Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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Rezensionen<br />
Algarabia<br />
Man schreibt den 31. Oktober 1975, der General<br />
Franeo liegt im Sterben und das Ende der Diktatur ist<br />
absehbar. Rafael Artigas, politischer Flüchtling und<br />
Einwohner der Z.U.P., befindet sich auf dem Weg<br />
zum Paßamt, um ein für alle Male seine Identität zu<br />
beweisen. Ein im metaphysischen wie im bürokratischen<br />
Sinne schwieriges Unternehmen, denn sein<br />
Name ist nur Pseudonym, eines der vielen, unter denen<br />
er ein Leben wechselnder ldentitäten führen<br />
mußte. Jetzt will Artigas, der Ältergewordene, nach<br />
Hause, nach Spanien, zu sich selbst, den er einst<br />
dort verlor. Artigas braucht Papiere. Der Weg zum<br />
Polizeipräsidium wird unterbrochen von unerhörten<br />
Zwischenfällen, von Entführungen, Verfolgungen<br />
und Anschlägen; der Weg wird lang werden, er wird<br />
einen Tag und ein ganzes Leben dauern. Kraft seiner<br />
List und Erfahrungen entkommt Artigasseinen Verfolgern.<br />
Erst am Abend wird er sterben. Bis dahin<br />
bleibt dem Erzähler Zeit, die entsetzlichen und die<br />
heiteren Episoden dieses Lebens mit der politischen<br />
Vergangenheit einer ganzen Generation zu einer<br />
phantastischen Textur zu verweben.<br />
Ein phantastischer Roman also?<br />
Ja und nein. Es ist dies ein realistischer<br />
Roman, der die Wirklichkeit<br />
nur in einen fiktiven<br />
Kontext versetzt ... Warum nicht<br />
am Anfang eine Hypothese erfinden,<br />
die die Wirklichkeit umstürzt,<br />
die uns bekannte Geschichte<br />
verändert?" Im Herzen<br />
von Paris nämlich, im Quartier<br />
Latin, so erfährt der ahnungslose<br />
Leser, liegt die Z.U.P., die Zone<br />
utopique populaire - letztes<br />
Überbleibsel des turbulenten<br />
Mai '68. Damals, nachdem de<br />
Gaulle vom CIA ermordet wurde<br />
oder bei einem Hubschrauberuufall<br />
ums Leben kam, gab es in<br />
Frankreich Bürgerkrieg. ln der<br />
Folge der Ereignisse teilte sich<br />
das Land in eine Vielzahl freier<br />
Kommunen, die jedoch bald von<br />
einer provisorischen Zentralregierung<br />
zurückerobert wurden.<br />
Ubrig blieb, wie gesagt, nur die<br />
anarchistische Z.U.P.: isoliert<br />
und von einer Mauer umgeben<br />
wie West-Berlin, zerstritten und<br />
umkämpft wie Beirut und Belfast,<br />
modernes Babel zugleich<br />
und Kulturmetropole der Weit.<br />
Hier hat die Zweite Commune<br />
von Paris, eine Gemeinde spanischer<br />
Anarcho-Syndikalisten,<br />
ihr Refugium neben einer Gruppe<br />
von Maoisten; hier treiben,<br />
vom CIA unterstützt, korsische<br />
Band iten und aggressive Stadtindianer<br />
ihr Unwesen.<br />
Doch allen politischen Riva <br />
litäten, allen abenteuerlichen<br />
Scharmützeln und blutigen Zwistigkeiten<br />
zum Trotz, ist diese<br />
sich langsam aufreibende Z.U.P.<br />
vor allem ein Raum der lebenslustigen<br />
Kreativität; geistige Höhenflüge<br />
und Iibertinöse Eska <br />
paden gehen hier Hand in Hand.<br />
Unter der Commune kommt es<br />
zu einer Blüte aller kulturellen<br />
Aktivitäten. So lehren an der<br />
Volksuniversität. wie der Erzähler<br />
weiß, von Marcuse bis Habermas,<br />
von Milan Kundera bis Michel<br />
Foucault die größten Intellektuellen<br />
derWelt. Hier verfilmt<br />
man- unter der Mitwirkung von<br />
Marx, der eine Rolle als Brechtscher<br />
Kommentator übernimmt<br />
- Eugen Sues Trivialroman ,.Die<br />
Geheimnisse von Paris". Und<br />
nicht zuletzt ist aus der Kirche<br />
von Saint-Sulpice, die man ansonsten<br />
in ihrer architektonischen<br />
Struktur und mit ihren<br />
Kunstschätzen erhielt, ein Hydrotherapie-<br />
Institut und wahrhaftes<br />
Freudenhaus geworden.<br />
Selbstverständlich werden<br />
alle Möglichkeiten ausgenutzt,<br />
die dieser Tummelplatz der Fiktionen<br />
bietet. Und da überrascht<br />
es auch nicht, wenn der Erzähler<br />
- ein olympic author zwar, jedoch<br />
ein entthronter - manchmal<br />
Schwierigkeiten mit den<br />
Schöpfungen seiner wildernden<br />
Phantasie bekommt. Es passiert<br />
schon, daß sich Figuren verselbständigen,<br />
Verabredungen nicht<br />
einhalten, dem Erzähler Fallen<br />
stellen und die geplante Struktur<br />
des Romans durchkreuzen.<br />
Sch ließlich habe man sich hier,<br />
so die Stellungnahme einer dieser<br />
Quertreiber, nicht von allen<br />
Autoritäten befreit, nur um sich<br />
dann von einem Erzähler Vorschriften<br />
machen zu lassen.<br />
Der Erzähler demonstriert<br />
mit jedem Satz, daß Schreiben<br />
ein Spiel ist und die Schwerkraft<br />
der Wirklichkeit und ihrer Ordnungen<br />
außer Kraft setzt. Souverän,<br />
augenzwinkernd und mit<br />
seinen Schwierigkeiten kokettierend,<br />
nimmt er jede Störung<br />
dieses Spiels zum Anlaß, den sie<br />
meisternden Kunstgriff zu erörtern.<br />
Und jede Verzögerung des<br />
Handlungsablaufs ist ihm recht,<br />
ein witzig- ironisches Loblied auf<br />
die heitere Unschuld des Trivialromans<br />
anzustimmen, in dem<br />
die Macht des Erzählers noch<br />
ungebrochen sei und alles nach<br />
Plan verlaufe.<br />
Jorge Semprun hat mit diesem<br />
Roman der listigen Schelmenstreiche<br />
und der amourösen<br />
Bravourstück zugleich ein intellektuelles<br />
Meisterstück geschaffen,<br />
in dem die Verwandlung<br />
der Realität in Fiktionen und<br />
die Problematik des ästhetischen<br />
Scheins zur poetischen<br />
Selbstreflexion kommen. Dieses<br />
Buch ist Dichtung, Kommentar<br />
und Memoirenwerk in einem.<br />
Und man muß es als snobistisches<br />
Understatement auffassen,<br />
wenn der Autor seinen Erzähler<br />
immer wieder betonen<br />
läßt, daß dieses Buch lediglich<br />
den Fundus der Trivialliteratur<br />
von Sade bis Sue, von Justine bis<br />
Fleur-de- Marie ausbeute. Si <br />
cher, der Erzähler greift nach<br />
Gutdünken ein, wenn ihm das<br />
Drunter und Drüberder Ereignisse<br />
zu groß wird, er arrangiert,<br />
nimmt auseinander und setzt<br />
wieder zusammen, er nennt seine<br />
Karten und deckt seine<br />
Trümpfe auf. Aber in der intelligenten<br />
und pointierten Anwendung<br />
dieser Stilmittel des Trivialen<br />
ähnelt diese Dichtung, mit<br />
der Uferlosigkeit ihrer Sätze,<br />
den kunstvollen Hypotaxen, ih <br />
ren seitenlangen Parenthesen<br />
und spielerischen Variationen<br />
dann doch eher der Prosa<br />
Prousts. (Ein Vergleich übrigens,<br />
den der listige und eitle Erzähler<br />
selbst anführt, um dann zu erklären,<br />
daß er Proust nicht ausstehen<br />
könne. Man muß ihm das<br />
nicht glauben, und immerhin<br />
versteht er es, wie seine Figuren,<br />
jeder Schmähung ein Lob dranzusetzen<br />
: Proüst sei, wenn überhaupt,<br />
dann nur in den großartigen<br />
Übersetzungen Walter Ben <br />
jamins oder Pedro Salinas lesbar.)<br />
DasSchlüsselwort dieses<br />
Abenteuer- und Schelmenromans<br />
heißtAigarabia, wassoviel<br />
wie arabische Sprache, verworrenes<br />
Geschrei, Lärm, Unordnung,<br />
Charivari bedeutet. Zu<br />
diesem Geschrei, das in den verwinkelten<br />
Gassen dieses Buches<br />
widerhallt, trägt der Erzähler<br />
nicht weniges selber bei. Vergeblich<br />
ermahnt er sich und seine<br />
Figuren zur Ordnung : immer<br />
wieder von den eigenen Einfäl <br />
len begeistert und seinen Lau <br />
nen folgend, verliert er sich in erbaulichen<br />
oder libertinösen, in<br />
ernsten oder ulkigen Ausschweifungen.<br />
Und er treibt sei <br />
ne Possen mit dem Leser, wenn<br />
er etwa auf dem Höhepunkt des<br />
spannendsten Treibens (einer<br />
Entführung beispielsweise oder<br />
auch einer Verführung) den Ort<br />
der Handlung verläßt, um dann <br />
nachdem er den Leser mit langwierigen,<br />
nie jedoch langweiligen<br />
Exkursen auf die Folter gespannt<br />
hat - lakonisch zu bemerken,<br />
daß für derartige Ausflüge<br />
keine Zeit sei und man sich<br />
unverzüglich den Zwängen der<br />
Haupthandlung wieder zuwenden<br />
müsse; sofortfolgen weitere<br />
Arabesken.<br />
Diese Technik der Verzögerungen<br />
hat Methode, und im<br />
Grunde besteht dieser Roman<br />
nur aus Abschweifungen und<br />
Verirrungen. Sie bilden Reserva <br />
te der Langsamkeit, sind Widerstände<br />
gegen den gleichgültigen<br />
Ablauf der Zeit und Kampf<br />
der Erinnerung gegen das Vergessen.<br />
Denn mit dieser Mäander<br />
des Erzählensführt uns Semprun<br />
tief hinein in die Leidensgeschichte<br />
seiner Figuren und in<br />
die Geschichte der Arbeiterbewegung,<br />
ihrer Hoffnungen, Niederlagen<br />
und Korruptionen, und<br />
er macht historische Ereignisse<br />
lebendig, indem er den <strong>Spur</strong>en<br />
folgt, die sie in seinen Figuren<br />
hinterließen.<br />
Es ist nicht schwer, hinterder<br />
biographischen und politischen<br />
Odyssee dieses Rafael Artigas<br />
die Lebensgeschichte Sempruns<br />
wiederzuerkennen - Sta <br />
tionen und Erfahrungen, die er<br />
u.a. in seinem Buch .. Was für ein<br />
schöner Sonntag" beschrieben<br />
hat. Er wurde 1923 in Madrid<br />
geboren und verbrachte das En <br />
de seiner Kindheit im französischen<br />
Exil. Hier nahm er an der<br />
Resistance teil und wurde 1943<br />
in das KZ Buchenwald deportiert.<br />
Nach dem Krieg hielt ersieh<br />
in verschiedenen Ländern auf<br />
und wirkte für die illegale spanische<br />
KP, in der er bis zu seinem<br />
Rauswurf 1964 eine hohe Funktion<br />
ausübte.<br />
Man findet in diesem Roman<br />
der Lustbarkeiten, Zoten und<br />
Harlekinaden einen langen Monolog<br />
des Artigas alias Sem-<br />
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