Die erste Person Singular in der Wissenschaft - IGPP
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von Wirklichkeit radikal h<strong>in</strong>terfragten. In diesem S<strong>in</strong>n zeigt sich bis <strong>in</strong> die Gegenwart,<br />
wie sogenanntes “anschauliches Denken” <strong>in</strong> die Irre führen und somit e<strong>in</strong>en blockierenden<br />
statt för<strong>der</strong>lichen Faktor bei Erkenntnisprozessen darstellen kann. 15<br />
Für Pauli bedeutete diese Wendung unter an<strong>der</strong>em e<strong>in</strong>e<br />
Abkehr vom Standpunkt Ernst Machs (se<strong>in</strong>es Taufpaten) und<br />
des “Wiener Kreises”, <strong>der</strong> sich später zu <strong>der</strong> e<strong>in</strong>gangs (Abschnitt<br />
1) erwähnten e<strong>in</strong>flussreichen Richtung des logischen<br />
Positivismus entwickelte. Pauli beschrieb se<strong>in</strong>e Abkehr vom<br />
puren Empirismus – ebenfalls retrospektiv – sehr ausführlich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief an Jung vom 31. 3. 1953, <strong>in</strong> dem er sich<br />
nachdrücklich gegen “das totale Elimieren alles dessen aus <strong>der</strong><br />
Naturerklärung, was ‘nicht feststellbar hic et nunc’ ist”, aussprach.<br />
<strong>Die</strong>sem Credo Machs, das Pauli für undurchführbar<br />
hielt, setzte er psychophysisch neutrale Ordnungstrukturen entgegen, die nur <strong>in</strong>direkt<br />
durch ihre Wirkungen feststellbar s<strong>in</strong>d – die sogenannten Archetypen. Dazu komme<br />
ich im folgenden Abschnitt.<br />
Es darf als e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Lektionen <strong>der</strong> Quantenphysik gelten, dass ihre Veranschaulichung<br />
oft zu den irreführenden klassischen Bil<strong>der</strong>n führt, die durch die Quantenphysik gerade<br />
überwunden werden. Schwierige und ungewohnte Sachverhalte v<strong>erste</strong>ht man nicht<br />
durch billige Vere<strong>in</strong>fachung, son<strong>der</strong>n durch die E<strong>in</strong>sicht dessen, was daran schwierig<br />
und ungewohnt ist. Damit verb<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong> nachdrückliches Plädoyer gegen sche<strong>in</strong>bar<br />
hilfreiche Konkretisierung und Anschaulichkeit. Wie Kognitionswissenschaftler<br />
jüngst herausfanden, kann es bei Lernprozessen sehr för<strong>der</strong>lich se<strong>in</strong>, zuerst abstrakte<br />
Pr<strong>in</strong>zipien und erst danach konkrete Beispiele dafür zu lernen. 16<br />
E<strong>in</strong>e zentrale neue Erkenntnis <strong>der</strong> Quantentheorie besteht dar<strong>in</strong>, dass Systeme<br />
Eigenschaften haben (können), welche we<strong>der</strong> zugleich e<strong>in</strong>deutig feststehen noch (demzufolge)<br />
e<strong>in</strong>deutig feststellbar, zum Beispiel messbar, s<strong>in</strong>d. Bohr führte dafür das Konzept<br />
<strong>der</strong> Komplementarität <strong>in</strong> die Physik e<strong>in</strong>: Beschreibungen e<strong>in</strong>es Systems (zum Beispiel<br />
durch A und B) s<strong>in</strong>d komplementär, wenn sie sich gegenseitig ausschliessen, aber an<strong>der</strong>erseits<br />
beide zusammen für e<strong>in</strong>e vollständige Charakterisierung des Systems erfor<strong>der</strong>lich<br />
s<strong>in</strong>d.<br />
Im Unterschied zur klassischen Logik nach George Boole, <strong>der</strong>en tertium non datur<br />
for<strong>der</strong>t, dass e<strong>in</strong>e Aussage entwe<strong>der</strong> wahr o<strong>der</strong> falsch ist, gilt für die Quantenphysik e<strong>in</strong>e<br />
erweiterte Aussagenlogik, die zuerst 1935 von Garrett Birkhoff und John von Neumann<br />
diskutiert wurde. Sie hat durch die Komplementarität von Aussagen e<strong>in</strong>e Struktur, die<br />
15 So betonte auch Bohr im H<strong>in</strong>blick auf die Quantentheorie immer wie<strong>der</strong> das “Versagen <strong>der</strong> Anschauungsformen,<br />
die an unsere gewöhnlichen S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke angepasst s<strong>in</strong>d”. Siehe N. Bohr: Atomic<br />
Theory and the Description of Nature, Cambridge University Press, Cambridge 1934, S. 93): “... das<br />
Versagen <strong>der</strong> Anschauungsformen, die an unsere gewöhnlichen S<strong>in</strong>nese<strong>in</strong>drücke angepasst s<strong>in</strong>d”, o<strong>der</strong><br />
ähnlich auf S. 51, 96, 103, 108, 111. Und (S. 5): “... es geht um die Erkenntnis physikalischer Gesetze,<br />
die ausserhalb unserer gewöhnlichen Erfahrung liegen und unseren gewohnten Wahrnehmungsformen<br />
Schwierigkeiten bereiten.” Übersetzung HA.<br />
16 Entsprechende Befunde (J.A. Kam<strong>in</strong>ski, V.M. Sloutsky, and A.F. Heckler: “The advantage of<br />
abstract examples <strong>in</strong> learn<strong>in</strong>g math”. Science 320, 454–455 (2008)) stellen das sorgsam gehegte<br />
pädagogische Dogma, allgeme<strong>in</strong>e abstrakte Strukturen durch konkrete anschauliche Beispiele zu lernen,<br />
vom Kopf auf die Füsse.<br />
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