Spur - Hochschule für bildende Künste Hamburg
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ginnen wir langsam, die Abspaltungen,<br />
Rückstände und Abgase namhaft zu machen.Die<br />
fremden Wörter kommen in unsere<br />
Lebenswelt zurück wie Boten, die die<br />
Nachricht bringen, daß es so nicht mehr<br />
weitergeht.<br />
Die Nachricht heißt: auf eine komplexe<br />
verwobene Umwelt darf man nur mit großer<br />
Behutsamkeit einwirken, zum Denken<br />
müssen die Bedenken kommen. Solcher<br />
Erkenntnisprozeß fordert nicht nur eine<br />
angemessene Politik, sondern letzten Endes<br />
auch die Bereitschaft zur Veränderung<br />
des eigenen Lebensstils. Das Erkennen<br />
kommt nur langsam und widersprüchlich<br />
voran. Zwar erleben wir gegenwärtig in Sachen<br />
Umwelt einen bisher ungekannten<br />
Lernprozeß, aber die Dinge liegen vertrackter<br />
als es scheint: unsere umweltpolitischen<br />
Einsichten setzen sich nicht direkt in<br />
Verhalten um, nicht linear : erst in Urteilsbildung,<br />
dann in politischen Druck, schließlich<br />
in tatsächliche Veränderungen und in<br />
neues eigenes Verhalten. Schon die umweltpolitischen<br />
Einsichten paaren sich mit<br />
Lebensweisen, die den Einsichten widersprechen.<br />
Eine empirische Studie am Berliner<br />
Wissenschaftszentrum zum Beispiel<br />
zeigt einen bemerkenswerten Widerspruch.<br />
Diejenigen, die wissen, daß die lndustriegesellschaften<br />
ihre natürlichen<br />
Grundlagen auf wahnwitzige Weise zerstören,<br />
sind zugleich auch diejenigen, die<br />
überdurchschnittlich viel Energie verbrauchen,<br />
überhaupt an einen gehobenen Konsum<br />
gewöhnt sind. Die ökologisch Aufgeklärten<br />
also, die das Problem kennen, sind<br />
selbst ein Teil des Problems. Sie fahren mit<br />
dem Zweitwagen zum Einkaufen, aber<br />
bleiben wahrscheinlich noch im Wagen sitzen,<br />
um im Autoradio eine Sendung über<br />
das Waldsterben zu Ende zu hören. Durchaus<br />
zivilisationskritisch haben sie fur das<br />
einfache Leben etwas übrig, um am einsamen<br />
sonnigen Strand nackt baden zu können,<br />
jetten sie auf die fernste Insel. Die gut<br />
Informierten haben eine hohen Lehensumsatz,<br />
und dessen Kennzeichen ist Mobilität.<br />
In unserer Gesellschaft ist die Vorstellung<br />
von Glück gebunden an ein Leben,<br />
das nicht geruhsam ist, sondern schnell.<br />
50<br />
Möglichst viele Glücksgüter, viele Erlebnisse,<br />
viel Bewegung. Die Selbstverwirklichungssongs<br />
singen es frei heraus:<br />
"Ich will nicht viel, ich will mehr;<br />
ich will alles und zwar sofort ... "<br />
Zwischen den Maximen einer ökologisch<br />
einsichtsvollen Lebensfuhrung und<br />
den Bildern des schnellen glücklichen Lebens<br />
liegt eine Kluft.<br />
Die Zeiten sind hart aber modern. Am<br />
Beginn dieses Jahrhunderts schien alle Bewegung<br />
eine Bewegung nach vorn zu sein.<br />
1909 besangen die italieniscpen Futuristen<br />
in ihrem 'Ersten Futuristischen Manifest'<br />
die Geschwindigkeit und die Liebe zur Gefahr.Jenem<br />
Automobil, das das erste Autorennen<br />
gewonnen hatte, wurde in Paris ein<br />
Denkmal errichtet. Heute ist die Geschichte<br />
der Beschleunigung am kritischen Punkt.<br />
Zeichen der Neubewertung und der Umkehr<br />
erscheinen. Beamte, die mit dem Straßenbau<br />
zu tun haben, sprechen von der<br />
Aufhebung und Beseitigung überflüssiger<br />
Straßen. In Berlin denkt ein Politiker öffentlieh<br />
darüber nach, ob man eine Autobahnbrücke,<br />
die einen einstmals schönen Platz<br />
brutal überspannt, nicht wieder abreißen<br />
könne. Etwas rückgängig machen, umkehren,<br />
mindestens aber die Beschleunigung<br />
bremsen : Vieles deutet daraufhin, daß bei<br />
der Zukunftsfahrt der industriellen Moderne<br />
der Fuß vom Gaspedal genommen werden<br />
sollte. So paßt es ins Bild, daß die Entdeckung<br />
der Langsamkeit ganz konkret<br />
diskutiert wird.<br />
Das Gutachten des Umweltbundesamtes<br />
über die umweltschonenden Auswirkungen<br />
von Tempo 100 auf Autobahnen<br />
und Tempo 80 aufLandstraßenkommt unter<br />
anderem zu dem Ergebnis, daß 18 Prozentjener<br />
Stickoxide, die aus bundesdeutschen<br />
PKWs quellen, vom Wald abgehalten<br />
werden könnten. Ein Tempolimit wäre<br />
noch nicht die Lösung, es wäre lediglich ein<br />
kleiner Teil der Lösung. Zur Rettung des<br />
Waldes und in der Umweltpolitik überhaupt<br />
gibt es die eine große rettende Maßnahme<br />
nicht, sondern nur viele, die sich ergänzen<br />
müssen. Insofern gehen alle Argumente<br />
gegen das Tempolimit, die dessen<br />
Wirksamkeit fur zu gering halten, am Kern<br />
der Sache vorbei. Tempo 100wäreeineSoforthilfe<br />
fur den Wald, ohne langfristigen<br />
Forschungsvorlauf und ohne Milliardeninvestitionen,<br />
unmittelbar und unverzüglich.<br />
So darf man sich getrost wundern, daß diese<br />
Soforthilfe nicht versucht wird und die<br />
Politiker, die das Sagen haben, alles auf die<br />
lange Bank schieben; und an diesem Wundern<br />
sollte man naiv-hartnäckig festhalten,<br />
auch wenn wir uns daran gewöhnt haben,<br />
uns über gar nichts mehr zu wundern.<br />
Dabei hätte es die Politik mit der Bevölkerung<br />
so schwer nicht; die meint ohnehin<br />
zu 90 Prozent, daß fur den Umweltschutz<br />
nicht genug getan wird. Jeder Bundesbürger<br />
findet, der Kampf gegen das Waldsterben<br />
sollte verstärkt werden. Und innerhalb<br />
kurzer Zeit ist der Anteil der Befurworter<br />
eines Tempo-100-Limits von 45 auf 55<br />
Prozent gestiegen. Das ist bemerkenswert.<br />
Doch offensichtlich reicht unsere Entschiedenheit<br />
noch nicht aus. Das Tempolimit<br />
wird kommen. Die Bundesrepublik ist das<br />
einzige Land in Europa, auf dessen Autobahnen<br />
unbegrenzt gerast werden darf. In<br />
den USA liegt die erlaubte Höchstgeschwindigkeit<br />
bei 88 Stundenkilometern;<br />
inj2pan wird jedem, der deutlich mehr als<br />
100 fahrt, der Führerschein entzogen. Bei<br />
uns aber gerät die umweltpolitische Vergegenwärtigung<br />
beim Auto ins Stocken. Im<br />
Ionern der Deutschen liegen Auto und<br />
Wald, die ihm beide unverzichtbar sind,<br />
miteinander in tiefem Konflikt. Der Wald<br />
repräsentiert das Sichere, ewig Bleibende,<br />
und das Auto ist das Bewegungsprinzip an<br />
sich. Nur bleibt das Bleibende nicht, derzeit<br />
gibt es in Deutschland keine gesunde<br />
Weißtanne mehr. DasAuto ist eine Art Verursacherprinzip<br />
auf der Flucht; es verbreitet<br />
Kohlenmonoxid, Stichoxid und Blei und<br />
entfernt sich rasch vom Ort der Tat. Die<br />
Entdeckung der Langsamkeit wäre eine<br />
verantwortliche Form, die Folgen des eigenen<br />
Tuns zu realisieren. Vergegenwärtigung<br />
is.t das Merkmal der jetzigen Umweltdiskussion.<br />
Sie darf sich mit der Verlangsamung<br />
nicht zuviel Zeit lassen.