Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Der Gast und die Masse<br />
men wie alle ähnlichen Floskeln. Verständlich<br />
machen kann ich mich allein unter der<br />
Voraussetzung, daß meine Äußerung nicht<br />
inhaltlich, sondern ästhetisch gemeint ist.<br />
Es geht nicht um Mitteilungen, sondern um<br />
das Abrufen von Stichworten fur eingeübte<br />
Reaktionen. Und darin, daß in diesen Rollenspielen<br />
alles aufeinander abgestimmt<br />
sein muß, wird der Nihilismus des Alltags<br />
sichtbar.<br />
2. "Witz" als ästhetische<br />
Kategorie<br />
Die üblichen Versuche, sich in der Massengesellschaft<br />
ein eigenes Profil zuzulegen,<br />
bewegen sich in der Regel auf ein und derselben<br />
Ebene. Sie laufen daraufhinaus, sich<br />
zu distanzieren und jeden Anschein von<br />
Konformität zu vermeiden. Das tragende<br />
Motiv ist die Angst vor Anpassung und die<br />
Sehnsucht nach Identität. Von vielen möglichen<br />
Beispielen nennen wir nur drei : Aussteigen,<br />
Jagd aufSündenböcke, Erziehung<br />
zum Nonkonformismus. Alle drei sind zum<br />
Scheitern verurteilt, weil sie innerhalb der<br />
Kategorien von Massenkultur bleiben und<br />
keinen Überstieg in ein anderes logisches<br />
System markieren. Aussteigen ist nicht Abkehr<br />
vom "normalen" Leben, sondern eine<br />
seiner möglichen Varianten; denn Massengesellschaft<br />
heißt immer auch pluralistische<br />
Gesellschaft, die viele Möglichkeiten<br />
bereithält, so daß jedermann sich mit seinem<br />
persönlichen Lebensentwurf darin<br />
wiederfinden und sogar aufGleichgesinnte<br />
rechnen kann. Nur in monolithischen, zentral<br />
verwalteten Gesellschaften, wo es keinen<br />
Pluralismus, aber eben darum auch keine<br />
"Masse" gibt, wird Aussteigen zum Problem.<br />
Die Jagd auf Sündenböcke zielt ebenfalls<br />
auf die Unverwechselbarkeit des Individuums,<br />
nur nicht bei mir selbst, sondern<br />
bei anderen. Auch dies ist ein Versuch, die<br />
relativ offene Gesellschaft wieder zu schließen<br />
und etwaige Mißstände aus einer einzigen<br />
Quelle zu "erklären". Wer sich daran<br />
beteiligt, setzt voraus, daß die Gesellschaft<br />
aus einem Guß ist, normalerweise reibungslos<br />
funktioniert und nur von einzelnen<br />
Übeltätern gestört wird. Aber ob Meier<br />
oder Müller eingesperrt wird, ist in einer<br />
Massengesellschaft mit Massendelikten im<br />
Prinzip gleichgültig.<br />
Erziehung zum Nonkonformismus<br />
schließlich will den nicht-austauschbaren,<br />
nach eigenem Entwurf lebenden Menschen<br />
hervorbringen. Sie übersieht, daß ein<br />
beigebrachtes Verhalten niemals originell<br />
ist, weil alles, was es zu lernen gibt, von vielen<br />
anderen ebenso gelernt werden kann.<br />
Erziehung, Lehren und Lernen sind überhaupt<br />
nicht auf einen einzelnen bezogen,<br />
sondern müssen massenhaft organisiert<br />
werden und erweisen sich damit als Elemente<br />
der Gesellschaft insgesamt, ganz<br />
gleich, welche Ziele diese nach eigenem<br />
Dafurhalten verfolgt. Angst vor Anpassung<br />
ist selbst ein Phänomen,_ das nur in einer<br />
pluralistischen Massengesellschaft entstehen<br />
kann. Wer vor allem bestrebt ist, sich<br />
nicht anzupassen, legt sich auf ein voraussehbares<br />
Verhalten fest. Er braucht gerade<br />
fur diese Haltung verläßliche Markierungspunkte,<br />
die ihm signalisieren, daß er auf<br />
dem "richtigen" Wege ist. Damit bezieht er<br />
sein Selbstverständnis nicht aus sich, sondern<br />
von außen. Anpassungund Nicht-Anpassung<br />
werden zu symmetrischen Figuren;<br />
sie lassen sich wegkürzen und heben<br />
einander au(<br />
Falls es eine Chance gibt, die Ästhetik<br />
des bestehenden gesellschaftlichen Systems<br />
mit seiner Dialektik von Anpassung<br />
und Nichtanpassung zu durchbrechen,<br />
dann können wir uns nicht planvoll aufihre<br />
Wahrnehmung vorbereiten. Diese Chance<br />
besteht vielmehr nur bei einzelnen Gelegenheiten;<br />
sie ist bedingt durch Zeit, Raum<br />
und Umstände, kann insofern niemals vorausgesehen<br />
werden und ergibt sich nicht<br />
mit Sicherheit fur jedermann. Unverwechselbar<br />
bin ich, wenn überhaupt, dann nur<br />
dort, wo ich etwas vollbringe, was in dieser<br />
spezifischen Situation kein anderer vollbringt.<br />
Das braucht nichts Spektakuläres zu<br />
sein: kein geniales Werk, keine sportliche<br />
Superleistung, keine Blitzkarriere; es genügt<br />
eine verblüffende Äußerung, eine unvermutete<br />
Handlung, eine überraschende<br />
Entscheidung, um die Ästhetik des Sy-<br />
stems der pluralistischen Massengesellschaft<br />
fur einen Moment sichtbar zu machen<br />
und dadurch außer Funktion zu setzen.<br />
Dies mag mir von Zeit zu Zeit glücken<br />
- oder auch nicht; jedenfalls kann ich keinem<br />
anderen sagen, wie er es machen muß,<br />
denn ich selber weiß das auch nicht. Ich<br />
kann allenfalls sagen: es bedarf dazu einer<br />
gewissen Disposition, die mir dazu verhilft,<br />
strukturelle Zusammenhänge zu erfassen<br />
und nicht auf alles hereinzufallen, was mir<br />
an gängiger Lebenshilfe angedient wird.<br />
Wenn im folgenden drei mögliche Wege<br />
zur Unverwechselbarkeit skizziert werden,<br />
dann kann das aus den genannten<br />
Gründen nur sehr abstrakt geschehen; es<br />
handelt sich also weder um Handlungsanweisungen,<br />
die von vielen befolgt werden<br />
können, noch um anthropologische Bestimmungen,<br />
die "im Prinzip" immer gelten.<br />
Man kann dergleichen - streng genommen-<br />
nicht formulieren; es ist wie mit<br />
Ludwig Wittgensteins Erwägungen zur<br />
Sprache, wenn er am Schluß seines "Tractatus"<br />
erklärt: "Er muß sozusagen die Leiter<br />
wegwerfen ... dann sieht er die Welt<br />
richtig." Unter diesen Einschränkungen<br />
läßt sich sagen: eine Profliierung des Individuums<br />
in der Massengesellschaft kann zustandekomrnen<br />
durch "Witz", durch "Verweigerung",<br />
durch "Gestaltung". Das erste<br />
bezeichnet eine spontane intellektuelle<br />
Zerstörung der herrschenden Ladentisch<br />
Mentalität; das zweite steht fi.ir einen Versuch,<br />
in bestimmten Situationen dem<br />
Gruppendruck einer Institution zu widerstehen;<br />
das dritte betrifft die mögliche<br />
ästhetische Innovation durch künstlerische<br />
Kreativität.<br />
Der Witz hat eine ähnliche Wirkung<br />
wie ein Kurzschluß, der das bestehende<br />
elektrische System nicht nur in seinen Verzweigungen<br />
sichtbar macht, sondern zugleich<br />
auch lahmlegt. Im Witz leuchten die<br />
ästhetischen Strukturen eines Kommunikationssystems,<br />
einer Institution, eines gewohnten<br />
Verhaltens auf und werden eben<br />
damit schlagartig außer Funktion gesetzt.<br />
Der Witz ist selbst ein ästhetisches Formprinzip:<br />
er macht fur de~enigen, der fur so<br />
etwas Sinn hat, die Lächerlichkeit eines Ri-<br />
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