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Die erste Person Singular in der Wissenschaft - IGPP

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<strong>Die</strong> <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong><br />

Harald Atmanspacher<br />

Institut für Grenzgebiete <strong>der</strong> Psychologie, Freiburg<br />

Collegium Helveticum, Zürich<br />

1 <strong>Wissenschaft</strong>: öffentlich o<strong>der</strong> privat?<br />

Im Titel e<strong>in</strong>es Artikels, den er <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeitschrift Philosophy of Science im Jahre 1940<br />

publizierte, stellte <strong>der</strong> amerikanische Physiker Percy Williams Bridgman die Frage<br />

“<strong>Wissenschaft</strong>: öffentlich o<strong>der</strong> privat?” Der Kontext dieses Artikels 1 war das Ersche<strong>in</strong>en<br />

<strong>der</strong> <strong>erste</strong>n Bände <strong>der</strong> International Encyclopedia of Unified Science, herausgegeben<br />

von Otto Neurath, Rudolf Carnap und Charles Morris, sämtlich Vertreter des<br />

logischen Positivismus an <strong>der</strong> Universität Chicago.<br />

Bridgman (1882–1961) verbrachte se<strong>in</strong>e wissenschaftliche<br />

Laufbahn von <strong>der</strong> Promotion 1908 bis zur Emeritierung 1954<br />

an <strong>der</strong> Harvard Universität im amerikanischen Cambridge<br />

(MA), wo er ab 1926 zunächst den Hollis-Lehrstuhl für Mathematik<br />

und Naturphilosophie, von 1950 an den Higg<strong>in</strong>s-<br />

Lehrstuhl <strong>in</strong>nehatte. Seit 1918 war er Mitglied <strong>der</strong> National<br />

Academy of Sciences <strong>der</strong> USA, 1942 Präsident <strong>der</strong> American<br />

Physical Society. Bridgman erhielt 1946 den Physik-<br />

Nobelpreis für se<strong>in</strong>e Arbeiten zur Wirkung extrem hohen<br />

Drucks auf Materialien und ihr thermodynamisches Verhalten.<br />

Er war Ehrendoktor etlicher weltweit renommierter Universitäten:<br />

Stevens Institute of Technology, Harvard, Brooklyn<br />

Polytechnic, Pr<strong>in</strong>ceton, Sorbonne, Yale.<br />

Angesichts e<strong>in</strong>es solchen Lebenslaufs steht ausser Frage, dass es sich hier um jemanden<br />

handelt, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> den Gepflogenheiten und Abläufen des wissenschaftlichen<br />

Alltags auskannte. <strong>Die</strong> Zielrichtung <strong>der</strong> “Unity-of-Science-Bewegung” kommentiert er<br />

folgen<strong>der</strong>massen (S. 44):<br />

Es ist me<strong>in</strong>e Ansicht, dass <strong>Wissenschaft</strong> wesentlich privat ist, woh<strong>in</strong>gegen die<br />

nahezu universelle Gegenansicht, wie sie ausdrücklich <strong>in</strong> vielen Artikeln <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Enzyklopädie formuliert wurde, dar<strong>in</strong> besteht, dass sie öffentlich se<strong>in</strong> muss.<br />

Im Laufe se<strong>in</strong>es Artikels erläutert er se<strong>in</strong>en Standpunkt, und weil sie so zentral für das<br />

Thema me<strong>in</strong>es Beitrages s<strong>in</strong>d, gebe ich auszugsweise e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Ausführungen hier<br />

<strong>in</strong> voller Länge wie<strong>der</strong> (S. 56–59):<br />

1 P.W. Bridgman: “Science: Public or Private”, Philosophy of Science 7, 36–48 (1940). Der Artikel<br />

wurde nachgedruckt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Reflections of a Scientist, Philosophical Library New York, 1955,<br />

S. 43–61. <strong>Die</strong> von mir übersetzten Zitate beziehen sich auf diesen Nachdruck. Ich b<strong>in</strong> Jiří Wackermann<br />

für den H<strong>in</strong>weis auf Bridgmans Artikel zu Dank verpflichtet.<br />

1


Es geht nicht darum, ob es vorteilhafter ist, den privaten o<strong>der</strong> den öffentlichen<br />

Aspekt von <strong>Wissenschaft</strong> zu betonen. Es geht um etwas Tieferes, nämlich um<br />

den unvermeidlich zweideutigen Charakter vieler Begriffe, die wir verwenden,<br />

um zu beschreiben, was uns und unseren Mitmenschen geschieht. Bei Begriffen,<br />

die Empf<strong>in</strong>dungen ausdrücken, ist das evident: “me<strong>in</strong> Schmerz” und “de<strong>in</strong><br />

Schmerz”, o<strong>der</strong> “me<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>” und “de<strong>in</strong> Bewusstse<strong>in</strong>” s<strong>in</strong>d offensichtlich<br />

unterschiedlich, weil die dazugehörigen Erfahrungen unterschiedlich s<strong>in</strong>d, und<br />

weil das, was wir tun, um zu entscheiden, ob wir “me<strong>in</strong> Schmerz” o<strong>der</strong> “de<strong>in</strong><br />

Schmerz” sagen, unterschiedlich ist. <strong>Die</strong>selbe Zweideutigkeit gilt ebenso für viele<br />

Begriffe, die sich auf unsere Tätigkeiten beziehen: “Ich denke” differiert von<br />

“du denkst”, und “ich begehre” von “du begehrst”. Insoweit <strong>Wissenschaft</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Tätigkeit ist, haben wir dieselbe Zweideutigkeit zu akzeptieren: “me<strong>in</strong>e <strong>Wissenschaft</strong>”<br />

ist etwas an<strong>der</strong>es als “de<strong>in</strong>e <strong>Wissenschaft</strong>”. ...<br />

Me<strong>in</strong> Punkt ist, dass die Unterschiede zwischen “me<strong>in</strong>er <strong>Wissenschaft</strong>” und<br />

“de<strong>in</strong>er <strong>Wissenschaft</strong>” so ausgesprochen wichtig s<strong>in</strong>d, dass sie deutlich unterstrichen<br />

werden müssen. Lediglich “me<strong>in</strong>e <strong>Wissenschaft</strong>” ist lebendig. Solange<br />

“de<strong>in</strong>e <strong>Wissenschaft</strong>” nicht “me<strong>in</strong>e <strong>Wissenschaft</strong>” wird, ist sie so tot und steril<br />

wie das E<strong>in</strong>setzen von Zahlen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gleichung. Daher ziehe ich es vor ... zu<br />

sagen, dass <strong>Wissenschaft</strong> “letztlich” o<strong>der</strong> “wesentlich” privat ist.<br />

Wenn ich ausdrücken möchte, was eigentlich geschieht, muss ich die <strong>erste</strong> <strong>Person</strong><br />

benutzen. Wurde es jemals h<strong>in</strong>länglich bewiesen, o<strong>der</strong> wurde überhaupt<br />

jemals die Annahme h<strong>in</strong>länglich geprüft, dass ich nicht etwas Entscheidendes<br />

verwerfe, wenn ich mich dazu zw<strong>in</strong>ge, unpersönlich zu reden? ... <strong>Die</strong> These, dass<br />

<strong>Wissenschaft</strong> adäquat als öffentlich angesehen wird, ist die These, dass private<br />

Aussagen verzichtbar s<strong>in</strong>d. Ich denke jedoch, dass dies mit grosser Sicherheit<br />

falsch ist. Wenn ich den Zeichen auf e<strong>in</strong>em Stück Papier folge, die e<strong>in</strong>e Abhandlung<br />

<strong>in</strong> symbolischer Logik ausmachen, werde ich me<strong>in</strong>e Tätigkeit erst dann<br />

als wissenschaftlich bezeichnen, wenn ich zu jedem Schritt des Prozesses sagen<br />

kann “ich v<strong>erste</strong>he”, e<strong>in</strong>e Aussage, die ebenso privat ist wie zu sagen “me<strong>in</strong> Zahn<br />

schmerzt”.<br />

Was Bridgman hier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glichen Worten skizziert, ist nicht bloss die Frage nach<br />

<strong>der</strong> Wirklichkeit von erlebten Erfahrungen, die mehr als 30 Jahre später mit Thomas<br />

Nagels Aufsatz über das Erleben <strong>der</strong> Fle<strong>der</strong>mäuse 2 nach Jahrzehnten <strong>der</strong> Versunkenheit<br />

<strong>in</strong> Psychologie, Kognitionswissenschaft und Philosophie des Geistes zurückgekehrt ist<br />

(übrigens unter <strong>der</strong> Bezeichnung <strong>der</strong> “<strong>erste</strong>n-<strong>Person</strong>-Perspektive”). Bridgman stellt<br />

vielmehr die weitergehende For<strong>der</strong>ung, dass (S. 60/61)<br />

e<strong>in</strong>e sprachliche Technik <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> nicht nur angegangen werden muss,<br />

son<strong>der</strong>n dass sie sich auch bewähren muss – alle<strong>in</strong> schon deswegen, weil e<strong>in</strong>e solche<br />

Technik wie<strong>der</strong>geben würde, was eben bei wissenschaftlicher Tätigkeit geschieht<br />

– welche sich schliesslich fraglos als sehr erfolgreich bewährt hat.<br />

E<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gehende kritische Analyse wissenschaftlicher Sprache, die Bridgmans Intention<br />

nahekommt, stammt von Peter Janich. 3 An<strong>der</strong>s als Bridgman ist Janich Fachphilosoph,<br />

und er beschäftigt sich nicht mit physikalischer Literatur, son<strong>der</strong>n zielt <strong>in</strong><br />

2 T. Nagel: “What is it like to be a bat?”, Philosophical Review 83, 435–450 (1974).<br />

3 P. Janich: Ke<strong>in</strong> neues Menschenbild. Zur Sprache <strong>der</strong> Hirnforschung, Suhrkamp, Frankfurt 2009.<br />

Es ist ke<strong>in</strong> Zufall, dass diese Analyse aus e<strong>in</strong>er konstruktivistischen Perspektive stammt, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die voll-<br />

2


die Richtung <strong>der</strong> zeitgenössischen Hirnforschung, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im H<strong>in</strong>blick auf <strong>der</strong>en<br />

Versuche, Bewusstse<strong>in</strong> zu v<strong>erste</strong>hen. <strong>Die</strong> spezielle Po<strong>in</strong>te dabei ist, dass es nun um<br />

die wissenschaftliche Untersuchung von etwas geht, mit dem diese Untersuchung selbst<br />

durchgeführt wird: das menschliche Bewusstse<strong>in</strong>.<br />

Janichs Analyse kreist um e<strong>in</strong>e Reihe von Begriffspaaren, die sämtlich <strong>in</strong> Bridgmans<br />

Thematik gehören: <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> und dritte <strong>Person</strong> (Bridgman spricht von “ich” und<br />

“du”, doch es ist klar, dass er mit “du” die heute so genannte dritte-<strong>Person</strong>-Perspektive<br />

me<strong>in</strong>t), Teilnehmer und Beobachter, Vollzug und Beschreibung.<br />

<strong>Die</strong> oben angesprochene Po<strong>in</strong>te bei diesen Begriffspaaren<br />

besteht dar<strong>in</strong>, dass, was das Thema Bewusstse<strong>in</strong><br />

betrifft, ihre klare Zuordnung zu wissenschaftlich<br />

Erklärendem (explanans) und wissenschaftlich zu Erklärendem<br />

(explanandum) unterlaufen wird. “Denken” als Vollzug<br />

wissenschaftlicher Tätigkeit ist mith<strong>in</strong> zugleich auch das<br />

“Denken”, das durch diese Tätigkeit zu beschreiben ist. Das<br />

Problem <strong>der</strong> Unterscheidung stellt sich hier mit e<strong>in</strong>er Schärfe,<br />

die Bridgmans Analyse nicht erreichen kann, da die explananda<br />

und explanantia <strong>der</strong> Physik von vornhere<strong>in</strong> getrennt konzipiert s<strong>in</strong>d: es gibt dort<br />

zwar (wie überall) vollziehende und beschreibende <strong>Wissenschaft</strong>er, und über <strong>der</strong>en<br />

Unterscheidung spricht Bridgman, aber im Objektbereich <strong>der</strong> Physik kommt e<strong>in</strong>e <strong>erste</strong>-<br />

<strong>Person</strong>-Perspektive nicht vor.<br />

<strong>Die</strong>se Asymmetrie hat sich ganz offensichtlich ohne viel Nachdenken als weith<strong>in</strong><br />

verb<strong>in</strong>dliches Modell etabliert. So kann man v<strong>erste</strong>hen, dass es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Philosophie des<br />

Geistes <strong>in</strong> Mode gekommen ist, diejenigen Begrifflichkeiten, mit <strong>der</strong>en Hilfe e<strong>in</strong>zelnen<br />

Menschen e<strong>in</strong> “ich denke” o<strong>der</strong> “ich tue” <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> zugeschrieben wird, <strong>in</strong> Frage<br />

zu stellen. Zuschreibung ist aber, im Gegensatz zur unpersönlichen Beschreibung, erfor<strong>der</strong>lich,<br />

um Urheberschaft und damit Verantwortlichkeit und damit das Verständnis<br />

und die Praxis sozialen Zusammenlebens zu begründen. Bridgman hat diese “enormen<br />

sozialen Implikationen” am Ende se<strong>in</strong>es Aufsatzes angedeutet.<br />

2 Biographie und Korrespondenz<br />

Noch heute, o<strong>der</strong> heute mehr denn je, kommt die <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong> <strong>in</strong> wissenschaftlicher<br />

Primärliteratur selten vor. Gerd Folkers hat dazu <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag zum vorliegenden<br />

Band vieles gesagt, das hier nicht wie<strong>der</strong>holt zu werden braucht. Ich möchte<br />

im folgenden untersuchen, wie Bridgmans Aufruf trotz <strong>der</strong> weitgehend unverän<strong>der</strong>ten<br />

Situation, was den Gebrauch des “ich” <strong>in</strong> wissenschaftlichen Artikeln <strong>in</strong> Fachzeitschriften<br />

und Sammelbänden, <strong>in</strong> Monographien und Lehrbüchern betrifft, <strong>in</strong> gewissem Ausmass<br />

Wirkung entfalten kann. Zugleich wird so auch e<strong>in</strong>e Option erkennbar, wie die private<br />

Komponente von <strong>Wissenschaft</strong> als erlebter Tätigkeit nachvollziehbar werden kann.<br />

<strong>Die</strong> Folie, die ich dazu verwende, ist die <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>sgeschichte, und die<br />

entsprechenden Formen von Literatur s<strong>in</strong>d die <strong>der</strong> wissenschaftlichen Biographie und<br />

ziehende, erlebte Tätigkeit, wie Bridgman sagen würde, gegenüber e<strong>in</strong>er unpersönlichen Beschreibung<br />

von ausschlaggeben<strong>der</strong> Bedeutung ist.<br />

3


<strong>der</strong> wissenschaftlichen Korrespondenz. Thomas Hank<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong> massgeblicher Vertreter<br />

<strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>sgeschichte, hat sich dazu folgen<strong>der</strong>massen geäussert: 4<br />

Zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>es ist sicher beim Thema Biographie: die<br />

Ideen und Standpunkte unseres Subjekts stammen von<br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>dividuellen Geist, und sie s<strong>in</strong>d genau <strong>in</strong> dem<br />

Mass <strong>in</strong>tegriert, <strong>in</strong> dem die betreffende <strong>Person</strong> sie <strong>in</strong> ihren<br />

eigenen Gedanken <strong>in</strong>tegrieren konnte. ... <strong>Wissenschaft</strong><br />

wird von Individuen gemacht, und wie sehr sie auch von<br />

äusseren Kräften bee<strong>in</strong>flusst wird, so wirken diese Kräfte<br />

doch durch den <strong>Wissenschaft</strong>er selbst. .... Briefe, die<br />

unter grossem emotionalen Druck geschrieben wurden,<br />

s<strong>in</strong>d das beste Korn <strong>in</strong> <strong>der</strong> Mühle des Biographen, weil<br />

sie geradewegs <strong>in</strong>s Herz <strong>der</strong> Persönlichkeit des <strong>Wissenschaft</strong>ers führen und die<br />

Quellen enthüllen, aus denen se<strong>in</strong>e Tätigkeit entspr<strong>in</strong>gt.<br />

Dennoch gab und gibt es e<strong>in</strong>e Tendenz, psychologische Elemente <strong>der</strong> unmittelbaren<br />

<strong>erste</strong>n-<strong>Person</strong> Erfahrung <strong>in</strong> <strong>der</strong> biographischen Literatur zu unterrepräsentieren. Wie<br />

Karl von Meyenn, e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er herausragen<strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>shistoriker <strong>der</strong> Gegenwart,<br />

es formuliert, 5<br />

ist die Integration psychologischer Faktoren, wie sie<br />

Stefan Zweig <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en historischen Portraits demonstriert<br />

hat, e<strong>in</strong> immer noch vernachlässigtes Kapitel<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong>sgeschichte. Für e<strong>in</strong>e vollständige<br />

Beschreibung <strong>der</strong> Kräfte, die Individuen und damit ihre<br />

wissenschaftliche Arbeit formen, ist ihre psychologische<br />

Bed<strong>in</strong>gtheit ebenso zu berücksichtigen wie <strong>in</strong>nere wissenschaftliche<br />

Zwänge und soziale Randbed<strong>in</strong>gungen. Da<br />

<strong>in</strong> den meisten Fällen <strong>der</strong> Zugang zum notwendigen Quellenmaterial<br />

durch e<strong>in</strong>e abgeschirmte Privatsphäre e<strong>in</strong>geschränkt ist, kann e<strong>in</strong><br />

solches Unternehmen nur unter aussergewöhnlichen Umständen gel<strong>in</strong>gen.<br />

H<strong>in</strong>zu kommt, dass <strong>Wissenschaft</strong>er selbst es typischerweise für irrelevant erachten,<br />

darüber zu berichten, wie es ihnen “unterwegs” bei <strong>der</strong> Arbeit ergangen ist. So etwa <strong>der</strong><br />

Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz 6 : “In me<strong>in</strong>en Abhandlungen habe<br />

ich natürlich den Leser nicht von me<strong>in</strong>en Irrwegen unterhalten, son<strong>der</strong>n ihm nur den<br />

gebahnten Weg beschrieben, auf dem er jetzt ohne Mühe die Höhe erreichen mag.” Und<br />

noch drastischer sagt es <strong>der</strong> Brite Paul Dirac, e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> Pioniere <strong>der</strong> Quantentheorie: 7<br />

4 T.L. Hank<strong>in</strong>s: “In Defence of Biography: The Use of Biography <strong>in</strong> the History of Science.” History<br />

of Science 17, 1–16 (1979). Übersetzung HA.<br />

5 K. von Meyenn: “‘<strong>Die</strong> Biographie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physikgeschichte” In <strong>Die</strong> grossen Physiker I, Beck,<br />

München 1997, S. 7–25.<br />

6 H. von Helmholtz: Vorträge und Reden, Vieweg, Braunschweig 1903, S. 14f.<br />

7 P.A.M. Dirac: “Recollections of an excit<strong>in</strong>g era.” In History of Twentieth Century Physics,<br />

ed. C. We<strong>in</strong>er, Academic, New York 1977, S. 109–146. Übersetzung HA.<br />

4


Der forschende Physiker, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Entdeckung gemacht<br />

hat, ... hat e<strong>in</strong>en mühevollen Pfad zurückgelegt, war<br />

falschen Fährten gefolgt, und se<strong>in</strong> Wunsch ist es, nicht<br />

mehr daran zu denken. Er fühlt sich vielleicht sogar e<strong>in</strong><br />

wenig beschämt und ist mit sich unzufrieden, dass er so<br />

lange brauchte. ... Sobald e<strong>in</strong>e Entdeckung gemacht ist,<br />

sche<strong>in</strong>t sie im Allgeme<strong>in</strong>en so selbstverständlich, dass man<br />

überrascht ist, dass niemand zuvor daran dachte. Aus<br />

dieser Warte wird niemand wünschen, sich an all die Arbeit<br />

zu er<strong>in</strong>nern, die zu <strong>der</strong> Entdeckung führte.<br />

Dessen ungeachtet gibt es e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Fällen, <strong>in</strong> denen – zum<strong>in</strong>dest<br />

fragmentarisch – private Zeugnisse grosser <strong>Wissenschaft</strong>er vorliegen und zu e<strong>in</strong>gehenden<br />

Fallstudien verwendet wurden. Als Beispiele seien etwa die Namen von Gauss,<br />

Helmholtz, E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> und Po<strong>in</strong>caré genannt. Aufschlussreiches Material, vor allem im<br />

H<strong>in</strong>blick auf wissenschaftliche E<strong>in</strong>sichtsprozesse, hat <strong>der</strong> französische Mathematiker<br />

Jacques Hadamard zusammengestellt. 8<br />

Karl von Meyenn hat mit se<strong>in</strong>en meisterhaften Editionen wissenschaftlicher Korrespondenz,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>der</strong> von Wolfgang Pauli, 9 dazu beigetragen, dass – wie er selbst<br />

sagt – <strong>der</strong> “aussergewöhnliche Umstand”, h<strong>in</strong>ter den Vorhang <strong>der</strong> Privatsphäre blicken<br />

zu können, heute zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen vorliegt. Ich werde im Folgenden anhand<br />

von Fallstudien aus Paulis Leben und Werk diskutieren, wie zentral die private Sicht<br />

<strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> se<strong>in</strong> kann, um den H<strong>in</strong>tergrund grosser wissenschaftlicher E<strong>in</strong>sichten<br />

besser zu v<strong>erste</strong>hen. In Paulis Fall geht es gelegentlich sogar um mehr: die E<strong>in</strong>ordnung<br />

dieses H<strong>in</strong>tergrundes <strong>in</strong> den kulturgeschichtlichen Kontext se<strong>in</strong>er Zeit.<br />

3 Fallstudie Wolfgang Pauli<br />

Wolfgang Pauli wurde als Sohn jüdischer E<strong>in</strong>wan<strong>der</strong>er aus Prag im Jahr 1900 <strong>in</strong> Wien<br />

geboren. Nach <strong>der</strong> Schulzeit studierte er 1918 bis 1921 Physik an <strong>der</strong> Universität <strong>in</strong><br />

München. In dieser Zeit schrieb er e<strong>in</strong>en Übersichtsartikel zur Relativitätstheorie, <strong>der</strong><br />

se<strong>in</strong>en Ruf als Wun<strong>der</strong>k<strong>in</strong>d “über Nacht” weltweit bekannt machte. Se<strong>in</strong> Studium<br />

schloss er mit e<strong>in</strong>er Dissertation über das Energiespektrum des Wasserstoffmolekülions<br />

H + 2 bei Arnold Sommerfeld ab. Anschliessend verbrachte er e<strong>in</strong>ige Zeit mit Zusammenarbeiten<br />

mit Max Born <strong>in</strong> Gött<strong>in</strong>gen und Niels Bohr <strong>in</strong> Kopenhagen, bevor er 1924 als<br />

Privatdozent an die Universität Hamburg g<strong>in</strong>g.<br />

In die Zeit <strong>in</strong> Hamburg fällt die Entdeckung des Ausschliessungspr<strong>in</strong>zips, das man –<br />

zusammen mit se<strong>in</strong>en Konsequenzen – wohl als Paulis wissenschaftliche Hauptleistung<br />

8 J. Hadamard: The Psychology of Invention <strong>in</strong> the Mathematical Field, Dover, New York 1954.<br />

Siehe zum Beispiel auch D.K. Simonton: Scientific Genius: A Psychology of Science, Cambridge<br />

University Press, 1988; A. Kantorovich: Scientific Discovery, State University of New York, 1993;<br />

A.I. Miller: Insights of Genius, MIT Press, Cambridge 2000.<br />

9 Der wissenschaftliche Briefwechsel von Pauli liegt mittlerweile <strong>in</strong> acht Bänden auf ca. 7000 Seiten<br />

vor, erschienen von 1979 bis 2005 bei Spr<strong>in</strong>ger (Berl<strong>in</strong>), und enthält umfangreiche und detaillierte<br />

Kommentare und Erläuterungen.<br />

5


ansehen darf. Später, 1945, wurde ihm dafür <strong>der</strong> Nobelpreis für Physik verliehen.<br />

Das Ausschliessungspr<strong>in</strong>zip besagt, dass jeweils nur e<strong>in</strong> (<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Atom) gebundenes<br />

Elektron <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zustand se<strong>in</strong> kann, <strong>der</strong> durch se<strong>in</strong>e vier Quantenzahlen e<strong>in</strong>deutig<br />

bestimmt ist. Wesentlich für die Formulierung dieses Pr<strong>in</strong>zips, <strong>der</strong> ich <strong>in</strong> Abschnitt 3.1<br />

im E<strong>in</strong>zelnen nachgehen werde, war das Postulat eben jener vierten Quantenzahl für<br />

den Sp<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> den damals gültigen Atommodellen nicht enthalten war.<br />

Im Jahre 1928 nahm Pauli e<strong>in</strong>en Ruf auf e<strong>in</strong>e Professur für theoretische Physik<br />

an <strong>der</strong> ETH Zürich an, wo er zunächst bis 1939 arbeitete. Was er später als se<strong>in</strong>e<br />

grosse Lebenskrise bezeichnete, ereignete sich um die Zeit se<strong>in</strong>er kurzen Ehe mit Käthe<br />

Deppner von Ende 1929 bis Ende 1930. <strong>Die</strong>se Lebenskrise war <strong>der</strong> Anlass, <strong>der</strong> Pauli<br />

<strong>in</strong> Kontakt mit dem Züricher Psychologen Carl Gustav Jung brachte und, wie <strong>in</strong> Abschnitt<br />

3.2 diskutiert wird, für die spätere Ausformung von Paulis Weltanschauung von<br />

entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung war.<br />

E<strong>in</strong> zentraler Punkt bei diesen weltanschaulichen Fragen<br />

bestand im Verständnis des psychophysischen Problems, das<br />

Pauli nach se<strong>in</strong>er Rückkehr aus dem Exil (1940–1946) am Institute<br />

for Advanced Study <strong>in</strong> Pr<strong>in</strong>ceton geme<strong>in</strong>sam mit Jung<br />

entwickelte. Ich werde <strong>in</strong> Abschnitt 3.3 anhand von Paulis<br />

Briefwechsel skizzieren, wie sich se<strong>in</strong>e Ideen dazu entwickelt<br />

haben. Me<strong>in</strong>e Ausführungen werden im Wesentlichen auf die<br />

dabei speziell zu untersuchenden Fragen zugespitzt se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong>e<br />

umfassende, sehr gründliche wissenschaftliche Biographie von<br />

Pauli stammt von Charles Enz, se<strong>in</strong>em letzten Assistenten an<br />

<strong>der</strong> ETH <strong>in</strong> Zürich. 10<br />

3.1 Ausschliessungspr<strong>in</strong>zip und Sp<strong>in</strong>:<br />

Abkehr von <strong>der</strong> Anschaulichkeit<br />

Pauli schrieb <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Aufsatz des Jahres 1957, 11 dass hoffentlich “niemand mehr <strong>der</strong><br />

Me<strong>in</strong>ung ist, dass Theorien durch zw<strong>in</strong>gende logische Schlüsse aus Protokollbüchern<br />

abgeleitet werden, e<strong>in</strong>e Ansicht, die <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Studententagen noch sehr <strong>in</strong> Mode<br />

war.” Aber wenn das nicht <strong>der</strong> Fall ist (ich b<strong>in</strong> im übrigen ke<strong>in</strong>eswegs überzeugt, dass<br />

selbst heute, im Jahre 2011, diese “Ansicht” wirklich ausgestorben ist), woher kommen<br />

die Theorien dann? Pauli spricht hier vom Vorgang des V<strong>erste</strong>hens als e<strong>in</strong>em “zur<br />

Deckung kommen von <strong>in</strong>neren Bil<strong>der</strong>n mit äusseren Objekten und ihrem Verhalten”.<br />

Woher also kommen die <strong>in</strong>neren Bil<strong>der</strong>?<br />

Der junge Pauli, <strong>der</strong> im Alter von 24 Jahren e<strong>in</strong>e zusätzliche, zweiwertige Eigenschaft<br />

von Elektronen (den Sp<strong>in</strong>) e<strong>in</strong>führte, die zusammen mit dem Ausschliessungspr<strong>in</strong>zip<br />

die Stabilität <strong>der</strong> Materie sowie die Struktur des Periodensystems <strong>der</strong> Elemente<br />

erklärt, 12 gibt <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Publikationen o<strong>der</strong> Briefen <strong>der</strong> 1920er Jahre ke<strong>in</strong>erlei Auf-<br />

10 C. Enz: No Time to Be Brief, Oxford University Press, 2002.<br />

11 W. Pauli: “Phänomen und physikalische Realität”, Dialectica 11, 36–48 (1957).<br />

12 <strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Entdeckung des Elektronensp<strong>in</strong>s und des Ausschliessungspr<strong>in</strong>zips <strong>in</strong> den Jahren<br />

1924–1926 ist <strong>in</strong> Wirklichkeit komplexer. Siehe dazu und zu den parallelen Arbeiten von Goudsmit<br />

und Uhlenbeck die Pauli-Biographie von Enz, S. 106–129; darüber h<strong>in</strong>aus K. von Meyenn (1988):<br />

6


schluss über “<strong>in</strong>nere Bil<strong>der</strong>” – e<strong>in</strong>iges spricht dafür, dass er von ihnen damals nicht die<br />

ger<strong>in</strong>gste Ahnung hatte.<br />

Erst <strong>in</strong> den 1950er Jahren, als sich se<strong>in</strong>e philosophischen Interessen vertieften,<br />

analysierte er retrospektiv, wie er zur Formulierung des Ausschliessungspr<strong>in</strong>zips kam.<br />

Was ihn dazu brachte, war e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>tensive Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Keplers Entdeckung<br />

<strong>der</strong> Gesetze <strong>der</strong> Planetenbewegung, und <strong>in</strong> diesem Zusammenhang se<strong>in</strong>e Kontroverse<br />

mit dem englischen Alchemisten Robert Fludd. 13 Dabei tauchten als wesentliche<br />

Symbole die <strong>der</strong> Tr<strong>in</strong>ität und <strong>der</strong> Quaternität auf, die Pauli weniger theologisch <strong>in</strong>terpretierte<br />

denn als unbewusst angelegte, elementare, unanschauliche Strukturpr<strong>in</strong>zipien<br />

für bewusste Tätigkeit.<br />

Genau solche Symbole s<strong>in</strong>d es, auf die Pauli mit dem Begriff <strong>der</strong> “<strong>in</strong>neren Bil<strong>der</strong>”<br />

h<strong>in</strong>wies, die se<strong>in</strong>er Ansicht nach im Prozess des V<strong>erste</strong>hens, bei <strong>der</strong> Entstehung von<br />

E<strong>in</strong>sicht, e<strong>in</strong>e herausragende Rolle spielen. <strong>Die</strong>s ist ganz im S<strong>in</strong>n von Bridgman, wenn<br />

dieser die private Aussage des “ich v<strong>erste</strong>he” <strong>in</strong>s Zentrum se<strong>in</strong>er Ausführungen rückt.<br />

Und ebenso privat wie das Erlebnis <strong>der</strong> E<strong>in</strong>sicht selbst ist natürlich auch <strong>der</strong> Charakter<br />

<strong>der</strong> Bil<strong>der</strong>, die zu ihr führen. Sie geben Auskunft darüber, wie sich <strong>der</strong> Erkenntnisvorgang<br />

im betroffenen Individuum abgespielt hat, aber es wäre verfehlt anzunehmen,<br />

dass sie für an<strong>der</strong>e den Nachvollzug <strong>der</strong> erzielten E<strong>in</strong>sicht <strong>in</strong> ihrer wissenschaftlichen<br />

Bedeutung erleichtern.<br />

Es würde hier zu weit führen, detailliert auf die Kepler-Fludd-Kontroverse <strong>in</strong> ihrer<br />

ganzen Tragweite für Pauli e<strong>in</strong>zugehen. 14 In e<strong>in</strong>em Brief an Fierz vom 3. 10. 1951<br />

skizzierte er se<strong>in</strong>en Weg zum Ausschliessungspr<strong>in</strong>zip wie folgt:<br />

Ich b<strong>in</strong> ja auf Kepler als Tr<strong>in</strong>itarier und Fludd als Quaternarier gestossen – und<br />

fühlte bei mir selbst, mit <strong>der</strong>en Polemik, e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>neren Konflikt mitschw<strong>in</strong>gen.<br />

... Übrigens möchte ich bemerken, dass e<strong>in</strong>st (<strong>in</strong> Hamburg) me<strong>in</strong> Weg zum Ausschliessungspr<strong>in</strong>zip<br />

eben mit dem schwierigen Übergang von 3 zu 4 zu tun hatte:<br />

nämlich mit <strong>der</strong> Notwendigkeit, dem Elektron statt <strong>der</strong> drei Translationen, noch<br />

e<strong>in</strong>en weiteren vierten Freiheitsgrad (<strong>der</strong> bald darauf als “Sp<strong>in</strong>” erklärt wurde)<br />

zuzuschreiben. Mich dazu durchzur<strong>in</strong>gen, dass entgegen <strong>der</strong> naiven “Anschauung”<br />

auch die vierte Quantenzahl die Eigenschaft e<strong>in</strong>es und desselben Elektrons<br />

ist ... – das war eigentlich die Hauptarbeit.<br />

Dass Pauli sich <strong>in</strong> diesem Zitat, wie auch sonst oft, gegen die “naive Anschauung”<br />

wendet, kommt nicht von ungefähr. Unter allen physikalischen Theorien traten<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Quantenphysik mit beson<strong>der</strong>er Schärfe Probleme <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung, die e<strong>in</strong> “konkretistisches”,<br />

vom sogenannten “gesunden Menschenverstand” geleitetes Verständnis<br />

Paulis Briefe als Wegbereiter wissenschaftlicher Ideen, <strong>in</strong> Wolfgang Pauli. Das Gewissen <strong>der</strong> Physik,<br />

ed. by C.P. Enz and K. von Meyenn, Vieweg, Braunschweig, pp. 20–39, sowie D. Giul<strong>in</strong>i (2008):<br />

Electron sp<strong>in</strong> or “classically non-describable two-valuedness”? Studies <strong>in</strong> the History and Philosophy<br />

of Mo<strong>der</strong>n Physics 39, 557–578.<br />

13 W. Pauli: “Der E<strong>in</strong>fluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher<br />

Theorien bei Kepler”. In Naturerklärung und Psyche, hrsg. von C.G. Jung und W. Pauli, Rascher,<br />

Zürich 1952, S. 109–194.<br />

14 Siehe dazu etwa ergänzend zu Paulis eigener Arbeit auch H. Atmanspacher: “Wolfgang Pauli und<br />

die Alchemie II – Das Opus Alchymicum”. Zeitschrift für Grenzgebiete <strong>der</strong> Psychologie 34, 131–162<br />

(1992).<br />

7


von Wirklichkeit radikal h<strong>in</strong>terfragten. In diesem S<strong>in</strong>n zeigt sich bis <strong>in</strong> die Gegenwart,<br />

wie sogenanntes “anschauliches Denken” <strong>in</strong> die Irre führen und somit e<strong>in</strong>en blockierenden<br />

statt för<strong>der</strong>lichen Faktor bei Erkenntnisprozessen darstellen kann. 15<br />

Für Pauli bedeutete diese Wendung unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong>e<br />

Abkehr vom Standpunkt Ernst Machs (se<strong>in</strong>es Taufpaten) und<br />

des “Wiener Kreises”, <strong>der</strong> sich später zu <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs (Abschnitt<br />

1) erwähnten e<strong>in</strong>flussreichen Richtung des logischen<br />

Positivismus entwickelte. Pauli beschrieb se<strong>in</strong>e Abkehr vom<br />

puren Empirismus – ebenfalls retrospektiv – sehr ausführlich<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Jung vom 31. 3. 1953, <strong>in</strong> dem er sich<br />

nachdrücklich gegen “das totale Elimieren alles dessen aus <strong>der</strong><br />

Naturerklärung, was ‘nicht feststellbar hic et nunc’ ist”, aussprach.<br />

<strong>Die</strong>sem Credo Machs, das Pauli für undurchführbar<br />

hielt, setzte er psychophysisch neutrale Ordnungstrukturen entgegen, die nur <strong>in</strong>direkt<br />

durch ihre Wirkungen feststellbar s<strong>in</strong>d – die sogenannten Archetypen. Dazu komme<br />

ich im folgenden Abschnitt.<br />

Es darf als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Lektionen <strong>der</strong> Quantenphysik gelten, dass ihre Veranschaulichung<br />

oft zu den irreführenden klassischen Bil<strong>der</strong>n führt, die durch die Quantenphysik gerade<br />

überwunden werden. Schwierige und ungewohnte Sachverhalte v<strong>erste</strong>ht man nicht<br />

durch billige Vere<strong>in</strong>fachung, son<strong>der</strong>n durch die E<strong>in</strong>sicht dessen, was daran schwierig<br />

und ungewohnt ist. Damit verb<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> nachdrückliches Plädoyer gegen sche<strong>in</strong>bar<br />

hilfreiche Konkretisierung und Anschaulichkeit. Wie Kognitionswissenschaftler<br />

jüngst herausfanden, kann es bei Lernprozessen sehr för<strong>der</strong>lich se<strong>in</strong>, zuerst abstrakte<br />

Pr<strong>in</strong>zipien und erst danach konkrete Beispiele dafür zu lernen. 16<br />

E<strong>in</strong>e zentrale neue Erkenntnis <strong>der</strong> Quantentheorie besteht dar<strong>in</strong>, dass Systeme<br />

Eigenschaften haben (können), welche we<strong>der</strong> zugleich e<strong>in</strong>deutig feststehen noch (demzufolge)<br />

e<strong>in</strong>deutig feststellbar, zum Beispiel messbar, s<strong>in</strong>d. Bohr führte dafür das Konzept<br />

<strong>der</strong> Komplementarität <strong>in</strong> die Physik e<strong>in</strong>: Beschreibungen e<strong>in</strong>es Systems (zum Beispiel<br />

durch A und B) s<strong>in</strong>d komplementär, wenn sie sich gegenseitig ausschliessen, aber an<strong>der</strong>erseits<br />

beide zusammen für e<strong>in</strong>e vollständige Charakterisierung des Systems erfor<strong>der</strong>lich<br />

s<strong>in</strong>d.<br />

Im Unterschied zur klassischen Logik nach George Boole, <strong>der</strong>en tertium non datur<br />

for<strong>der</strong>t, dass e<strong>in</strong>e Aussage entwe<strong>der</strong> wahr o<strong>der</strong> falsch ist, gilt für die Quantenphysik e<strong>in</strong>e<br />

erweiterte Aussagenlogik, die zuerst 1935 von Garrett Birkhoff und John von Neumann<br />

diskutiert wurde. Sie hat durch die Komplementarität von Aussagen e<strong>in</strong>e Struktur, die<br />

15 So betonte auch Bohr im H<strong>in</strong>blick auf die Quantentheorie immer wie<strong>der</strong> das “Versagen <strong>der</strong> Anschauungsformen,<br />

die an unsere gewöhnlichen S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke angepasst s<strong>in</strong>d”. Siehe N. Bohr: Atomic<br />

Theory and the Description of Nature, Cambridge University Press, Cambridge 1934, S. 93): “... das<br />

Versagen <strong>der</strong> Anschauungsformen, die an unsere gewöhnlichen S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke angepasst s<strong>in</strong>d”, o<strong>der</strong><br />

ähnlich auf S. 51, 96, 103, 108, 111. Und (S. 5): “... es geht um die Erkenntnis physikalischer Gesetze,<br />

die ausserhalb unserer gewöhnlichen Erfahrung liegen und unseren gewohnten Wahrnehmungsformen<br />

Schwierigkeiten bereiten.” Übersetzung HA.<br />

16 Entsprechende Befunde (J.A. Kam<strong>in</strong>ski, V.M. Sloutsky, and A.F. Heckler: “The advantage of<br />

abstract examples <strong>in</strong> learn<strong>in</strong>g math”. Science 320, 454–455 (2008)) stellen das sorgsam gehegte<br />

pädagogische Dogma, allgeme<strong>in</strong>e abstrakte Strukturen durch konkrete anschauliche Beispiele zu lernen,<br />

vom Kopf auf die Füsse.<br />

8


nur partiell Boolesch ist. Lokal Boolesche Substrukturen werden so zusammengefügt,<br />

dass die entstehende Gesamtstruktur global nicht-Boolesch ist. 17<br />

Ich erwähne diese Punkte auch als Kommentare zu Bridgmans For<strong>der</strong>ung nach e<strong>in</strong>er<br />

“sprachlichen Technik”, die den öffentlichen, objektivierten Aspekt von <strong>Wissenschaft</strong><br />

üb<strong>erste</strong>igt. <strong>Die</strong>ser Aspekt bedient sich vielfach, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e im logischen Empirismus,<br />

e<strong>in</strong>er Booleschen Aussagenlogik. Wenn es h<strong>in</strong>gegen darum geht, wissenschaftliche<br />

Sachverhalte zu formulieren, die als komplementär aufgefasst werden müssen, werden<br />

Formen von Sprache erfor<strong>der</strong>lich, denen e<strong>in</strong>e erweiterte Logik zugrunde liegt. Vielleicht<br />

gilt dies sogar für die Beziehung zwischen dritter-<strong>Person</strong> und <strong>erste</strong>r-<strong>Person</strong> Perspektive<br />

selbst. 18 Um manch neue E<strong>in</strong>sichten <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> zu v<strong>erste</strong>hen, könnte es se<strong>in</strong>,<br />

dass wir dabei zugleich erst lernen müssen, was “v<strong>erste</strong>hen” bedeutet.<br />

3.2 Paulis Lebenskrise:<br />

Konfrontation mit dem “Objektiv-Psychischen”<br />

Gegen Ende <strong>der</strong> 1920er Jahre begann für Pauli e<strong>in</strong>e Zeit emotionaler Turbulenzen,<br />

die er – wie angedeutet – später selbst als se<strong>in</strong>e grosse Lebenskrise bezeichnete. Sie<br />

wurde, auch von Pauli selbst, se<strong>in</strong>en massiven Problemen im Umgang mit Frauen<br />

zugeschrieben, und damit vor allem se<strong>in</strong>er kurzen Ehe mit Käthe Deppner 1929-1930.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus kann man aber spekulieren, dass auch <strong>der</strong> Selbstmord se<strong>in</strong>er Mutter<br />

im November 1927 und die kurz darauf beg<strong>in</strong>nende zweite Ehe se<strong>in</strong>es Vaters im<br />

Zusammenhang damit standen. 19<br />

Neben diesen persönlichen D<strong>in</strong>gen lag das zweite wesentliche Moment <strong>der</strong> Instabilität,<br />

die mit je<strong>der</strong> Krise e<strong>in</strong>hergeht, jedoch im weltanschaulichen Bereich. Pauli<br />

musste, unter dem Druck <strong>der</strong> teils von ihm selbst, teils von an<strong>der</strong>en erarbeiteten neuen<br />

Resultate und Konzepte <strong>der</strong> Quantentheorie e<strong>in</strong>e ganze Reihe althergebrachter E<strong>in</strong>stellungen<br />

revidieren, die die Physik des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts geprägt hatten. Se<strong>in</strong>e Wende<br />

vom re<strong>in</strong> empirischen Standpunkt à la Mach zu e<strong>in</strong>er Orientierung, die auch ontologische<br />

(metaphysische) Positionen erlaubte und schliesslich sogar for<strong>der</strong>te, spielt dabei<br />

wohl e<strong>in</strong>e herausragende Rolle. Es gibt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ideengeschichte e<strong>in</strong>e ganze Reihe von<br />

Beispielen, die das Krisenpotential <strong>der</strong>artiger weltanschaulicher Verän<strong>der</strong>ungen belegen.<br />

Wolfgang Pauli zählt sicherlich dazu.<br />

Se<strong>in</strong>e analytische Behandlung, zunächst durch Erna Rosenbaum, e<strong>in</strong>e Mitarbeiter<strong>in</strong><br />

von Jung, dann durch Jung selbst, begann im Februar 1932 und wurde im Oktober 1934<br />

erfolgreich abgeschlossen. Im April des gleichen Jahres hatte Pauli erneut geheiratet,<br />

dieses Mal die Münchner<strong>in</strong> Franca Bertram, mit <strong>der</strong> er bis zu se<strong>in</strong>em Tod 1958 verbunden<br />

blieb. Viele Details, die für den Kontext <strong>der</strong> Analyse <strong>in</strong>teressant s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em kürzlich erschienenen Artikel von Karl von Meyenn nachzulesen. 20 Für Paulis<br />

17 Wer sich für Details dazu <strong>in</strong>teressiert, f<strong>in</strong>det diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em jüngeren Artikel von H. Primas:<br />

“Non-Boolean descriptions of m<strong>in</strong>d-matter problems”, M<strong>in</strong>d and Matter 5, 7–44 (2007).<br />

18 M. Velmans hat diese Vermutung erstmals 1991 geäussert, und zwar <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Artikel “Consciousness<br />

from a first-person perspective”, Behavioral and Bra<strong>in</strong> Sciences 14, 702–726.<br />

19 An Marie-Louise von Franz, e<strong>in</strong>e Mitarbeiter<strong>in</strong> Jungs, schrieb er am 6. 11. 1953: “Me<strong>in</strong> Vater hat<br />

bald nach dem Tod me<strong>in</strong>er Mutter zum zweiten Mal (e<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Alter!) geheiratet.”.<br />

20 K. von Meyenn: “Dreams and fantasies of a quantum physicist”, M<strong>in</strong>d and Matter 9, 9–35 (2011).<br />

9


weltanschauliche Wende ist dagegen etwas an<strong>der</strong>es bedeutsam, was er <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief<br />

an se<strong>in</strong>en Kollegen Ralph Kronig vom 3. 8. 1934 rückblickend so formulierte:<br />

Ich hatte grosse Angst vor allem Gefühlsmässigen und habe daher dieses verdrängt.<br />

<strong>Die</strong>s bewirkte schliesslich e<strong>in</strong>e Anhäufung aller gefühlsmässigen Ansprüche<br />

im Unbewussten und e<strong>in</strong>e Revolte des letzteren gegen e<strong>in</strong>e zu e<strong>in</strong>seitig<br />

gewordene E<strong>in</strong>stellung des Bewusstse<strong>in</strong>s, was sich <strong>in</strong> Verstimmung, <strong>in</strong> Werteverlust<br />

und sonstigen neurotischen Ersche<strong>in</strong>ungen geäussert hat. Nachdem ich<br />

so etwa im W<strong>in</strong>ter 1931/32 zu e<strong>in</strong>em ziemlichen Tiefpunkt gekommen war, g<strong>in</strong>g<br />

es dann langsam wie<strong>der</strong> aufwärts. Dabei machte ich auch Bekanntschaft mit<br />

psychischen D<strong>in</strong>gen, die ich früher nicht kannte und die ich unter dem Namen<br />

Eigentätigkeit <strong>der</strong> Seele zusammenfassen will. Dass es hier D<strong>in</strong>ge gibt, die spontane<br />

Wachstumsprodukte s<strong>in</strong>d und als Symbole bezeichnet werden können, e<strong>in</strong><br />

Objektiv-Psychisches, das nicht aus materiellen Ursachen erklärt werden kann<br />

und soll, steht für mich ausser Zweifel.<br />

Drei D<strong>in</strong>ge am Ende dieses Zitats s<strong>in</strong>d beson<strong>der</strong>s bedeutsam: (i) die Eigentätigkeit<br />

<strong>der</strong> Seele, die zu Symbolen als spontanen Wachstumsprodukten führt, (ii) die antireduktive<br />

Position, was <strong>der</strong>en Erklärung durch materielle Ursachen betrifft, und (iii)<br />

schliesslich <strong>der</strong> merkwürdige Begriff des Objektiv-Psychischen, den Pauli später präzisieren<br />

wird.<br />

(i) Dass Pauli hier auf das Symbolische zu sprechen kommt, steht <strong>in</strong> engem Zusammenhang<br />

mit se<strong>in</strong>er Abkehr vom anschaulichen Denken. Auch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Träumen –<br />

um die geht es vor allem, wenn er von “Bekanntschaft mit psychischen D<strong>in</strong>gen” spricht<br />

– bemerkte er, dass h<strong>in</strong>ter dem, das sich direkt erfahren und feststellen lässt, etwas<br />

verborgen liegt, um das es eigentlich und wesentlich geht. Ähnlich wie das Resultat<br />

e<strong>in</strong>er physikalischen Messung erst <strong>in</strong>terpretiert werden muss, damit se<strong>in</strong>e Bedeutung<br />

klar wird, ist <strong>der</strong> erzählte Traum<strong>in</strong>halt erst so zu <strong>in</strong>terpretieren, dass das wahrgenommen<br />

werden kann, was symbolisch geme<strong>in</strong>t ist. Pauli sagt dazu später <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief<br />

an se<strong>in</strong>en Kollegen Markus Fierz vom 12. 8. 1948:<br />

Was mir unter <strong>der</strong> neuen Wirklichkeitsidee vorschwebt, möchte ich versuchsweise<br />

nennen: die Idee <strong>der</strong> Wirklichkeit des Symbols. E<strong>in</strong> Symbol ist e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Produkt<br />

<strong>der</strong> Anstrengung des Menschen, an<strong>der</strong>erseits e<strong>in</strong> Zeichen für e<strong>in</strong>e objektive<br />

Ordnung im Kosmos, von <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch nur e<strong>in</strong> Teil ist.<br />

(ii) Dass Pauli sich nicht auf e<strong>in</strong>e Reduktion von Symbolen “auf materielle Ursachen”<br />

e<strong>in</strong>lassen konnte, liegt damit schon fast auf <strong>der</strong> Hand. Er machte dies später<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Leon Rosenfeld vom 1. 4. 1952 dadurch deutlich, dass er nicht nur<br />

gegen reduktiven Materialismus, son<strong>der</strong>n gegen die Dichotomie von Materie und Geist<br />

überhaupt Stellung bezog:<br />

Für die unsichtbare Realität, von <strong>der</strong> wir sowohl <strong>in</strong> <strong>der</strong> Quantenphysik wie <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Psychologie des Unbewussten e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Stück bereits vor uns haben, muss<br />

letzten Endes e<strong>in</strong>e symbolische psyhophysische E<strong>in</strong>heits-Sprache das Adäquate<br />

se<strong>in</strong>, und das ist das ferne Ziel, dem ich eigentlich zustrebe. Ich habe volle Zuversicht,<br />

dass man zum Schluss zum gleichen Ziel kommen muss, ob man nun von<br />

<strong>der</strong> Psyche (den Ideen) o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Physis (<strong>der</strong> Materie) se<strong>in</strong>en Ausgangspunkt<br />

nimmt – weshalb ich die alte Unterscheidung Materialismus contra Idealismus<br />

für überholt halte.<br />

10


(iii) Dass Pauli den Begriff des “Objektiv-Psychischen” verwendet, mutet deswegen<br />

seltsam an, weil konventionell mit dem Psychischen ja gerade das Subjektive geme<strong>in</strong>t<br />

ist. Offenbar hat er etwas im S<strong>in</strong>n, was sich nicht materiell, son<strong>der</strong>n psychisch zeigt,<br />

aber dennoch – zum<strong>in</strong>dest se<strong>in</strong>er Ansicht nach – über<strong>in</strong>dividuelle bzw. <strong>in</strong>tersubjektive<br />

Gültigkeit besitzt. Natürlich kannte Pauli zu dieser Zeit bereits Jungs Konzepte des<br />

kollektiven Unbewussten und <strong>der</strong> Archetypen, denen e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige Charakterisierung<br />

zukommt.<br />

In se<strong>in</strong>em Werk “Psychologie und Religion” von 1939 schrieb Jung über Pauli: 21<br />

Er hatte den grossen Vorteil, neurotisch zu se<strong>in</strong>, und<br />

so kam jedesmal, wenn er versuchte, se<strong>in</strong>er Erfahrung<br />

untreu zu werden o<strong>der</strong> die Stimme zu verleugnen, <strong>der</strong><br />

neurotische Zustand sogleich zurück. Er konnte “das<br />

Feuer nicht löschen” und schliesslich musste er den<br />

unbegreiflich num<strong>in</strong>osen Charakter se<strong>in</strong>er Erfahrung<br />

zugeben. Er musste bekennen, dass das unauslöschbare<br />

Feuer “heilig” war. Das war die conditio s<strong>in</strong>e qua<br />

non se<strong>in</strong>er Heilung.<br />

Man könnte vielleicht diesen Fall für e<strong>in</strong>e Ausnahme halten, <strong>in</strong>sofern als vollständige<br />

Menschen Ausnahmen s<strong>in</strong>d. Es ist e<strong>in</strong>e Tatsache, dass die grosse Mehrheit<br />

gebildeter Leute aus fragmentarischen Persönlichkeiten besteht und dass e<strong>in</strong>e<br />

Menge von Ersatzmitteln an Stelle <strong>der</strong> wahren Güter gebraucht werden. Aber<br />

e<strong>in</strong> Fragment zu se<strong>in</strong>, bedeutete für diesen Mann e<strong>in</strong>e Neurose, und es bedeutet<br />

dasselbe noch für e<strong>in</strong>e grosse Anzahl an<strong>der</strong>er Menschen.<br />

Erst nach se<strong>in</strong>er Rückkehr nach Zürich nach dem Krieg wird Pauli die Idee des<br />

“Objektiv-Psychischen” so zuspitzen, dass ihr konzeptueller Status <strong>in</strong> voller Klarheit<br />

erkennbar wird. Bevor ich dazu komme, dies im e<strong>in</strong>zelnen darzulegen, möchte ich noch<br />

e<strong>in</strong>e weitere persönliche Äusserung Paulis diskutieren, die aus e<strong>in</strong>em Brief an Jung vom<br />

24. 5. 1939 stammt, circa e<strong>in</strong> Jahr vor se<strong>in</strong>er Emigration <strong>in</strong> die USA. Es geht nochmals<br />

um die Lebenskrise:<br />

<strong>Die</strong> spezifische Gefahr me<strong>in</strong>es Lebens war die, dass ich <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Lebenshälfte<br />

von e<strong>in</strong>em Extrem <strong>in</strong>s an<strong>der</strong>e falle (Enantiodromie). – Ich war <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n<br />

Lebenshälfte e<strong>in</strong> zynischer, kalter Teufel und e<strong>in</strong> fanatischer Atheist und <strong>in</strong>tellektueller<br />

Aufklärer. – Der Gegensatz dazu wäre e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> Hang zum<br />

Krim<strong>in</strong>ellen, zum Raufbold (was bis zum Mör<strong>der</strong> hätte ausarten können), an<strong>der</strong>erseits<br />

e<strong>in</strong> weltabgewandter, ganz un<strong>in</strong>tellektueller Eremit mit ekstatischen<br />

Zuständen und Visionen.<br />

Der S<strong>in</strong>n me<strong>in</strong>er Neurose war nun <strong>der</strong>, mich vor dieser Gefahr des Umschlagens<br />

<strong>in</strong>s Gegenteil zu bewahren. ...<br />

Nun geht die Sache aber weiter: dieses Umschlagen <strong>in</strong>s Gegenteil ist e<strong>in</strong>e Gefahr,<br />

die nicht nur mir persönlich droht, son<strong>der</strong>n unserer ganzen Kultur. ... Deshalb ist<br />

21 Es handelt sich um die deutsche Fassung <strong>der</strong> englischsprachigen Terry Lectures von 1937 an <strong>der</strong><br />

amerikanischen Yale University, New Haven CT. Das Zitat steht <strong>in</strong> Jungs Gesammelten Werken Band<br />

11, Ziff. 74–75, und natürlich wurde dar<strong>in</strong> <strong>der</strong> Name Paulis nicht erwähnt. Mit <strong>der</strong> “Stimme” ist<br />

die gebieterische Stimme des Selbst <strong>in</strong> Paulis Träumen geme<strong>in</strong>t, und das “Feuer, das nicht gelöscht<br />

werden kann”, ist e<strong>in</strong> Element e<strong>in</strong>es Traumes.<br />

11


me<strong>in</strong> persönliches Problem auch e<strong>in</strong> kollektives und an<strong>der</strong>erseits war die Gefahr,<br />

die mir persönlich drohte, stark vergrössert durch e<strong>in</strong>e Disposition, die mir vom<br />

kollektiven Unbewussten aufgedrängt wurde.<br />

<strong>Die</strong>ses Zitat erläutert, diesmal aus e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Blickw<strong>in</strong>kel, wie Pauli die Instabilität<br />

se<strong>in</strong>er Lebensituation Anfang <strong>der</strong> 1930er Jahre sah. Hier beschreibt er sie als<br />

e<strong>in</strong>e Bifurkation, die zwei mögliche Optionen hat, den Krim<strong>in</strong>ellen und den Eremiten,<br />

beide als Gegenpol zum Intellektuellen. Was jedoch geschieht, ist etwas drittes: ohne<br />

dass er dies im Detail kommentiert, nimmt Pauli doch an, dass se<strong>in</strong>e Neurose (und<br />

die Analyse) ihn zu e<strong>in</strong>er Art doppelter Integration geführt hat: e<strong>in</strong>mal die von Krim<strong>in</strong>ellem<br />

und Eremiten und zugleich <strong>der</strong>en Versöhnung mit dem Vorläuferzustand des<br />

Intellektuellen. 22<br />

Neben dieser Zusammenführung aktueller und potentieller multipler Fragment-<br />

Identitäten (die wohl kaum als reibungs- und konfliktfreier “Heilszustand” verstanden<br />

werden darf), gibt Paulis Äusserung noch e<strong>in</strong>en zweiten H<strong>in</strong>weis. Für ihn war es offensichtlich,<br />

dass se<strong>in</strong>e Situation mehr als nur e<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividuelles persönliches Problem<br />

darstellte. Durch Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten ergab sich für ihn die<br />

Möglichkeit (o<strong>der</strong> sogar das Erfor<strong>der</strong>nis), se<strong>in</strong>e Situation als Ausdruck e<strong>in</strong>er kollektiven<br />

(sozial-politisch-kulturellen) Problematik se<strong>in</strong>er Zeit zu sehen. Angesichts <strong>der</strong> weltpolitischen<br />

Lage im Jahre 1939 mag dies naheliegen, doch ich halte es für wahrsche<strong>in</strong>lich,<br />

dass Pauli sogar e<strong>in</strong>e Krise rationalen Bewusstse<strong>in</strong>s überhaupt im S<strong>in</strong>n hatte. <strong>Die</strong>s<br />

bedürfte e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>gehenden Analyse, für die hier nicht <strong>der</strong> richtige Ort ist.<br />

3.3 Das psychophysische Problem:<br />

<strong>Die</strong> metaphysische Dimension von Wirklichkeit<br />

Nach se<strong>in</strong>er Rückkehr aus den USA <strong>in</strong> die Schweiz <strong>in</strong>tensivierte Pauli, <strong>in</strong>zwischen Nobelpreisträger,<br />

umgehend se<strong>in</strong>e Wechselwirkung mit Jung und dessen Kreis und arbeitete<br />

neben se<strong>in</strong>er fachlichen Tätigkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> theoretischen Physik an erkenntnistheoretischen<br />

Fragen im Umfeld des psychophysischen Problems. Damit ist das Problem <strong>der</strong><br />

Wechselbeziehung zwischen Geist und Materie geme<strong>in</strong>t o<strong>der</strong>, wie es Pauli gelegentlich<br />

formuliert, zwischen Psyche und Physis. 23 E<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Rolle dabei spielte <strong>der</strong> Austausch<br />

mit Markus Fierz, e<strong>in</strong>em Physikerkollegen mit umfassen<strong>der</strong> naturphilosophischer<br />

und historischer Bildung, <strong>der</strong> 1936–1940 Paulis Assistent an <strong>der</strong> ETH war und<br />

dann e<strong>in</strong>e Professur für theoretische Physik <strong>in</strong> Basel übernahm.<br />

<strong>Die</strong> Frage nach dem von Pauli so erlebten “Objektiv-Psychischen” aus dem Brief an<br />

Kronig kann als <strong>der</strong> Ausgangspunkt dieser Bemühungen gesehen werden. Wie ich an-<br />

22 E<strong>in</strong>e ähnliche Art von Integration paraphrasierte Pauli <strong>in</strong> dem von ihm 1942 verfassten “Kampf<br />

<strong>der</strong> Geschlechter”, die die Aussöhnung von Aphrodite und Immanuel (Kant), Emotion und Intellekt,<br />

zum Gegenstand hat. Er sandte den Text am 4. 1. 1952 als Anlage zu e<strong>in</strong>em Geburtstagsbrief an Marie-<br />

Louise von Franz. Der Inhalt von Paulis “philosophischer Komödie” ähnelt übrigens auf verblüffende<br />

Weise Fichtes “Bestimmung des Menschen”, so wie sie H<strong>in</strong><strong>der</strong>k Emrich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Buch Identität als<br />

Prozess kommentiert (Königshausen & Neumann 2007, Kapitel 9).<br />

23 Heute wird dies meist auf Bewusstse<strong>in</strong> und Gehirn zugespitzt, doch im Pauli-Jung Dialog war<br />

ausdrücklich das psychophysische Problem <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em allgeme<strong>in</strong>sten S<strong>in</strong>n geme<strong>in</strong>t.<br />

12


<strong>der</strong>norts ausführlicher beschrieben habe, 24 suchten Pauli und Jung e<strong>in</strong>en konzeptuellen<br />

Rahmen, <strong>in</strong> dem Geist und Materie, Psychologie und Physik, ihren gleichberechtigten<br />

Platz haben, ohne dass e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> beiden Diszpl<strong>in</strong>en grundlegen<strong>der</strong> wäre als die an<strong>der</strong>e.<br />

Was tatsächlich das Grundlegende für beide ist, darum g<strong>in</strong>g es.<br />

Für Pauli war es evident, dass Jungs Archetypen dabei zentrale Bedeutung zukommt.<br />

Doch die Art und Weise, wie Jung Archetypen verstand, war ambivalent im H<strong>in</strong>blick darauf,<br />

wie ihre Zugehörigkeit zum unpersönlichen kollektiven Unbewussten mit ihrer Ersche<strong>in</strong>ung<br />

als <strong>in</strong>nere Bil<strong>der</strong>, Phantasien, Träume etc. im Bewusstse<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen<br />

Psyche zusammenhängt. Pauli bestand darauf, dass Archetypen nicht als Elemente<br />

<strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Psyche betrachtet werden können, wenn sie als psychophysisch neutrale<br />

Ordnungsstrukturen gelten sollen. In e<strong>in</strong>em Brief an Markus Fierz vom 7. 1. 1948<br />

schrieb er:<br />

Das Ordnende und Regulierende muss jenseits <strong>der</strong> Unterscheidung<br />

von “physisch” und “psychisch” gestellt<br />

werden – so wie Plato’s “Ideen” etwas von Begriffen<br />

und auch etwas von “Naturkräften” haben (sie erzeugen<br />

von sich aus Wirkungen). Ich b<strong>in</strong> sehr dafür, dieses<br />

“Ordnende und Regulierende” “Archetypen” zu nennen;<br />

es wäre dann aber unzulässig, diese als psychische<br />

Inhalte zu def<strong>in</strong>ieren. Viemehr s<strong>in</strong>d die erwähnten<br />

<strong>in</strong>neren Bil<strong>der</strong> (“Dom<strong>in</strong>anten des kollektiven Unbewussten”<br />

nach Jung) die psychische Manifestation <strong>der</strong> Archetypen, die aber auch<br />

alles Naturgesetzliche im Verhalten <strong>der</strong> Körperwelt hervorbr<strong>in</strong>gen, erzeugen, bed<strong>in</strong>gen<br />

müssten. <strong>Die</strong> Naturgesetze <strong>der</strong> Körperwelt wären dann die physikalische<br />

Manifestation <strong>der</strong> Archetypen. ... Es sollte dann jedes Naturgesetz e<strong>in</strong>e<br />

Entsprechung <strong>in</strong>nen haben und umgekehrt, wenn man auch heute das nicht immer<br />

unmittelbar sehen kann.<br />

Pauli bemerkt an an<strong>der</strong>er Stelle im gleichen Brief, dass “ich vielleicht mehr e<strong>in</strong><br />

Platonist b<strong>in</strong> als die Psychologen <strong>der</strong> Jungschen Richtung” und weist damit explizit<br />

auf den metaphysischen Status se<strong>in</strong>er Vorstellung von Archetypen h<strong>in</strong>. <strong>Die</strong>s korrespondiert<br />

mit <strong>der</strong> bereits angesprochenen Realität des unanschaulichen Symbolischen,<br />

die Pauli <strong>in</strong> diesem Brief ebenfalls unterstreicht. Ich betone, dass damit ke<strong>in</strong>eswegs<br />

e<strong>in</strong>e metaphorische o<strong>der</strong> potentielle Realität geme<strong>in</strong>t ist, son<strong>der</strong>n die tatsächliche aktuelle<br />

Wirklichkeit – e<strong>in</strong>e Wirklichkeit, die tiefer liegt als das, was als Psychisches o<strong>der</strong><br />

Physisches s<strong>in</strong>nlich wahrnehmbar ist. Es ist diese Wirklichkeit, die Pauli 14 Jahre zuvor,<br />

ohne den geeigneten konzeptuellen Rahmen, tastend als “Objektiv-Psychisches”<br />

umschrieben hatte.<br />

Indem Modalitäten <strong>der</strong> Wahrnehmung und ihre Gegenstände so betrachtet werden,<br />

dass sie <strong>der</strong> symbolischen Wirklichkeit <strong>der</strong> Archetypen nachgeordnet s<strong>in</strong>d, ersche<strong>in</strong>en<br />

sie als epistemische Aspekte e<strong>in</strong>er ihnen zugrundeliegenden ontischen Verfasstheit <strong>der</strong><br />

Welt. Jung verwendete dafür den Begriff des unus mundus, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Welt, die an<br />

sich nicht geteilt ist, son<strong>der</strong>n zum Zwecke <strong>der</strong> Erkenntnis geteilt wird. Im Vergleich zu<br />

24 H. Atmanspacher: “Dual-aspect monism à la Pauli and Jung”, Journal of Consciousness Studies,<br />

im Druck. In diesem Beitrag wird u.a. auch Paulis und Jungs “duale-Aspekte Monismus” vom<br />

“neutralen Monismus” von Mach, James und Russell abgegrenzt.<br />

13


an<strong>der</strong>en Modellen, <strong>in</strong> denen duale Aspekte vorkommen, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Pauli-Jung Version<br />

die Dualität begrifflich geschärft als Komplementarität aufgefasst. 25 “Es wäre am<br />

meisten befriedigend”, schrieb Pauli <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Kepler-Arbeit (S. 164), “wenn sich Physis<br />

und Psyche als komplementäre Aspekte <strong>der</strong>selben Wirklichkeit auffassen liessen.”<br />

Zwei Jahre bevor Pauli se<strong>in</strong>en skizzenhaften Vorschlag an Fierz formulierte, veröffentlichte<br />

Jung 1946 die Schrift “Der Geist <strong>der</strong> Psychologie”, die grossen E<strong>in</strong>fluss<br />

auf Pauli hatte. <strong>Die</strong>se Abhandlung erschien im Jahre 1954 erneut unter dem Titel<br />

“Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen”, diesmal aber mit e<strong>in</strong>em<br />

Nachwort, welches e<strong>in</strong>ige wesentliche Punkte für e<strong>in</strong> besseres Verständnis des Konzeptes<br />

<strong>der</strong> Archetypen als nicht direkt empirisch zugänglich enthält. <strong>Die</strong>se Punkte, die <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung mit Pauli herausgearbeitet wurden, dokumentieren, wie <strong>der</strong><br />

ursprünglich anti-metaphysische Impuls bei beiden, Pauli und Jung, an se<strong>in</strong>e Grenzen<br />

stösst.<br />

Das genannte Nachwort erstreckt sich nur über wenige Seiten, doch es enthält e<strong>in</strong>en<br />

Schlüssel dazu, wie Pauli se<strong>in</strong>e Sichtweise nach dem Fierz-Brief von 1948 verän<strong>der</strong>te<br />

und spezifizierte. <strong>Die</strong>ser Schlüssel ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Fussnote verborgen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Jung aus e<strong>in</strong>em<br />

Brief von Pauli zitiert, <strong>der</strong> als ganzer <strong>in</strong> Paulis bislang publizierter Korrespondenz nicht<br />

enthalten ist. Da Jung bemerkt, dass Pauli “die Güte hatte, das Manuskript me<strong>in</strong>es<br />

Nachwortes durchzusehen”, ist anzunehmen, dass <strong>der</strong> Brief ebenfalls aus dem Jahr<br />

1954 stammt:<br />

Der Physiker wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat e<strong>in</strong>e Entsprechung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Psychologie an dieser Stelle<br />

erwarten, weil die erkenntnistheoretische Situation betreffend die Begriffe “Bewusstse<strong>in</strong>”<br />

und “Unbewusstes” e<strong>in</strong>e weitgehende Analogie zu <strong>der</strong> unten skizzierten<br />

Situation <strong>der</strong> “Komplementarität” <strong>in</strong> <strong>der</strong> Physik aufzuweisen sche<strong>in</strong>t. E<strong>in</strong>erseits<br />

lässt sich ja das Unbewusste nur <strong>in</strong>direkt erschliessen durch se<strong>in</strong>e (anordnenden)<br />

Wirkungen auf Bewusstse<strong>in</strong>s<strong>in</strong>halte, an<strong>der</strong>erseits hat jede “Beobachtung<br />

des Unbewussten”, d.h. jedes Bewusstmachen unbewusster Inhalte, e<strong>in</strong>e zunächst<br />

unkontrollierbare Rückwirkung auf diese unbewussten Inhalte selbst (was bekanntlich<br />

e<strong>in</strong> “Erschöpfen” des Unbewussten durch “Bewusstmachung” pr<strong>in</strong>zipiell<br />

ausschliesst). Der Physiker wird also per analogiam schliessen, dass eben<br />

diese unkontrollierbare Rückwirkung des beobachtenden Subjekts auf das Unbewusste<br />

den objektiven Charakter se<strong>in</strong>er Realität begrenzt und dieser zugleich<br />

e<strong>in</strong>e Subjektivität verleiht. Obwohl ferner die Lage des “Schnittes” zwischen Bewusstse<strong>in</strong><br />

und Unbewusstem (wenigstens bis zu e<strong>in</strong>em gewissen Grad) <strong>der</strong> freien<br />

Wahl des “psychologischen Experimentators’ anheimgestellt ist, bleibt die Existenz<br />

dieses “Schnittes” e<strong>in</strong>e unvermeidliche Notwendigkeit. Das “beobachtete<br />

System” würde demnach vom Standpunkt <strong>der</strong> Psychologie nicht nur aus physikalischen<br />

Objekten bestehen, son<strong>der</strong>n das Unbewusste mitumfassen, während dem<br />

Bewusstse<strong>in</strong> die Rolle des “Beobachtungsmittels” zukäme. Es ist unverkennbar,<br />

dass durch die Entwicklung <strong>der</strong> “Mikrophysik” e<strong>in</strong>e weitgehende Annäherung <strong>der</strong><br />

Art <strong>der</strong> Naturbeschreibung <strong>in</strong> dieser <strong>Wissenschaft</strong> an diejenige <strong>der</strong> neueren Psychologie<br />

erfolgt ist: Während <strong>erste</strong>re <strong>in</strong>folge <strong>der</strong> als “Komplementarität” bezeichneten<br />

pr<strong>in</strong>zipiellen Situation <strong>der</strong> Unmöglichkeit gegenüb<strong>erste</strong>ht, die Wirkungen<br />

des Beobachters durch determ<strong>in</strong>istische Korrekturen zu elim<strong>in</strong>ieren, und deshalb<br />

25 E<strong>in</strong> detaillierter formaler Ansatz, wie so etwas aussehen könnte, stammt von Hans Primas: “Complementarity<br />

of m<strong>in</strong>d and matter”, <strong>in</strong> Recast<strong>in</strong>g Reality, Spr<strong>in</strong>ger, Berl<strong>in</strong> 2009, S. 171–209.<br />

14


auf die objektive Erfassung aller physikalischen Phänomene im Pr<strong>in</strong>zip verzichten<br />

muss, konnte die letztere die nur subjektive Bewusstse<strong>in</strong>spychologie durch das<br />

Postulat <strong>der</strong> Existenz e<strong>in</strong>es Unbewussten von weitgehend objektiver Realität<br />

grundsätzlich ergänzen.<br />

Am Ende dieses Briefes f<strong>in</strong>det sich erneut <strong>der</strong> H<strong>in</strong>weis auf das “Objektiv-Psychische”,<br />

hier explizit als das Unbewusste angesprochen. Doch das hauptsächlich Bemerkenswerte<br />

an dieser Passage ist <strong>der</strong> Kontext <strong>der</strong> “unkontrollierbaren Rückwirkung” (die Pauli<br />

bereits <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Fierz vom 3. 10. 1951 thematisierte). <strong>Die</strong>ser Aspekt <strong>der</strong><br />

Rückwirkung von Psyche bzw. Physis auf den unus mundus fehlt im Fierz-Brief von<br />

1948 völlig und stellt e<strong>in</strong>e wesentliche Erweiterung von Paulis ursprünglichem Denken<br />

dar, das im Wesentlichen auf e<strong>in</strong>e Symmetriebrechung mit resultierenden psychophysischen<br />

Korrelationen h<strong>in</strong>auslief. <strong>Die</strong>se Korrelationen s<strong>in</strong>d nicht zwischen Psyche und<br />

Physis kausal bed<strong>in</strong>gt, son<strong>der</strong>n haben ihren geme<strong>in</strong>samen Grund <strong>in</strong> <strong>der</strong> anordnenden<br />

Wirkung e<strong>in</strong>es Archetyps. <strong>Die</strong>s wurde im Pauli-Jung-Dialog als “synchronistische<br />

Ereignisse” angesprochen. 26<br />

<strong>Die</strong> Option <strong>der</strong> Rückwirkung hat dagegen zur Folge, dass sowohl physikalische<br />

Beobachtung als auch psychologische Bewusstmachung nicht e<strong>in</strong> blosses Registrieren<br />

e<strong>in</strong>es gegebenen Sachverhaltes darstellen, son<strong>der</strong>n dass beide diesen Sachverhalt ausserdem<br />

über die Registrierung h<strong>in</strong>aus verän<strong>der</strong>n. Dadurch kann es zusätzlich zu den oben<br />

genannten akausalen psychophysischen Korrelationen e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>direkten, kausal verursachten<br />

(aber unkontrollierbaren) E<strong>in</strong>fluss <strong>der</strong> Psyche auf die Physis geben: E<strong>in</strong>e durch<br />

Bewusstmachung (bzw. Beobachtung) verän<strong>der</strong>te Situation des unus mundus zieht e<strong>in</strong>e<br />

entsprechend verän<strong>der</strong>te anordnende Wirkung <strong>in</strong> <strong>der</strong> materiellen (bzw. psychischen)<br />

Welt nach sich. Jung illustriert dies im erwähnten Nachwort folgen<strong>der</strong>massen:<br />

Insofern e<strong>in</strong> psychischer Inhalt die Bewusstse<strong>in</strong>sschwelle überschreitet, verschw<strong>in</strong>den<br />

dessen synchronistische Randphänomene. Raum und Zeit nehmen ihren<br />

26 <strong>Die</strong> Korrespondenz <strong>der</strong> beiden zwischen 1948 und 1951 beschäftigt sich e<strong>in</strong>gehend mit <strong>der</strong> Entwicklung<br />

ihrer diesbezüglichen Ideen, die <strong>in</strong> Jungs Arbeit “Synchronizität als Pr<strong>in</strong>zip akausaler Zusammenhänge”<br />

e<strong>in</strong>flossen.<br />

15


gewohnten absoluten Charakter an, und das Bewusstse<strong>in</strong> ist wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Subjektivität isoliert. Es liegt hier e<strong>in</strong>er jener Fälle vor, welche man am ehesten<br />

mit dem <strong>der</strong> Physik bekannten Begriff <strong>der</strong> “Komplementarität” erfassen kann.<br />

Wenn e<strong>in</strong> unbewusster Inhalt <strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> übertritt, dann hört se<strong>in</strong>e synchronistische<br />

Manifestation auf, und umgekehrt können durch Versetzung des<br />

Subjektes <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en unbewussten Zustand (trance) synchronistische Phänomene<br />

hervorgerufen werden. Das gleiche Komplementaritätsverhältnis lässt sich im<br />

übrigen ebensogut beobachten <strong>in</strong> allen jenen häufigen und <strong>der</strong> ärztlichen Erfahrung<br />

geläufigen Fällen, <strong>in</strong> denen gewisse kl<strong>in</strong>ische Symptome verschw<strong>in</strong>den,<br />

wenn die ihnen entsprechenden unbewussten Inhalte bewusst werden. Bekanntlich<br />

können auch e<strong>in</strong>e Reihe von psychosomatischen Ersche<strong>in</strong>ungen, die sonst<br />

dem Willen durchaus entzogen s<strong>in</strong>d, durch Hypnose, das heisst eben durch E<strong>in</strong>schränkung<br />

des Bewusstse<strong>in</strong>s, hervorgerufen werden.<br />

Auch wenn ich im vorliegenden Rahmen nicht ausführlicher auf das Thema “Synchronizität”<br />

e<strong>in</strong>gehen kann, denke ich, dass dieses Zitat ausreicht, um die Brisanz<br />

<strong>der</strong> Spekulationen von Pauli und Jung zu demonstrieren. <strong>Die</strong>se Spekulationen waren<br />

bei beiden durch e<strong>in</strong>e Vielzahl persönlicher und privater Erfahrungen <strong>in</strong>spiriert und<br />

durch <strong>der</strong>en erlebte Evidenz untermauert. Um den speziellen psychophysisch neutralen<br />

Monismus von Pauli und Jung am Ende noch e<strong>in</strong>mal zu dem immer wie<strong>der</strong>kehrenden<br />

Thema <strong>der</strong> Spaltung (bzw. Fragmentierung) zurückzuführen, hier noch e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />

Ausschnitt aus e<strong>in</strong>em Brief Jungs an Pauli vom Dezember 1956:<br />

Wenn <strong>der</strong> Mensch nun aber die Gegensätze <strong>in</strong> sich gee<strong>in</strong>t hat, so steht se<strong>in</strong>er<br />

Erkenntnis nichts mehr im Wege, den e<strong>in</strong>en Aspekt <strong>der</strong> Welt wie den an<strong>der</strong>en<br />

objektiv zu sehen. <strong>Die</strong> <strong>in</strong>nere psychische Spaltung wird ersetzt durch e<strong>in</strong> gespaltenes<br />

Weltbild, und zwar unvermeidlicherweise, denn ohne diese Diskrim<strong>in</strong>ation<br />

wäre bewusste Erkenntnis unmöglich. Es ist <strong>in</strong> Wirklichkeit ke<strong>in</strong>e gespaltene<br />

Welt, denn dem gee<strong>in</strong>ten Menschen steht e<strong>in</strong> unus mundus gegenüber. Er muss<br />

diese e<strong>in</strong>e Welt spalten, um sie erkennen zu können, ohne dabei zu vergessen,<br />

dass das, was er spaltet, immer die e<strong>in</strong>e Welt ist, und dass die Spaltung e<strong>in</strong><br />

Praejudiz des Bewusstse<strong>in</strong>s ist.<br />

4 Coda<br />

Das Beispiel Wolfgang Pauli zeigt mit grosser Deutlichkeit, welch wichtige Rolle private,<br />

persönliche Erfahrungen bei <strong>der</strong> Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher<br />

Theorien und philosophischer Vorstellungen spielen. Dass dies auch bei an<strong>der</strong>en <strong>der</strong><br />

Fall ist, wird – so weit ich sehe – nirgends bestritten. Paulis Korrespondenz gibt uns<br />

jedoch, an<strong>der</strong>s als bei vielen an<strong>der</strong>en, Auskunft darüber, wie grundlegend und unvorhersehbar<br />

solche Erfahrungen se<strong>in</strong> können, wie wenig sie auf den <strong>erste</strong>n Blick mit<br />

dem wissenschaftlichen Ziel <strong>der</strong> Arbeit zu tun haben können. Was ist abwegiger als<br />

den Elektronensp<strong>in</strong> mit <strong>der</strong> Überw<strong>in</strong>dung <strong>der</strong> Tr<strong>in</strong>ität <strong>in</strong> Beziehung zu setzen?<br />

Für speziell <strong>in</strong>teressant bei Pauli halte ich darüber h<strong>in</strong>aus den Weg, <strong>der</strong> ihn von e<strong>in</strong>er<br />

zunächst stark empirisch bzw. positivistisch geprägten Grundhaltung zur zunehmenden<br />

Betonung metaphysischer Fragen führte. <strong>Die</strong>s zeichnete sich bereits <strong>in</strong> den 1920er<br />

Jahren mit <strong>der</strong> sukzessiven Entwicklung <strong>der</strong> Quantentheorie ab, <strong>der</strong>en Interpretation<br />

16


mehr und mehr dazu zwang, von klassischen anschaulichen Vorstellungen Abschied<br />

zu nehmen. Der Elektronensp<strong>in</strong> charakterisiert ke<strong>in</strong> Drehmoment des Elektrons, son<strong>der</strong>n<br />

es handelt sich um e<strong>in</strong>en unanschaulichen zusätzlichen Freiheitsgrad für dessen<br />

Verhalten.<br />

<strong>Die</strong> Bedeutung <strong>der</strong> Unanschaulichkeit für Pauli fand ihren Höhepunkt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zusammenarbeit<br />

mit Jung Ende <strong>der</strong> 1940er und Anfang <strong>der</strong> 1950er Jahre, als beide um<br />

e<strong>in</strong> adäquates Verständnis des Konzepts <strong>der</strong> Archetypen rangen. Der psychophysisch<br />

neutrale Monismus mit Geist und Materie als dualen, komplementären Aspekten, <strong>in</strong><br />

den ihre Arbeit mündete, enthält Psyche und Physis als epistemisch (bewusst und<br />

beobachtbar) zugängliche Domänen, die als Aspekte e<strong>in</strong>er ontisch gegebenen, psychophysisch<br />

neutralen Wirklichkeit betrachtet werden. <strong>Die</strong>se Wirklichkeit ist selbst<br />

nicht direkt zugänglich, son<strong>der</strong>n äussert sich <strong>in</strong>direkt durch Manifestationen <strong>in</strong> ihren<br />

dualen Aspekten.<br />

Archetypen als psychophysisch neutrale Strukturpr<strong>in</strong>zipien fungieren <strong>in</strong> diesem Bild<br />

als die Erzeuger solcher Manifestationen. Dass sie dem direkten empirischen Zugang<br />

entzogen s<strong>in</strong>d, wird von Pauli jedoch nicht als realitätsdefizitär <strong>in</strong>terpretiert,<br />

son<strong>der</strong>n gerade umgekehrt: als die eigentliche, grundlegende Wirklichkeit, die h<strong>in</strong>ter<br />

den Phänomenen steht. In diesem S<strong>in</strong>n eröffnete ihm <strong>der</strong> metaphysische Zugang<br />

den Weg zu dem, was er die Idee <strong>der</strong> “Wirklichkeit des Symbols” nannte. Natürlich ist<br />

Paulis Wende vom Positivismus zur Metaphysik ke<strong>in</strong> s<strong>in</strong>gulärer Son<strong>der</strong>fall – e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es<br />

grosses Beispiel dafür wäre E<strong>in</strong>ste<strong>in</strong> – aber die Art und Weise, wie sie sich vollzog, ist<br />

wohl sonst kaum so detailliert nachvollziehbar wie gerade <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Korrespondenz.<br />

<strong>Die</strong> privaten und persönlichen Erfahrungen, die dafür entscheidend waren und die<br />

se<strong>in</strong>en zahlreichen Briefen wie an<strong>der</strong>en unpublizierten Materialien zu entnehmen s<strong>in</strong>d,<br />

s<strong>in</strong>d ganz offensichtlich Erfahrungen <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>. E<strong>in</strong>e wesentliche<br />

Po<strong>in</strong>te dieser Erfahrungen ist es jedoch, dass <strong>der</strong> “fanatische Atheist und <strong>in</strong>tellektuelle<br />

Aufklärer” Pauli durch sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Situation gerät, <strong>in</strong> <strong>der</strong> er dazu gezwungen<br />

wird, die <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>, die er bis dah<strong>in</strong> war, se<strong>in</strong>e Rollenidentität gewissermassen,<br />

<strong>in</strong> Frage zu stellen und zu relativieren. Nichts an<strong>der</strong>es bedeutet letztlich se<strong>in</strong><br />

E<strong>in</strong>geständnis, sich etwas “Objektiv-Psychischem” gegenüber zu f<strong>in</strong>den, das ihn <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er erlebenden Subjektivität überragt.<br />

Bei Jung gibt es den Begriff des <strong>in</strong>flationierten Ego, e<strong>in</strong>er hypertrophen Form <strong>der</strong><br />

<strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong>, 27<br />

unfähig, aus <strong>der</strong> Vergangenheit zu lernen, unfähig, das gegenwärtige Geschehen<br />

zu begreifen, und unfähig, richtige Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Es ist von<br />

sich selbst hypnotisiert und lässt darum auch nicht mit sich reden. Es ist daher<br />

auf Katastrophen angewiesen, die es nötigenfalls totschlagen.<br />

Paulis Lebenskrise hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat se<strong>in</strong> Ego “totgeschlagen”, nämlich dadurch, dass es<br />

ihm gelang, sich selbst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em neuen, entwickelteren S<strong>in</strong>n zu def<strong>in</strong>ieren – <strong>in</strong> Richtung<br />

auf e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit <strong>der</strong> <strong>Person</strong> (und kontrapunktisch zur postmo<strong>der</strong>nen Hyperflexibilität<br />

multipler Fragment-Identitäten). Etwas verkürzt gesagt, spielte die Konfrontation mit<br />

se<strong>in</strong>em Unbewussten dabei die zentrale Rolle. <strong>Die</strong> Abkehr vom empirischen Zugriff als<br />

27 C.G. Jung: Psychologie und Alchemie, Gesammelte Werke Band 12, Walter, Olten 1972.<br />

17


Kriterium für Wirklichkeit und die Verbeugung vor <strong>der</strong> metaphysischen Dimension <strong>der</strong><br />

Archetypen s<strong>in</strong>d so gesehen Ausdruck von Paulis “Individuation”. 28<br />

Gerd Folkers hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag e<strong>in</strong>e Reihe von Varianten beschrieben, wie die<br />

<strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong> im <strong>Wissenschaft</strong>sbetrieb zwar an <strong>der</strong> Oberfläche als unfe<strong>in</strong> gilt,<br />

h<strong>in</strong>ter den Kulissen aber mit <strong>der</strong> vollen Wucht des <strong>in</strong>flationierten Ego agiert. Wer<br />

sich für e<strong>in</strong>e umfangreiche und subtile Analyse dieser Dynamik als “Ökonomie <strong>der</strong><br />

Aufmerksamkeit” <strong>in</strong>teressiert, dem seien die beiden Bücher zum Thema von Georg<br />

Franck empfohlen. 29<br />

Wie das Beispiel Pauli zeigt, wäre aber noch e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es Motiv dafür denkbar, dass<br />

<strong>Wissenschaft</strong>er mit <strong>der</strong> <strong>erste</strong>n <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong> Zurückhaltung üben. E<strong>in</strong> deflationiertes<br />

Ego, das se<strong>in</strong>e Position aus dem verme<strong>in</strong>tlichen Zentrum des Weltgeschehens h<strong>in</strong>aus<br />

zum bescheidenen Teilnehmer mit gelegentlicher E<strong>in</strong>sicht, o<strong>der</strong> selbst tiefer E<strong>in</strong>sicht,<br />

verlagert hat, weiss womöglich genug über die Sicherheit und Unsicherheit se<strong>in</strong>er Identität,<br />

um sie nicht permanent betonen zu müssen – auch nicht auf Umwegen.<br />

Soweit wissenschaftliche Publikationen betroffen s<strong>in</strong>d, wird sich e<strong>in</strong> deflationiertes<br />

Ego im angedeuteten S<strong>in</strong>n nur schwer von <strong>der</strong> Vermeidung des Ich als Folge dessen,<br />

was Bridgman das Dogma <strong>der</strong> öffentlichen <strong>Wissenschaft</strong> bezeichnet hat, unterscheiden<br />

lassen. Unter <strong>der</strong> Oberfläche ist <strong>der</strong> Unterschied jedoch gewaltig. <strong>Die</strong> Biographie Paulis<br />

zeigt, wie e<strong>in</strong> bestehendes Ich durchschritten, gewissermassen überstiegen wird. <strong>Die</strong><br />

Haltung, die Bridgman kritisiert, lässt sich dagegen erst gar nicht auf e<strong>in</strong> <strong>der</strong>artiges<br />

bestehendes Ich e<strong>in</strong>.<br />

Es ist damit klar, dass Paulis Beispiel letztlich auf etwas an<strong>der</strong>es zielt als Bridgmans<br />

Text. Bei beiden geht es zwar zunächst darum, die <strong>erste</strong> <strong>Person</strong> <strong>S<strong>in</strong>gular</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Wissenschaft</strong> Ernst zu nehmen. Während aber Bridgman darauf <strong>in</strong>sistiert, dem Ich<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> <strong>Wissenschaft</strong> Geltung zu verschaffen, gelangt Pauli auf dem Weg<br />

erleben<strong>der</strong> Subjektivität nolens volens zu E<strong>in</strong>sichten, <strong>der</strong>en Substanz mit <strong>der</strong> sprachlichen<br />

Gestaltung e<strong>in</strong>es Textes wenig zu tun hat. Allerd<strong>in</strong>gs: dass wir davon Kenntnis<br />

haben, verdanken wir se<strong>in</strong>er Korrespondenz – <strong>der</strong>jenigen Form von wissenschaftlicher<br />

Literatur, <strong>in</strong> <strong>der</strong> die Rolle des Ich nie bestritten wurde.<br />

28 Jung hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Beitrag zur Eranos-Tagung 1934 unter dem Titel “Traumsymbole des Individuationsprozesses”<br />

e<strong>in</strong>e Serie von Träumen Paulis analysiert, die er später im bereits zitierten<br />

Psychologie und Alchemie erneut verwendete. Zur Theorie <strong>der</strong> Individuation siehe auch Jungs 1928<br />

publizierten Aufsatz “<strong>Die</strong> Beziehung zwischen dem Ich und dem Unbewussten” (Gesammelte Werke<br />

Band 7, par. 202–406, Walter, Olten 1997).<br />

29 G. Franck: Ökonomie <strong>der</strong> Aufmerksamkeit, Hanser, München 1998. Der Nachfolgeband mit dem<br />

Titel Mentaler Kapitalismus vom gleichen Autor erschien 2005 beim gleichen Verlag.<br />

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