Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Rezensionen<br />
prun, einen Bericht, der vielleicht<br />
zu den ungeheuerlichsten<br />
seiner Art gehört: Versuch, das<br />
Unwirklichkeits- und Schuldgefühl<br />
des dem KZ Entronnenen zu<br />
beschreiben. Das Gefühl, die<br />
ganze Existenz nur noch in der<br />
Einbildung eines 1944 Ermordeten<br />
zu führen : .. Ein vor dreißig<br />
Jahren Gestorbener der der Lebende<br />
war der ich nicht mehr bin<br />
Dessen ungewisser Traum ich<br />
nur bin Je mehr Zeit vergeht desto<br />
dünner wird die Nabelschnur<br />
die mich mit der Vorhölle jenes<br />
Lebens von vor dreißig Jahren<br />
verbindet Jenes Todes von vor<br />
dreißig Jahren Je mehr Zeit vergeht<br />
und je weniger wir sind die<br />
wir jene gelassene und zähe Gewißheit<br />
unerklärlichen Überlebens<br />
teilen Unschicklichen<br />
Überlebens".<br />
.. Aigarabia" ist- vielleicht im<br />
Adornoschen Sinne - der Versuch,<br />
Wirklichkeit so zu beschreiben,<br />
wie sie sich vom<br />
Standpunkt der Versöhnung aus<br />
darstellte: als unversöhnte, zerrissene,<br />
antagonistische und unwirkliche<br />
... Mein Leben war nur<br />
ein Traum seit dem grauen<br />
Rauch des Lagers Diese Wolke in<br />
der meine unbekannten Genossen<br />
in Rauch aufgingen Oderbekannten<br />
Halbwachs und Maspero<br />
Pjotr und Pedro." Das Buch ist<br />
dieser Traum, der dem Leben<br />
gleicht und dem Tod. Zugleich<br />
ist .. Aigarabia" - gegen Adorno<br />
- die äußerst heikle, weil aus<br />
dem unsagbaren Grauen geborene<br />
Utopie des überschwenglichen<br />
Lebens. Eine Gegenweit<br />
der lyrischen Illusionen. Denn<br />
woher kommt diese bunte Gesellschaft<br />
gealterter Anarchisten<br />
- allesamt intellektuelle<br />
Abenteurer und ruchlose Lebemänner?<br />
Sicher, sie haben ihre<br />
lange Ahnenreihe in den Strolchen,<br />
Tagedieben und Huren,<br />
die im spanischen Schelmenroman<br />
ihre Späße treiben. in<br />
Wahrheit stammen sie aus der<br />
Verzweiflung, wo sie am tiefsten<br />
ist, man könnte sagen, sie haben<br />
das Erlebnis des Todes hinter<br />
sich.<br />
Es sind Genesende, die mit<br />
ihrer Intelligenz, ihrem W issen<br />
und ihren Ideen spielen, um nur<br />
noch dieses Spiel und sich selber<br />
zu genießen. Sie erinnern Ver-<br />
nunftwieder als das, was sie sein<br />
sollte : Mittel zum Zweck des<br />
Glücks, der somatischen Lust. Es<br />
geht ketzerisch zu gegen die<br />
Macht im allgemeinen und die<br />
Macht der Moral im besonderen.<br />
Pietät kennt man da auch vor der<br />
Heiligen Kirche des Marxismus/<br />
Leninismus nicht. Da wird die<br />
Dialektik wieder zum Florett, mit<br />
dem man elegant dogmatische<br />
Behauptungen entwaffnet. Gestrenge<br />
Kampfparolen Maos<br />
werden eulenspiegelhaft verkehrt<br />
und in den Dienst der Liebschaften<br />
und Verführungen genommen.<br />
Einzige Autorität, die<br />
hier unangefochten bleibt ist<br />
Ovid. Seine .. Ars amatoria" oder<br />
die .. Amores" kennt fastjeder im<br />
lateinischen Original, und vor al <br />
lem praktiziert sie jeder. Sie sind<br />
gewissermaßen die Handbücher<br />
des richtigen Lebens. Die Lust<br />
sei schließlich das wahre Instrument<br />
der Erkenntnis.<br />
Vielleicht hat dieses Buch,<br />
geistreich wie selten eines und<br />
lustvoll wie ein orientalisches<br />
Frauenhaus, keinen anderen<br />
Sinn als diesen: sich im Feuerwerk<br />
seiner Einfälle zu versprü-<br />
Quellen heranzog, die dazu beitragen,<br />
daß seine Untersuchung<br />
nicht nur für Kafka-lnteressierte<br />
lesenswert ist.<br />
Ulf Abraham zufolge strukturiert<br />
das Motiv des Verhörs die<br />
drei Romane Kafkas. Auf sie<br />
konzentriert er sich; zusätzlich<br />
zieht er Beispiele aus den privaten<br />
Briefen, Kurzgeschichten<br />
und Fragmenten Kafkas zur Veranschaulichung<br />
heran. Die Romane<br />
beschreiben eine Entwicklung,<br />
die mit einer zwar noch<br />
personalisierten Macht beginnt,<br />
an deren Ende aber eine vielköpfige,<br />
nicht mehr benennbare bürokratische<br />
Macht steht, deren<br />
'Urteil ohne Richter' derverhörte<br />
Held machtlos ausgeliefert sein<br />
muß.<br />
Als vorangestelltes exemplarisches<br />
Beispiel für diese Entwicklung<br />
dient Ulf Abraham die<br />
frühe Kurzgeschichte .. Der<br />
Schlag ans Hoftor", in der er vorgeführt<br />
findet, wie ein Held aufgrundvon<br />
Desorientiertheit und<br />
somit Artikulationsunfähigkeit<br />
eine Ohnmacht gegenüber einer<br />
Machtinstanz schon akzeptiert,<br />
bevor er überhaupt auf sie trifft.<br />
Da der Held in einer Weit, die<br />
nicht mehr - wie früher - von<br />
Gottes Wort oder einer transzendentalen<br />
Idee des Gerechten<br />
geleitet ist selbst nicht zu hanhen.<br />
Widerschein dieser Kunst<br />
ist nichtzuletztdie Sprache in ihrer<br />
absichtsvollen Verwilderung.<br />
Im Dickicht der Vielsprachigkeit<br />
dieses Romans, seiner<br />
Neologismen und Fremdwörter,<br />
seiner lyrischen lntonationen<br />
und bildhaften Flüche, seiner<br />
Polyphonie und kontrapunktischen<br />
Stimmführung, erhält die<br />
Sprache sinnliche Präsenz. Sie<br />
wird zum Klangkörper, flüchtig<br />
wie die Musik und die Substanz<br />
der Träume. - Entlassen in die<br />
.. traurige Wirklichkeit", schließt<br />
man dieses Buch und hat den<br />
Kopf voller Traumfragmente :<br />
vage Andeutungen, denen man<br />
nachspürt, unsicher, ob ein anderer<br />
oder man selber sie träumte.<br />
Joachim Strelis, Berlin<br />
Jorge Semprun : Algarabia oder<br />
Die neuen Geheimnisse von Paris.<br />
Roman. Aus dem Französischen<br />
von Traugott König und<br />
Christine De/ory-Momberger.<br />
Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M.<br />
1985. 453 Seiten.<br />
Der verhörte Held<br />
,.Aiexander hat den gordischen Knoten, als er sich<br />
nicht lösen wollte, nicht etwa gefoltert." (Briefe an<br />
Milena) ln seinem Buch ,.Der verhörte Held - Recht<br />
und Schuld im Werk Franz Kafkas" stellt Ulf Abraham<br />
Kafkas literarische Erfahrung einer ,.Entrükkung,<br />
Entgrenzung und Entpersonalisierung" von<br />
Macht dar, die uns auch im alltäglichen Leben als<br />
deren Bürokratisierung begegnet. ln diesem - von<br />
der Macht selbst konstruierten - System von Instanzen,<br />
in ihren Kreisen und Spiralen ist nicht nur die<br />
Verantwortlichkeit versickert, die Macht selbst ist<br />
unauffindbar geworden.<br />
Kafka, der Jura studierte und<br />
seinen Beruf auch ausübte, äußert<br />
sich in seiner 'Rede vom<br />
Recht' .. aus der Perspektive eines<br />
Schreibers der nicht immer<br />
schon zu wissen glaubt wer<br />
Recht hat". Indemer-als Jurist,<br />
Eingeweihter, und damit selbst<br />
Machtinhaber- zu Zweifeln und<br />
Belehrung bereit ist, entlarvt er,<br />
was sich gut verpuppte: Eine Re·<br />
de vom Recht, die sich .,im Namen<br />
der Ordnung" selber führt,<br />
sich als Schutz für den Bü rger,<br />
als Gesetzeskenner und Wahrheitstinder<br />
ausgibt, deren Stellvertreter-Prinzip<br />
jedoch .. nur<br />
noch auf das Fehlen eines transzendenten<br />
'Gesetzes' (verweist).<br />
64<br />
An seine Stelle tritt die Disziplin<br />
- als das 'Gesetz' in Abwesenheit<br />
Gottes." Dieser Entdeckung<br />
folgend steht die Schuld des<br />
Helden gegenüber einer Machtinstanz<br />
schon fest, bevor es<br />
überhaupt zu einem Verhör, vom<br />
'Delikt' ganz zu schweigen, gekommen<br />
ist.<br />
Der Funktion des nachgestellten<br />
Verhörs, welches nicht<br />
der Rechtsfindung dient, sondern<br />
nur noch der nachträglichen<br />
Begründung eines immer<br />
schon vorhandenen Urteils, ist<br />
Ulf Abraham nachgegangen,<br />
wobei er nicht nur literaturwissenschaftliche,<br />
sondern auch<br />
soziologische und juristische<br />
dein weiß, ermöglicht er seinem<br />
Gegenüber, die Definitionsmacht<br />
zu erringen, die eine .. Monopolisierung<br />
der 'Herrschaft<br />
über das Gespräch'" nach sich<br />
zieht. Fortan bestimmt die<br />
Definitionsmacht was Recht<br />
und was Unrecht ist. Sie tut es<br />
immer zuungunsten des verhörten<br />
Helden, der .. die entsetzliche<br />
Zwangsläufigkeit nicht begreifen<br />
(kann), mit der (er) diese 'Gesetze'<br />
immer wieder übertritt:<br />
denn sie werden ja immer erst im<br />
Augenblick ihrer ÜbertFetung<br />
erfunden".<br />
Statt der Frage nach der<br />
Wahrheit stellt sich die Frage,<br />
wer beim Aufeinandertreffen<br />
von Menschen, die einer hierarchischen<br />
Ordnung angehören,<br />
die Definitionsmacht zu erringen<br />
weiß.<br />
Diese Auslegung Abrahams<br />
erinnert sehr an die Auseinandersetzung,<br />
die Nietzsche,<br />
auf den Abraham mehrfach<br />
verweist, in der .. Genealogie<br />
der Moral" über die Entstehungsgeschichte<br />
der Schuld<br />
führt.<br />
Auch bei Kafka geht es<br />
.. nicht um Recht und Unrecht als<br />
vorgegebenen Sachverhalt,<br />
sondern darum, wem es gelingt,<br />
den anderen ins Unrecht zu setzen;<br />
es geht um widersprüchli-