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Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg

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Der Gast und die Masse<br />

verpufft die Wirkung, und die Vorfälle werden<br />

ebenso austauschbar wie die agierenden<br />

Figuren.<br />

Verweigerung zeigt sich dort, wo die<br />

Ästhetik eines herrschenden Systems aufgebrochen<br />

wird. Umgekehrt sind totalitäre<br />

Systeme darauf bedacht, ~ine in sich geschlossene,<br />

umgreifende Asthetik zu bieten,<br />

in der jedermann eine optisch und akustisch<br />

aufbereitete emotionale Heimat finden<br />

kann. So hat der Nationalsozialismus<br />

durch seine sinnlich wirksame Propaganda<br />

einen ästhetischen Zusammenhang geschaffen,<br />

der eine homogene, nicht von Widersprüchen<br />

und unterschiedlichen Interessen<br />

zerrissene Gesellschaft vortäuschte<br />

und mit seiner Ästhetik der totalen Volksgemeinschaft<br />

alle Gruppen umschloß.<br />

Auch die politische Zielsetzungwar letzten<br />

Endes ästhetisch, nicht sachlich aus einem<br />

greifbaren Interesse heraus begründet:<br />

Ließ sich die Welt nicht als ganze erobern,<br />

dann sollte sie als ganze untergehen.<br />

In diesem ästhetischen Klima konnten<br />

sich gerade auch prominente Künstler und<br />

Schriftsteller dem Regime in die Arme werfen.<br />

Ästhetik wurde angewendet wie eine<br />

Droge, die eine direkte Problemlösung anbot<br />

und es nahelegte, vor der politischen<br />

Realität die Augen zu schließen. Das auf<br />

Ästhetik angelegte System und der ästhetisch<br />

existierende Künstler konnten sich<br />

aufeinander beziehen: die Ästhetik des Systems<br />

schien dem Künstler über alle politischen<br />

Bedenken hinweg ein genuines Tätigkeitsfeld<br />

zu eröffuen; und er selber konnte<br />

sich die Totalität der Volksgemeinschaft<br />

ästhetisch zunutze machen: "Für mich existiert<br />

das Volk erst in dem Moment, wo es<br />

Publikum wird." (Richard Strauss)<br />

4. Kritisches Potential<br />

in künstlerischer Kreativität<br />

Damit sind wir bei der dritten möglichen<br />

Form des Kampfes gegen die Austauschbarkeit<br />

des modernen Menschen. Wo<br />

Künstler glauben, die Kunst könne in totalem<br />

Zugriff die Welt wieder in Ordnung<br />

bringen, dort ist allerdings die Versuchung<br />

groß, sich einem ästhetisch drapierten totalitären<br />

System zu unterwerfen und die kritisehe<br />

Funktion der Kunst preiszugeben. Die<br />

Unbedingtheit des künstlerischen Engagements,<br />

die Lösung der Kuns't von der wirklich<br />

existierenden Gesellschaft kann dialektisch<br />

in einen totalen Zusammenbruch<br />

der Kunst umschlagen. Dafur drei Beispiele:<br />

(1) Der heroische Realismus geht davon<br />

aus, daß ein inhaltlicher Bezug zu Moral<br />

und Werten durch eine Entscheidung in<br />

intellektueller Verantwortung überhaupt<br />

nicht mehr hergestellt werden kann. Die<br />

Welt wird so, wie sie ist, hingenommen. Es<br />

ist dann auch im Prinzip gleichgültig, auf<br />

welcher Seite ich stehe. Ich bewahre<br />

Gleichmut, bleibe tapfer auf dem Posten,<br />

habe aber keinen Anlaß fur ein spezifisches<br />

Engagement. Diese Weltsicht verleitet zu<br />

einer Ästhetik des Schreckens. Der Künstler<br />

wird durch Leid und Elend, Grausamkeit<br />

und Tod nicht mehr aufgewühlt. Er<br />

präsentiert als neuen Menschentypus nicht<br />

den kritischen Aufklärer, der Partei ergreift,<br />

sondern den tapferen Einzelnen, der das<br />

ihn umwogende Chaos erträgt, ohne zu<br />

verzagen. Dieser individuelle Heroismus<br />

will die Welt strukturieren, schlägt aber um<br />

in ein beliebiges "Aushalten" jeder Katastrophe;<br />

der Einzelne wird zum Spielball<br />

politischer Gruppen und verfällt gerade in<br />

seiner Einsamkeit erst recht der Massenexistenz.<br />

(2) Auch die Beschlagnahme der Kunstfur<br />

die politische Revolution schlägt dialektisch<br />

in eine Zerstörung der Kunst um. lnsofern<br />

irren die frühsowjetischen Kunsttheoretiker,<br />

wenn sie die (proletarische)<br />

Kunst als unmittelbar wirkendes, bewußt<br />

eingesetztes Werkzeug der Lebensgestaltung<br />

stilisieren. Eine Kunst, die sich in dieser<br />

Weise organisieren läßt, ist eine um ihre<br />

kreative Dimension verkürzte Kunst, mithin<br />

keine Kunst mehr. Kunst wird von denen,<br />

die sie fur vorausgesetzte Ziele einspannen<br />

wollten, immer schon wie eine<br />

fremdbestimmte Veranstaltung verstanden,<br />

die sich zielgerichtet organisieren läßt.<br />

Man möchte sich gern der freiheitlichen<br />

Elemente der Kunst versichern, ohne zu<br />

bemerken, daß dieser Zugriff die Kunst zerfrißt<br />

und ihrer Dialektik beraubt.<br />

(3) Schließlich finden sich die etwa im<br />

Futurismus und Expressionismus unternommenen<br />

Versuche einer radtkalen Verlinderung<br />

der Welt, der Aufschrei des fremdbestimmten<br />

Menschen, die Forderung<br />

nach einer Umwertung der vorgefundenen<br />

Werte dialektisch gerade in der Wirklichkeit<br />

totalitärer Systeme "erfullt". Solange<br />

sich die Innovation noch ästhetisch fassen<br />

ließ, war sie "witzig": "Und wir jagten dahin<br />

und zerquetschten auf den Hausschwellen<br />

die Wachhunde, die sich unter unseren<br />

heißgelaufenen Reifen wie Hemdkragen<br />

unter dem Bügeleisen hogen." (F.T. Marinetti)<br />

Aber der Witz hielt nicht lange vor,<br />

denn schon hier lauerte der Faschismus am<br />

Horizont. Ähnlich lief es mit dem Drama<br />

des Expressionismus, in dem sich die Auf-.<br />

bruchstimmung einer ganzen Generation<br />

ausdrückte. Es war der Kampf des Lebens<br />

gegen die Starrheit, der Söhne gegen die<br />

Väter, der Unterdrückten gegen die Herrschenden,<br />

des Individuums gegen die Masse,<br />

der Gemeinschaft gegen die Gesellschaft,<br />

des Gefuhls gegen die Ratio, der<br />

Mitmenschlichkeit gegen die Entfremdung;<br />

gute und schöne Absichten, auch fur<br />

uns heute durchaus nachvollziehbar; aber<br />

der dialektische Umschlag in die Volksgemeinschaft<br />

und in die ästhetische Totalität<br />

des Nationalsozialismus lie nicht lange auf<br />

sich warten.<br />

Gemeinsam ist allen solchen ästhetischen<br />

Unternehmungen die Sehnsucht<br />

nach dem neuen Menschen und der Glaube,<br />

dessen Hervorkommen durch die<br />

Kunst befördern zu können. Dieses Wagnis<br />

erweist sich als zwiespältig. Der neue<br />

Mensch ist gedacht als der gute neue<br />

Mensch; doch was spricht dagegen, daß<br />

dieser neue Mensch auch der Verneiner<br />

und Zerstörer aller Ordnung wird? Im radikalen<br />

Wandel liegt ein totalitärer Anspruch.<br />

Der Wille zum Neuen kann sich gegen<br />

aufklärerisch auswirken und Innovation<br />

verhindern. Wenn alle schuldig sind,<br />

wenn alle sich ändern müssen, dann verschwinden<br />

die ungerechten Herrschaftsverhältnisse<br />

und die konkrete Schuld einzelner<br />

Menschen aus dem Bewußtsein. Dadurch<br />

wird die feststellbare Verantwortung<br />

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