint hier das "Also" der Folge, und<br />

die Folge zeigt die "Einfaltigkeit" des Subjekts<br />

vielmehr als eine im Zeitstau aufgeworfenen<br />

Vielfaltigkeit, die es nicht zum<br />

Zerfall in bloße, beliebige Pluralitäten kommen<br />

läßt.<br />

In der einfachen Reflexionsbestimmung<br />

des Ich als "in sich seiend mit sich<br />

identisch" klingt die gastliche ähe des<br />

Entgegenkommens noch an ("Mitsein")<br />

und. wird zugleich vertrieben (",nsichsein"<br />

als Aussetzung des Außen). In der Leugnung<br />

und Verdrängung des Gastes konstituiert<br />

sich Identität als der reine, sich selbst<br />

seiende Unterschied überhaupt oder als die<br />

absolute Vereinzelung des Subjekts als Ich.<br />

Von dieser Vereinzelung her, in seiner sozialen<br />

Konstituierung als In-dividuum, verliefen<br />

die abendländischen Strategien der<br />

Vergesellschtifiung als die je besonderen Einheiten<br />

der Vielen gegen die Andersheit vieler<br />

Anderer. Und darin ist die Geschichte<br />

der Gewalt des Zusammenhangs als<br />

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